Mathematik für Geo- und Werkstoffwissenschaft Konzeption: Prof. Dr. Hans-Gerd Leopold LATEX-Erstellung: Lars Müller Sommersemester 2009 Fakultät für Mathematik und Informatik Friedrich-Schiller-Universität Jena Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Reelle Zahlen 4 2. Komplexe Zahlen 12 3. Vektoren in der Ebene und im Raum 22 4. Lineare Gleichungsysteme 40 5. Kurven zweiter Ordnung 47 6. Zahlenfolgen und Reihen 58 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit 77 8. Differenzierbarkeit 87 9. Integralrechnung 111 3 1. Reelle Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 1. Reelle Zahlen Definition 1.1 (Zahlenmengen): (i) Die natürlichen Zahlen sind definiert als N := {1, 2, 3, . . .}. (ii) Die ganzen Zahlen sind definiert als Z := {0, 1, −1, 2, −2, . . .}. n (iii) Die rationalen Zahlen sind definiert als Q := {r = m : n ∈ Z, m ∈ N}. Bemerkung 1.1 (Rechenregeln): In den rationalen Zahlen sind eine Addition und eine Multiplikation erklärt und für diese gelten die folgenden Rechenregeln: • Assoziativität der Addition: Für alle a, b, c ∈ Q gilt: a + (b + c) = (a + b) + c. • Existenz des neutralen Elements der Addition: Es existiert 0 ∈ Q, sodass für alle a ∈ Q gilt: a + 0 = 0 + a = a. • Existenz des inversen Elements der Addition: Für alle a ∈ Q existiert ein −a ∈ Q, sodass gilt: a + (−a) = −a + a = 0. • Kommutativität der Addition: Für alle a, b ∈ Q gilt: a + b = b + a. • Assoziativität der Multiplikation: Für alle a, b, c ∈ Q gilt: a · (b · c) = (a · b) · c. • Existenz des neutralen Elements der Multiplikation: Es existiert 1 ∈ Q, sodass für alle a ∈ Q gilt: 1 · a = a · 1 = a. • Existenz des inversen Elements der Multiplikation: Für alle a ∈ Q \ {0} existiert ein a−1 ∈ Q, sodass gilt: a · a−1 = a−1 · a = 1. • Kommutativität der Multiplikation: Für alle a, b ∈ Q gilt: a · b = b · a. • Distributivität: Für alle a, b, c ∈ Q gilt: a · (b + c) = a · b + a · c. Allerdings kann beispielsweise die Länge der Diagonalen in einem Quadrat mit der Seitenlänge 1 nicht durch eine rationale Zahl beschrieben werden - siehe auch das folgende Lemma. 0 Abbildung 1: 4 1 Zahlengerade √ 2 √ 2 auf der Zahlengeraden Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 1. Reelle Zahlen Lemma 1.1: √ √ Wir bezeichnen eine positive Zahl a für die a2 = a · a = 2 gilt mit 2. Diese Zahl 2 kann keine rationale Zahl sein. Beweis: √ Wir führen den Beweis indirekt und nehmen an, dass 2 eine rationale Zahl ist, also eine √ Darstellung 2 = pq mit teilerfremden ganzen Zahlen p und q besitzt. √ 2= p q ⇒ 2= p2 q2 ⇒ 2q 2 = p2 Damit sieht man, dass p2 gerade ist, also ist auch p gerade. Damit hat p die Darstellung p = 2k mit k ∈ Z. Setzt man dies nun in die obige Gleichung ein, erhält man: 2q 2 = 4k 2 ⇒ q 2 = 2k 2 Damit ist q 2 gerade und somit auch q selber. Das ist ein Widerspruch zu unserer Annahme, dass p und q teilerfremd sind und damit ist das Gegenteil, die Negation, dieser Annahme √ richtig. Also kann 2 keine rationale Zahl sein. Definition 1.2 (Reelle Zahlen): R := {a = ±n1 n2 . . . nk−1 nk , nk+1 nk+2 . . . : ni ∈ {0, 1, . . . , 9}, n1 6= 0} definiert die Menge der reellen Zahlen. Bemerkung 1.2: Die Addition und die Multiplikation kann von den rationalen Zahlen auf die reellen Zahlen ausgedehnt werden und alle oben angegebenen Rechenregeln behalten ihre Gültigkeit auch für R anstelle von Q. Bemerkung 1.3 (Ordnungsrelation): (i) In den rationalen und den reellen Zahlen ist außerdem eine Ordnungsrelation ”≤” mit folgenden Eigenschaften erklärt: • Reflexivität: Für alle a ∈ R gilt: a ≤ a. • Antisymmetrie: Für alle a, b ∈ R gilt: a ≤ b und b ≤ a impliziert a = b. • Transitivität: Für alle a, b, c ∈ R gilt: a ≤ b und b ≤ c impliziert a ≤ c • Verträglichkeit mit der Addition: Für alle a, b, c ∈ R gilt: a ≤ b impliziert a+c ≤ b+c • Verträglichkeit mit der Multiplikation: Für alle a, b, c ∈ R gilt: a ≤ b und 0 ≤ c impliziert a · c ≤ b · c (ii) Man beachte, aus a ≤ b folgt nicht immer automatisch a2 ≤ b2 . Falls 0 ≤ a ≤ b ist, dann gilt a2 ≤ b2 , falls hingegen a ≤ b ≤ 0 ist ergibt sich jedoch a2 ≥ b2 und im Falle a ≤ 0 ≤ b ist sogar keine allgemeingültige Aussage möglich. 5 1. Reelle Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Definition 1.3 (Intervalle): (i) (a, b) := {x ∈ R : a < x < b} (ii) [a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b} = (a, b) ∪ {a, b} (iii) (a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b} = (a, b) ∪ {b} = [a, b] \ {a} (iv) [a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b} = (a, b) ∪ {a} = [a, b] \ {b} Definition 1.4 (Betrag reeller Zahlen): Für jede reelle Zahl a ∈ R definiert man ihren absoluten Betrag durch: 8 |a| := < a falls a ≥ 0 : −a falls a < 0 Bemerkung 1.4: Für den Betrag einer reellen Zahl gelten offensichtlich folgende Eigenschaften: (i) (ii) (iii) (iv) |a| = | − a| −|a| ≤ a ≤ |a| a ≤ b und −a ≤ b ⇔ |a| ≤ b Ist b ≥ 0, so gilt: |a| ≤ b ⇔ −b ≤ a ≤ b Lemma 1.2: Der Betrag reeller Zahlen besitzt die folgenden Grundeigenschaften: (i) (ii) (iii) (iv) Für alle a ∈ R gilt: |a| ≥ 0. |a| = 0 gdw. a = 0. Für alle a, b ∈ R gilt: |a · b| = |a| · |b|. Für alle a, b ∈ R gilt: |a + b| ≤ |a| + |b|. Beweis: Der Beweis ergibt sich durch einfache Fallunterscheidungen. Folgerung 1.1 (Betragsungleichungen): (i) | |a| − |b| | ≤ |a − b| (ii) | |a| − |b| | ≤ |a + b| Beweis: (i) Zunächst erhalten wir aus Lemma 1.2(iv): |a| = |a − b + b| ≤ |a − b| + |b| also |a| − |b| ≤ |a − b| Andererseits gilt aber ganz analog auch: |b| = |b − a + a| ≤ |b − a| + |a| also |b| − |a| ≤ |b − a| und − |a − b| ≤ |a| − |b| Diese beiden so gewonnenen Gleichungen ergeben mit Bemerkung 1.4: −|a − b| ≤ |a| − |b| ≤ |a − b| ⇒ | |a| − |b| | ≤ |a − b| (ii) Der Beweis dieser Aussage folgt sofort aus (i), wenn b durch −b ersetzt wird. 6 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 1. Reelle Zahlen Bemerkung 1.5: Für je zwei reelle Zahlen a und b definiert |a − b| einen Abstand zwischen diesen beiden Zahlen. Definition 1.5 (Beschränkte Mengen): (i) Eine Teilmenge M von R heißt nach oben beschränkt wenn eine reelle Zahl S existiert mit x ≤ S für alle x ∈ M . (ii) Eine Teilmenge M von R heißt nach unten beschränkt wenn eine reelle Zahl s existiert mit x ≥ s für alle x ∈ M . (iii) Eine Teilmenge M von R heißt beschränkt wenn M nach oben und nach unten beschränkt ist. Bemerkung 1.6: (i) Wenn M nach oben (bzw. unten) beschränkt ist, dann existieren unendlich viele Zahlen S (bzw. s) mit der Eigenschaft aus Definition 1.5(i) (bzw. Definition 1.5(ii)). Das bedeutet, dass ein solches S, welches auch obere Schranke genannt wird (bzw. s, welches auch untere Schranke genannt wird), nicht eindeutig bestimmt ist. (ii) Der Teil (iii) aus Definition 1.5 ist äquivalent zu: Es existiert eine Konstante D mit |x| ≤ D für alle x ∈ M . Definition 1.6 (Supremum und Infimum): (i) Eine reelle Zahl S ∗ heißt Supremum (oder kleinste obere Schranke) von M ⊆ R wenn gilt (a) S ∗ ist obere Schranke von M . (b) S ∗ ist kleinste obere Schranke, d.h. für jede obere Schranke S von M gilt: S ∗ ≤ S. Schreibweise: S ∗ = sup M (ii) Eine reelle Zahl s∗ heißt Infimum (oder größte untere Schranke) von M ⊆ R wenn gilt (a) s∗ ist untere Schranke von M . (b) s∗ ist größte untere Schranke, d.h. für jede untere Schranke s von M gilt: s ≤ s∗ . Schreibweise: s∗ = inf M Definition 1.7 (Vollständigkeitsaxiom): Das Vollständigkeitsaxiom für reelle Zahlen besagt: ”Jede nach oben beschränkte, nichtleere Teilmenge reeller Zahlen besitzt ein Supremum in den reellen Zahlen.” Bemerkung 1.7: Diese Aussage bildet den grundlegenden Unterschied zwischen den reellen und den rationalen Zahlen, denn sie gilt nicht, wenn ”reelle” durch ”rationale” ersetzt wird. Zum Beispiel hat folgende Teilmenge von Q kein Supremum in Q, wohl aber in R: M := {r ∈ Q : r2 ≤ 2} . Mit Hilfe des Supremums und des Vollständigkeitsaxioms lassen sich für relle Zahlen a > 0 die Wurzeln und für beliebige α ∈ R auch die Potenzen aα bestimmen. Für das Rechnen mit diesen Größen gelten die folgenden Potenzgesetze: 7 1. Reelle Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Bemerkung 1.8 (Potenzgesetze): Für alle a, b ∈ R+ sowie α, β ∈ R gelten: (i) (ii) aα+β = aα · aβ (aα )β = aα·β (iii) a−α = (iv) (a · b)α = aα · bα 1 aα Die Gültigkeit einer Aussage A(n) für jede natürliche Zahl n ≥ n0 kann durch Vollständige Induktion nachgewiesen werden. Dazu betrachten wir zunächst ein bekanntes Beispiel: Beispiel 1.1: Wir wollen zeigen, dass Folgendes gilt: n X j= j=1 n(n + 1) 2 Der Induktionsbeweis besteht nun aus 2 Teilen: 1. Dem Induktionsanfang (I.A.), d.h. dem Nachweis, dass die Aussage oder Formel für n = 1 gültig ist. 1 X j=1= j=1 1(1 + 1) 2 2. Dem Induktionsschritt in dem gezeigt wird, dass aus der Annahme, dass die Aussage oder Formel für n = k gültig ist auch die Gültigkeit der entsprechenden Aussage oder Formel für den Nachfolger von k, d.h. für n = k + 1 folgt. 2.1 Induktionsvoraussetzung (I.V.): Es gelte: k X j= j=1 k(k + 1) 2 2.2 Induktionsbehauptung (I.B.): Dann gilt auch: k+1 X j=1 j= (k + 1)(k + 2) 2 2.3 Induktionsschluss (I.S.): k+1 X j=1 j= k X j=1 IV j + (k + 1) = k(k + 1) 2(k + 1) k+2 (k + 1)(k + 2) + = (k + 1) = 2 2 2 2 Ebenso kann man mittels dem Prinzip der Induktion auch Definitionen formulieren. Eine solche Definition besteht aus 2 Teilen: 8 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 1. Reelle Zahlen 1. Dem Induktionsanfang, d.h. der Definition wie der Ausdruck für n = 1 definiert ist. 2. Dem Induktionsschritt, d.h. der Definition, wie der Ausdruck für eine natürliche Zahl unter Verwendung der Definition des Vorgängers definiert ist. Zum Beispiel ist die Fakultät einer natürlichen Zahl n auf diese Weise erklärt: 0! = 1 und (n + 1)! = (n + 1) · n!. Oder auch die Potenz mit einer natürlichen Zahl als Exponent ist definiert durch: q 0 := 1 und q n+1 = q n · q. Auch Folgen (vergleiche Kapitel 6) können induktiv definiert werden: √ √ a1 := 2 und an+1 := 2 + an . Definition 1.8 (Binomialkoeffizient): Für zwei ganze Zahlen n und j mit 0 ≤ j ≤ n ist der Binomialkoeffizient n j := n j definiert als: n! j!(n − j)! Lemma 1.3 (Eigenschaften des Binomialkoeffizienten): Für die Binomialkoeffizienten gelten: n n = j n−j n n = =1 0 n n n n+1 + = j j+1 j+1 (i) (ii) (iii) sowie n 1 = n n−1 =n Beweis: (i) (ii) n j n n−j Ergibt sich auch sofort aus der Definition der Binomialkoeffizienten. (iii) n! n! n! = = = = j!(n − j)! (n − (n − j))!(n − j)! (n − j)!(n − (n − j))! n n + j j+1 n! n! + j!(n − j)! (j + 1)!(n − (j + 1))! n! n! = + j!(n − j)! j! · (j + 1) · (n − j − 1)! n! · (n − j) n! n−j n! = + = 1+ j!(n − j)! j! · (j + 1) · (n − j)! j!(n − j)! j+1 n! j+1+n−j n! n+1 = = j!(n − j)! j+1 j!(n + 1 − (j + 1))! j + 1 n! · (n + 1) (n + 1)! = = j! · (j + 1) · (n + 1 − (j + 1))! (j + 1)!(n + 1 − (j + 1))! n+1 = j+1 = Damit sind die gewünschten Behauptungen bewiesen. 9 1. Reelle Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Satz 1.1 (Binomischer Lehrsatz): Sei n ∈ N und a, b ∈ R \ {0}. Dann gilt: n (a + b) = n X n X n n j n−j ·a ·b = · an−j · bj . j j j=0 j=0 Beweis: Wir werden nur die erste Gleichheit beweisen, die zweite Gleichheit folgt durch Vertauschung von a und b. I.A.: I.V.: 1 (a + b) = a + b = n (a + b) = n X j=0 I.B.: (a + b) n+1 = I.S.: (a + b) n+1 n+1 · aj · bn+1−j j n = (a + b) · (a + b) = (a + b) =a j=0 n X n · aj · bn−j j j=0 n X n X n · aj · bn−j j n+1 X j=0 1 1 0 1 1 1 0 X 1 a b + a b = · aj · b1−j 0 1 j j=0 n n · aj · bn−j + b · aj · bn−j j j j=0 n 1 n n 2 n−1 n n n+1 0 = a b + a b + ... + an b1 + a b 0 1 n−1 n n 0 n+1 n 1 n n 2 n−1 n n 1 a b + a b + . . . + a b + a b + 0 1 2 n n 0 n+1 n n n n 1 n = a b + + a b + + a2 bn−1 + . . . 0 0 1 1 2 n n n n+1 0 n 1 + + a b + a b n−1 n n n + 1 0 n+1 n+1 1 n n + 1 2 n−1 = a b + a b + a b + ... 0 1 2 X n+1 n 1 n + 1 n+1 0 n+1 n+1 + a b + a b = · aj · bn+1−j n n+1 j j=0 Dabei wurde im vorletzten Umformungsschritt des Induktionsschlusses Lemma 1.3 Bemerkung 1.9: (i) Ein Spezialfall des Binomischen Lehrsatzes sind die bekannten Binomischen Formeln, welche man im Fall n = 2 erhält. (ii) In der Menge M := {1, 2, 3, . . . , n} hat man genau n! Möglichkeiten der Anordnung der Elemente von M . Diese nennt man auch Permutationen. (iii) Für die Bildung einer j-elementigen Teilmenge von M := {1, 2, 3, . . . , n} hat man n! genau nj := j!(n−j)! Möglichkeiten. (iv) Aus dem Binomischen Lehrsatz ist der direkte Zusammenhang zwischen dem Binomialkoeffizienten und dem Pascal’schen Dreieck ersichtlich. Im Pascal’schen Dreieck steht in 10 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 1. Reelle Zahlen der n-ten Zeile an der j-ten Stelle der Wert nj . (v) Bei der Bildung einer Teilmenge A von M := {1, 2, 3, . . . , n} hat man genau n X n j j=0 = n X j=0 n · 1n−j · 1j = (1 + 1)n = 2n j verschiedene Möglichkeiten. Diese Teilmengen bilden die Potenzmenge von M , die daher immer 2n genau Elemente besitzt. (vi) Außerdem erhält man im Pascal’schen Dreieck beim alternierenden Aufsummieren einer Zeile immer das Ergebnis 0, denn es gilt: n X j (−1) j=0 n j = n X j=0 n · 1n−j · (−1)j = (1 − 1)n = 0n = 0 . j 1 1 1 1 1 1 2 3 4 1 3 6 1 4 1 Abbildung 2: Paschal’sches Dreieck Satz 1.2 (Ungleichung von Bernoulli): Für n ∈ N und a ∈ R mit a ≥ −1 gilt stets (1 + a)n ≥ 1 + n · a . Beweis: I.A.: (1 + a)1 = 1 + a = 1 + 1 · a I.V.: (1 + a)n ≥ 1 + n · a I.B.: (1 + a)n+1 ≥ 1 + (n + 1) · a I.S.: Wir nehmen die I.V. und multiplizieren diese mit (1 + a) ≥ 0 - hierfür ist die Voraussetzung a ≥ −1 wichtig: (1 + a)n ≥ 1 + n · a (1 + a)n · (1 + a) ≥ (1 + n · a) · (1 + a) und schätzen ab (1 + a)n+1 ≥ 1 + n · a + a + n · a2 ≥ 1 + (n + 1) · a . 11 2. Komplexe Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen Nicht jede quadratische Gleichung x2 + px + q = 0 hat eine Lösung in den reellen Zahlen. So ist zum Beipiel x2 − 2x + 2 = 0 nicht in R lösbar, denn die bekannte Lösungsformel einer quadratischen Gleichung liefert hier: Ê x1/2 −2 =− ± 2 √ (−2)2 − 2 = 1 ± −1 4 Angenommen es gäbe eine nicht-reelle Zahl i mit i2 = −1, so würde für obige Nullstellen gelten: x1 = 1 + i und x2 = 1 − i. Damit wäre dann jede quadratische Gleichung lösbar. Definition 2.1 (Komplexe Zahl): (i) C := {(a, b) : a, b ∈ R} ist die Menge aller geordneten Paare von reellen Zahlen und diese wird zusammen mit den Rechenoperationen (a, b) ⊕ (c, d) := (a + c, b + d) (a, b) (c, d) := (ac − bd, ad + bc) zur Menge der komplexen Zahlen. (ii) Die komplexe Zahl i := (0, 1) nennen wir die imaginäre Einheit. Bemerkung 2.1 (Rechenregeln für komplexe Zahlen): (i) Man kann sich leicht davon überzeugen, dass alle für die reellen Zahlen bekannten Rechenregeln für die Addition und Multiplikation - vergl. Bemerkung 1.1 - bezüglich der Addition ⊕ und der Multiplikation ebenfalls gelten. (ii) Die reellen Zahlen sind durch die Zuordnung I in die komplexen Zahlen eingebettet I : R −→ C definiert durch I(a) := (a, 0) und die Operationen ⊕ und sind Erweiterungen der bekannten Operationen + und · in den reellen Zahlen. Wir verwenden daher auch im Folgenden wieder die gewohnten Symbole. Ebenso unterscheiden wir nicht zwischen I(a) und a. (iii) Es gilt i2 = (0, 1) (0, 1) = (0 − 1, 0 + 0) = (−1, 0) = I(−1) = −1. (iv) Mit Hilfe der imaginären Einheit i kann man jede komplexe Zahl (a, b) ∈ C in Normaldarstellung aufschreiben als z = a + bi, denn: z = (a, b) = (a, 0) ⊕ (0, b) = (a, 0) ⊕ ((0, 1) (b, 0)) = I(a) ⊕ (i I(b)) = a + ib Definition 2.2 (Real- und Imaginärteil): Sei z = a + bi ∈ C eine komplexe Zahl. Dann nennen wir a den Realteil und b den Imaginärteil von z. Schreibweise: <(z) := a ∈ R und =(z) := b ∈ R Definition 2.3 (Konjugiert komplexe Zahl und Betrag einer komplexen Zahl): (i) Es sei z ∈ C mit der Darstellung z = a + ib gegeben. Die Zahl z̄ := a − ib ∈ C heißt dann, die zu z konjugiert komplexe Zahl. √ (ii) Die reelle Zahl |z| := a2 + b2 heißt Betrag von z. 12 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen Bemerkung 2.2: Die komplexen Zahlen haben eine einfache geometrische Interpretation in der Gauß’schen Zahlenebene. = z = a + bi b < a −b z̄ = a − bi Abbildung 3: Komplexe Zahl in der Gauß’schen Zahlenebene Lemma 2.1 (Subtraktion und Divison komplexer Zahlen): (i) z1 + w = z2 besitzt für vorgegebene z1 , z2 ∈ C genau eine Lösung, nämlich: w = z2 − z1 = (a2 − a1 ) + (b2 − b1 )i (ii) z1 · w = z2 besitzt für vorgegebene z1 , z2 ∈ C mit z1 6= 0 genau eine Lösung, nämlich: w= z2 · z̄1 z2 · z̄1 a1 a2 + b1 b2 z2 a1 b2 − b1 a2 = = = +i z1 z1 · z̄1 |z1 |2 a21 + b21 a21 + b21 (iii) Insbesondere gilt für z 6= 0 z̄ a b 1 = 2 = 2 −i 2 2 z |z| a +b a + b2 . Beweis: Der Beweis ergibt sich durch einfaches Nachrechnen. Lemma 2.2 (Rechenregeln für Betrag und konjugiert komplexe Zahlen): Es gelten folgende einfache Eigenschaften: (i) (ii) (iii) (iv) (v) z̄¯ = z z + w = z̄ + w̄ und z · w = z̄ · w̄ z = z̄ genau dann wenn z ∈ R 1 1 <(z) = (z + z̄) und =(z) = (z − z̄) 2 2i |z| = |z̄| Beweis: Der Beweis ergibt sich durch einfache Rechnungen. 13 2. Komplexe Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Lemma 2.3 (Norm-Eigenschaften des Betrages komplexer Zahlen): Der Betrag einer komplexen Zahl besitzt folgende Grundeigenschaften: (i) (ii) (iii) (iv) Für alle z ∈ C gilt: |z| ≥ 0. |z| = 0 gdw. z = 0. Für alle z, w ∈ C gilt: |z · w| = |z| · |w|. Für alle z, w ∈ C gilt: |z + w| ≤ |z| + |w|. Beweis: Der Beweis der einzelnen Eigenschaften ergibt sich nun unter Verwendung einiger Ergebnisse von Lemma 2.2 wieder durch einfache Rechnungen. Wir stellen hier nur exemplarisch die Rechnung zu Eigenschaft (iv) dar: Aus (iii) und Lemma 2.2 folgt: |z + w|2 = (z + w) · (z + w) = z z̄ + z w̄ + wz̄ + ww̄ = |z|2 + z w̄ + z w̄ + |w|2 = |z|2 + 2<(z w̄) + |w|2 ≤ |z|2 + 2|z w̄| + |w|2 = |z|2 + 2|z||w| + |w|2 ≤ (|z| + |w|)2 Woraus sich nun die zu beweisende Ungleichung ergibt. Bemerkung 2.3: Für je zwei komplexe Zahlen z und w definiert |z − w| wieder einen Abstand zwischen diesen beiden Zahlen. Wir wollen nun die Polarkoordinaten-Darstellung für eine komplexe Zahl einführen. Dazu benötigen wir einfache Eigenschaften der Winkel-Funktionen Sinus und Kosinus. Für einen Winkel mit 0 ≤ ϕ ≤ π2 sind die Funktionen Sinus und Cosinus im rechtwinkligen Dreieck geometrisch wie folgt definiert: sin ϕ = Gegenkathete Hypothenuse und cos ϕ = Ankathete Hypothenuse Beziehungsweise für beliebige Winkel ϕ folendermaßen am Einheitskreis: Damit ergibt sich: Beide Funktionen sind 2π periodisch, sin ϕ ist eine ungerade und cos ϕ eine gerade Funktion und man kann geometrisch die folgenden Additionstheoreme herleiten: (i) sin2 ϕ + cos2 ϕ = 1 (ii) sin ϕ = cos(ϕ − π2 ) (iii) sin(ϕ ± ψ) = sin ϕ cos ψ ± cos ϕ sin ψ (iv) cos(ϕ ± ψ) = cos ϕ cos ψ ∓ sin ϕ sin ψ 14 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen = sin ψ ψ ϕ sin ϕ < cos ϕ cos ψ Abbildung 4: Sinus und Kosinus am Einheitskreis y 1 0 −1 sin x π 2 π x 3π 2 2π cos x Abbildung 5: Sinus und Kosinus 15 2. Komplexe Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Im Intervall [0, π] ist die Funktion cos : [0, π] −→ [−1, 1] streng monoton fallend, womit für diesen Bereich die Umkehrfunktion ”arccos” existiert - vergleiche auch Kapitel 8.3. cos ϕ = η ⇔ arccos η = ϕ Definition 2.4 (Polarkoordinaten komplexer Zahlen): Die Polarkoordinaten-Darstellung einer komplexen Zahl z = a + bi ∈ C lautet: z = r(cos ϕ + i sin ϕ) Dabei ist r der Abstand von z zum Ursprung der Gauß’schen Zahlenebene und ϕ ist der mathematisch positive Winkel zwischen reeller Achse und Verbindungslinie zwischen z und dem Ursprung. Dieser wird auch als Argument von z - arg(z) - bezeichnet. = z = r(cos ϕ + i sin ϕ) b r ϕ a < Abbildung 6: Komplexe Zahl in Polarkoordinaten Die Umrechnung von der Normaldarstellung (karthesischen Koordinaten) in Polarkoordinaten und umgekehrt geschieht dabei nach den folgenden Regeln: Die Normaldarstellung ergibt sich aus den Polarkoordinaten durch a = r cos ϕ b = r sin ϕ und und die Polarkoordinaten erhält man aus der Normaldarstellung mittels È r = |z| = a2 + b2 und 8 ϕ = arg(z) := < arccos( ar ) falls b ≥ 0 : 2π − arccos( ar ) falls b < 0 Bemerkung 2.4: (i) Die Abbildung von C \ {0} auf (0, ∞) × [0, 2π) ist eineindeutig (also eine Bijektion). (ii) Es gilt z = w gdw. |z| = |w| und arg(z) = arg(w) + 2kπ mit k ∈ Z ist. Beispiel 2.1: √ √ 7π So ist 1 + i = 2(cos π4 + i sin π4 ) und 1 − i = 2(cos 7π 4 + i sin 4 ) 16 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen Bemerkung 2.5: Die Polarkoordinaten-Darstellung ist besonders geeignet, um die Multiplikation und Division von komplexen Zahlen zu verstehen und durchzuführen. Dazu betrachten wir die beiden Zahlen z und w in Polarkoordinaten-Darstellung. z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) und w = |w|(cos ψ + i sin ψ) Dann erhalten wir z · w = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) · |w|(cos ψ + i sin ψ) = |z||w|(cos ϕ cos ψ − sin ϕ sin ψ + i(cos ϕ sin ψ + sin ϕ cos ψ)) = |z||w|(cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ)) und analog z |z| = (cos(ϕ − ψ) + i sin(ϕ − ψ)) . w |w| Damit gilt also für die Winkel: arg(z · w) = arg(z) + arg(w) sowie z arg w = arg(z) − arg(w) Beispiel 2.2: √ √ π π π π Es sei z = 3 + i = 2(cos + i sin ) und w = 2 + 2i = 2 2(cos + i sin ). 6 6 4 4 Dann gilt: √ 5π 5π z 1 π π + i sin und = √ cos − + i sin − . z · w = 4 2 cos 12 12 w 12 12 2 Satz 2.1 (Formel von Moivre): Sei z = r(cos ϕ + i sin ϕ) ∈ C und n ∈ N. Dann gilt: z n = rn (cos(nϕ) + i sin(nϕ)) Beweis: Dieser Beweis läßt sich einfach mit vollständiger Induktion führen. Der Induktionsanfang für n = 2 ergibt sich dabei als Spezialfall aus Bemerkung 2.5. Bemerkung 2.6: Wie wir später sehen werden gilt eiϕ = cos ϕ + i sin ϕ, womit die PolarkoordinatenDarstellung einer komplexen Zahl auch kurz als z = reiϕ geschrieben werden kann. So ist z.B. ei·0 = 1 oder auch eiπ = −1. Damit hätten wir die Formel von Moivre auch aus den Potenzgesetze für komplexe Zahlen erhalten können: z = reiϕ ⇒ z n = (reiϕ )n = rn einϕ Definition 2.5 (Wurzeln komplexer Zahlen): Gegeben seien w ∈ C und n ∈ N. Eine Zahl z ∈ C für die z n = w gilt heißt n-te Wurzel aus w. 17 2. Komplexe Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Wir wollen nun die n-te Wurzeln aus komplexen Zahlen berechnen. Zunächst betrachten wir dabei den Fall n = 2: 1. Variante (mit karthesischen Koordinaten): Es soll gelten: z 2 = w, wobei z = x + iy gesucht und w = u + iv vorgegeben ist. Dann erhalten wir: ! z 2 = (x + iy)2 = x2 + 2ixy + i2 y 2 = x2 − y 2 + 2ixy = u + iv Daraus folgen die zwei Gleichungen u = x2 − y 2 und v = 2xy. Das Auflösen dieses nicht-linearen Gleichungssystems nach x und y führt zur Darstellung von z. 2. Variante (mit Polarkoordinaten): Hier soll gelten: z = %(cos ψ + i sin ψ) ist gesucht und w = r(cos ϕ + i sin ϕ) ist vorgegeben. Dann erhält man: ! z 2 = %2 (cos(2ψ) + i sin(2ψ)) = r(cos ϕ + i sin ϕ) Es folgen diesmal die beiden Gleichungen r = %2 bzw. % = ψ = ϕ+2kπ = ϕ2 + kπ für k ∈ Z. 2 √ r sowie ϕ + 2kπ = 2ψ bzw. Wir betrachten nun den allgemeinen Fall n ∈ N: Hier soll wieder z = %(cos ψ + i sin ψ) gesucht und w = r(cos ϕ + i sin ϕ) vorgegeben sein. Analog zu oben erhalten wir hier: ! z n = %n (cos(nψ) + i sin(nψ)) = r(cos ϕ + i sin ϕ) Es folgen die beiden Gleichungen % = kung 2.4. Insgesamt gilt also: zk = √ n √ n r sowie ψ = ϕ+2kπ n ϕ + 2kπ ϕ + 2kπ r cos + i sin n n für k ∈ Z - vergleiche Bemer- mit k∈Z Beispiel 2.3: Wir wollen alle Lösungen der Gleichung z 4 = 1 berechnen. (Das heißt wir suchen alle vierten komplexen Wurzeln der Zahl 1.) Dazu schreiben wir 1 zunächst in PolarkoorinatenDarstellung - diese kann man auch sofort aus ihrer Darstellung in der Gaus’ßschen Zahlenebene erhalten. z 4 = 1 = 1(cos 0 + i sin 0) = 1(cos(0 + 2kπ) + i sin(0 + 2kπ)) Anwendung der eben hergeleiteten Formel liefert dann: √ 4 0 + 2kπ 0 + 2kπ kπ kπ + i sin = cos + i sin mit k ∈ Z 4 4 2 2 √ Dabei ist zu beachten, dass 4 1 als die reelle Wurzel aus der Zahl 1 zu verstehen ist, da der Betrag r einer komplexen Zahl z = r(cos ϕ + i sin ϕ) immer reell ist. Wenn wir nun konkrete Werte für k ∈ Z einsetzen, erhalten wir: z0 = 1, z1 = i, z2 = −1, z3 = −i, z4 = 1, z5 = i usw., was zeigt, dass sich die Wurzeln nach einer gewissen Zeit wiederholen. zk = 18 1 cos Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen Satz 2.2 (Mehrdeutigkeit der komplexen Wurzeln): Die n-te Wurzel aus einer komplexen Zahl w 6= 0 hat genau n verschiedene Werte, d.h. für w = r(cos ϕ + i sin ϕ) mit r 6= 0 und n ∈ N gibt es genau n verschiedene komplexe n-te Wurzeln √ ϕ + 2kπ ϕ + 2kπ n und k ∈ {0, 1, . . . , n − 1} zk = r cos + i sin n n Beweis: Das die angegebenen komplexen Zahlen zk n−te Wurzel von w sind folgt sofort aus den Überlegungen die wir vor diesem Satz angestellt haben.Entscheidend ist nun, wieviele dieser zk unterschiediche Zahlen sind. Aber auch hier kann man sich aus der 2π-Periodizität der Kosinus- und der Sinus-Funktion relativ einfach herleiten, dass es genau n voneinander verschiedene Wurzeln geben muß und dass diese wie im Satz beschrieben angegeben werden können. Bemerkung 2.7: Vorsicht beim Rechnen mit komplexen Wurzeln! Durch die Mehrdeutigkeit der komplexen Wurzeln gehen für die reellen Zahlen gewohnte Rechenregeln verloren. Die aus der Schule bekannten Wurzelgesetze È √ √ √ √ √ n m n z · n w = n z · w und z = nm z gelten nur noch, wenn man geeignete Werte für k aus Satz 2.2 wählt. Im Allgemeinen verlieren sie jedoch ihre Gültigkeit! Wir betrachten nun die Zerlegung eines Polynoms in Faktoren. Bei einer quadratischen Gleichung können prinzipiell 3 Fälle auftreten: 1. Die quadratische Gleichung lässt sich als Produkt zweier verschiedener reeller Faktoren schreiben: x2 − 3x + 2 = (x − 1)(x − 2). 2. Die quadratische Gleichung lässt sich als Quadrat eines reellen Faktors aufschreiben: x2 + 6x + 9 = (x + 3)2 . 3. Die quadratische Gleichung lässt sich als Produkt zweier komplexer Faktoren schreiben: x2 − 6x + 13 = (x − (3 + 2i))(x − (3 − 2i)). Allgemein lässt sich eine quadratische Gleichung nach dem Vieta’schen Wurzelsatz schreiben als x2 + px + q = (x − x1 )(x − x2 ) mit p = x1 + x2 und q = x1 x2 . Definition 2.6 (Polynom und Nullstelle eines Polynoms): (i) Die Funktion Qn heißt komplexes Polynom vom Grad n wenn Qn (z) := bn z n + bn−1 z n−1 + . . . b1 z + b0 = n P j=0 bj z j mit bn 6= 0 und bj ∈ C für alle j ∈ {0, 1, . . . , n}. (ii) Die Zahl z0 ∈ C heißt Nullstelle von Qn wenn Qn (z0 ) = 0 ist. 19 2. Komplexe Zahlen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Nun ergeben sich die folgenden zwei Probleme: 1. Man finde alle Nullstellen von Qn (z). 2. Man stelle Qn (z) als Produkt von Linearfaktoren dar. Lemma 2.4 (Faktorisierung eines Polynoms): Sei Qn ein Polynom n-ten Grades (n ≥ 1) und z0 eine Nullstelle von Qn . Dann gilt Qn (z) = (z − z0 )Qn−1 (z) wobei Qn−1 ein Polynom (n − 1)-ten Grades ist. Beweis: Aus den Voraussetzungen folgt sofort: Qn (z) = Qn (z) − Qn (z0 ) = n X bk z k − k=0 = n X n X k=0 bk z0k = n X bk (z k − z0k ) k=0 bk (z − z0 )(z k−1 + z k−2 z0 + . . . + zz0k−2 + z0k−1 ) k=1 = (z − z0 ) n X bk (z k−1 + z k−2 z0 + . . . + zz0k−2 + z0k−1 ) k=1 | {z } Qn−1 (z) Dabei soll gelten Qn−1 (z) = n P cj z j , wobei cn−1 = bn , cn−2 = bn−1 + bn z0 usw. ist. j=0 Satz 2.3 (Fundamentalsatz der Algebra): Jedes komplexe Polynom positiven Grades besitzt mindestens eine komplexe Nullstelle. Beweis: Dieser Satz kann mit Hilfe der Funktionentheorie sehr elegant und schnell bewiesen werden. Ein direkter Beweis ist ebenfalls möglich, ist aber etwas aufwändiger und entfällt an dieser Stelle. Satz 2.4: Ein komplexes Polynom Qn vom Grad n ≥ 1 lässt sich mit Hilfe seiner Nullstellen z1 , z2 , . . . , zl ∈ C darstellen als Qn (z) = bn (z − z1 )m1 (z − z2 )m2 · · · (z − zl )ml mit einem bn ∈ C \ {0} und m1 , m2 , . . . , ml ∈ N wobei m1 + m2 + . . . + ml = n gilt. Beweis: Wiederholtes Anwenden von Lemma 2.4 und Satz 2.3 liefert den Beweis. Dabei ist zu beachten, dass mehrfache Nullstellen möglich sind - mj gibt die Ordnung der Nullstelle zj an . Wir betrachten nun Polynome mit reellen Koeffizienten. Wie zum Beispiel Pn (x) = an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0 Dabei soll a0 , a1 , . . . , an ∈ R und an 6= 0 gelten. 20 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Komplexe Zahlen Lemma 2.5 (Reelle Polynome): (i) Ist x0 eine relle Nullstelle des reellen Polynoms Pn , so gilt: Pn (x) = (x − x0 )Pn−1 . Dabei besitzt Pn−1 wieder nur reelle Koeffizienten. (ii) Ist z0 = a + bi ∈ C eine komplexe Nullstelle mit b 6= 0 des reellen Polynoms Pn , dann ist auch z¯0 = a − bi ∈ C eine Nullstelle von Pn . In diesem Fall gilt: Pn (x) = (x − z0 )(x − z¯0 )Pn−2 (x) = ((x − a)2 + b2 )Pn−2 (x) und Pn−2 ist ein Polynom (n − 2)-ten Grades mit reellen Koeffizienten. Beweis: (i) Klar, da die Aussage nur ein Spezialfall von Lemma 2.4 ist. (ii) Wegen der Voraussetzung und Lemma 2.2 gilt: 0 = 0̄ = Pn (z0 ) = n X ak z0k = k=0 n X k=0 ak z0k = n X ak z0k = k=0 n X ak z¯0 k k=0 Da Pn ein reelles Polynom sein sollte, gilt ak ∈ R. Wegen Lemma 2.2(vii) gilt daher auch ak = ak . Es folgt: 0= n X k=0 ak z¯0 k = n X ak z¯0 k = Pn (z¯0 ) k=0 Mittels zweimaligem Abspalten eines Faktors wie in Lemma 2.4 und anschließendem Zusammenfassen zeigt sich die gewünschte Behauptung. Satz 2.5 (Faktor-Darstellung eines Polynoms): Es sei Pn ein reelles Polynom vom Grad n. Dann lässt sich Pn darstellen als: Pn (x) = c · (x − x1 )l1 · · · (x − xs )ls · ((x − a1 )2 + b21 )m1 · · · ((x − at )2 + b2t )mt wobei Folgendes gelten soll: 1. Pn (xj ) = 0 für alle reellen Nullstellen xj ∈ R für j ∈ {1, 2, . . . , s}. 2. Pn (ak ± bk i) = 0 für alle komplexen Nullstellen ak ± bk i ∈ C für k ∈ {1, 2, . . . , t}. 3. Für die Vielfachheiten l1 , l2 , . . . , ls , m1 , m2 , . . . , mt ∈ N der Nullstellen gilt außerdem: l1 + l2 + . . . + ls + 2(m1 + m2 + . . . + mt ) = n. Beweis: Folgt sofort aus den Vorbetrachtungen und den vorherigen Sätzen und Lemmata. Beispiel 2.4: Die Zerlegungen einiger ausgewählter Polynome lauten wie folgt: (i) x4 − 1 = (x2 − 1)(x2 + 1) = (x − 1)(x + 1)(x2 + 1) (ii) 2x6 − 4x5 + 6x4 − 8x3 + 6x2 − 4x + 2 = 2 · (x − 1)2 · (x2 + 1)2 (iii) x7 + 4x5 + 4x3 = x3 (x4 + 4x2 + 4) = x3 (x2 + 2)2 (iv) x3 − 5x2 + 9x − 5 = (x − 1)(x2 − 4x + 5) = (x − 1)((x − 2)2 + 1) 21 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Bemerkung 3.1: Wir betrachten in diesem Kapitel immer Punkte P und Q in der Ebene oder dem Raum −−→ und die gerichtete Strecke P Q von P nach Q zwischen ihnen. Definition 3.1 (Vektoren): −−→ −−→ (i) Zwei gerichtete Strecken P Q und P 0 Q0 heißen äquivalent, falls sie durch Parallelverschiebung ineinander überführt werden können. Das heißt: 1. Die Strecken P Q und P 0 Q0 sind gleich lang. 2. Die Geraden P Q und P 0 Q0 sind parallel. 3. Die Strahlen P Q und P 0 Q0 sind gleichgerichtet. (ii) Als freien Vektor ~a bezeichenen wir die Menge aller gerichteten Strecken, die zu einer −−→ vorgegebenen Strecke AA0 äquivalent sind. −−→ −−→ −−→ ~a := {P Q : P Q ist äquivalent zu AA0 } Ein beliebiges Element von ~a heißt Repräsentant von ~a. −−→ −−→ −→ (iii) ~0 := {P Q : P Q ist äquivalent zu AA} ist der sogenannte Nullvektor. (iv) Mit −~a bezeichnen wir den Vektor ~a nur mit entgegengesetztem Richtungssinn. −−→ −−→ −−→ −~a := {P Q : P Q ist äquivalent zu A0 A} −−→ (v) Mit dem Betrag eines Vektors |~a| bezeichnen wir die Länge der Strecke AA0 . Definition 3.2 (Vektoraddition): Die Vektoraddition entspricht einem ”Aneinanderlegen” der Vektoren ~a und ~b. ~a ~b ~c = ~b ~a + ~a Abbildung 7: Vektoraddition Lemma 3.1 (Eigenschaften der Vektoraddition): Es gelten folgende Eigenschaften für die Vektoraddition: (i) ~a + ~b = ~b + ~a (ii) ~a + ~0 = ~a (iii) ~a + (−~a) = ~0 (iv) ~a + ~b = ~c gdw. ~a = ~c + (−~b). 22 ~b Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Bemerkung 3.2: Außerdem führen wir die verkürzende Schreibweise ~a − ~b anstatt ~a + (−~b) ein. Definition 3.3 (Skalare Multiplikation): Weiterhin soll für eine relle Zahl λ und einen Vektor ~a eine skalare Multiplikation (Multiplikation mit einem Skalar) auf die folgende Art und Weise erklärt sein: 1. Fall (λ > 0): Dann bezeichnet λ~a den Vektor mit Länge λ · |~a| der parallel zu ~a ist und den gleichen Richtungssinn hat wie ~a. 2. Fall (λ < 0): Dann bezeichnet λ~a den Vektor mit Länge |λ| · |~a| der parallel zu ~a ist und den entgegengesetzten Richtungssinn hat wie ~a. 3. Fall (λ = 0): Dann bezeichnet λ~a = 0 · ~a = ~0 den Nullvektor. Bemerkung 3.3: Für λ > 1 entspricht die skalare Multiplikation einer Steckung des Vektors ~a und für 0 < λ < 1 einer Stauchung. Lemma 3.2 (Eigenschaften der skalaren Multiplikation): Es gelten folgende Eigenschaften für skalare Multiplikation: (i) 1 · ~a = ~a (ii) λ(µ~a) = (λµ)~a (iii) (λ + µ)~a = λ~a + µ~a (iv) λ(~a + ~b) = λ~a + λ~b Bemerkung 3.4 (Koordinatendarstellung): Man kann Vektoren in der Ebene (bzw. im Raum) auch mit Zahlenpaaren (bzw. Zahlentripeln) identifizieren. Um das zu verdeutlichen definieren wir −−−−−−−→ −−→ −−→ ~e1 := {P Q : P Q ist äquivalent zu (0, 0)(1, 0)} −−−−−−−→ −→ −→ ~e2 := {RS : RS ist äquivalent zu (0, 0)(0, 1)} Dann lässt sich jeder beliebige Vektor ~a darstellen als: ~a = a1 · ~e1 + a2 · ~e2 Dabei sind a1 und a2 reelle Zahlen, die Koordinaten bzgl. der Basis {~e1 , ~e2 } genannt werden. Diese sind eindeutig bestimmt. Analog kann man einen Vektor ~a im Raum mit Hilfe von {~e1 , ~e2 , ~e3 } darstellen als: ~a = a1 · ~e1 + a2 · ~e2 + a3 · ~e3 a1 Also entspricht dem Vektor ~a das Zahlentripel aa2 , welches auch Spaltenvektor genannt 3 wird. Die Menge der drei Vektoren {~e1 , ~e2 , ~e3 } wird auch Standard-Basis genannt. Diese Vektoren bilden ein Rechtssystem. 23 3. Vektoren in der Ebene und im Raum 1 ~e2 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler ~a ϕ2 ϕ1 ~e1 1 Abbildung 8: Koordinatendarstellung Auch die Rechenoperationen können auf die Koordinatendarstellung übertragen werden. Die Vektoraddition ~a + ~b = ~c kann so geschrieben werden als: a1 a2 a3 b1 b2 b3 + a1 + b1 a2 + b2 a3 + b3 = Die skalare Multiplikation λ~a = ~b andererseits kann geschrieben werden als: λ a1 a2 a3 = λa1 λa2 λa3 Sogar der Betrag eines Vektors lässt sich aus seinen Koordinaten bezüglich der StandardÈ Basis errechnen, nämlich durch: |~a| = a21 + a22 + a23 . Umgekehrt kann man aber auch die Koordinaten eines Vektors ~a ausrechnen. Es gilt: a1 = |~a| · cos ϕ1 a2 = |~a| · cos ϕ2 a3 = |~a| · cos ϕ3 (3.1) Dabei steht ϕi für den Winkel zwischen ~a und ~ei (mit i ∈ {1, 2, 3}). Definition 3.4 (Skalarprodukt): Das Skalarprodukt zweier Vektoren ~a und ~b ist definiert durch: ~a · ~b = |~a| · |~b| · cos ϕ . Dabei ist ϕ der von ~a und ~b eingeschlossene Winkel. Andere mögliche Schreibweisen sind: h~a, ~bi oder s(~a, ~b). Lemma 3.3 (Eigenschaften des Skalarproduktes (Teil I)): Es gelten folgende Eigenschaften für das Skalarprodukt: (i) ~a · ~b > 0 gdw. 0 ≤ ϕ < π2 (ii) ~a · ~b = 0 gdw. ϕ = π2 (iii) ~a · ~b < 0 gdw. ϕ > π2 24 3. Vektoren in der Ebene und im Raum b~ Mathematik für Werkstoffwissenschaftler ϕ ~a Abbildung 9: Winkel zwischen zwei Vektoren Beweis: Diese Aussagen sind sofort aus der Definition ersichtlich, da das Vorzeichen des Skalarproduktes nur von dem Term cos ϕ bestimmt wird. Bemerkung 3.5: Die Gleichungen in (3.1) können nun auch geschrieben werden als: ai = |~a| · cos ϕi = |~a| · |~ei | · cos ϕi = ~a · ~ei für i ∈ {1, 2, 3} Definition 3.5 (Orthogonale Projektion): In Abbildung 10 nennen wir p~ die (orthogonale) Projektion des Vektor ~b auf die durch ~a bestimmte Gerade. Wir bezeichen p~ auch mit ~b~a . ~b p~ = ~b~a ϕ . ~a Abbildung 10: Projektion von ~b auf ~a Berechnung von ~b~a : Zunächst gilt: π falls 0 ≤ ϕ ≤ 2 π ~ ~ |b~a | = −|b| · cos ϕ falls ≤ϕ≤π 2 |~b~a | = |~b| · cos ϕ ~a |~a| , derjenige der die gleiche Richtung hat wie ~a, aber auf Länge 1 gestreckt oder gestaucht wurde. Entlang diesem müssen wir |~b~a | abtragen, um auf ~b~a zu kommen. Das heißt: Außerdem ist der Vektor ~ ~ ~b~a = |~b| · cos ϕ · ~a = |b||~a| cos ϕ ~a = ~a · b ~a |~a| |~a|2 |~a|2 Damit gilt außerdem: ~a · ~b |~a · ~b| |~a · ~b| |~b~a | = ~ a |~ a | = = |~a|2 |~a|2 |~a| Oder umgestellt ergibt sich: |~b~a ||~a| = |~a · ~b|. 25 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Lemma 3.4 (Eigenschaften der orthogonalen Projektion): Die orthogonale Projektion bzgl. einer fixierten Geraden ist linear. Das heißt: (i) (λ~b)~a = λ~b~a (ii) (~b + ~c)~a = ~b~a + ~c~a Beweis: Ergibt sich sofort aus Abbildung 11. ~c λ~b ~c~a ~b ~b~a . λ~b~a . ~a ~b ~b~a . ~a . (~b + ~c)~a . ~a Abbildung 11: Skalare Multiplikation und Addition der Projektion von ~b auf ~a Satz 3.1 (Eigenschaften des Skalarproduktes (Teil II)): Es gelten folgende Eigenschaften für das Skalarprodukt: (i) ~a · (λ~b) = λ(~a · ~b) ~a · (~b + ~c) = ~a · ~b + ~a · ~c (iii) ~a · ~b = ~b · ~a √ |~a| = ~a · ~a (iv) |~a · ~b| ≤ |~a| · |~b| (ii) Die Eigenschaft (i) bedeutet, dass das Skalarprodukt linear ist. Beweis: (i) Wie wir gesehen haben gilt ~a · ~b = |~b~a ||~a| wenn 0 ≤ ^(~a, ~b) ≤ Behauptung durch eine Anwendung von Lemma 3.4: π 2 ist. Damit folgt die ~a · (~b + ~c) = |(~b + ~c)~a ||~a| = |~b~a + ~c~a ||~a| = (|~b~a | + |~c~a |)|~a| = |~b~a ||~a| + |~c~a ||~a| = ~a · ~b + ~a · ~c und für λ ≥ 0 gilt ~a · (λ~b) = |(λ~b)~a | · |~a| = |λ~b~a | · |~a| = |λ| · |~b~a ||~a| = |λ|(~a · ~b) . Die anderen Fälle erhält man, nach Fallunterscheidung und unter Berücksichtigung der Vorzeichen, analog. (ii) Ist sofort aus Definition ersichtlich, denn ein Rollentausch von ~a und ~b ändert nichts an dem eingeschlossenen Winkel ϕ und auch nichts an der Multiplikation mit |~a| und |~b|. (iii) Da der Winkel zwischen ~a mit sich selbst offensichtlich 0 beträgt, folgt: ~a · ~a = |~a||~a| cos 0 = |~a|2 . Dies entspricht nach Wurzelziehen der gewünschten Behauptung. (iv) Da | cos ϕ| ≤ 1 ist erhält man: |~a · ~b| = |~a||~b| cos ϕ = |~a||~b|| cos ϕ| ≤ |~a| · |~b|. 26 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Lemma 3.5 (Dreiecksungleichung für Vektoren): Es gilt: |~a + ~b| ≤ |~a| + |~b|. Beweis: Aus Satz 3.1 folgt: (iii) (i) (ii) |~a + ~b|2 = (~a + ~b) · (~a + ~b) = ~a · ~a + ~a · ~b + ~b · ~a + ~b · ~b = |~a|2 + 2(~a · ~b) + |~b|2 (iv) ≤ |~a|2 + 2|~a||~b| + |~b|2 = (|~a| + |~b|)2 Satz 3.2 (Darstellung des Skalarproduktes): b1 a1 a Gegeben seien ~a = a2 und ~b = b2 in Koordinatendarstellung bzgl. der Standard-Basis 3 {~e1 , ~e2 , ~e3 }. Dann gilt: b3 ~a · ~b = a1 b1 + a2 b2 + a3 b3 Beweis: Zunächst gilt: ~e1 · ~e1 = ~e2 · ~e2 = ~e3 · ~e3 = 1 ~e1 · ~e2 = ~e2 · ~e3 = ~e1 · ~e3 = 0 Wie wir in Bemerkung 3.4 gesehen haben, lassen sich ~a und ~b wie folgt darstellen: ~a = a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 sowie ~b = b1~e1 + b2~e2 + b3~e3 Durch schlichtes Ausrechnen erhält man: ~a · ~b = (a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 ) · (b1~e1 + b2~e2 + b3~e3 ) = a1 b1 (~e1 · ~e1 ) + a1 b2 (~e1 · ~e2 ) + a1 b3 (~e1 · ~e3 ) + a2 b1 (~e2 · ~e1 ) + a2 b2 (~e2 · ~e2 ) + a2 b3 (~e2 · ~e3 ) + a3 b1 (~e3 · ~e1 ) + a3 b2 (~e3 · ~e2 ) + a3 b3 (~e3 · ~e3 ) = a1 b1 · 1 + a1 b2 · 0 + a1 b3 · 0 + a2 b1 · 0 + a2 b2 · 1 + a2 b3 · 0 + a3 b1 · 0 + a3 b2 · 0 + a3 b3 · 1 = a1 b1 + a2 b2 + a3 b3 Das zeigt die gewünschte Behauptung. Bemerkung 3.6 (Winkel zwischen zwei Vektoren): Zwei Vektoren ~a 6= ~0 und ~b 6= ~0 stehen senkrecht aufeinander (d.h. sie bilden miteinander einen Winkel von π2 ) gdw. ~a · ~b = 0 ist. Im Allgemeinen gilt für den von ~a 6= ~0 und ~b 6= ~0 eingeschlossenen Winkel: cos ϕ = ~a · ~b |~a||~b| . Satz 3.3 (Satz des Pythagoras): Für ~a + ~b = ~c und ~a · ~b = 0 gilt: |~c|2 = |~a|2 + |~b|2 . 27 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beweis: Durch Umformen erhalten wir: |~c|2 = ~c · ~c = (~a + ~b) · (~a + ~b) = ~a · ~a + ~a · ~b + ~b · ~a + ~b · ~b = |~a|2 + 0 + 0 + |~b|2 = |~a|2 + |~b|2 Das zeigt die gewünschte Behauptung. Bemerkung 3.7 (Kugelkoordinaten): a1 Es sei ~a = aa2 6= ~0 gegeben. Dann gilt wieder: ~a = a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 . Ziel ist es nun ~a 3 durch die Winkel ϕ und ψ, sowie den Betrag r darzustellen - siehe Abbildung 12. Offensichtlich gilt: 1. ψ = ^(~e3 , ~a) mit 0 ≤ ψ ≤ π 2. ϕ = ^(~e1 , a1~e1 + a2~e2 ) mit 0 ≤ ϕ < 2π 3. r = |~a| ~a = (a1 , a2 , a3 ) ~e3 ψ ~e1 ~e2 ϕ · Abbildung 12: Kugelkoordinaten Mittels der Formel aus Bemerkung 3.6 und der Tatsache dass |~ei | = 1 gilt, erhalten wir daraus die folgenden drei Beziehungen: ~e3 · ~a a3 = |~a| r ~e1 · (a1~e1 + a2~e2 ) a1 cos ϕ = = |a1~e1 + a2~e2 | r sin ψ ~e2 · (a1~e1 + a2~e2 ) a2 sin ϕ = = |a1~e1 + a2~e2 | r sin ψ cos ψ = Also ergeben sich durch Umstellen folgende drei Gleichungen: • a1 = r cos ϕ sin ψ • a2 = r sin ϕ sin ψ • a3 = r cos ψ 28 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Damit kann der Vektor ~a auch geschrieben werden als: r cos ϕ sin ψ r sin ϕ sin ψ r cos ψ ~a = Die Größen (r, ϕ, ψ) werden auch als die Kugelkoordinaten von ~a bezeichnet. Definition 3.6 (2 × 2-Matrix, Determinante und transponierte Matrix ): ! a11 a12 (i) Wir nennen A = eine 2 × 2-Matrix. a21 a22 (ii) Der Wert 11 a a12 det(A) := = a11 a22 − a12 a21 a21 a22 heißt Determinante der Matrix A. ! a11 a21 t (iii) Die Matrix A := heißt die zu A transponierte Matrix. a12 a22 Lemma 3.6 (Eigenschaften der Determinante von 2 × 2-Matrizen): (i) Es gilt det(A) = det(At ). (ii) Ein Zeilen- oder Spaltentausch ändert das Vorzeichen der Determinante: 11 a a12 a11 a22 a12 a21 = − = − a a a21 a22 22 a21 11 a12 (iii) Die Determinante ist linear in einer Spalte. Das heißt es gilt: λa11 a12 a12 a11 = λ a λa21 a22 21 a22 sowie 1 a1 b1 (iv) Der Betrag der Determinante von A - also det a2 b2 inhalt des von a1 a2 ! und b1 b2 a b1 + c1 a1 b1 a1 c1 = + a2 b2 + c2 a2 b2 a2 c2 ! - entspricht dem Flächen- ! aufgespannten Parallelogramms. Beweis: (i), (ii) und (ii) ergeben sich durch einfaches Umrechnen. Wir zeigen exemplarisch die erste Beziehung aus (iii): λa11 a12 a11 a12 = (λa11 )a22 − a12 (λa21 ) = λ(a11 a22 − a12 a21 ) = λ a λa21 a22 22 a21 (iv) Zunächst gilt wegen der Definition des Skalarproduktes: ~ ~b~a = |~b| · cos ϕ = ~a · b |~a| 29 3. Vektoren in der Ebene und im Raum ~b ~h ϕ · Mathematik für Werkstoffwissenschaftler ~a Abbildung 13: Parallelogramm Damit folgt unter Verwendung des Satz des Pythagoras nun: |~a · ~b|2 |~h|2 = |~b − ~b~a |2 = |~b|2 − |~b~a |2 = |~b|2 − |~a|2 Schließlich erhalten wir damit für den Flächeninhalt des Parallelogramms: F 2 = |~h|2 · |~a|2 = |~b|2 · |~a|2 − |~a · ~b|2 = (b21 + b22 ) · (a21 + a22 ) − (a1 b1 + a2 b2 )2 = b21 a21 + b21 a22 + b22 a21 + b22 a22 − a21 b21 − 2a1 b1 a2 b2 − a22 b22 = a21 b22 − 2a1 b2 a2 b1 + a22 b21 a1 b1 det a2 b2 2 = (a1 b2 − a2 b1 ) = !!2 Definition 3.7 (3 × 3-Matrix, Determinante und transponierte Matrix): (i) Wir nennen A= a11 a12 a13 a21 a22 a23 a31 a32 a33 = a1 b1 c1 a2 b2 c2 a3 b3 c3 eine 3 × 3-Matrix. (ii) Der Wert 1 2 3 a det(A) := a a b1 c1 c2 c1 c1 b2 b1 b1 − a2 + a3 b2 c2 = a1 b b b 3 c3 3 c3 2 c2 b3 c3 heißt Determinante der Matrix A. (iii) Die Matrix At := a1 a2 a3 b1 b2 b3 c1 c2 c3 heißt die zu A transponierte Matrix. Lemma 3.7 (Eigenschaften der Determinante von 3 × 3-Matrizen): (i) Es gilt det(A) = det(At ). (ii) Ein Zeilen- oder Spaltentausch ändert das Vorzeichen der Determinante. Insbesondere gilt bei zwei identischen Zeilen oder Spalten immer det(A) = 0. 30 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum (iii) Die Determinante ist linear in einer Spalte. (iv) Der Betrag der Determinante von A - also det a1 b1 Volumen des von und a2 , b2 a3 b3 (v) Es gilt die Sarrus’sche Regel: 1 2 3 a det(A) = a a c1 c2 c3 a1 b1 c1 a2 b2 c2 a3 b3 c3 - entspricht dem aufgesapnnten Parallelotops. b1 c1 b2 c2 = a1 b2 c3 + b1 c2 a3 + c1 a2 b3 − a1 c2 b3 − b1 a2 c3 − c1 b2 a3 b3 c3 Beweis: Diese Eigenschaften können völlig analog zu 2 × 2-Matrizen gezeigt werden. ~c ~b ~a Abbildung 14: Parallelotop Beispiel 3.1: (i) (ii) 1 2 3 1 3 4 = 1 · 3 · 1 + 2 · 4 · 0 + 3 · 1 · 1 − 1 · 4 · 1 − 2 · 1 · 1 − 3 · 3 · 0 = 0 0 1 1 1 0 −1 2 2 1 = 1 · 2 · 0 + 0 · 1 · 3 + (−1) · 2 · 4 − 1 · 1 · 4 − 0 · 2 · 0 − (−1) · 2 · 3 = −6 3 4 0 Definition 3.8 (Vektorprodukt): (i) Gegeben seien ~a, ~b ∈ R3 mit ϕ = ^(~a, ~b) ∈ / {0, π}. Wir definieren den Vektor ~a × ~b als der eindeutig bestimmte Vektor mit den folgenden Eigenschaften: 1. |~a × ~b| = |~a||~b| sin ϕ 2. ~a × ~b steht senkrecht auf ~a und auf ~b. 3. {~a, ~b, ~a × ~b} bilden ein Rechtssystem. 31 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Den Vektor ~a × ~b nennt man das Vektorprodukt von ~a und ~b. (ii) Wir definieren das Vektorprodukt von ~a und ~b als ~0 falls ϕ = ^(~a, ~b) ∈ {0, π} ist. Bemerkung 3.8: Das drei Vektoren {~i, ~j, ~k} ein Rechtssystem bilden bedeutet, dass die Koordinatenachsen mathematisch positiv (entgegen dem Uhrzeigersinn) ineinander gedreht werden. An der rechten (!) Hand entspricht der Daumen dabei ~i, der Zeigefinger ~j und der Mittelfinger ~k. Ein Beispiel für ein Rechtssystem bilden die Vektoren {~e1 , ~e2 , ~e3 } der Standard-Basis. ~e3 ~e1 ~e2 Abbildung 15: Rechtssystem Bemerkung 3.9: (i) |~a × ~b| entspricht der Fläche des von ~a und ~b aufgespannten Parallelogramms. (ii) Das Vektorprodukt ist nicht kommutativ. Es gilt zum Beispiel: ~e1 × ~e2 = ~e3 ~e2 × ~e3 = ~e1 ~e3 × ~e1 = ~e2 ~e2 × ~e1 = −~e3 ~e3 × ~e2 = −~e1 ~e1 × ~e3 = −~e2 (iii) Das Vektorprodukt ist außerdem nicht assoziativ, denn es gilt: ~e1 × (~e1 × ~e3 ) = ~e1 × (−~e2 ) = −~e3 (~e1 × ~e1 ) × ~e3 = ~0 × ~e3 = ~0 (iv) Ein Distributivgesetz in der Form (~a × ~b) · ~c = ~a · ~c × ~b · ~c kann nicht gelten, denn die rechte Seite der Gleichung ist nicht definiert. Lemma 3.8 (Rechenregeln für das Vektorprodukt): (i) ~a × ~b = −(~b × ~a) (ii) (λ~a) × ~b = λ(~a × ~b) = ~a × (λ~b) (iii) (~a × ~b) · ~c = (~b × ~c) · ~a = (~c × ~a) · ~b (iv) ~a × (~b + ~c) = ~a × ~b + ~a × ~c (~a + ~b) × ~c = ~a × ~c + ~b × ~c Beweis: (i) Klar aus Definition, da bei Vertauschung der zwei Vektoren sich auch die Richtung des Vektors ändert, der die beiden zu einem Rechtssystem ergänzt. (ii) Ebenso klar aus Definition, da sich bei Multiplikation mit λ folgendes gilt: |(λ~a) × ~b| = |λ||~a||~b| sin ϕ = |~a × (λ~b)| 32 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum und andererseits ändert sich nichts an der Tatsache, dass die Vektoren ein Rechtsystem bilden oder senkrecht aufeinander stehen. (iii) Die Zahl |(~a × ~b) · ~c| entspricht dem von ~a, ~b und ~c aufgespannten Parallelotops, denn es gilt: |(~a × ~b) · ~c| = |(~a × ~b) · ~c| V = F · h = |~a × ~b| · |~c~a×~b | = |~a × ~b| · |~a × ~b| Damit erhalten wir die gewünschte Behauptung sofort durch Rollentausch der Vektoren, wobei zu beachten ist, dass {~a, ~b, ~c} ein Rechtssystem bilden gdw. {~b, ~c, ~a} bzw. {~c, ~a, ~b} ein solches bilden. ~a × ~b · ~h ~c ~b · ~a Abbildung 16: Parallelotop mit Höhe (iv) Wir definieren ~v := ~a × (~b + ~c) und w ~ := ~a × ~b + ~a × ~c und wollen zeigen, dass ~v = w ~ gilt. Dazu genügt es zu zeigen, dass ~v · ~e1 = w ~ · ~e1 , ~v · ~e2 = w ~ · ~e2 und ~v · ~e3 = w ~ · ~e3 gilt. Sei also i ∈ {1, 2, 3}, dann erhalten wir mit Hilfe von Lemma 3.3: (iii) ~v · ~ei = (~a × (~b + ~c)) · ~ei = (~ei × ~a) · (~b + ~c) = (~ei × ~a) · ~b + (~ei × ~a) · ~c (iii) = (~a × ~b) · ~ei + (~a × ~c) · ~ei = ((~a × ~b) + (~a × ~c)) · ~ei = w ~ · ~ei Satz 3.4 (Darstellung des Vektorproduktes): Seien ~a, ~b ∈ R3 dargestellt bezüglich der Standard-Basis {~e1 , ~e2 , ~e3 }. Dann gilt: 2 a ~a × ~b = b2 a3 a3 a2 a1 a1 e1 − e2 + e3 ·~ ·~ ·~ b b b3 1 b3 1 b2 Die formale Merkregel lautet wie folgt: 1 1 1 ~e ~a × ~b = a b ~e2 ~e3 a2 a3 b2 b3 33 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beweis: Unter Anwendung von Lemma 3.8 und Bemerkung 3.9 erhalten wir: ~a × ~b = (a1~e1 + a2~e2 + a3~e3 ) × (b1~e1 + b2~e2 + b3~e3 ) = a1 b1 (~e1 × ~e1 ) + a2 b1 (~e2 × ~e1 ) + a3 b1 (~e3 × ~e1 ) + a1 b2 (~e1 × ~e2 ) + a2 b2 (~e2 × ~e2 ) + a3 b2 (~e3 × ~e2 ) + a1 b3 (~e1 × ~e3 ) + a2 b3 (~e2 × ~e3 ) + a3 b3 (~e3 × ~e3 ) = a1 b1~0 + a2 b1 (−~e3 ) + a3 b1~e2 + a1 b2~e3 + a2 b2~0 + a3 b2 (−~e1 ) + a1 b3 (−~e2 ) + a2 b3~e1 + a3 b3~0 = (a2 b3 − a3 b2 )~e1 + (a3 b1 − a1 b3 )~e2 + (a1 b2 − a2 b1 )~e3 Definition 3.9 (Spatprodukt): Der Wert (~a × ~b) · ~c heißt Spatprodukt von ~a, ~b und ~c. Satz 3.5 (Darstellung des Spatproduktes): Seien ~a, ~b, ~c ∈ R3 dargestellt bezüglich der Standard-Basis {~e1 , ~e2 , ~e3 }. Dann gilt: 1 2 3 b1 c1 b2 c2 b3 c3 a ~ (~a × b) · ~c = a a Beweis: Unter Verwendung von Satz 3.4 erhalten wir: (~a × ~b) · ~c = 2 3 a b2 1 a a · c1 − b3 b1 3 1 2 1 2 3 c a · c3 = c b2 c a a · c2 + b3 b1 a1 b1 a1 b1 c1 a2 b2 = a2 b2 c2 a3 b3 a3 b3 c3 Dabei wurde außerdem Lemma 3.7 (ii) angewendet. Bemerkung 3.10: (i) Es gilt |(~a × ~b) · ~c| = det a1 b1 c1 a2 b2 c2 a3 b3 c3 da beide Ausdrücke das Volumen des von ~a, ~b und ~c aufgespannten Spats beschreiben. (ii) Die Vektoren {~a, ~b, ~c} bilden eine Basis gdw. det(~a, ~b, ~c) 6= 0 ist. (iii) Die Vektoren {~a, ~b, ~c} bilden ein Rechtssystem gdw. (~a × ~b) · ~c > 0 ist. Satz 3.6 (Weitere Rechenregeln): Es gilt für ~a, ~b, ~c, d~ ∈ R3 : (i) (~a × ~b) × ~c = (~a · ~c)~b − (~b · ~c)~a ~ = (~a · ~c)(~b · d) ~ − (~b · ~c)(~a · d) ~ (ii) (~a × ~b) · (~c × d) 34 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Beweis: Ergibt sich aus einfachem Nachrechnen. Geraden im R2 und R3 : Geraden in der Ebene oder im Raum haben mehrere Darstellungsmöglichkeiten. Die beiden wichtigsten sind die Punkt-Richtungs-Gleichung mit t ∈ R ~x = ~x0 + t~a . Wenn die Gerade im Raum liegen soll, so gilt ~x0 , ~a ∈ R3 und wenn die Gerade in der Ebene betrachtet wird, dann gilt ~x0 , ~a ∈ R2 . Die zweite Möglichkeit der Geradendarstellung ist die Zwei-Punkte-Gleichung ~x = ~x0 + t(~x1 − ~x0 ) mit t ∈ R . Es gibt 3 Möglichkeiten, wie Geraden in der Ebene zueinander liegen können: • Sie können identisch sein. • Sie können parallel sein. • Sie können sich schneiden. Bei Geraden im Raum kommt noch eine weitere Lagemöglichkeit hinzu. Hier können Geraden windschief sein, d.h. sie sind weder identisch oder parallel noch schneiden sie sich. P p~ d L ~a g ~x0 ~l Abbildung 17: Abstand von Punkt P zu Gerade g Den Abstand d von einem Punkt P zu einer Geraden ~x = ~x0 +t~a kann man folgendermaßen berechnen: Als wichtigste Größe brauchen wir den Lotfußpunkt L von P auf die Gerade. Da ein Abstand immer senkrecht zur Geraden gemessen wird, muss (~ p − ~l) ⊥ ~a sein. Das heißt es gilt: (~ p − ~l) · ~a = 0. Ausmultiplizieren (nach Satz 3.1) und Umstellen liefert schließlich: 35 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler p~ ·~a = ~l·~a. Da der Punkt L außerdem auf der Geraden liegt, existiert ein konkretes tL ∈ R, sodass ~l = ~x0 + tL~a gilt. Eingesetzt erhalten wir nun: p~ · ~a = ~l · ~a = (~x0 + tL~a) · ~a = ~x0 · ~a + tL~a · ~a = ~x0 · ~a + tL |~a|2 . Dies können wir nach tL umstellen und erhalten somit: tL = p~ · ~a − ~x0 · ~a |~a|2 p − ~x0 ) · ~a ~l = ~x0 + (~ ~a |~a|2 bzw. . Damit ergibt sich für den Abstand d schließlich: (~ p − ~x0 ) · ~a d = |~ p − ~l| = p~ − ~x0 − ~a |~a|2 . Den Abstand d von zwei windschiefen Geraden ~x = ~x0 + t~a und ~y = ~y0 + s~b leitet man ganz ähnlich her: Auch hier brauchen wir die Lotfußpunkt Lx und Ly . Da diese auf den Lx · ~a d ~lx gx · ~x0 ~ly ~y0 Ly ~b gy Abbildung 18: Abstand von Gerade gx zu Gerade gy entsprechenden Geraden liegen gibt es tLx , tLy ∈ R, sodass ~lx = ~x0 +tLx~a und ~ly = ~y0 +tLy~b gilt. Damit erhalten wir einerseits: (~lx − ~ly ) · (~a × ~b) = (~x0 − ~y0 + tLx~a − tLy~b) · (~a × ~b) = (~x0 − ~y0 ) · (~a × ~b) + tLx ~a · (~a × ~b) −tLy ~b · (~a × ~b) | {z } =0, da ~a⊥(~a×~b) | {z } =0, da ~b⊥(~a×~b) = (~x0 − ~y0 ) · (~a × ~b) Andererseits gilt aber auch per Definition des Skalarproduktes: (~lx − ~ly ) · (~a × ~b) = |~lx − ~ly ||~a × ~b| cos(^(~lx − ~ly , ~a × ~b)) = d|~a × ~b| cos 0 = d|~a × ~b| | {z =0 36 } Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Diese beiden Gleichungen gleichgesetzt und nach d umgestellt liefert: (~x0 − ~y0 ) · (~a × ~b) d= |~a × ~b| Ebenen im R3 : Ebenen im Raum haben mehrere Darstellungsmöglichkeiten. Wir wollen uns die 4 wichtigsten davon anschauen. Zunächst ist da die Parameter-Darstellung ~x = ~x0 + t~a + s~b mit fixierten ~x0 , ~a, ~b ∈ R3 und variablen s, t ∈ R wobei ~a und ~b außerdem linear unabhängig sein müssen, d.h. es muss gelten ^(~a, ~b) ∈ / {0, π}. Ein Beipiel für diese Darstellung wäre: ~x = x1 x2 x3 1 1 0 1 0 1 = +t +s −1 5 2 Betrachtet man in dieser Darstellung jede Zeile einzeln, so erhält man 3 Gleichungen (in unserem Beispiel x1 = 1+t−s, x2 = 1+5s und x3 = t+2s), aus welchen zwei genutzt werden können um nach s und t umzustellen (im Bsp. gilt s = 51 (x2 − 1) und t = x1 − 1 + 15 x2 − 15 ) und in die verbliebene Gleichung einzusetzen (im Bsp. gilt dann x3 = x1 − 35 x2 − 85 ). Eine Darstellung der Form x3 = c1 x1 + c2 x2 + c3 mit c1 , c2 , c3 ∈ R nennt man explizite Darstellung. Aus der expliziten Darstellung erhält man durch Umstellen leicht die implizite Darstellung in der allgemeinen Form ax1 +bx2 +cx3 = d mit a, b, c, d ∈ R (im Bsp. 5x1 +3x2 −5x3 = 8). Die letzte Darstellung ist die Normalen-Darstellung, welche wir durch folgende Überlegungen erhalten: ~x ∈ E ⇔ ~x = ~x0 + t~a + s~b ⇔ ~x − ~x0 = t~a + s~b ⇔ (~a × ~b) · (~x − ~x0 ) = (~a × ~b) · (t~a + s~b) = 0 Dabei ist die Beweisrichtung ”⇒” klar und die entgegengesetzte Richtung ergibt sich aus Bemerkung 3.10 - wenn das Spatprodukt Null ist, muss der Vektor (~x − ~x0 ) als Linearkombination der beiden Vektoren ~a und ~b darstellbar sein. Ein Vektor, der senkrecht auf der Ebene E steht heißt Normalenvektor. Bildet man also das Kreuzprodukt der beiden Spannvektoren ~a und ~b der Parameter-Darstellung, so erhält man den gesuchten Normalenvektor. Oder man liest den Normalenvektor an den Koeffizienten der impliziten Darstellung ab (Vorzeichen beachten!). Im betrachteten Beispiel ergibt sich: −5 −3 5 · x1 − 1 x2 − 1 x3 =0 ⇔ −5x1 + 5 − 3x2 + 3 + 5x3 = 0 ⇔ 5x1 + 3x2 − 5x3 = 8 37 3. Vektoren in der Ebene und im Raum Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Lemma 3.9: (i) Gegeben sei die Ebene E := {~x ∈ R3 : ~x = ~x0 + t~a + s~b} in Parameter-Darstellung. ~ Dann ist ~a × ~b ein Normalenvektor und η := ~a×~b der Normalen-Einheitsvektor. |~a×b| Die Normalen-Darstellung der Ebene erhalten wir durch (~a × ~b) · (~x − ~x0 ) = 0. (ii) Gegeben sei die Ebene E := {~x ∈ R3 : a1 x1 + a2 x2 + a3 x3 = b mit b ≥ 0} in der impliziten Darstellung. a1 Dann ist ~a := aa2 ein Normalenvektor und η := |~~aa| der Normalen-Einheitsvektor. 3 (iii) Gegeben sei die Ebene E := {~x ∈ R3 : η1 x1 + η2 x2 + η3 x3 = d mit d ≥ 0 und η12 + η22 + η32 = 1}. Diese spezielle Form der Normalen-Darstellung heißt auch Hesse’sche η 1 Normalform. Dabei zeigt der Normaleneinheitsvektor ~η := ηη2 vom Ursprung zur Ebene 3 und d ist der Abstand des Ursprungs von der Ebene. Beweis: (i)+(ii) Folgt sofort aus unseren Vorbetrachtungen. (iii) Wir bezeichnen mit ~x einen Punkt auf der Ebene und mit L den Lotfußpunkt des Ursprungs auf die Ebene. Dann gilt: |~ p| = |~xη~ | = |~x · ~η | = d. L · ~x p~ E ~η Abbildung 19: Normalen-Darstellung einer Ebene Bemerkung 3.11 (Abstand Punkt-Ebene und Winkel zwischen Ebenen): Wir wollen nun überlegen, wie sich der Abstand von einem Punkt zu einer Ebene berechnet. Dazu sei der Punkt Y und die Ebene E durch ~η · ~x = d mit d ≥ 0 gegeben. Wie wir schon ~η · Y d · p~ a ~y E Abbildung 20: Abstand vom Punkt Y zur Ebene E 38 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 3. Vektoren in der Ebene und im Raum im vorigen Lemma gesehen haben ist d der Abstand von Ursprung zu Ebene E. Außerdem wollen wir mit p~ die Projektion von ~y auf ~η bezeichnen. Wir erhalten also: |~ p| = |~yη~ | = |~η · ~y | . Damit gilt für den gesuchten Abstand a = ~η · ~y − d bzw. a = d − ~η · ~y , je nach Lage von Y . Man erhält also: a = |d − ~η · ~y |. Der Winkel zwischen zwei Ebenen berechnet sich am einfachsten in der Hesse’schen Normalenform. Sei also E gegeben durch ~a · ~x = e und F gegeben durch ~b · ~x = f . Dann gilt hier: ^(E, F ) = ^(~ηE , ~ηF ) = ^(~a, ~b). Und aus Bemerkung 3.6 wissen wir: cos(^(~a, ~b)) = ~a · ~b |~a||~b| . Damit folgt schließlich: ~a · ~b ^(E, F ) = arccos |~a||~b| ! . In Kapitel 4 werden wir im Kontext von linearen Gleichungssystemen auch noch die Schnitte von Ebene und Gerade bzw. Ebene und Ebene betrachten. 39 4. Lineare Gleichungsysteme Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 4. Lineare Gleichungsysteme Wir betrachten zunächst ein beliebiges lineares Gleichungsystem (im Folgenden auch LGS genannt) mit zwei Gleichungen und zwei Unbekannten. Dies hat die allgemeine Form: a11 x1 + a12 x2 = b1 a21 x1 + a22 x2 = b2 Wenn wir die erste Zeile mit a22 und die zweite Gleichung mit a12 multiplizieren und die beiden voneinander abziehen erhält man: (a11 a22 − a21 a12 )x1 = b1 a22 − b2 a12 Wenn wir die erste Gleichung mit a21 und die zweite mit a11 multipliziern und beide voneinander abziehen erhalten wir: (a12 a21 − a22 a11 )x2 = b1 a21 − b2 a11 Multipliziert man die zweite Gleichung mit −1, so erhalten wir insgesamt: (a11 a22 − a21 a12 )x1 = b1 a22 − b2 a12 (a11 a22 − a21 a12 )x2 = a11 b2 − a12 b1 (4.1) Nun können drei verschiedene Fälle auftreten. 1. Fall (a11 a22 − a21 a12 6= 0): Dann können wir die Gleichungen in (4.1) jeweils durch a11 a22 − a21 a12 teilen und erhalten eine eindeutig bestimmte Lösung: 1 x1 = b a12 b2 a22 b1 a22 − b2 a12 = a11 a22 − a21 a12 a12 a11 a 21 a22 11 bzw. x2 = a b1 a21 b2 a11 b2 − a12 b1 = a11 a22 − a21 a12 a12 a11 a 21 a22 Diese Schreibweise mit Hilfe der Determinanten ist auch als Cramer’sche Regel bekannt, welche sich auch auf größere Gleichungssysteme verallgemeinern lässt. 2. Fall (a11 a22 − a21 a12 = 0 und b1 a22 − b2 a12 6= 0 oder a11 b2 − a12 b1 6= 0): Dann ist das LGS nicht lösbar, denn eine der Gleichungen in (4.1) besitzt dann die Form 0xi = c mit einem c 6= 0, was natürlich von keiner Zahl xi erfüllt wird. 3. Fall (a11 a22 − a21 a12 = 0 und b1 a22 − b2 a12 = 0 sowie a11 b2 − a12 b1 = 0): Dann hat das LGS unendlich viele Lösungen. Beispiel 4.1: (i) Unser erstes Beispiel ist: x1 + x2 = 4 2x1 + 3x2 = 9 40 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 4. Lineare Gleichungsysteme x2 5 4 3 2 (3, 1) 1 x1 1 2 3 4 5 x2 = − 32 x1 + 3 x2 = −x1 + 4 Abbildung 21: Eindeutige Lösung des linearen Gleichungssystems x2 3 2 1 x2 = − 13 x1 + 2 1 2 x1 3 x2 = − 13 x1 + 1 Abbildung 22: Lineares Gleichungssystem ohne Lösung 41 4. Lineare Gleichungsysteme Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Hier gilt | 12 13 | = 1 6= 0, damit ist das LGS eindeutig lösbar und die Lösung lautet: x1 = 3 und x2 = 1. (ii) Das zweite Beispiel soll sein: x1 + 3x2 = 3 x1 + 3x2 = 6 Hier gilt | 11 33 | = 0 und andererseits | 11 36 | = 3 6= 0. Damit ist das LGS unlösbar. (iii) Das letzte Beispiel ist: x1 + x2 = 1 2x1 + 2x2 = 2 Hier gilt | 12 12 | = 0, was sowohl der Orginal-Determinante, also auch den durch Einsetzen des Vektor ~b erhaltenen Determinaten entspricht. Damit gibt es unendlich viele Lösungen. Diese haben alle die Gestalt x1 = 1 − t und x2 = t mit einem beliebig wählbaren t ∈ R. x2 2 1 x1 1 2 x2 = −x1 + 1 (zweimal) Abbildung 23: Lineares Gleichungssystem mit unendlich vielen Lösung Bemerkung 4.1: Völlig analoge Überlegungen kann man auch für drei Gleichungen mit drei Unbekannten durchführen (bzw. sogar für n Gleichungen mit n Unbekannten). Hier kann man eine Gleichung der Gestalt a11 x1 + a12 x2 + a13 x3 = b1 als Ebene interpretieren. Die drei auftretenden Fälle sind die Gleichen und auch die Cramer’sche Regel ist einfach zu übertragen. Abbildung 24: Mögliche Schnittmengen von Ebenen 42 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 4. Lineare Gleichungsysteme Beispiel 4.2: x1 + x2 + x3 = 2 + x2 − x3 = −5 + + x3 = 5 2x1 Die Determinante der Koeffizienten-Matrix ist von Null verschieden, denn: 1 1 1 0 1 −1 = 1 − 2 − 2 = −3 6= 0 2 0 1 Hier ergibt sich die Lösung zu: 2 1 1 1 2 − 5 − (5 − 5) −3 x1 = − −5 1 −1 = − =− =1 3 3 3 5 0 1 1 2 1 −5 − 4 − (−10 − 5) 6 1 = − = −2 x2 = − 0 −5 −1 = − 3 3 3 2 5 1 1 1 2 1 5 − 10 − 4 −9 x3 = − 0 1 −5 = − =− =3 3 3 3 2 0 5 Definition 4.1: Ein allgemeines lineares Gleichungssystem ist gegeben durch: a11 x1 a21 x1 .. . + + a12 x2 a22 x2 .. . + ··· + ··· .. . am1 x1 + am2 x2 + · · · + + a1n xn a2n xn .. . = = b1 b2 .. . (4.2) + amn xn = bm wobei aik , bi ∈ R für i ∈ {1, . . . , m} und k ∈ {1, . . . , n} gilt. Für ein solches LGS resultieren nun drei Fragen: 1. Existieren Lösungen? 2. Sind diese Lösungen eindeutig? 3. Wie sieht ein mögliches Lösungsverfahren aus? 43 4. Lineare Gleichungsysteme Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Falls das LGS ”zufällig” in Stufenform (oder auch gestaffelter Form) gegeben ist, d.h. es gilt xr1 + c1r1 +1 xr1 +1 + · · · xr2 + c2r2 +1 xr2 +1 + · · · .. . xrl + clrl +1 xrl +1 + · · · +c1n xn = d1 +c2n xn = d2 .. .. . = . +cln xn = dl 0 = dl+1 .. .. . = . 0 = dm (4.3) mit 1 ≤ r1 < r2 < · · · < rl ≤ n, so können die ersten beiden Fragen leicht beantwortet werden. Das LGS (4.3) hat Lösung(en) gdw. dl+1 = · · · = dm = 0 gilt. In diesem Fall können die Lösungen sukzessiv ermittelt werden. Wenn frei wählbare Variablen - nämlich alle xi mit i∈ / {r1 , r2 , . . . , rl } - existieren, so sind die Lösungen nicht eindeutig bestimmt. Gibt man sich die Parameter xrl +1 , . . . , xn beliebig vor, so kann xrl errechnet werden. Anschließend kann man, falls rl−1 + 1 < rl ist, xrl−1 +1 , . . . , xrl −1 beliebig vorgeben und errechnet dann xrl−1 usw. Bemerkung 4.2: Durch eine Umbennenung der Variablen kann man (4.3) immer auf Trapezform bringen, d.h. es gilt y1 + e12 y2 y2 + e13 y3 + + e23 y3 + .. . ··· ··· yl + ell+1 yl+1 + · · · + e1n yn = f1 + e2n yn = f2 .. .. . = . + eln yn = fl 0 = fl+1 .. .. . = . 0 = fm (4.4) Das LGS (4.4) ist lösbar gdw. fl+1 = · · · = fm = 0 gilt. Falls l = n gilt, existiert eine eindeutig bestimmte Lösung. Sonst sind die Variablen yl+1 , . . . , yn frei wählbar und die restlichen Variablen y1 , . . . , yl errechnen sich rekursiv aus folgender Formel: yi = fi − n X eik yk mit 1≤i≤l k=i+1 Wir wollen nun den Gauß’schen Algorithmus (oder auch das Eliminationsverfahren) kennen lernen. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass elementare Umformungen die Lösungsmenge des linearen Gleichungssystems nicht verändern. Solche elementaren Umformungen sind: 44 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 4. Lineare Gleichungsysteme 1. Multiplikation einer Gleichung mit einer Zahl ungleich 0. 2. Addition (bzw. Subtraktion) einer Gleichung zu (bzw. von) einer anderen Gleichung. 3. Vertauschung zweier Gleichungen. Nun lässt sich jedes LGS der Form (4.2) durch elementare Umformungen in ein gestaffeltes System der Form (4.3) überführen. Lässt man zusätzlich noch eine Umbennenung der Variablen zu, so kann sogar immer die Trapezform (4.4) erreicht werden. Man formalisiert dabei ein lineares Gleichungssystem in das folgende Schema: x1 x2 ... xn a11 a21 .. . a12 a22 .. . ... ... a1n a2n .. . b1 b2 .. . am1 am2 ... amn bm Beispiel 4.3: Wir betrachten nun das folgende lineare Gleichungsystem mit 4 Gleichungen und 5 Unbekannten: 2x1 −2x1 4x1 2x1 − x2 + x2 − 2x2 − x2 + x3 − 2x3 + x3 − x3 − x4 − x4 − x4 − 2x4 + x5 + 2x5 − x5 + x5 = 0 = −1 = 2 = 1 Formalisiert und durch elementare Umformungen auf Stufenform gebracht erhalten wir: 2 −2 4 2 −1 1 −2 −1 1 −2 1 −1 −1 −1 −1 −2 1 2 −1 1 0 −1 2 1 2 0 0 0 −1 0 0 0 1 −1 1 −2 −1 −2 1 −1 1 3 −3 0 0 −1 2 1 2 0 0 0 −1 0 0 0 1 −1 0 0 −1 −2 3 3 1 3 −6 −6 0 −1 3 3 2 0 0 0 −1 0 0 0 1 −1 0 0 −1 −2 3 0 1 3 −6 0 0 −1 3 0 45 4. Lineare Gleichungsysteme Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Dem entspricht das folgende äquivalente lineare Gleichungssystem in Stufenform: 2x1 − x2 + x3 − x4 + x5 = 0 − x3 − 2x4 + 3x5 = −1 x4 − 2x5 = 1 Dieses hat die Lösung: x5 = t x4 = 1 + 2x5 = 1 + 2t x3 = 1 + 3x5 − 2x4 = 1 + 3t − 2 − 4t = −1 − t x2 = s 1 1 s x1 = (x2 − x3 + x4 − x5 ) = (s + 1 + t + 1 + 2t − t) = + 1 + t 2 2 2 wobei s, t ∈ R frei wählbare Parameter sind. Bemerkung 4.3: (i) Setzt man im obigen Beispiel die rechte Seite der vierten Gleichung auf ein c 6= 1, so wird das lineare Gleichungsystem unlösbar. (ii) Um zu große Zahlen während der Rechnung zu vermeiden kann man in Zwischenschritten jede Gleichung so mit einer Konstanten multiplizieren, dass aii = 1 gilt. (iii) Die rechentechnische Umsetzung des Gauß’schen Algorithmus erfordert eine Berücksichtigung der Größenverhältnisse der Koeffizienten aii (Äquilibrierung und Pivotisierung). 46 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 5. Kurven zweiter Ordnung 5. Kurven zweiter Ordnung Die Menge K := {(x, y) ∈ R2 : Dx + Ey + F = 0} beschreibt eine Gerade in der Ebene falls D2 + E 2 > 0 ist. Oder genauer: 1. Wenn D = E = 0 und F 6= 0 ist, dann ist K = ∅. 2. Wenn D = E = 0 und F = 0 ist, dann gilt K = R2 . 3. Wenn D = 0 und E 6= 0 ist, dann entspricht K einer Geraden parallel zur x-Achse. 4. Wenn D 6= 0 und E = 0 ist, dann ist K eine Gerade parallel zur y-Achse. 5. Wenn D 6= 0 und E 6= 0 ist, dann entspricht K einer Geraden mit Anstieg − D E. Man kann die Menge der zu K gehörenden Punkte (x, y) auch als die Menge aller Kurven erster Ordnung bezeichnen. In ähnlicher Weise kann man Kurven zweiter Ordnung definieren durch die Menge K := {(x, y) ∈ R2 : Ax2 + 2Bxy + Cy 2 + Dx + Ey + F = 0}. Neben den bereits beschriebenen Kurven erster Ordnung (im Falle A = B = C = 0 enthalten) gibt es hier drei Grundtypen: x2 a2 + y2 b2 = 1. 2. Die Hyperbel mit der Gleichung x2 a2 − y2 b2 1. Die Ellipse mit der Gleichung = 1. 3. Die Parabel mit der Gleichung y 2 = 2px. Jede Kurve 2. Ordnung lässt sich nach Verschiebung und Drehung des Koordinatensystems, als eine dieser 3 Grundtypen zzgl. der ”entarteten” Fälle ganze Ebene, Gerade, Punkt und ∅ darstellen. Wir betrachten zunächst einen Spezialfall des ersten Grundtyps - den Kreis. Der Kreis ist y x P = (x, y) y M Q x Abbildung 25: Kreis der geometrische Ort aller Punkte einer Ebene, die von einem festen Punkt dieser Ebene einen konstanten Abstand r haben. Also gilt K = {P ∈ R2 : M P = r}. 47 5. Kurven zweiter Ordnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Im Spezialfall M = (0, 0), P = (x, y) und Q = (x, 0) erhalten wir mittels dem Satz des 2 2 2 2 Pythagoras M P = M Q + QP = x2 + y 2 . Das heißt M P ist konstant gdw. x2 + y 2 konstant ist. Also kann ein Kreis (in Mittelpunktslage) durch die Punktmenge K = {(x, y) ∈ R2 : x2 + y 2 = r2 } beschrieben werden. Für den ersten Grundtyp - die Ellipse - gelten ähnliche Betrachtungen. Die Ellipse ist der y P = (x, y) B1 x B2 Abbildung 26: Ellipse geometrische Ort aller Punkte einer Ebene, für die die Summe der Abstände von zwei festen Punkten dieser Ebene konstant 2a ist. Also gilt E = {P ∈ R2 : P B1 + P B2 = 2a} mit a > 0. Wir wollen nun eine Gleichung für die in Abbildung 26 gegebene Ellipse finden. Of2 fensichtlich gilt (wieder wegen dem Satz des Pythagoras) P B1 = (x + c)2 + y 2 und 2 P B2 = (x − c)2 + y 2 mit 0 ≤ c < a. Setzt man dies in P B1 + P B2 = 2a ein, so erhält man unter Berücksichtigung der Vorzeichen der Wurzeln: È È ± (x + c)2 + y 2 + (± (x − c)2 + y 2 ) = 2a È È ⇒ ± (x + c)2 + y 2 = 2a − ± (x − c)2 + y 2 È (x + c)2 + y 2 = 4a2 − ±4a (x − c)2 + y 2 + (x − c)2 + y 2 ⇒ È ⇒ ⇒ ±a (x − c)2 + y 2 = a2 − xc a2 ((x − c)2 + y 2 ) = a4 − 2a2 xc + x2 c2 ⇒ a2 x2 + c2 a2 + a2 y 2 = a4 + x2 c2 ⇒ x2 (a2 − c2 ) + y 2 a2 = (a2 − c2 )a2 x2 y2 (a2 − c2 )a2 + = =1 a2 a2 − c2 (a2 − c2 )a2 ⇒ 2 2 Startet man hingegen mit der Gleichung xa2 + a2y−c2 = 1 und kehrt alle Rechenschritte um und beachtet dabei die Wurzeln, welche jeweils ein ± in die Rechnung bringen, erhält man am Ende: ±P B1 ± P B2 = 2a. Da aber a > 0 ist, entfällt sofort der Fall wo beide Zeichen negativ sind. Andererseits entfällt auch der Fall wo ein Plus und ein Minus auftaucht, denn wegen der Dreiecksungleichung gilt P B1 ≤ P B2 + 2c und somit gilt auch P B1 − P B2 ≤ 2c < 2a. Somit bleibt nur der Fall P B1 + P B2 = 2a übrig. Damit kann eine Ellipse beschrieben werden durch: ¨ « x2 y2 E = (x, y) ∈ R : 2 + 2 =1 a a − c2 2 48 . Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 5. Kurven zweiter Ordnung √ Zwei wichtige Kenngrößen einer Ellipse sind die lineare Exzentrität c = a2 − b2 und die numerische Exzentrität ε = ac . Außerdem besitzt eine jede Ellipse die Reflexionseigenschaft: ”Jeder von einem Brennpunkt ausgehende Strahl geht nach der Reflexion an der Ellipse durch den anderen Brennpunkt.” P α α B1 Tangente B2 Abbildung 27: Reflexion eines Brennpunktstrahls an einer Ellipse Der zweiten Grundtyp - die Hyperbel - erfüllt die folgenden Bedingungen. Die Hyperbel ist der geometrische Ort aller Punkte einer Ebene, für die die Differenz der Abstände von zwei festen Punkten dieser Ebene konstant 2a ist. Also gilt H = {P ∈ R2 : |P B1 − P B2 | = 2a} mit a > 0. y P = (x, y) x B1 = (−c, 0) B2 = (c, 0) Abbildung 28: Hyperbel 2 2 Die Gleichung für die in Abbildung 28 gegebene Hyperbel lautet xa2 − c2y−a2 = 1. Denn 2 2 offensichtlich gilt völlig analog zur Ellipse P B1 = (x + c)2 + y 2 und P B2 = (x − c)2 + y 2 49 5. Kurven zweiter Ordnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler mit 0 < a < c. Setzt man dies in P B1 − P B2 = 2a ein, so erhält man: È È ± (x + c)2 + y 2 − ± (x − c)2 + y 2 = 2a È È ± (x + c)2 + y 2 = 2a + ± (x − c)2 + y 2 ⇒ È (x + c)2 + y 2 = 4a2 + ±4a (x − c)2 + y 2 + (x − c)2 + y 2 ⇒ È xc − a2 = ±a (x − c)2 + y 2 ⇒ c2 x2 − 2a2 xc + a4 = a2 ((x − c)2 + y 2 ) ⇒ a4 + x2 c2 = a2 x2 + c2 a2 + a2 y 2 ⇒ (c2 − a2 )x2 − y 2 a2 = (c2 − a2 )a2 ⇒ y2 (c2 − a2 )a2 x2 − = =1 a2 c2 − a2 (c2 − a2 )a2 ⇒ Analoge Rechnung für den Fall P B1 − P B2 = −2a liefert den linken Hyperbelast. 2 2 Startet man hingegen mit der Gleichung xa2 + c2y−a2 = 1, kehrt alle Rechenschritte um und beachtet dabei die Wurzeln, welche jeweils einen Betrag in die Rechnung bringen, erhält È man zunächst: |4xc − 4a2 | = 4a (x − c)2 + y 2 . Nun müssen wir eine Fallunterscheidung vornehmen. È 1. Fall (xc > a2 ): Dann vereinfacht sich die obige Gleichung zu 4xc−4a2 = 4a (x − c)2 + y 2 . È Dies können wir auch schreiben als (x + c)2 + y 2 = 4a2 + ±4a (x − c)2 + y 2 + (x − c)2 + y 2 È È und ein Wurzelziehen führt zu: (x + c)2 + y 2 = |2a + ± (x − c)2 + y 2 |. Da aber beide Summanden auf der rechten Seite positiv sind, fällt der Betrag weg und wir erhalten: È È (x + c)2 + y 2 − (x − c)2 + y 2 = 2a. È È 2. Fall (xc < a2 ): Völlig analog erhält man (x + c)2 + y 2 − (x − c)2 + y 2 = −2a. Damit ist eine Hyperbel, wie oben behauptet, beschrieben durch: ¨ « x2 y 2 H = (x, y) ∈ R : 2 − 2 = 1 a b 2 mit b2 := c2 − a2 . Jede Hyperbel hat zwei Asymptoten mit den Gleichungen y = ± ab x. Stellt man die Hyperq belgleichung um, so erhält man y = b und Asymptote Folgendes gilt: Ê b x−b a x2 −1= a2 b2 2 x a2 b ax − b2 x2 a2 2 x q +b − 1, womit für den Abstand zwischen Hyperbel a2 x2 a2 −1 −1 = b2 q b ax +b x2 a2 −−−→ 0 −1 x→∞ . Außerdem besitzt eine jede Hyperbel die folgende Eigenschaft: ”Winkel zwischen Tangente und Brennpunktstrahlen sind gleich.” Das heißt, dass die Tangente den Winkel zwischen den beiden Brennpunktstrahlen halbiert. Damit folgt auch sofort: Eine Hyperbel schneidet alle Ellipsen mit den gleichen Brennpunkten senkrecht. Der letzte Grundtyp ist die Parabel, für die wir auch noch die gleichen Betrachtungen durchführen wollen, wie für Kreis, Ellipse und Hyperbel. Die Parabel ist der geometrische Ort aller Punkte der Ebene, die von einem festen Punkt 50 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler − ab x 5. Kurven zweiter Ordnung y B1 b ax B2 P = (a, 0) x Abbildung 29: Asymptoten einer Hyperbel y P B1 B2 · x Abbildung 30: Orthogonalität der Tangenten an Ellipse und Hyperbel 51 5. Kurven zweiter Ordnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler und einer festen Geraden dieser Ebene gleich weit entfernt sind. Also gilt P = {P ∈ R2 : P B = P g}, wobei B eine beliebig fixierter Punkt (genannt Brennpunkt) und g eine beliebig fixierte Gerade (genannt Leitlinie) ist. Die Gleichung für die in Abbildung 31 g y Pg P PB (−c, 0) B = (c, 0) x Abbildung 31: Parabel 2 gegebene Parabel lautet y 2 = 4xc. Denn offensichtlich gilt wieder P B = (x − c)2 + y 2 und P g = x + c mit c > 0. Setzt man dies in P B = P g ein, so erhält man: È x + c = ± (x − c)2 + y 2 ⇒ (x + c)2 = (x − c)2 + y 2 ⇒ x2 + 2xc + c2 = x2 − 2xc + c2 + y 2 ⇒ 4xc = y 2 Startet man andererseits bei y 2 = 4xc und führt die Rechenschritte rückwärts aus, so È erhält man |x + c| = (x − c)2 + y 2 . Für x < 0 erhält man keine Lösung, denn dann würde x − c < x + c < −x + c = −(x − c), also zusammengefasst |x + c| < |x − c| È gelten und somit gilt dann auch |x + c| < |x − c| < (x − c)2 + y 2 . Somit entfällt der Fall È È −(x + c) = (x − c)2 + y 2 und wir erhalten schließlich x + c = (x − c)2 + y 2 . Der Parameter p = 2c wird auch als Halbparameter bezeichnet und er beschreibt den Abstand von Leitlinie zu Brennpunkt. Mit dessen Hilfe schreibt sich die Ellipse in der Form y 2 = 2px. Außerdem besitzt eine jede Parabel die folgende Eigenschaft: ”Jeder parallel zur x-Achse einfallede Strahl geht nach der Reflexion an der Parabel durch den Brennpunkt.” Die Kurven 2. Ordnung werden auch oft als Kegelschnitte bezeichnet, weil sie als Schnitt einer Ebene mit einem geraden Kreiskegel dargestellt werden können. Wir wollen nun eine Klassifizierung der Kegelschnitte erstellen. Dazu betrachten wir die Gleichung Ax2 + 2Bxy + Cy 2 + Dx + Ey + F = 0 und wir setzen zunächst B = 0 voraus. 52 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler g 5. Kurven zweiter Ordnung y Tangente α α P x B Abbildung 32: Reflexion an einer Parabel (Den Fall B 6= 0 behandeln wir erst im 2. Semester.) 1. Fall (A = C = 0): Dann vereinfacht sich die Kurve 2. Ordnung in eine Kurve 1. Ordnung, also in die gesamte Ebene, eine Gerade oder die leere Menge. 2. Fall (A = 0 und C 6= 0): Eine quadratische Ergänzung führt zu der Gleichung C y+ E 2C 2 E2 −F 4C + Dx = Dies entspricht der Gleichung einer Parabel. 3. Fall (A 6= 0 und C = 0): Völlig analog erhalten wir auch hier die Gleichung einer Parabel nämlich: A x+ D 2A 2 D2 −F 4A + Ey = 4. Fall (A 6= 0 und C 6= 0): Hier liefert eine quadratische Ergänzung D A x+ 2A 2 E +C y+ 2C 2 = D2 E2 + −F 4A {z 4C | } :=% Falls AC > 0 und A% > 0 gilt, so erhalten wir einen Kreis bzw. eine Ellipse. Für AC > 0 und A% < 0 hat die Gleichung keine Lösung und beschreibt also die leere Menge. Falls AC < 0 und % 6= 0 ist, erhalten wir eine Hyperbel und für % = 0 ist entspricht die Gleichung dann einem einzelnen Punkt. Zuletzt schauen wir uns noch die Darstellung der Kurve 2. Ordnung in Polarkoordinaten an. Das heißt wir stellen x und y dar als: x = r cos ϕ und y = r sin ϕ. Satz 5.1: Es seien x = r cos ϕ, y = r sin ϕ, e > 0, d > 0 und die Gleichung r= ed 1 + e cos ϕ 53 5. Kurven zweiter Ordnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler gegeben. Dann gilt: (i) Falls 0 < e < 1 ist, wird durch diese Gleichung eine Ellipse beschrieben y2 (x + c)2 + =1 a2 a2 − c2 ed wobei a = 1−e 2 und c = ea ist. Der rechte Brennpunkt der Ellipse liegt im Ursprung. (ii) Falls 1 < e < ∞ ist, wird durch diese Gleichung eine Hyperbel beschrieben (x − c)2 y2 − =1 a2 c2 − a2 wobei a = e2ed und c = ea ist. Der linke Brennpunkt der Hyperbel liegt im Ursprung. −1 (iii) Falls e = 1 ist, wird durch die Gleichung eine Parabel beschrieben d d x− y = −4 2 2 2 Der Brennpunkt der Parabel liegt im Ursprung, die Leitlinie bei x = d und die Parabel ist nach links geöffnet. Beweis: Zunächst gilt für alle drei Fälle: r= ed ⇔ r(1 + e cos ϕ) = ed 1 + e cos ϕ ⇔ r = ed − re cos ϕ ⇔ r2 = e2 d2 − 2rde2 cos ϕ + r2 e2 cos2 ϕ ⇔ x2 + y 2 = e2 d2 − 2e2 dx + e2 x2 (i) Falls nun 0 < e < 1 ist, setzen wir a := ed 1−e2 > 0 und erhalten Folgendes: (1 − e2 )x2 + 2e2 dx + y 2 = e2 d2 ⇔ ⇔ 2e2 d y2 e2 d2 x + = 1 − e2 1 − e2 1 − e2 2 y2 e2 d2 e4 d2 e2 d + x+ = + 1 − e2 1 − e2 1 − e2 (1 − e2 )2 x2 + ⇔ ⇔ ⇔ ⇔ 54 e2 d x+ 1 − e2 e2 d x+ 1 − e2 2 + 2 y2 e2 d2 = 1 − e2 (1 − e2 )2 y2 e2 d2 = 1 − e2 (1 − e2 )2 y2 (x + ea)2 + = a2 1 − e2 (x + ea)2 y2 + =1 a2 a2 (1 − e2 ) + Mathematik für Werkstoffwissenschaftler (ii) Falls e > 1 ist setzen wir a := ed e2 −1 5. Kurven zweiter Ordnung > 0 und erhalten Folgendes: (e2 − 1)x2 − 2e2 dx − y 2 = −e2 d2 ⇔ ⇔ 2e2 d y2 e2 d2 x − = − e2 − 1 e2 − 1 e2 − 1 2 e2 d y2 e2 d2 e4 d2 x− 2 − 2 =− 2 + 2 e −1 e −1 e − 1 (e − 1)2 x2 − ⇔ ⇔ ⇔ 2 y2 e2 d2 = e2 − 1 (e2 − 1)2 y2 (x − ea)2 − 2 = a2 e −1 y2 (x − ea)2 − =1 a2 a2 (e2 − 1) e2 d x− 2 e −1 − (iii) Falls e = 1 ist erhalten wir x2 + y 2 = d2 − 2dx + x2 und nach Subtraktion von x2 auf beiden Seiten ergibt sich: y 2 = −2d x − d2 , was der gewünschten Behauptung entspricht. y P r ϕ B1 = (−2c, 0) B2 x Abbildung 33: Darstellung der Ellipse in Polarkoordinaten Bemerkung 5.1 (Kepler’sche Gesetze): Für die Planetenbahnen eines jeden Planeten unseres Sonnensystems gelten folgende Gesetze: 1. Sie sind Ellipsen mit der Sonne in einem Brennpunkt. 55 5. Kurven zweiter Ordnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler y B2 B1 x Abbildung 34: Darstellung der Hyperbel in Polarkoordinaten y g r ϕ B P d 2 (d, 0) x Abbildung 35: Darstellung der Parabel in Polarkoordinaten 56 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 5. Kurven zweiter Ordnung 2. Ein Brennpunktstrahl überstreicht gleiche Flächen in gleichen Zeiten. 3. Quadrate der Umlaufzeiten sind proportional zur dritten Potenz der großen Halb4π achse, d.h. T 2 = %a3 mit % = gM . t Planet Sonne Abbildung 36: Zweites Kepler’sches Gesetz 57 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Definition 6.1 (Zahlenfolge): Eine reelle Zahlenfolge (aj )∞ j=1 ist eine Abbildung von den natürlichen Zahlen N in die reellen Zahlen R. Der Startindex muss dabei nicht immer zwangsläufig j = 1 sein. Definition 6.2 (Beschränktheit und Monotonie): (i) Eine Zahlenfolge (aj )∞ j=1 heißt beschränkt wenn ∃ c > 0 ∀ j ∈ N : |aj | ≤ c. (ii) Eine Zahlenfolge (aj )∞ j=1 heißt nach unten beschränkt wenn ∃ c ∈ R ∀ j ∈ N : aj ≥ c. (iii) Eine Zahlenfolge (aj )∞ j=1 heißt nach oben beschränkt wenn ∃ c ∈ R ∀ j ∈ N : aj ≤ c. (iv) Eine Zahlenfolge (aj )∞ j=1 heißt monoton wachsend wenn ∀ j ∈ N : aj ≤ aj+1 . (v) Eine Zahlenfolge (aj )∞ j=1 heißt monoton fallend wenn ∀ j ∈ N : aj ≥ aj+1 . Beispiel 6.1: (i) aj = 1j , dann sind die ersten Folgeglieder: 1, 0.5, 0.3̄, 0.25, . . .. (ii) 9 j ) , dann sind die ersten Folgeglieder: 0.9, 0.81, 0.729, . . .. aj = ( 10 (iii) 9 j aj = j · ( 10 ) , dann sind die ersten Folgeglieder: 0.9, 1.62, 2.187, 2.6244, . . .. (iv) aj = (v) aj = (vi) sj = (1 + j! , 20j √ j dann sind die ersten Folgeglieder: 0.05, 0.005, 7.5 · 10−4 , 1.5 · 10−4 , . . .. j, dann sind die ersten Folgeglieder: 1, 1.41 . . . , 1.44 . . . , 1.41 . . . , . . .. 1 2 + . . . + 1j ), dann sind die Folgeglieder: 1, 1.5, . . . a100 ≈ 5.187, a1000 ≈ 7.486, a10000 ≈ 9.788, . . .. (vii) sj = ( 12 + 1 6 + ... + (viii) sj = (1 − 1 2 + (ix) sj = (1 + 1 4 + ... + (x) sj = (1 + 1 1! + 1 3 1 j(j+1) ), + ... + 1 2! dann sind die ersten Folgeglieder: 0.5, 0.6̄, 0.75, . . .. (−1)j−1 ), j dann sind die ersten Folgeglieder: 1, 0.5, 0.6̄, . . .. 1 ). j2 + ... + 1 j! ). Tabelle 1: Erste Folgeglieder einiger ausgewählter Folgen Die Frage die sich stellt ist: ”Was geschieht im Unendlichen?”. Definition 6.3 (Konvergenz / Divergenz von Folgen): (i) Eine Folge (aj )∞ j=1 heißt konvergent wenn es eine Zahl a ∈ R gibt, sodass gilt: Für alle ε > 0 existiert stets ein j0 (ε) ∈ N, sodass für alle j ≥ j0 (ε) stets |aj − a| < ε ist. Oder formalisiert: ∀ ε > 0 ∃ j0 (ε) ∈ N ∀ j ≥ j0 (ε) : |aj − a| < ε . Schreibweise: lim aj = a oder aj −−−→ a . j→∞ j→∞ (ii) Eine Folge heißt divergent wenn sie nicht konvergiert. Beispiel 6.2: 1 ∞ (i) Gegeben sei die Folge (aj )∞ j=1 := ( j )j=1 . Hier gilt lim aj = 0. Sei ε > 0 beliebig vorgegeben, dann setzen wir j0 (ε) := j→∞ 58 £ 1 ε + 1. Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Damit folgt dann: ¡ 1 1 |aj − a| = − 0 = < ε j j für alle ¤ 1 + 1 = j0 (ε) . j≥ ε √1 ∞ (ii) Gegeben sei nun die Folge (aj )∞ j=1 := ( j )j=1 . Hier gilt lim aj = 0, denn sei ε > 0 beliebig vorgegeben, dann setzen wir j0 (ε) := j→∞ 1 ε2 £ + 1. Damit folgt dann: ¡ 1 1 |aj − a| = √ − 0 = √ < ε j j j≥ für alle ¤ 1 + 1 = j0 (ε) . ε2 j ∞ (iii) Nun betrachten wir die geometrische Folge (aj )∞ j=0 := (q )j=0 mit |q| < 1. Hier gilt lim aj = 0, denn für beliebig vorgegebenes ε > 0 soll für j ≥ j0 (ε) gelten: j→∞ |aj − a| = q j − 0 = |q|j < ε . Dies erreicht man, wenn j · ln |q| < ln ε ist. Da ln |q| < 0l ist, mdreht sich beim Dividieren ε + 1 sein muss. das Relationszeichen und wir erhalten, dass j ≥ j0 (ε) := lnln|q| 2 j −4 ∞ (iv) Betrachten wir die Folge (aj )∞ j=2 := ( 2j 2 +8 )j=0 . Hier gilt lim aj = 12 . Sei ε > 0 beliebig vorgegeben, dann soll für ein geeignetes j ≥ j0 (ε) j→∞ immer |aj − a| < ε gelten. Nun ist j2 − 4 1 j 2 − 4 − (j 2 + 4) −8 4 4 |aj − a| = − = ≤ 2 <ε = = 2j 2 + 8 2 2j 2 + 8 2j 2 + 8 j 2 + 4 j lÈ m 4 Die angestrebte Ungleichung erhält man beispielsweise für j0 (ε) := ε + 1. Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht notwendig ist, immer das ”beste” j0 (ε) zu finden. Solange man eine Ungleichungskette erhält, in welcher der letzte Term kleiner als ε ist, ist es unwesentlich, wie sehr man den ursprünglichen Ausdruck auf dem Weg dorthin ”verfälscht”. 3j 3 −j 2 +1 ∞ (v) Betrachten wir die Folge (aj )∞ j=1 := ( 5j 3 +10j+100 )j=0 . Hier ist es sehr schwierig bzw. aufwändig eine geeignete Abschätzung zu finden, um den Grenzwert mit der Definition zu bestimmen. Mit Hilfe der, noch herzuleitenden, Grenzwertsätze ergibt sich der Grenzwert aber unmittelbar zu 35 . Satz 6.1 (Eindeutigkeit des Grenzwertes): Ist eine Folge konvergent, so ist ihr Grenzwert eindeutig bestimmt. Beweis: Seien â and ā zwei Grenzwerte der Folge (aj )∞ j=1 . Wir nehmen an, dass â 6= ā gilt und 1 können damit ε := 3 |â − ā| > 0 setzen. Da â ein Grenzwert ist, folgt dass ein j0 (ε) ∈ N existiert, sodass |aj − â| < ε für alle j ≥ j0 (ε) gilt. Da aber ebenso ā ein Grenzwert ist, folgt dass ein j1 (ε) ∈ N existiert, sodass |aj − ā| < ε für alle j ≥ j1 (ε) gilt. 59 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Sei nun j ≥ max{j0 (ε), j1 (ε)}, dann sind beide obigen Ungleichungen erfüllt und wir erhalten durch Addition |aj − â| + |aj − ā| < 2ε. Damit können wir nun für alle j ≥ max{j0 (ε), j1 (ε)} folgenden Widerspruch herleiten: 2 0 < |â − ā| = |â − aj + aj − ā| ≤ |â − aj | + |aj − ā| < 2ε = |â − ā| 3 Daraus folgt, dass die Annahme falsch war und somit muss â = ā gelten. Satz 6.2 (Beschränktheit von konvergenten Folgen): Jede konvergente Folge ist beschränkt. Beweis: Da (aj )∞ j=1 konvergent ist, existiert ein a ∈ R und für jedes beliebig vorgegeben ε > 0 ein j0 (ε) ∈ N, sodass für alle j ≥ j0 (ε) immer |aj − a| < ε gilt. Damit ist für alle j ≥ j0 (ε) |aj | = |aj − a + a| ≤ |aj − a| + |a| < ε + |a| . Wir setzen ε := 1 und c := max{|a1 |, . . . , |aj0 (1)−1 |, |a|+1}. Mit diesem c gilt dann: |aj | ≤ c für alle j ∈ N. Damit ist (aj )∞ j=1 beschränkt durch dieses c. Satz 6.3 (Grenzwertsatz): ∞ Gegeben seien die konvergenten Folgen (aj )∞ j=1 und (bj )j=1 sowie λ ∈ R. Wir setzen a := lim aj und b := lim bj . Dann folgt: j→∞ j→∞ (i) (ii) (iii) lim (λaj ) = λa j→∞ lim (aj + bj ) = a + b j→∞ lim (aj bj ) = ab j→∞ (iv) a lim ( j ) j→∞ bj (v) Falls aj ≤ bj ist, dann gilt auch a ≤ b. = a b falls b 6= 0 gilt. Beweis: (i) Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben und λ 6= 0. Da (aj )∞ j=1 gegen a konvergiert, wissen wir, ε ε ε dass immer ein ĵ0 ( |λ| ) ∈ N existiert, sodass für j ≥ ĵ0 ( |λ| ) stets |aj − a| < |λ| gilt. ε Wir setzen j0 (ε) := ĵ0 ( |λ| ) ∈ N und erhalten somit für alle j ≥ j0 (ε): |λaj − λa| = |λ · (aj − a)| = |λ| · |aj − a| < |λ| · ε =ε |λ| Das zeigt, dass lim λaj = λa gilt. j→∞ ∞ (ii) Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da (aj )∞ j=1 gegen a und (bj )j=1 gegen b konvergiert, wissen wir, dass immer j0a ( 2ε ) ∈ N und j0b ( 2ε ) ∈ N existieren, sodass für j ≥ j0a ( 2ε ) bzw. j ≥ j0b ( 2ε ) immer |aj − a| < 2ε bzw. |bj − b| < 2ε gilt. Wir setzen j0 (ε) := max{j0a ( 2ε ), j0b ( 2ε )} ∈ N und erhalten somit für alle j ≥ j0 (ε): |aj + bj − (a + b)| = |aj − a + bj − b| ≤ |aj − a| + |bj − b| < 60 ε ε + =ε 2 2 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Das zeigt, dass lim (aj + bj ) = a + b gilt. j→∞ (iii) Sein o.B.d.A. a 6= 0 und b 6= 0. Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da (aj )∞ j=1 gegen a ε ε ∞ a )∈N und (bj )j=1 gegen b konvergiert, wissen wir, dass immer ein j0 ( 3|b| ) ∈ N und ein j0b ( 2|a| ε ε ε ε a b existiert, sodass für j ≥ j0 ( 3|b| ) bzw. j ≥ j0 ( 2|a| ) immer |aj − a| < 3|b| bzw. |bj − b| < 2|a| ist. Außerdem gilt zunächst einmal folgende Abschätzung: |aj bj − ab| = |aj bj − abj + abj − ab| ≤ |aj bj − abj | + |abj − ab| = |aj − a|·|bj | + |b|·|bj − b| Da die bj keine Konstanten sind, müssen wir uns überlegen, wie wir sie abschätzen können. Offensichtlich gilt, da (bj )∞ j=1 gegen b konvergiert, dass ein j̄0 ∈ N existiert, sodass für 3|b| |b| j ≥ j̄0 immer 2 < |bj | < 2 gilt. ε ε Wir setzen nun j0 (ε) := max{j0a ( 3|b| ), j0b ( 2|a| ), j̄0 } ∈ N und können für alle j ≥ j0 (ε) die oben begonnene Abschätzung fortsetzen durch: |aj bj − ab| ≤ |aj − a| · |bj | + |a| · |bj − b| < ε ε ε ε 3|b| · + |a| · = + =ε . 3|b| 2 2|a| 2 2 Das zeigt, dass lim (aj bj ) = ab gilt. j→∞ ∞ (iv) 1. Fall (a 6= 0): Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da (aj )∞ j=1 gegen a und (bj )j=1 2 b |b| ε gegen b konvergiert, wissen wir, dass immer ein j0a ( |b|ε 4 ) ∈ N und ein j0 ( 4|a| ) ∈ N existiert, 2 b |b| ε sodass für j ≥ j0a ( |b|ε 4 ) bzw. j ≥ j0 ( 4|a| ) stets |aj − a| < Außerdem gilt folgende Abschätzung: j j |b|ε 4 bzw. |bj − b| < |b|2 ε 4|a| ist. a a aj b − abj aj b − ab + ab − abj 1 (|aj b − ab| + |ab − abj |) − = = ≤ b b bj b bj b |bj b| 1 = (|aj − a| · |b| + |a| · |bj − b|) . |bj | · |b| Da die bj wiederum keine Konstanten sind, müssen wir sie wieder abschätzen. Offensichtlich gilt, da (bj )∞ j=1 gegen b 6= 0 konvergiert, dass ein j̄0 ∈ N existiert, sodass für j ≥ j̄0 immer 2 3|b| a |b|ε b |b| ε 0 < |b| 2 < |bj | < 2 gilt. Wir setzen nun j0 (ε) := max{j0 ( 4 ), j0 ( 4|a| ), j̄0 } ∈ N und können für alle j ≥ j0 (ε) die oben begonnene Abschätzung fortsetzen durch: j j a a 1 2 − ≤ (|aj − a| · |b| + |a| · |bj − b|) < b b |bj | · |b| |b| · |b| a Das zeigt, dass lim ( bjj ) = j→∞ a b |b|ε |b|2 ε |b| + |a| 4 4|a| = ε ε + =ε 2 2 gilt. 2. Fall (a = 0): Es sei ε > 0 beliebig gegeben. Analog zum 1. Fall existiert ein j0a ( |b|ε 2 ) ∈ N, |b|ε |b|ε a sodass für j ≥ j0 ( 2 ) immer |aj | < 2 gilt. Desgleichen existiert wieder ein j̄0 ∈ N, sodass für j ≥ j̄0 immer 0 < |b| 2 < |bj | gilt. Wir |b|ε a setzen nun j0 (ε) := max{j0 ( 2 ), j̄0 } ∈ N und erhalten für alle j ≥ j0 (ε) nun die folgende Abschätzung: j j a |aj | 2 2 |b|ε − 0 = < |aj | < =ε b |bj | |b| |b| 2 61 6. Zahlenfolgen und Reihen a Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Das zeigt, dass lim ( bjj ) = 0 = j→∞ a b ist. (v) Wir nehmen an, dass a > b gilt. Dann erhalten wir: 0 < a − b ≤ a − b + (aj − bj ) = (a − aj ) + (bj − b) ≤ |aj − a| + |bj − b| . Da beide Summanden in dem Term auf der rechten Seite für j −→ ∞ gegen Null streben kann die Differenz a − b durch beliebig kleine relle Zahlen abgeschätzt werden. Dann muß aber a − b = 0 und damit a = b sein. Dies stellt aber offensichtlich einen Widerspruch zur Annahme a > b dar und wir erhalten so, dass a ≤ b gelten muss. Satz 6.4 (Einschnürungssatz): ∞ (i) Gegeben seien zwei Folgen (aj )∞ j=1 und (cj )j=1 die beide gegen den gleichen Wert a konvergieren. Außerdem gelte für (bj )∞ j=1 , dass 0 ≤ aj ≤ bj ≤ cj für j ≥ J ist. Dann ∞ konvergiert auch die Folge (bj )j=1 gegen a. ∞ (ii) Es sei (aj )∞ j=1 eine Nullfolge und (bj )j=1 eine beschränkte Folge, dann gilt stets lim (aj bj ) = 0. j→∞ Beweis: Die Bedingung 0 ≤ aj ≤ bj ≤ cj ist gleichbedeutend mit 0 ≤ bj − aj ≤ cj − aj . Weiterhin folgt damit durch zweimaliges Anwenden der Dreiecksungleichung: |bj − a| ≤ |bj − aj | + |aj − a| ≤ |cj − aj | + |aj − a| ≤ |cj − a| + |a − aj | + |aj − a| . ∞ Nun sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da sowohl (aj )∞ j=1 als auch (cj )j=1 gegen a streben, existieren j0a ( 3ε ), j0c ( 3ε ) ∈ N, mit |aj − a| ≤ 3ε für j ≥ j0a ( 3ε ) bzw. |cj − a| ≤ 3ε für j ≥ j0c ( 3ε ). Wir setzen nun j0 (ε) := max{j0a ( 3ε ), j0c ( 3ε )}. Damit folgt für j ≥ j0 (ε): |bj − a| ≤ |cj − a| + |aj − a| + |aj − a| < ε ε ε + + =ε . 3 3 3 Damit ist auch (bj )∞ j=1 konvergent gegen a. (ii) Aus den Voraussetzungen können wir folgern: 0 ≤ |aj · bj | = |aj | · |bj | ≤ D · |aj | . Da die rechte Seite für j −→ ∞ gegen Null strebt, folgt unter Verwendung von (i) die gewünschte Behauptung. Beispiel 6.3: √ ∞ j (i) Wir betrachten die Folge (aj )∞ j=1 := ( c)j=1 , wobei c > 0 gelten soll. Der Grenzwert dieser Folge lautet a = 1. Um das zu zeigen, machen wir eine Fallunterscheidung. √ j ∞ ∞ 1. Fall (c = 1): Hier gilt dann (aj )∞ j=1 = ( 1)j=1 = (1)j=1 . Diese konstante Folge konvergiert selbstverständlich gegen den Wert a = 1. √ 2. Fall (c > 1): Zunächst können wir wegen j c − 1 > 0 die Ungleichung von Bernoulli aus Satz 1.2 verwenden und erhalten: √ √ c = (1 + ( j c − 1))j ≥ 1 + j( j c − 1) ≥ 1 62 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Die so entstandene Ungleichung können wir wie folgt umformen: √ c ≥ 1 + j( j c − 1) ≥ 1 √ c − 1 ≥ j( j c − 1) ≥ 0 √ c−1 ≥ j c−1≥0 j √ c−1 +1 ≥ j c≥1 j Da der Term auf der linken Seite für j −→ ∞ gegen 1 strebt, können wir mit Hilfe von √ Satz 6.4 folgern, dass auch die Folge ( j c)∞ j=1 gegen 1 strebt. 1 3. Fall (0 < c < 1): Wir setzen c := b , wobei dann logischerweise b > 1 gilt. Damit können wir mit Satz 6.4 und dem Wissen aus dem 2. Fall schlussfolgern: lim j→∞ √ j r c = lim j→∞ j 1 1 1 1 √ = lim √ = = =1 . j j b j→∞ b 1 lim b j→∞ √ ∞ j (ii) Nun betrachten wir die Folge (aj )∞ j=1 := ( j)j=1 . Analog zu dem 2. Fall von (i) können wir hier sagen, dass wegen des Binomischen Satzes (Satz 1.1) immer Folgendes gilt: È j j j j = (1 + ( j − 1)) = X k=0 È j · ( j j − 1)k · 1j−k ≥ k È j · ( j j − 1)2 ≥ 0 . 2 Die so entstandene Ungleichung können wir wieder umformen: È j · ( j j − 1)2 ≥ 0 2 j · (j − 1) È j ≥ · ( j j − 1)2 ≥ 0 2 j ≥ È 2 ≥ ( j j − 1)2 ≥ 0 j−1 √ È 2 √ ≥ j j−1 ≥ 0 j−1 √ È 2 √ +1 ≥ j j ≥ 1 j−1 Da der Term auf der linken Seite für j −→ ∞ gegen a = 1 strebt, können wir mit Hilfe √ von Satz 6.4 folgern, dass auch die Folge ( j j)∞ j=1 gegen a = 1 strebt. k −j ∞ (iii) Als letztes wollen wir uns die Folge (aj )∞ j=1 := (j c )j=1 mit c > 1 und k ∈ N ansehen. 1. Fall (k = 1): Hier gilt mit einem geeignetet gewählten b > 0: 0≤ j j 2j 2 = < = j j 2 c (1 + b) j(j − 1)b (j − 1)b2 Da der Term auf der linken Seite für j −→ ∞ gegen a = 0 strebt, können wir mit Hilfe von Satz 6.4 folgern, dass auch die Folge (j k c−j )∞ j=1 gegen a = 0 strebt. 63 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 2. Fall (k ≥ 2): Hier führt man das Problem auf den ersten Fall zurück: 0≤ jk j j = √ ··· √ k k j j c ( c) ( c)j | {z } k Faktoren √ Da k c > 1 ist, strebt, wie eben gezeigt, jeder dieser Faktoren gegen 0. Somit konvergiert auch der gesamte Ausdruck gegen 0, da k eine feste Zahl ist und nicht gleichzeitig mit j wächst. Satz 6.5 (Cauchy-Kriterium): ∞ Eine Folge (aj )∞ j=1 reeller Zahlen ist konvergent gdw. (aj )j=1 eine Cauchy-Folge (Fundamentalfolge, konzentrierte Folge) ist d.h. für alle ε > 0 ein j1 (ε) ∈ N existiert, sodass |aj − ak | < ε für alle j, k ≥ j1 (ε) gilt. Beweis: ”⇒”: Sei (aj )∞ j=1 konvergent gegen a und ε > 0 beliebig vorgegeben. Dann existiert ein ε j0 ( 2 ) ∈ N, sodass |aj − a| < 2ε ist, falls j ≥ j0 ( 2ε ) gilt. Wir setzen j1 (ε) := j0 ( 2ε ) und können dann für alle j, k ≥ j1 (ε) folgern: |aj − ak | = |aj − a + a − ak | ≤ |aj − a| + |a − aj | < ε ε + =ε . 2 2 Das zeigt aber, dass (aj )∞ j=1 auch eine Cauchy-Folge ist. ”⇐”: Zunächst ist zu bemerken, dass jede Cauchy-Folge beschränkt ist. Wir setzen dazu ε := 1, dann gibt es ein j1 (1) ∈ N, sodass für j, k ≥ j1 (1) stets |aj − ak | < 1 gilt. Wir setzen dann c := max{|a1 |, |a2 |, . . . , |aj1 (1) |, |aj1 (1) | + 1} und erhalten |aj | ≤ c für alle j ∈ N. In einer beschränkten Folge existiert laut dem Satz von Bolzano-Weierstrass immer eine konvergente Teilfolge. Wir nennen diese Folge (ajk )∞ k=1 und bezeichnen ihren Grenzwert mit ā. Sei ε > 0 nun wieder beliebig vorgegeben. Dann existiert ein j1 ( 2ε ) ∈ N und ein k0 ( 2ε ) ∈ N, sodass wegen der Cauchy-Folgen-Eigenschaft |aj −ajk | < 2ε ist, falls j, jk ≥ j1 ( 2ε ) gilt und außerdem wegen der konvergenten Teilfolge |ajk − ā| < 2ε gilt, falls k ≥ k0 ( 2ε ) ist. Wenn wir nun j0 (ε) := max{j1 ( 2ε ), jk0 ( 2ε ) } ∈ N setzen, können wir folgern: |aj − ā| = |aj − ajk + ajk − ā| ≤ |aj − ajk | + |ajk − ā| < ε ε + =ε . 2 2 Das zeigt, dass für ein beliebiges ε > 0 immer ein j0 (ε) ∈ N existiert, sodass |aj − ā| < ε ist, falls j ≥ j0 (ε) gilt. Damit ist auch (aj )∞ j=1 konvergent gegen ā Satz 6.6: (i) Es sei (aj )∞ j=1 eine monoton wachsende Folge, die nach oben beschränkt ist. Dann ist ∞ (aj )j=1 konvergent und es gilt: lim aj = sup{aj : j ∈ N} . j→∞ 64 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen (i) Es sei (aj )∞ j=1 eine monoton fallende Folge, die nach unten beschränkt ist. Dann ist (aj )∞ j=1 konvergent und es gilt: lim aj = inf{aj : j ∈ N} . j→∞ Beweis: (i) Wegen der Beschränktheit der Folge ist {aj : j ∈ N} eine nach oben beschränkte, nichtleere Menge von reellen Zahlen und muss ein Supremum besitzen. Wir setzen a := sup{aj : j ∈ N} und es sei ε > 0 beliebig gegeben. Dann existiert ein j0 (ε) ∈ N, sodass a − ε < aj0 (ε) ≤ a gilt. Wegen der Monotonie erhalten wir nun: a − ε < aj0 (ε) ≤ aj0 (ε)+1 ≤ aj0 (ε)+2 ≤ . . . ≤ a < a + ε . Damit können wir sagen, dass für alle ε > 0 ein j0 (ε) ∈ N existiert, sodass |aj − a| < ε für alle j ≥ j0 (ε) ist. Damit gilt lim aj = a. j→∞ (ii) Ist nun (aj )∞ j=1 monoton fallend und nach unten beschränkt, setzen wir a := inf{aj : j ∈ N} und können völlig analog verfahren. Beispiel 6.4: È √ 20 und aj+1 := 20 + aj . Gegeben sei die induktiv definierte Folge (aj )∞ j=1 mit a1 := Wir weisen mit Vollständiger Induktion nach, dass die Folge monoton wachsend und nach oben beschränkt ist. Dann ergibt sich die Konvergenz aus Satz 6.6. Zunächst zur Monotonie: È √ √ I.A.: a1 = 20 < 20 + 20 = a2 I.V.: aj−1 < aj I.B.: aj < aj+1 È È I.S.: aj = 20 + aj−1 < 20 + aj = aj+1 Nun zur Beschränktheit: √ √ I.A.: a1 = 20 < 1 + 20 √ I.V.: aj < 1 + 20 √ I.B.: aj+1 < 1 + 20 È È È È √ √ √ √ I.S.: aj+1 = 20 + aj < 20 + 1 + 20 < 1 + 2 20 + 20 = (1 + 20)2 = 1 + 20 Damit konvergiert die Folge (aj )∞ j=1 und der Grenzwert a := lim aj existiert. Nun können j→∞ wir a durch folgende Rechnung sogar bestimmen: È aj+1 = 20 + aj a2j+1 − aj − 20 = 0 lim a2j+1 − aj − 20 j→∞ = 0 lim a2j+1 − lim aj − 20 = 0 j→∞ j→∞ a2 − a − 20 = 0 65 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Also Ê (−1)2 −1 a1/2 = − ± − (−20) 2 4 a = −4 oder a = 5 . √ Da die Lösung a = −4 entfällt, weil a1 = 20 ≈ 4, 47 und die Folge monoton wachsend ist, kommt als Grenzwert nur a = 5 in Frage. Bemerkung 6.1: Es ist in Beispiel 6.4 wichtig zu prüfen, dass die Folge konvergiert, bevor man a := lim aj (aj )∞ j=1 ausrechnen kann. Betrachtet man die Folge mit a1 := 2 und aj+1 := berechnet wie eben den Grenzwert, so erhält man: j→∞ 1 2 2 (aj + 1) und 1 2 (a + 1) 2 j 2aj+1 − a2j − 1 = 0 aj+1 = lim a2j − 2aj+1 + 1 = 0 j→∞ lim a2j − 2 lim aj+1 + 1 = 0 j→∞ j→∞ a2 − 2a + 1 = 0 (a − 1)2 = 0 Diese Folge ist streng monoton wachsend und das erste und somit kleinste Folgeglied ist 2. Damit kann die Folge nicht den ”errechneten” Grenzwert 1 besitzen. Die obige Rechnung ist so nicht gerechtfertigt, denn die Folge ist unbeschränkt. Wie man sich leicht überzeugt gilt für alle j ∈ N immer aj ≥ j. Satz 6.7 (Die e-Folgen): 1 j ∞ ist monoton wachsend und beschränkt. (i) Die Folge (aj )∞ j=1 := (1 + j ) j=1 ∞ 1 j+1 (ii) Die Folge (bj )∞ j=1 := (1 + j ) (iii) Außerdem gilt: j=1 ist monoton fallend und beschränkt. lim aj = lim bj =: e . j→∞ j→∞ Beweis: (i) Wir beginnen den Beweis mit einer Ungleichungskette, die den Satz 1.2 verwendet und uns die Monotonie der ersten Folge liefern wird. 1 j+1 j+1 j+1 1 + 1j 1+ = j+1 j+2 j+1 j+1 j = ≥ 1 + (j + 1) · − 66 j(j + 2) (j + 1)2 1 (j + 1)2 j+1 =1− 1 = 1− (j + 1)2 j+1 1 j 1 = = j+1 j+1 1+ 1 j . Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Diese Ungleichung lässt sich nun wie folgt modifizieren: 1 j+1 j+1 j+1 1 + 1j 1+ 1 ≥ 1+ ⇔ 1 j 1 j+1 j+1 j 1 + 1j 1+ ≥1 ⇔ 1 1+ j+1 j+1 1 ≥ 1+ j j . Das entspricht aber aj ≤ aj+1 und zeigt, dass (aj )∞ j=1 monoton wachsend ist. (ii) Ganz analog erhalten wir eine Ungleichungskette, die uns die Monotonie der zweiten Folge liefern wird. 1 j+1 j 1 j+1 j+1 1+ 1+ = j+1 j+1 j j+2 j+1 = ≥ 1 + (j + 1) · (j + 1)2 j(j + 2) 1 j(j + 2) j+1 = 1+ =1+ 1 j(j + 2) j+1 j+1 j+1 1 ≥1+ =1+ . 2 2 j + 2j (j + 1) j+1 Diese Ungleichung lässt sich nun wiederum wie folgt modifizieren: 1 j+1 j 1 j+1 j+1 1+ 1+ 1 ≥1+ j+1 1 j+1 j 1 j+2 j+1 1+ ⇔ 1+ ≥1 ⇔ 1+ 1 j j+1 ≥ 1+ 1 j+1 j+2 . Das entspricht aber der Tatsache bj ≥ bj+1 , die zeigt, dass (bj )∞ j=1 monoton fallend ist. Nun können wir simultan die Beschränktheit beider Folgen beweisen. Trivialerweise gilt: 1 2 = a1 ≤ a2 ≤ . . . ≤ aj = 1 + j j 1 < 1+ j j+1 = bj ≤ . . . ≤ b2 ≤ b1 = 4 . ∞ Das beweist, dass (aj )∞ j=1 durch 4 nach oben beschränkt ist und die Folge (bj )j=1 durch 2 nach unten beschränkt ist. (iii) Nach Teil (i) und (ii) und unter Beachtung von Satz 6.6 wissen wir, dass beide Folgen konvergieren. Demnach können wir nun a := lim aj und b := lim bj setzen. Nun gilt: j→∞ j→∞ |a − b| = |a − aj + aj − bj + bj − b| ≤ |a − aj | + |aj − bj | + |bj − b| = |aj − a| + 1 1+ j j 1 − 1+ j j+1 + |bj − b| 1 j 1 = |aj − a| + 1 + + |bj − b| · 1 − 1 − j j 1 4 ≤ |aj − a| + 4 · − + |bj − b| = |aj − a| + + |bj − b| . j j Die drei Folgen auf der rechten Seite der Ungleichung sind Nullfolgen und so ergibt sich |a − b| = 0. Damit erhalten wir schließlich a = b. Definition 6.4 (Die Euler’sche Zahl e): Nachdem wir wissen, dass die in Satz 6.7 erwähnten Folgen gegen den gleichen Wert konvergieren, können wir Folgendes definieren: e := lim j→∞ 1 1+ j j = lim j→∞ 1 1+ j j+1 Diese Zahl e heißt Euler’sche Zahl und es gilt: e ≈ 2, 718282. 67 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Bemerkung 6.2 (Nährungsweise Bestimmung von e): j Definiert haben wir die Zahl e als e := lim 1 + 1j . j→∞ Zunächst erhalten wir mit Satz 1.1 als Abschätzung nach oben: 1 aj = 1 + j j j = X j k k=0 k 1 j j 1j−k = X j! 1 k!(j − k)! j k k=0 j X 1 j(j − 1) · · · (j − k + 1) k! jk k=2 aj = 1 + 1 + j X 1 1 1− k! j k=2 aj = 1 + 1 + j 2 k−1 ··· 1 − j j 1− j X X 1 1 aj < 1 + 1 + = . k! k=0 k! k=2 (6.1) Für ein beliebiges n > j erhalten wir außerdem als Abschätzung nach unten: 1 an = 1 + n n an = 1 + 1 + = n X n k k=0 1n−k = n X n! 1 k!(n − k)! nk k=0 n X 1 n(n − 1) · · · (n − k + 1) k! nk k=2 n X j 1 1 an = 1 + 1 + 1− k! n k=2 an > 1 + 1 + k 1 n X 1 1 1− k! n k=2 2 k−1 1− ··· 1 − n n 1− 2 k−1 ··· 1 − n n . (6.2) Die Anzahl der Summanden bzw. Faktoren ist (j−1)j + 2 und damit unabhängig von n. 2 Daher können wir nun den Grenzübergang n −→ ∞ betrachten und erhalten aus (6.2): e = lim an ≥ lim n→∞ n→∞ 1+1+ j ≥1+1+ X k=2 ≥ j X 1 1 1− k! n k=2 1 lim k! n→∞ 1− 1 n 1− 2 k−1 ··· 1 − n n 1− 2 k−1 ··· 1 − n n j X 1 k! k=0 (6.3) Insgesamt erhalten wir aus (6.1) und (6.3) also: j aj < X 1 ≤ e k! k=0 und nach dem Grenzübergang j −→ ∞ ergibt sich schließlich: j ∞ X 1 1 = ≤ e j→∞ k! k! k=0 k=0 e = lim aj < lim j→∞ 68 X das heißt e = ∞ X 1 . k! k=0 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Eine gute Approximation für e erhalten wir durch die Abschätzungen: j 0<e− j X 1 1 1 < · k! j! j k=0 X j X 1 1 1 1 <e< + · . k! k! j! j k=0 k=0 bzw. Sogar für sehr kleine Zahlen bekommt man schon sehr gute Näherungen von e. Zum Beispiel erhält man für j = 5: 5 X 326 1 = = 2, 716̄ k! 120 k=0 sowie 1 1 = , 5 · 5! 600 und damit folgt 2, 716̄ < e < 2, 7183̄ . Bemerkung 6.3: Für eine beliebige Folge (aj )∞ j=1 mit aj −→ 0 , aj 6= 0 und aj > −1 gilt stets 1 lim (1 + aj ) aj = e . j→∞ Definition 6.5 (Teilfolge): ∞ Es sei (jk )∞ k=1 eine streng monoton wachsende Folge natürlicher Zahlen und (aj )j=1 eine ∞ beliebige Folge. Dann heißt die Folge (bk )∞ k=1 mit bk := ajk Teilfolge von (aj )j=1 . Lemma 6.1 (Konvergenz von Teilfolgen): (i) Es sei (aj )∞ j=1 eine Folge, die gegen a konvergiert, dann konvergiert auch jede Teilfolge ∞ von (aj )j=1 gegen den gleichen Wert a. (ii) Konvergiert jede Teilfolge einer Folge (aj )∞ j=1 gegen den gleichen Wert a, dann kon∞ vergiert auch (aj )j=1 gegen a. Beweis: Offensichtlich. Bemerkung 6.4: Konvergiert nur eine Teilfolge von (aj )∞ j=1 , so kann nicht auf die Konvegenz der Orginalfolge geschlossen werden! Als einfachstes Beispiel betrachte man die Folge (aj )∞ j=1 mit j ∞ aj = (−1) und deren Teilfolgen (ajk )k=1 mit jk = 2k bzw. ĵk = 2k + 1 . Definition 6.6 (Bestimmte Divergenz): (i) Eine Folge (aj )∞ j=1 heißt bestimmt divergent gegen ∞ wenn für alle c > 0 ein j0 (c) ∈ N existiert, sodass für alle j ≥ j0 (c) immer aj > c gilt. (ii) Eine Folge (aj )∞ j=1 heißt bestimmt divergent gegen −∞ wenn für alle c < 0 ein j0 (c) ∈ N existiert, sodass für alle j ≥ j0 (c) immer aj < c gilt. (iii) Eine Folge heißt unbestimmt divergent wenn sie weder konvergiert noch bestimmt divergiert. Bemerkung 6.5: Nicht jede unbeschränkte Folge ist automatisch bestimmt divergent. Beispielsweise ist die j Folge (aj )∞ j=0 mit aj := (−1) · j unbeschränkt und unbestimmt divergent. 69 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beispiel 6.5: j! (i) Wir betrachten die Folge (aj )∞ j=1 mit aj := aj , wobei a > 0 sein soll. Wir wählen ein j1 ∈ N so, dass ja1 ≥ 2 ist, dann gilt: j j−1 j1 j1 − 1 j1 j1 j! j1 + 1 2 1 = · ≥ 2j−j1 · j1 = 2j · · ··· · ··· · j a a a a a a a a a (2a)j1 j1 j Der Wert (2a) j1 ist eine Konstante und 2 wächst offensichtlich über alle Grenzen. Somit ist (aj )∞ j=1 bestimmt divergent gegen ∞. √ j j! ist auch bestimmt divergent gegen ∞. Für beliebig (ii) Die Folge (aj )∞ j=1 mit aj := vorgegebenes c > 0 existiert laut (i) immer ein j0c (1) ∈ N, sodass cj!j ≥ 1 für alle j ≥ j0c (1) √ ist. Umgestellt erhalten wir also j! ≥ cj bzw. j j! ≥ c für alle j ≥ ĵ0 (c) := j0c (1). Nach Definition ist damit (aj )∞ j=1 unbestimmt divergent gegen ∞. (iii) Zuletzt sei noch die Folge (sj )∞ j=1 mit sj := divergent gegen ∞, denn: j P k=1 1 k gegeben. Diese Folge ist bestimmt j s2j = X 1 1 1 1 1 1 1 1 1 = 1 + + + + + + + + ... + j k 2 3 4 5 6 7 8 2 k=1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + . . . + j−1 + ... + j 2 3 4 5 6 7 8 2 +1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + + ... + j + ... + j ≥ 2 2 4 4 8 8 8 8 2 2 1 1 1 1 1 j−1 1 = 1 + 2 · + 4 · + ... + 2 · j = 1 + + + ... + 4 8 2 2 2 {z 2} | = 1+ j−1 Summanden j+1 j−1 = =1+ 2 2 ∞ Da (sj )j=1 außerdem offensichtlich noch streng monoton wachsend ist, erhalten wir, dass (sj )∞ j=1 bestimmt divergent gegen ∞ sein muss. Bemerkung 6.6 (Rechenregeln für bestimmt divergente Folgen): ∞ Gegeben seien die Folgen (aj )∞ j=1 und (bj )j=1 . (i) Falls lim aj = lim bj = ∞ gilt, dann gilt auch lim (aj + bj ) = ∞ und lim (aj bj ) = ∞. j→∞ j→∞ j→∞ j→∞ (ii) Falls lim aj = ∞ und lim bj = b gilt, dann gilt auch lim (aj ± bj ) = ∞ und falls j→∞ j→∞ j→∞ b > 0 ist, gilt lim (aj bj ) = ∞ bzw. falls b < 0 ist, gilt lim (aj bj ) = −∞. j→∞ j→∞ (iii) Falls lim aj = ∞ und lim bj = −∞ gilt, dann gilt auch lim (aj bj ) = −∞ und j→∞ 1 j→∞ aj lim j→∞ j→∞ = 0. Bemerkung 6.7: 0 ∞ Grenzwerte der Form ∞ − ∞ , 0 · ∞ , , , 1∞ , 00 , ∞0 sind unbestimmt. Das 0 ∞ bedeutet, dass der Grenzwert falls er existiert jede reelle Zahl annehmen kann oder er ist ±∞ oder aber der Grenzwert existiert nicht. Für die Form 0 · ∞ betrachte man beispielsweise die Folgen 1 ·j j 70 , 1 · 2j j , 1 2 ·j j und (−1)j 2 ·j . j Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen Beispiel 6.6: √ (i) Wie wir in Beispiel 6.5 (ii) gesehen haben, gilt lim j j! = ∞ somit folgt auch sofort: j→∞ 1 lim √ =0 +. j j→∞ j! (ii) Nun wollen wir den Grenzwert der Folge (aj )∞ j=1 mit aj := j mit bj := √ j j bestimmen. Wir benötigen zunächst eine Abschätzung nach oben: √ j j j bzw. der Folge (bj )∞ j=1 jj j j−1 j j−1 1 1 1 = = · ··· · j! (j − 1)! j−1 j−2 2 1 j−1 j−2 3 2 1 j−1 4 j 3 2 · ··· = · · j−1 j−2 3 2 1 j−1 j−2 1 1 3 1 1 2 1 1 · 1+ ··· 1 + = 1+ · 1+ · 1+ . j−1 j−2 3 2 1 Wegen Satz 6.7 gilt somit: jj ≤ ej−1 . j! Völlig analog erhalten wir auch eine Abschätzung nach unten: jj jj 1 1 1 = · ··· · (j − 1)! j−1 j−2 2 1 j 4 3 2 j − 1 j−1 4 3 2 j · ··· · · = j−1 j−2 3 2 1 j j−1 4 1 1 1 1 3 1 2 = 1+ · 1+ ··· 1 + · 1+ · 1+ . j−1 j−2 3 2 1 Wieder erhalten wir mit Satz 6.7: jj ≥ ej−1 . j − 1! Zusammengesetzt ergibt sich somit 1 j−1 j j e ≤ ≤ ej−1 j j! 1 1 j 1 √ ≤ √ ≤ e√ . e√ j j j j e e j j! bzw. Wegen Satz 6.4 und Beispiel 6.3 (i) und (ii) erhalten wir schließlich: √ j j j 1 √ lim j = e bzw. lim = j→∞ j→∞ e e j Ferner gilt (ohne dafür eine Begründung anzugeben) die folgende Formel: j! ej √ =1 j→∞ j j 2πj lim sowie die Stirling’sche Formel: j e j È j 2πj ≤ j! ≤ e j È 1 2πj · e 12j . 71 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Definition 6.7 (Unendliche Reihe): Es sei (ak )∞ k=1 eine gegeben Zahlenfolge. j (i) sj := X ak bezeichnet die j-te Partialsumme der durch die Folge (ak )∞ k=1 bestimmten k=1 unendlichen Reihe. (ii) Falls die Folge der Partialsummen (sj )∞ j=1 konvergiert so heißt die unendliche Reihe konvergent und man schreibt j lim sj = lim j→∞ j→∞ X ak = k=1 ∞ X ak = s . k=1 (iii) Die unendliche Reihe heißt absolut konvergent wenn die aus der Folge (|ak |)∞ k=1 gebildete Reihe ∞ X |ak | konvergiert. k=1 Beispiel 6.7: ∞ (i) Wir betrachten die Folge ( k12 )∞ k=1 und demzufolge die Folge der Partialsummen (sj )j=1 mit sj = j P k=1 1 (j+1)2 1 k2 . Diese Folge ist offensichtlich monoton wachsend, denn es gilt sj < sj + = sj+1 . Außerdem ist sie auch nach oben durch 2 beschränkt, denn: j j X j j X 1 X X 1 1 1 1 sj = = 1 + < 1 + = 1 + − 2 2 k k k(k − 1) k − 1 k k=1 k=2 k=2 k=2 =1+1− 1 1 1 1 1 + + ... + − =2− <2 . 2 2 j−1 j j Damit konvergiert die Folge und es existiert der Grenzwert j lim sj = lim j→∞ j→∞ X 1 = 2 k k=1 ∞ X 1 . 2 k k=1 Später werden wir noch zeigen können, dass dieser Grenzwert π2 6 (ii) Ganz analog könnte man auch die Folge (sj )∞ j=0 mit sj = ist. j P k=0 1 k! behandeln die wir bereits bei der Berechnung von e betrachtet haben. Auch hier ist klar, dass diese Folge monoton wachsend und nach oben beschränkt ist j sj = j j j X 1 X X 1 1 1 1 =1+1+ <1+1+ =1+1+ − k! k! k(k − 1) k−1 k k=2 k=2 k=2 k=0 X =1+1+1− 1 1 1 1 1 + + ... + − =3− <3 . 2 2 j−1 j j Damit konvergiert die Partialsummenfolge, es existiert der Grenzwert, und wie wir bereits festgestellt haben ist dieser die Euler’sche Zahl e lim sj = j→∞ 72 ∞ X 1 =e . k! k=0 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen (iii) Andererseits haben wir in Beispiel 6.5 bereits gezeigt, dass die Folge der Partialsumj X 1 men der harmonische Reihe sj = bestimmt divergent gegen +∞ ist. k k=1 k+1 (iv) Die durch die Folge ( (−1)k )∞ k=1 gebildete Reihe konvergiert, aber konvergiert nicht absolut - vergleiche Beispiel (iii). Für die Konvergenz betrachten wir die Partialsummen∞ folgen (s2j )∞ j=1 und (s2j+1 )j=1 . 2j X s2j = k=1 =1− 1 (−1)k+1 = 1− + ··· + k 2 1 1 − ··· − − 2 3 1 1 − 2j − 1 2j 1 1 − 2j − 2 2j − 1 − 1 2j ist monoton wachsend und nach oben durch 1 beschränkt. s2j+1 = 2j+1 X k=1 = 1− (−1)k+1 1 1 − ··· − =1− − k 2 3 1 + ··· + 2 1 1 − 2j − 1 2j ist monoton fallend und nach unten durch und konvergieren wegen s2j+1 − s2j = 1 2 + 1 1 − 2j 2j + 1 1 2j + 1 beschränkt. Also sind beide Folgen konvergent 1 2j + 1 →0 für j→∞ gegen den gleichen Grenzwert (vergl. auch die Argumentation im Beweis von Satz 6.7) der zwischen 21 und 1 liegen muß - mit anderen Methoden kann man zeigen das der Grenzwert gleich ln 2 ist. (v) Ist ak = q k eine geometrische Folge, so wird die entsprechende Reihe als geometrische Reihe bezeichnet. Die j-te Partialsumme errechnet sich für q 6= 1 einfach aus den beiden folgenden Beziehungen: sj+1 = sj + q j+1 sj+1 = qsj + q woraus sich sofort q − q j+1 1−q ergibt. Damit folgt unmittelbar die Konvergenz der geometrischen Reihe für |q| < 1 und ihre Divergenz für |q| ≥ 1 (im Falle q = 1 gilt offensichtlich sj = j + 1). Wir erhalten also den wichtigen Grenzwert sj = ∞ X k=1 Satz 6.8: (i) Ist die Reihe (ii) Ist die Reihe ∞ X k=1 ∞ X qk = q 1−q für |q| < 1 . ak konvergent, so muß stets limk→∞ ak = 0 gelten. ak absolut konvergent, so ist sie auch konvergent. k=1 73 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beweis: Die notwendige Bedingung für die Konvergenz ergibt sich sofort aus der Ungleichung |ak | = |sk − sk−1 | ≤ |sk − s| + |s − sk−1 | < ε ε + 2 2 ε für k > k0 ( ) + 1 2 und der vorausgesetzten Konvergenz der Reihe. P Die zweite Aussage folgt aus 0 < |ak |−ak ≤ 2|ak | . Demnach ist Sj := jk=1 (|ak | − ak ) monoton wachsend und beschränkt, also konvergent und aus dem Satz über das Rechnen mit Grenzwerten (Satz 6.3) ergibt sich lim sj = lim j→∞ j→∞ j X j |ak | − k=1 X (|ak | − ak ) j = lim k=1 j→∞ X j |ak | − lim k=1 j→∞ X (|ak | − ak ) k=1 da die Grenzwerte der beiden Partialsummen auf der rechten Seite der Gleichung existieren. Satz 6.9: Die unendliche Reihe ∞ X k=1 1 konvergiert genau dann wenn α > 1 ist. kα Beweis: Den Nachweis der Konvergenz werden wir später erbringen, es sei hier nur angemerkt, dass die Divergenz für α = 1 bereits gezeigt wurde. Die Divergenz für α > 1 ergibt sich dann sofort aus dem folgenden Majorantenkriterium für die Konvergenz beziehungsweise Divergenz von Reihen. Satz 6.10 (Majorantenkriterium): ∞ Gegeben seien zwei Folgen mit nichtnegativen Gliedern (ak )∞ k=1 , (bk )k=1 und es gelte 0 ≤ ak ≤ bk (i) Ist die Reihe (ii) Ist die Reihe Reihe ∞ X ∞ X k=1 ∞ X für alle k≥K . bk konvergent, so konvergiert auch die Reihe ∞ X ak . k=1 ak divergent (d.h. bestimmt divergent gegen +∞), so ist auch die k=1 bk divergent. k=1 Beweis: Der Beweis ergibt sich sofort aus den entsprechenden Abschätzungen für die Partialsummen der beiden Reihen, wenn man o.B.d.A. K = 1 annimmt. Andererseits ist es klar, das endlich viele Glieder zwar den Grenzwert aber nicht das Konvergenzverhalten der Partialsummen und damit der Reihen beeinflußen. Satz 6.11 (Wurzel- und Quotientenkriterium): Gegeben sei eine Folgen mit nichtnegativen Gliedern (ak )∞ k=1 . √ (i) Gibt es ein q mit 0 < q < 1, so dass k ak ≤ q für k ≥ K gilt, so ist die Reihe ∞ X k=1 74 ak Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 6. Zahlenfolgen und Reihen konvergent. Ist für unendlich viele Folgenglieder √ k ak ≥ 1, so ist die Reihe ∞ X ak divergent. k=1 (ii) Sind die ak alle von 0 verschieden und gibt es ein q mit 0 < q < 1, so dass k ≥ K gilt, so ist die Reihe ∞ X ak konvergent. k=1 Gilt ak+1 ak ak+1 ≤ q für ak ≥ 1 für k ≥ K, so ist die Reihe ∞ X ak divergent. k=1 Beweis: Der Beweis ergibt sich sofort aus Satz 6.10 wenn wir die aus den ak gebildete Reihe mit der geometrischen Reihe vergleichen deren Konvergenzverhalten wir aus Beispiel 6.7 (v) kennen. Exemplarisch betrachten wir das Quotientenkriterium. Aus der Voraussetzung folgt ak+1 ≤ ak · q ≤ ak−1 · q 2 ≤ · · · ≤ aK q −K · q k+1 . Die entsprechene geometrische Reihe konvergiert auf Grund von 0 < q < 1 denn der ’Vorfaktor’ aK q −K beeinflußt die Konvergenz nicht. Ist umgekehrt ak+1 ≥ ak ≥ ak−1 ≥ · · · ≥ aK > 0 so kann die Folge der ak nicht gegen Null konvergieren und eine notwendige Bedingung für die Konvergenz der Reihe ist nicht erfüllt. Bemerkung 6.8: Eine vereinfachte Form das Satzes läßt sich mit Hilfe von Grenzwerten beschrieben. Existieren die folgenden Grenzwerte, so gilt: √ (i) Ist limk→∞ k ak < 1 dann konvergiert die Reihe. √ Ist limk→∞ k ak > 1 dann divergiert die Reihe. a (ii) Ist limk→∞ k+1 ak < 1 dann konvergiert die Reihe. ak+1 Ist limk→∞ ak > 1 dann divergiert die Reihe. Für den Grenzwert 1 kann mit Hilfe dieses Kriteriums keine Aussage getroffen werden. Das erkennt man sofort, wenn man die durch die Folgen ak = k1 bzw. bk = k12 gebildeten Reihen betrachtet, deren Konvergenzverhalten bereits bekannt ist. Als Abschluss dieses Kapitels und zur Überleitung in das nächste wollen wir uns noch Folgendes anschauen: Mit Beipiel 6.3 (i) gilt für beliebiges a > 0: 1 = lim j→∞ √ j 1 lim a = lim a j = aj→∞ j→∞ 1 j = a0 = 1 Es scheint also so zu sein, dass man den Grenzwert an der Funktion ax ”vorbeiziehen” kann. 75 6. Zahlenfolgen und Reihen Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Die Signum-Funktion ist definiert durch: 8 > > < sgn(x) := 1 falls x > 0 0 falls x = 0 −1 falls x < 0 > > : Hier gilt nun aber: 1 1 = lim 1 = lim sgn j→∞ j→∞ j 1 = sgn lim j→∞ j = sgn(0) = 0 Das stellt offensichtlich einen Widerspruch dar und somit kann man scheinbar doch nicht immer den Grenzwert an der Funktion ”vorbeiziehen”. Eine der Fragen, die wir im nächsten Kapitel beantworten wollen ist: Gegeben sei eine Folge (aj )∞ j=1 mit lim aj = a. Wann gilt für eine Funktion f j→∞ lim f (aj ) = f j→∞ 76 lim aj j→∞ = f (a) ? Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Definition 7.1: (i) f ist eine auf Df definierte (reelle) Funktion wenn f eine Zuordnung ist, die jedem x aus der Menge Df ⊆ R genau eine (reelle) Zahl f (x) zuordnet. Schreibweise: y = f (x)|Df (ii) Die Menge Df aus (i) heißt Definitionsbereich der Funktion f . (iii) Der Graph Γf der Funktion f ist definiert durch Γf := {(x, y) ∈ R2 : x ∈ Df , y = f (x)} ⊆ R2 Beispiel 7.1: (i) Die Funktion y = f (x) = ax + b mit a, b ∈ R und Df = R hat als Graph Γf eine Gerade. (ii) Die Funktion y = g(x) = x2 mit Dg = R hat als Graph Γg eine Parabel. Beispiel 7.2: Die folgenden Funktionen sind in einzelnen Punkten nicht definiert. 2 −4 mit Df = R \ {2}. Was geschieht, wenn x gegen 2 läuft? (i) f (x) = xx−2 1 (ii) g(x) = sin x mit Dg = R \ {0}. Was geschieht für x −→ 0 und x −→ ∞? (iii) h(x) = sinx x mit Dh = R \ {0}. Was geschieht für x −→ 0 und x −→ ∞? x (iv) i(x) = sin mit Di = R \ {0}. Was geschieht für x −→ 0 und x −→ ∞? x2 Definition 7.2: Sei f (x)|Uδ (x0 ) \ {x0 } gegeben, wobei Uδ (x0 ) = (x0 − δ, x0 + δ) eine δ-Umgebung von x0 darstellt. (i) Es gilt lim f (x) = a wenn für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ Uδ (x0 ) mit xj −→ x0 und xj 6= x0 x→x0 stets lim f (xj ) = a gilt. j→∞ (ii) Es gilt lim f (x) = a wenn für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ Uδ (x0 ) mit xj −→ x0 und xj > x0 x↓x0 stets lim f (xj ) = a gilt. j→∞ (iii) Es gilt lim f (x) = a wenn für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ Uδ (x0 ) mit xj −→ x0 und xj < x0 x↑x0 stets lim f (xj ) = a gilt. j→∞ Definition 7.3: (i) Sei f (x)|(c, ∞) gegeben, dann gilt lim f (x) = a wenn für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ (c, ∞) x→∞ mit xj −→ ∞ stets lim f (xj ) = a gilt. j→∞ (ii) Sei f (x)|(−∞, d) gegeben, dann gilt lim f (x) = a wenn für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ x→−∞ (−∞, d) mit xj −→ −∞ stets lim f (xj ) = a gilt. j→∞ Bemerkung 7.1: Wir betrachten die Funktion g aus Beispiel 7.2. Hier gilt für die erste Nullfolge (xj )∞ j=1 1 zunächst g(xj ) = sin(jπ) = 0 −→ 0. Andererseits gilt für die Folge (yj )∞ mit xj := jπ j=1 1 mit yj := π +2jπ aber g(yj ) = sin( π2 + 2jπ) = 1 −→ 1. Damit existiert lim sin x1 nicht. 2 x→0 77 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Satz 7.1: Sei f (x)|Uδ (x0 ) \ {x0 } gegeben. Dann gilt lim f (x) = a gdw. ∀ ε > 0 ∃ δ(ε) > 0 : |f (x) − x→x0 a| < ε für alle x mit 0 < |x − x0 | < δ(ε). Bemerkung 7.2: (i) Wir betrachten f aus Beispiel 7.2. Hier gilt für ein beliebiges x 6= 2 immer: (x − 2)(x + 2) x2 − 4 = =x+2 x−2 x−2 Das legt die Vermutung nahe, dass der Grenzwert a = 4 lautet. Dies ist auch tatsächlich der Fall, denn wenn wir uns ε > 0 beliebig vorgeben, können wir δ := ε > 0 setzen und erhalten somit für alle x mit 0 < |x − 2| < δ: f (x) = x2 − 4 − 4 = |x + 2 − 4| = |x − 2| < δ = ε x−2 2 −4 Somit gilt nach Definition lim xx−2 = 4. x→2 (ii) Wir betrachten nun die Funktion h aus Beispiel 7.2. Wie aus der Abbildung zu ersehen x u = tan x sin x cos x 1 Abbildung 37: Die Winkelfunktionen sin x ist gilt laut Strahlensatz cos x : 1 = sin x : u, was umgestellt u = cos x (= tan x) ergibt. Offensichtlich gilt also sin x < x < tan x. Nach Division durch sin x erhält man also 1 < sinx x < cos1 x . Durch bilden der Kehrwerte erhält man cos x < sinx x < 1 nach Satz 6.4 folgt wegen cos x −−−→ 1 auch sinx x −−−→ 1 falls x > 0. Aber auch für x < 0 folgt: x→0 h(x) = x→0 sin x sin(−(−x)) − sin(−x) sin(−x) = = = −−−→ 1 x→0 x x x −x Zusammen erhalten wir also lim x→0 sin x x = 1. (iii) Zuletzt schauen wir noch auf i(x). Da wie eben gesehen sinx x unabhängig vom Vorzeichen von x gegen 1 konvergiert und x1 trivialerweise für x −→ 0 gegen ±∞ konvergiert folgt hier: sin x sin x 1 sin x sin x 1 lim 2 = lim · =∞ bzw. lim 2 = lim · = −∞ x↓0 x x↓0 x x↑0 x x↑0 x x x Bemerkung 7.3: Wir wollen nun für die Funktionen aus Beispiel 7.2 die Grenzwerte gegen ∞ betrachten. (i) Hier erhalten wir ohne große Rechnung: x2 − 4 = lim (x + 2) = ∞ x→∞ x − 2 x→∞ lim 78 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit (ii) Für x −→ ∞ konvergiert x1 gegen 0. Wie aus Abbildung 37 ersichtlich ist, strebt sin dann auch gegen 0. (iii) Während der Grenzwert lim sin x nicht existiert, gilt jedoch lim sinx x = 0. x→∞ 1 x x→∞ sin x 1 = | sin x| · −−−→ 0 | {z } x x x→∞ |{z} ≤1 →0 sin x 2 x→∞ x (iv) Völlig analog zu (iii) erhalten wir wieder lim = 0. Lemma 7.1: x j ∞ Die Folgen (aj )∞ j=1 := (1 + j ) j=N mit N ≥ |x| sind monoton wachsend und beschränkt und besitzen somit nach Satz 6.6 einen Grenzwert. Dieser wird mit ex bezeichnet: ex := lim 1+ j→∞ x j j . Beweis: Wie im Beweis von Satz 6.7 zeigt man x j+1 j+1 j+1 1 + xj 1+ 1 1+ ≥ x j und damit die Monotonie der Folge. 1. Fall (x ≤ 0): Hier ist 0 < 1 + xj ≤ 1 und somit auch 0 < (1 + xj )j ≤ 1. Das zeigt das die Folge in diesem Fall beschränkt ist. x j ∞ besitzt laut dem ersten Fall einen 2. Fall (x > 0): Die Folge (bj )∞ j=1 := (1 − j ) j=N Grenzwert. Multipliziert man die beiden so erhält man aj · bj = (1 − x2 j ) . j2 Mit der Unglei2 chung von Bernoulli (Satz 1.2) ergibt sich die Ungleichung: 1 ≥ aj · bj ≥ 1 − j xj 2 woraus nun aus Satz 6.4 lim aj · bj = 1 folgt. Damit ergibt sich: j→∞ lim (aj · bj ) lim aj = j→∞ lim bj j→∞ ex = bzw. j→∞ Bemerkung 7.4: Definiert haben wir die Zahl ex als Grenzwert der Folge 1 + kung 6.2 kann man nun wieder ex = ∞ P k=0 xk k! 1 e−x . ∞ x j . j j=N Analog zu Bemer- zeigen. Zunächst erhalten wir unter Verwendung des Binomischen Satzes (Satz 1.1) als Abschätzung nach oben: x aj = 1 + j j j = X k=0 j X j k x j k =1+1+ xk k! k=2 <1+1+ X xk xk = . k! k! k=2 k=0 j X 1− 1 j 1j−k 1− 2 k−1 ··· 1 − j j j (7.1) 79 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Für ein beliebiges n > j erhalten wir außerdem als Abschätzung nach unten: x an = 1 + n n = n X n k k=0 n X j 1 xk 1− =1+1+ k! n k=2 >1+1+ xk 1 1− k! n k=2 X x n k 1n−k 1− 1− 2 k−1 ··· 1 − n n 2 k−1 ··· 1 − n n . (7.2) Die Anzahl der Summanden bzw. Faktoren ist (j−1)j + 2 und somit unabhängig von n. 2 Daher können wir nun den Grenzübergang n −→ ∞ betrachten und erhalten aus (7.2): ex = lim an ≥ lim n→∞ n→∞ j =1+1+ X k=2 j 1 xk 1− 1+1+ k! n k=2 X xk lim k! n→∞ 1 1− n 2 k−1 1− ··· 1 − n n 2 k−1 1− ··· 1 − n n j = xk . k! k=0 X Insgesamt ergibt sich aus (7.1) und (7.3) also: j aj < xk ≤ ex . k! k=0 X Im Grenzübergang j −→ ∞ erhalten wir also schließlich: j ∞ X xk xk = ≤ ex . j→∞ k! k! k=0 k=0 ex = lim aj < lim j→∞ X Daraus erhält man auch sofort zwei wichtige Grenzwerte: lim ex = 1 + lim x x→0 x→0 ∞ X xk =1 (k + 1)! k=0 und ∞ P lim x→0 ex xk k! −1 = lim k=0 x→0 x x −1 ∞ X ∞ X xk−1 xk = lim = 1 + lim x =1 . x→0 x→0 k! (k + 2)! k=1 k=0 Wir können nun auch noch das Rechengesetz ex+y = ex · ey nachweisen. Dazu seien o.B.d.A. x, y > 0. 1+ 80 x j j 1+ y j j = 1+ x + y xy + 2 j j j (7.3) Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Damit erhalten wir x+y 1+ j j x + y xy ≤ 1+ + 2 j j j x+y ≤ 1+ j j αj mit einem αj , welches wie folgt aussieht: αj = 1+ xy j j2 x+y j j x+y j 1+ + Für dieses αj kann man nun lim αj = 1 nachweisen, woraus sich ex+y ≤ ex · ey ≤ ex+y · 1 j→∞ ergibt. Satz 7.2: Es seien drei Funktionen f (x), g(x) und h(x) gegeben, mit f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) für alle x ∈ (x0 − δ, x0 ) ∪ (x0 , x0 + δ). Weiterhin gelte: lim f (x) = lim h(x) = a. Dann folgt, x→x0 x→x0 dass auch lim g(x) = a ist. x→x0 Beweis: Dieser Satz stellt eine Verallgemeinerung von Satz 6.4 dar und kann auch mit dessen Hilfe bewiesen werden. Satz 7.3: Es gelte: lim f (x) = a und lim g(x) = b, wobei a, b ∈ / {∞, −∞} sein sollen. Außerdem x→x0 x→x0 sei λ ∈ R. Dann gilt: (i) (ii) (iii) (iv) (v) lim λf (x) = λa x→x0 lim (f (x) ± g(x)) = a ± b x→x0 lim (f (x) · g(x)) = a · b x→x0 lim x→x0 a f (x) = falls b 6= 0 ist. g(x) b Falls f (x) ≤ g(x) für x ∈ (x0 − δ, x0 ) ∪ (x0 , x0 + δ) ist, dann ist auch a ≤ b Beweis: Dieser Satz stellt die Verallgemeinerung von Satz 6.3 dar und wird auch mit dessen Hilfe bewiesen. Bemerkung 7.5: Die Aussagen des Satzes 7.3 können auch auf uneigentliche Grenzwerte erweitert werden. a Dabei sollen folgende Interpretationen gelten ∞ = 0, a0 = ∞ und a · ∞ = ±∞. ∞ bleiben wie bereits für Zahlenfolgen Ausdrücke der Form ∞ − ∞, 0 · ∞, 00 , ∞ ∞ und 1 Bemerkung 6.7 verboten. Definition 7.4: Sei f (x)|(a, b) und x0 ∈ (a, b) gegeben. (i) f heißt stetig in x0 wenn lim f (x) = f (x0 ) gilt. x→x0 (ii) f heißt stetig auf (a, b) wenn f ist in jedem Punkt x0 ∈ (a, b) stetig. 81 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Bemerkung 7.6: Für eine Funktion f (x)|(a, b) und x0 ∈ (a, b) sind die folgenden Aussagen äquivalent: (i) f ist stetig in x0 . (ii) Für alle Folgen (xj )∞ j=1 ⊂ (a, b) mit xj −→ x0 gilt stets lim f (xj ) = f (x0 ). j→∞ (iii) ∀ ε > 0 ∃ δ(ε, x0 ) > 0 : |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x mit |x − x0 | < δ(ε, x0 ). Beispiel 7.3 (Stetige Funktionen): (i) Die Funktionen f (x) = xn |R und g(x) = x−n |R \ {0} sind stetig. Damit sind auch alle Polynome und rationalen Funktionen vom Typ p(x) q(x) |R \ {x ∈ R : q(x) = 0} stetig. (ii) Die Funktionen f (x) = sin x|R und g(x) = cos x|R sind stetig. Zunächst ergibt sich aus Abbildung 37 die Stetigkeit von sin x und cos x bei Null, denn z.B. für |x| < π4 gilt 0 ≤ | sin x| ≤ |x| und | cos x − cos 0| = | cos x − 1| = 1 | cos2 x − 1| ≤ c| sin2 x| < c|x|2 −−−→ 0 . x→0 | cos x + 1| Hieraus folgt nun die Stetigkeit von sin x und cos x auf ganz R: sin x = sin((x − x0 ) + x0 ) = sin(x − x0 ) cos x0 + cos(x − x0 ) sin x0 −−−→ sin x0 . | {z −−−→0 } | x→x0 {z −−−→1 } x→x0 x→x0 Nach Satz 7.3 sind dann auch die Funktionen § ª π tan x | R \ + kπ : k ∈ Z und cot x | R \ {kπ : k ∈ Z} 2 stetig. (iii) Die Funktion f (x) = ex |R ist stetig. Aus Bemerkung 7.4 folgt nämlich: ex = ex0 +x−x0 = ex0 · ex−x0 −−−→ ex0 x→x0 (iv) Auch die Funktion f (x) = |x| ist auf R stetig. (v) Die Funktion des ganzzahligen Anteils f (x) = [x]|R ist hingegen nicht auf ganz R stetig z.B. nicht im Punkt x0 = 1. Hier gilt nämlich: lim[x] = 0 x↑1 aber andererseits lim[x] = 1 x↓1 Bemerkung 7.7 (Typen von Unstetigkeitsstellen): Wir wollen nun eine Klassifikation von Unstetigkeitsstellen vornehmen. Wir unterscheiden dabei für die Funktion f (x) vier Typen von Unstetigkeiten in x0 . Typ 1 - Lücke oder hebbare Unstetigkeitsstelle: Es existiert lim f (x) < ∞, aber dieser Grenzwert ist ungleich f (x0 ) oder f ist in x0 gar x→x0 nicht definiert. Ein Beispiel hierfür ist die Funktion 8 2 < x −1 f (x) := 82 x−1 : 1 falls x ∈ R \ {1} falls x = 1 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit y f (x) = [x] 2 1 x −2 −1 1 2 −1 −2 Abbildung 38: Die Funktion f (x) = [x] y f (x) = x2 −1 x−1 2 1 x −2 −1 1 2 −1 −2 Abbildung 39: Die Funktion f (x) = x2 −1 x−1 83 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Oder die Funktion g(x) = sinx x |R \ {0} aus Beispiel 7.2. Eine solche Funktion ist stetig fortsetzbar. Wenn wir in der obigen Funktion z.B. f (1) := 2 anstatt f (1) := 1 setzen, erhalten wir eine auf ganz R stetige Funktion und wenn man g(0) := 1 definiert, ist auch diese Funktion auf ganz R stetig. Typ 2 - Sprung oder Sprungstelle: Hier gilt lim f (x) 6= lim f (x), obwohl beide Ausdrücke endlich sind. Der Wert f (x0 ) kann x↑x0 x↓x0 hierbei gleich oder ungleich dem rechts- bzw. linksseitigen Grenzwert sein oder auch nicht existieren - das spielt keine Rolle. Ein Beispiel hierfür wäre die Signum-Funktion 8 > > < sgn(x) := > > : −1 falls x < 0 0 falls x = 0 1 falls x > 0 y 1 f (x) = sgn(x) x −2 −1 1 2 −1 Abbildung 40: Die Funktion f (x) = sgn(x) Typ 3 - Pol oder Polstelle: Hier existieren der rechts- und linksseitige Grenzwert, aber mindestens einer von beiden ist ±∞. Beispiele hierfür wären: 8 8 <1 f1 (x) := : x falls x ∈ R \ {0} 0 falls x = 0 < und f2 (x) := : tan x falls x ∈ R \ { π2 + kπ : k ∈ Z} 0 falls x ∈ { π2 + kπ : k ∈ Z} Typ 4 - Unstetigkeit 2. Art oder auch wesentliche Singularität: Hier existiert wenigstens einer der einseitigen Grenzwerte nicht. Die Parade-Beispiele hierfür sind die Funktionen 8 < f1 (x) := : sin 0 1 x 8 falls x ∈ R \ {0} < und f2 (x) := falls x = 0 : cos 0 1 x falls x ∈ R \ {0} falls x = 0 Aber auch die folgende Funktion hat bei x0 = 0 eine Unstetigkeit 2. Art: 8 < f (x) = 84 : 1 falls x rational 0 falls x irrational mit Df = R Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit y 2 1 f (x) = 1 x x −2 −1 1 2 −1 −2 Abbildung 41: Die Funktion f (x) = y 1 1 x f (x) = sin x1 x − 25 − 51 1 5 2 5 −1 Abbildung 42: Die Funktion f (x) = sin x1 85 7. Grenzwert von Funktionen und Stetigkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Wir wollen nun einige Eigenschaften stetiger Funktionen angeben. Definition 7.5 (Beschränktheit und gleichmäßige Stetigkeit): (i) Eine Funktion y = f (x)|Df heißt beschränkt wenn ein c ≥ 0 exisitert, sodass |f (x)| ≤ c für alle x ∈ Df gilt. (ii) Gegeben sei eine Funktion y = f (x)|Df . f heißt gleichmäßig stetig auf Df wenn für alle ε > 0 stets ein δ(ε) > 0 existiert, sodass |f (x) − f (x0 )| < ε ist, falls x, x0 ∈ Df sind und |x − x0 | < δ(ε) gilt, d.h. im Gegensatz zu Bemerkung 7.6 (iii), dass δ(ε) von der Wahl des Punktes x0 unabhängig ist. Formalisiert: ∀ ε > 0 ∃ δ(ε) > 0 ∀ x, x0 ∈ Df : |x − x0 | < δ(ε) ⇒ |f (x) − f (x0 )| < ε Satz 7.4 (Stetige Funktionen auf kompakten Intervallen): Es sei y = f (x)|[a, b] stetig in jedem x ∈ [a, b]. Dann gilt: (i) f ist beschränkt. (ii) f nimmt das Supremum und Infimum ihrer Funktionswerte auf [a, b] auch an. D.h. es gibt ein x1 , x2 ∈ [a, b], sodass gilt: f (x1 ) = min f (x) x∈[a,b] und f (x2 ) = max f (x) . x∈[a,b] (iii) f ist gleichmäßig stetig. Bemerkung 7.8: Alle Voraussetzungen in Satz 7.4 (Stetigkeit, Abgeschlossenheit des Intervalls und Beschränktheit des Intervalls) sind wichtig. Denn beispielsweise ist die Funktion f (x) = x1 |(0, 1] zwar stetig, aber weder gleichmäßig stetig noch beschränkt. Das zeigt, dass die Abgeschlossenheit wichtig ist. Die Funktion f (x) = x1 |[1, ∞) ist zwar stetig und das Intervall ist abgeschlossen, aber die Funktion nimmt ihr Infimum nicht an. Das zeigt, dass die Beschränktheit des Intervalls wichtig ist. Die Funktion f (x) = x − [x] |[0, 2] ist zwar auf einem kompakten Intervall definiert, jedoch nimmt sie ihr Supremum nicht an, da sie in x = 1 unstetig ist. Das zeigt die Wichtigkeit der Stetigkeit. Lemma 7.2 (Vorform des Zwischenwertsatzes): (i) Es sei y = f (x)|[a, b] stetig und weiterhin gelte f (a) · f (b) < 0. Dann existiert ein x̄ ∈ (a, b) mit f (x̄) = 0. (ii) Jedes Polynom mit ungeradem Grad hat mindestens eine reelle Nullstelle. Satz 7.5 (Zwischenwertsatz): Es sei y = f (x)|[a, b] stetig und es sei α ∈ R eine Zahl mit min f (x) < α < max f (x). x∈[a,b] Dann existiert ein x̄ ∈ (a, b) mit f (x̄) = α. 86 x∈[a,b] Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit 8. Differenzierbarkeit 8.1. Grundbegriffe und Definitionen η f (x) f (x0 + h) f (x0 ) x0 ξ x0 + h Abbildung 43: Die Sekante an die Funktion f Die allgemeine Sekantengleichung für eine Funktion f durch die beiden Punkte x0 und x0 + h lautet: η= f (x0 + h) − f (x0 ) (ξ − x0 ) + f (x0 ) h Dies lässt sich durch einfaches Einsetzen der Punkte (x0 , f (x0 )) und (x0 + h, f (x0 + h)) überprüfen. Die Grenzlage der Sekante ist die Tangente an den Graphen und man erhält sie indem man den Grenzübergang h −→ 0 betrachtet. f (x0 + h) − f (x0 ) (ξ − x0 ) + f (x0 ) h→0 h η = lim Wir wollen in diesem Kapitel Funktionen charakterisieren, deren Graph eine Tangente (nicht parallel zur y-Achse) besitzt. Definition 8.1: Die Funktion y = f (x)|U (x0 ) ist im Punkt x0 differenzierbar wenn der Grenzwert f (x0 + h) − f (x0 ) lim h→0 h oder äquivalent: existiert. Dieser Grenzwert wird auch mit f 0 (x0 ) oder f (x) − f (x0 ) lim x→x0 x − x0 df (x0 ) bezeichnet. dx Bemerkung 8.1: (i) Eine Funktion y = f (x)|(x0 − δ, x0 ] heißt linksseitig differenzierbar in x0 wenn der Grenzwert lim h↑0 f (x0 + h) − f (x0 ) h oder äquivalent: lim x↑x0 f (x) − f (x0 ) x − x0 87 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler existiert. Dieser Grenzwert wird mit f−0 (x0 ) oder mit f 0 (x0 − 0) bezeichnet. (ii) Eine Funktion y = f (x)|[x0 , x0 + δ) heißt rechtsseitig differenzierbar in x0 wenn der Grenzwert f (x0 + h) − f (x0 ) lim h↓0 h f (x) − f (x0 ) lim x↓x0 x − x0 oder äquivalent: existiert. Dieser Grenzwert wird mit f+0 (x0 ) oder mit f 0 (x0 + 0) bezeichnet. Satz 8.1 (Kriterium für Differenzierbarkeit): Eine Funktion y = f (x)|U (x0 ) ist differenzierbar in x0 gdw. ein a ∈ R existiert, sodass 0) f (x) = f (x0 ) + a (x − x0 ) + r(x, x0 ) ist, wobei für r(x, x0 ) stets lim r(x,x x−x0 = 0 gilt. x→x0 Beweis: ”⇒”: f sei differenzierbar in x0 . Damit können wir a := f 0 (x0 ) setzen. Weiterhin setzen wir für x ∈ U (x0 ): r(x, x0 ) := f (x) − f (x0 ) − f 0 (x0 )(x − x0 ) Nach Konstruktion von r(x, x0 ) gilt trivialerweise f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + r(x, x0 ) und außerdem erhalten wir: f (x) − f (x0 ) − f 0 (x0 )(x − x0 ) f (x) − f (x0 ) r(x, x0 ) = lim = lim − f 0 (x0 ) lim x→x0 x→x x→x0 x − x0 0 x − x0 x − x0 f (x) − f (x0 ) = lim − f 0 (x0 ) = f 0 (x0 ) − f 0 (x0 ) = 0 x→x0 x − x0 ”⇐”: Es sei f (x) = f (x0 ) + a(x − x0 ) + r(x, x0 ), wobei a ∈ R und lim x→x0 Umstellen erhalten wir für x 6= x0 f (x) = f (x0 ) + a(x − x0 ) + r(x, x0 ) ⇔ r(x,x0 ) x−x0 gilt. Durch r(x, x0 ) f (x) − f (x0 ) =a+ x − x0 x − x0 und damit schließlich lim x→x0 f (x) − f (x0 ) r(x, x0 ) = lim a + x→x0 x − x0 x − x0 Also existiert lim x→x0 f (x)−f (x0 ) x−x0 = a + lim x→x0 r(x, x0 ) =a+0=a . x − x0 und damit ist f differenzierbar in x0 . Satz 8.2 (Differenzierbarkeit und Stetigkeit): Die Funktion y = f (x)|U (x0 ) sei differenzierbar in x0 , dann ist f auch stetig in x0 . Beweis: Wegen Satz 8.1 wissen wir, dass f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + r(x, x0 ) mit lim r(x,x0 ) x→x0 x−x0 gilt. Außerdem können wir, da x −→ x0 gilt, |x − x0 | ≤ 1 annehmen. Damit erhalten wir: r(x, x0 ) (∗) |r(x, x0 )| r(x, x0 ) = lim 0 ≤ lim |r(x, x0 )| ≤ lim = lim = |0| = 0 x→x0 x→x0 |x − x0 | x→x0 x − x0 x→x0 x − x0 88 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit r(x,x0 ) x→x0 x−x0 Wobei (∗) nur deshalb möglich ist, weil wir wissen, dass lim existiert. Damit gilt lim r(x, x0 ) = 0 und wir erhalten: x→x0 lim f (x) = lim (f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + r(x, x0 )) x→x0 x→x0 = f (x0 ) + f 0 (x0 ) lim (x − x0 ) + lim r(x, x0 ) = f (x0 ) + f 0 (x0 ) · 0 + 0 = f (x0 ) x→x0 x→x0 Das zeigt, dass f auch stetig in x0 ist. Bemerkung 8.2: (i) Die Umkehrung von Satz 8.2 gilt nicht. Das klassische Beispiel für eine stetige, aber nicht differenzierbare Funktion ist f (x) = |x| mit Df = R. Hier gilt an der Stelle x0 = 0 nämlich Folgendes: f (x) − f (x0 ) |x| − |0| |x| −x = lim = lim = lim = lim −1 = −1 x↑x0 x↑0 x − 0 x↑0 x x↓0 x x↓0 x − x0 f (x) − f (x0 ) |x| − |0| |x| x f 0 (x0 + 0) = lim = lim = lim = lim = lim 1 = 1 x↓x0 x↓0 x − 0 x↓0 x x↓0 x x↓0 x − x0 f 0 (x0 − 0) = lim Damit gilt f 0 (x0 − 0) 6= f 0 (x0 + 0) und da ein Grenzwert wenn er existiert auch eindeutig sein muss, ist f somit nicht differenzierbar in x0 = 0. (ii) Wenn man die obige Funktion jedoch durch f¯(x) = |x|α mit α > 1 ersetzt, so erhält man (ebenso durch Betrachtung des recht- und linksseitigen Grenzwertes) eine in x0 = 0 differenzierbare Funktion. Beispiel 8.1 (Differenzierbare Funktionen): (i) Für c ∈ R sei die Funktion f1 (x) = c mit Df1 = R gegeben. Hier gilt: f10 (x0 ) = lim x→x0 f1 (x) − f1 (x0 ) c−c = lim = lim 0 = 0 x→x0 x − x0 x→x0 x − x0 (ii) Gegeben sei die Funktion f2 (x) = x mit Df2 = R. Dann gilt: f20 (x0 ) = lim x→x0 x − x0 f2 (x) − f2 (x0 ) = lim = lim 1 = 1 x→x0 x − x0 x→x0 x − x0 (iii) Gegeben sei die Funktion f3 (x) = x2 mit Df3 = R. Dann gilt: f30 (x0 ) = lim x→x0 f3 (x) − f3 (x0 ) x2 − x20 (x − x0 )(x + x0 ) = lim = lim x→x0 x − x0 x→x0 x − x0 x − x0 = lim x + x0 = x0 + x0 = 2x0 x→x0 (iv) Gegeben sei die Funktion f4 (x) = ex mit Df4 = R. Unter Verwendung von Bemerkung 7.4 gilt dann: f4 (x0 + h) − f4 (x0 ) ex0 +h − ex0 e x0 · e h − e x0 = lim = lim h→0 h→0 h→0 h h h x h h 0 e (e − 1) e −1 = lim = ex0 lim = ex0 · 1 = ex0 h→0 h→0 h h f40 (x0 ) = lim 89 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler (v) Gegeben sei nun die Funktion f5 (x) = sin(x) mit Df5 = R. Unter Verwendung der Additionstheoreme gilt dann: f50 (x0 ) = lim h→0 f5 (x0 + h) − f5 (x0 ) sin(x0 + h) − sin x0 = lim h→0 h h 2 x0 + h + x0 x0 + h − x0 = lim sin cos h→0 h 2 2 = lim sin h→0 h 2 h 2 cos x0 + h 2 = 1 · cos x0 = cos x0 (vi) Analog zu (v) beweist man, dass für f6 (x) = cos x mit Df6 = R gilt: f60 (x0 ) = − sin x0 . 8.2. Differentiationsregeln Satz 8.3 (Summen-, Produkt- und Quotientenregel): Gegeben seien y = f (x)|U (x0 ) und y = g(x)|U (x0 ). Außerdem seien f und g in x0 differenzierbar. Dann gilt: (i) (λf + µg)(x) ist differenzierbar in x0 und (λf + µg)0 (x0 ) = λf 0 (x0 ) + µg 0 (x0 ) für alle λ, µ ∈ R. (ii) (f g)(x) ist differenzierbar in x0 und (f g)0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 ). (iii) ( fg )(x) ist differenzierbar in x0 , falls g(x0 ) 6= 0 ist und f g 0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) − f (x0 )g 0 (x0 ) . g(x0 )2 Beweis: Hier werden wir durch Anwendung der Grenzwertsätze soweit umformen, dass der gewünschte Grenzwert offensichtlich existiert, weil alle Grenzwerte nach der Umformung laut Voraussetzung existieren. Exemplarisch zeigen wir dies an Aussage (ii). f (x)g(x) − f (x0 )g(x0 ) (f g)(x) − (f g)(x0 ) = lim x→x 0 x − x0 x − x0 f (x)g(x) − f (x)g(x0 ) + f (x)g(x0 ) − f (x0 )g(x0 ) = lim x→x0 x − x0 f (x)(g(x) − g(x0 )) + g(x0 )(f (x) − f (x0 )) = lim x→x0 x − x0 g(x) − g(x0 ) f (x) − f (x0 ) = lim f (x) + g(x0 ) x→x0 x − x0 x − x0 g(x) − g(x0 ) f (x) − f (x0 ) + g(x0 ) lim = lim f (x) lim x→x0 x→x0 x→x 0 x − x0 x − x0 (f g)0 (x0 ) = lim x→x0 = f (x0 )g 0 (x0 ) + g(x0 )f 0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 ) Dabei ist zu beachten, dass wegen der Voraussetzung f in x0 differenzierbar, nach Satz 8.2 auch lim f (x) = f (x0 ) gilt. x→x0 Weiterhin ist in (iii) zu beachten, dass aus g(x0 ) 6= 0 auch g(x) 6= 0 für alle x ∈ Kε (x0 ) folgen muss, weil g in x0 als differenzierbar vorausgesetzt war und somit wegen Satz 8.2 auch stetig in x0 ist. 90 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Beispiel 8.2: (i) Wir wollen die Funktion f (x) := tan x|R \ {x ∈ R : cos x = 0} differenzieren. Hier gilt: cos x cos x + sin x sin x sin x 0 (sin x)0 cos x − sin x(cos x)0 = (tan x) = = 2 cos x (cos x) (cos x)2 (cos x)2 + (sin x)2 1 = = = 1 + (tan x)2 2 2 (cos x) (cos x) 0 (ii) Ebenso wird die Funktion f (x) := cot x|R \ {x ∈ R : sin x = 0} abgeleitet. Hier gilt: cos x 0 (cos x)0 sin x − cos x(sin x)0 − sin x sin x − cos x cos x = = 2 sin x (sin x) (sin x)2 1 (sin x)2 + (cos x)2 2 = − = −1 − (cot x) =− (sin x)2 (sin x)2 (cot x)0 = (iii) Für die Funktion f (x) = xn |R mit n ∈ N gilt: (xn )0 = n · xn−1 . (iv) Für die Funktion f (x) = x−k |R \ {0} mit k ∈ N gilt: (x−k )0 = −k · x−k−1 . Satz 8.4 (Kettenregel): Gegeben seien die differenzierbaren Funktionen y = f (x)|U (x0 ) und x = g(t)|U (t0 ), wobei außerdem x0 = g(t0 ) gelten soll. Dann ist auch die Funktion y = (f ◦ g)(t) = f (g(t))|U (t0 ) differenzierbar und es gilt: df dg d(f ◦ g) (t0 ) = (g(t0 )) · (t0 ) dt dx dt (Äquivalente Schreibweise: (f ◦ g)0 (t0 ) = f 0 (g(t0 )) · g 0 (t0 )) Beweis: Eine Idee des Beweises vermittelt folgende Rechnung: f (g(t)) − f (g(t0 )) (f ◦ g)(t) − (f ◦ g)(t0 ) = lim t→t0 t→t0 t − t0 t − t0 f (g(t)) − f (g(t0 )) g(t) − g(t0 ) = lim · t→t0 g(t) − g(t0 ) t − t0 f (g(t)) − f (g(t0 )) g(t) − g(t0 ) = lim · lim t→t0 t→t0 g(t) − g(t0 ) t − t0 f (g(t)) − f (g(t0 )) · g 0 (t0 ) = f 0 (g(t0 )) · g 0 (t0 ) = lim g(t) − g(t0 ) g(t)→g(t0 ) (f ◦ g)0 (t0 ) = lim Dabei ist zu beachten, dass wegen der Stetigkeit von g im Limes von t −→ t0 zu g(t) −→ g(t0 ) übergegangen werden kann. Beispiel 8.3: (i) Betrachten wir nun y = h(t) = (t2 + 1)−6 |R. Diese Funktion kann zerlegt werden in h(t) := (f ◦ g)(t) mit y = f (x) := x−6 und x = g(t) := t2 + 1. Damit erhalten wir mittels Satz 8.4 nun: h0 (t) = f 0 (g(t)) · g 0 (t) = −6(t2 + 1)−7 · 2t = −12t(t2 + 1)−7 91 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler √ (ii) Für die Funktion y = h(t) = sin( t2 + 1)|R gilt: È 0 t2 h (t) = cos( √ 1 2 t cos( t2 + 1) − 12 √ + 1) · (t + 1) · 2t = 2 t2 + 1 Beispiel 8.4 (Logarithmische Differentiation): Nun sei y = h(x) = xx |(0, ∞) gegeben. Dieser Ausdruck kann auch geschrieben werden als xx = ex ln x . Dann wird h zerlegt in h(x) := (f ◦ g)(x) mit y = f (t) := et und t = g(x) := x ln x. Damit erhalten wir mit Satz 8.4 (man beachte, dass die Bezeichnungen der Variablen x und t jetzt vertauscht sind): 0 0 0 x ln x h (x) = f (g(x)) · g (x) = e Die Begründung für (ln x)0 = 1 x 0 (x ln x) = e x ln x 1 = xx (ln x + 1) · 1 · ln x + x · x erfolgt im nächsten Kapitel. 8.3. Differentiation der Umkehrfunktion Eine Funktion y = f (x)|(a, b) ist immer eine eindeutige Zuordnung. Eindeutig heißt hier, dass x1 = x2 ⇒ f (x1 ) = f (x2 ) gilt. Eine Funktion heißt zusätzlich eindeutig umkehrbar, wenn auch f (x1 ) = f (x2 ) ⇒ x1 = x2 gilt. Solche Funktionen nennt man injektiv. Für injektive Funktionen gilt also: x1 = x2 ⇔ f (x1 ) = f (x2 ). Definition 8.2 (Wertebereich): Wir definierten den Wertebereich einer Funktion y = f (x)|(a, b) durch Wf := {y ∈ R : y = f (x) für eine x ∈ (a, b)}. Wenn y = f (x)|(a, b) eine streng monotone Funktion ist, so existiert immer die Umkehrfunktion f −1 : Wf → (a, b). y f −1 (x) b f (x) f (b) a f (a) f (a) a x f (b) b Abbildung 44: Die Umkehrfunktion f −1 92 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Möchte man f −1 wieder als Funktion von x darstellen, so vertauscht man x und y-Achse. (Das entspricht einer Spiegelung an der Geraden y = x.) Man beachte: Der Graph der Funktionen f und f −1 ist ohne die Spiegelung der Gleiche. Es gilt nämlich: Γf = {(x, y) ∈ R2 : x ∈ Df , y = f (x)} = {(x, y) ∈ R2 : y ∈ Wf , x = f −1 (y)} = Γf −1 Erst eine Umbenennung der Variablen von x = f −1 (y)|Wf zu y = f −1 (x)|Wf führt zu der Spiegelung an der Winkelhalbierenden des 1. und 3. Quadranten. Die wichtigste Eigenschaft der Umkehrfunktion ist (f −1 ◦ f )(x) = x für alle x ∈ (a, b) und (f ◦ f −1 )(y) = y für alle y ∈ Wf . Satz 8.5 (Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion): Gegeben sei die streng monotone Funktion y = f (x)|(a, b). (i) Dann existiert auch immer die Umkehrfunktion x = f −1 (y)|Wf . (ii) Ist f stetig, so ist auch f −1 stetig. (iii) Ist f in x0 differenzierbar und ist außerdem f 0 (x0 ) 6= 0, dann ist auch die Umkehrfunktion x = f −1 (y)|Wf in y0 := f (x0 ) differenzierbar und es gilt: 1 df −1 = df dy y=y dx 0 x=f −1 (y df = dx x=x0 bzw. 0) df −1 1 dy . y=f (x0 ) Bemerkung 8.3: Unter Verwendung von Satz 8.4 ergibt sich aus (f −1 ◦ f )(x) = x die Merkregel: d −1 df df 1= (f ◦ f ) = · dx dy y=f (x) dx x . Beispiel 8.5 (Die Funktion y = x2 |Df und ihre Umkehrfunktion): Betrachtet man die Funktion y = f (x) = x2 |Df mit Df = R, so ist diese nicht eindeutig umkehrbar also existiert auch keine Umkehrfunktion. Schränkt man allerdings den Definitionsbereich auf Df := [0, ∞) ein, so ist f streng monoton wachsend (bzw. bei Df := (−∞, 0] streng monoton fallend) und somit existiert laut Satz 8.5 die Umkehrfunktion. √ Die Umkehrfunktion von y = x2 |[0, ∞) ist x = f −1 (y) = y|[0, ∞), denn wegen x, y ∈ [0, ∞) gilt: √ (f −1 ◦ f )(x) = f −1 (x2 ) = x2 = x √ √ (f ◦ f −1 )(y) = f ( y) = y 2 = y √ Die Umkehrfunktion von y = x2 |(−∞, 0] lautet x = f −1 (y) = − y|[0, ∞), denn wegen x ∈ (−∞, 0] und y ∈ [0, ∞) gilt: √ (f −1 ◦ f )(x) = f −1 (x2 ) = − x2 = −|x| = −(−x) = x √ √ (f ◦ f −1 )(y) = f (− y) = (− y)2 = y 93 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Es ist sofort eine Verallgemeinerung auf y = f (x) = x2k |Df möglich. Wir wollen die Umkehrfunktion zu y = f (x) = x2 |(0, ∞) ableiten. Trivialerweise gilt f 0 (x) = 2x und damit erhalten wir: df −1 = dy y=y 1 df dx x=f −1 (y ) 0 0 1 1 = = √ √ 2x x= y0 2 y0 Nach Umbezeichnung ist deshalb die erste Ableitung der Funktion f (x) = Funktion f 0 (x) = 2√1 x |(0, ∞). √ x|(0, ∞) die Beispiel 8.6 (Die Funktion y = x3 |R und ihre Umkehrfunktion): Betrachtet man die Funktion y = f (x) = x3 |R, so ist diese streng monoton wachsend und somit existiert laut Satz 8.5 die Umkehrfunktion. Diese Umkehrfunktion lautet: 8 x=f −1 √ < 3 (y) := : falls y ≥ 0 y √ 3 − −y falls y < 0 denn Wurzeln sind nur für positive Zahlen definiert. Es gilt: 8 √ < 3 x3 (f −1 ◦ f )(x) = f −1 (x3 ) = √ : − 3 −x3 8 √ falls x3 < 0 < = x : −|x| falls x ≥ 0 =x falls x < 0 8 y3 (f ◦ f −1 )(y) = √ : (− 3 −y)3 < 3 8 falls x3 ≥ 0 falls y ≥ 0 falls y < 0 = < y falls y ≥ 0 : −(−y) falls y < 0 =y Auch hier ist eine Verallgemeinerung auf y = f (x) = x2k+1 |R möglich. Beispiel 8.7 (Die Winkelfunktionen und ihre Umkehrfunktionen): Nun betrachten wir die Funktion y = f (x) = sin x|I0 mit I0 := [− π2 , π2 ]. Auf diesem Definitionsbereich ist die Funktion streng monoton wachsend und hat den Wertebereich I0 Wsin = [−1, 1]. Die auf [−1, 1] definierte Umkehrfunktion zu y = sin x|I0 heißt Arcussinusfunktion. x = arcsin y|[−1, 1](= arcsin0 y|[−1, 1]) Nun hat man aber das Problem wie man die Umkehrfunktionen auf den anderen MonotonieIntervallen Ik := [kπ− π2 , kπ+ π2 ] erhält. Auch hier ist y = sin x|Ik streng monoton wachsend falls k gerade ist bzw. streng monoton fallend falls k ungerade ist. Der Wertebereich all Ik dieser Umkehrfunktionen ist immer Wsin = [−1, 1]. Wir bezeichnen mit x = arcsink y|[−1, 1] die zum Intervall Ik gehörende Umkehrfunktion. Es gilt übrigens die Beziehung: x = arcsink y = (−1)k arcsin0 y + kπ für y ∈ [−1, 1], wie 94 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit y f (x) = x2k+1 4 3 f −1 (x) = 2 √ 2k+1 x 1 x −4 −3 −2 −1 1 2 3 4 −1 −2 −3 −4 Abbildung 45: Die Umkehrfunktion zu f (x) = x2k+1 wir exemplarisch für k = 1 und k = 2 zeigen werden: Wenn x ∈ [− π2 , π2 ] gilt, dann gilt π − x ∈ [ π2 , 3π 2 ]. Da sin x = sin(π − x) gilt, folgt: y = sin x = sin(π − x) ⇒ arcsin0 y = x arcsin1 y = π − x ⇒ arcsin1 y = π − arcsin0 y und 5π Wenn x ∈ [− π2 , π2 ] ist, dann gilt x + 2π ∈ [ 3π 2 , 2 ]. Da ferner sin x = sin(x + 2π) ist, folgt: y = sin x = sin(x + 2π) ⇒ arcsin0 y = x ⇒ arcsin2 y = arcsin0 y + 2π arcsin2 y = x + 2π und Wir wollen die Umkehrfunktion x = f −1 (y) = arcsin0 y|[−1, 1] ableiten. Wie wir bereits aus Beispiel 8.1(v) wissen, gilt f 0 (x) = cos x. Es folgt also: df −1 = dy y=y 0 = 1 df dx x=f −1 (y ) 0 È 1 1 = = cos x x=arcsin0 y0 cos(arcsin0 y0 ) 1 1 − sin2 (arcsin0 y0 ) = È 1 1 − y02 Die Ableitung von f (x) = arcsin x|(−1, 1) lautet daher f 0 (x) = √ 1 |(−1, 1) 1−x2 . Betrachten wir nun die zweite Winkelfunktion y = f (x) = cos x|I0 mit I0 := [0, π]. Auf 95 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler diesem Definitionsbereich ist die Funktion streng monoton fallend und hat den WerteI0 = [−1, 1]. Die auf [−1, 1] definierte Umkehrfunktion zu y = cos x|I heißt bereich Wcos 0 Arcuscosinusfunktion x = arccos y|[−1, 1] (= arccos0 y|[−1, 1]) . Analog zum Sinus bezeichnet man die Umkehrfuntionen auf den anderen MonotonieIntervallen Ik := [kπ, (k + 1)π] mit: x = arccosk y|[−1, 1] für y ∈ [−1, 1]. Hier gilt übrigens die Beziehung: x = arccosk y = (−1)k arccos0 y+2π k+1 2 Wir wollen erneut die Umkehrfunktion y = arccos0 x|[−1, 1] ableiten. Hier folgt unter Verwendung von Bemerkung 8.3 aus cos(arccos x) = x nach Differentiation: − sin(arccos x) · (arccos x)0 = 1 1 −1 −1 (arccos x)0 = =È =√ − sin(arccos0 y) 1 − x2 1 − cos2 (arccos0 y) Die Ableitung von f (x) = arccos x|(−1, 1) lautet daher f 0 (x) = √ −1 |(−1, 1). 1−x2 Die letzte Winkelfunktion, die wir betrachten ist der Tangens. Die folgende Rechnung kann völlig analog auf den Cotangens übertragen werden. Sei also y = f (x) = tan x|I0 mit I0 := [− π2 , π2 ] gegeben. Auf diesem Definitionsbereich ist die Funktion streng monoton I0 wachsend und hat den Wertebereich Wtan = R. Die auf R definierte Umkehrfunktion zu y = tan x|I0 heißt Arcustangensfunktion. x = arctan y|R(= arctan0 y|R) Analog zum wie schon für die anderen beiden Winkelfunktionen bezeichnet man die Umkehrfunktionen auf den anderen Monotonie-Intervallen Ik := [kπ − π2 , kπ + π2 ] mit: x = arctank y|R Hier gilt die Beziehung: x = arctank y = arctan0 y + kπ für y ∈ [−1, 1]. Wir wollen auch hier die erste Ableitung der Umkehrfunktion y = arctan0 x|[−1, 1] berechnen. Dabei gilt: d arctan y = dy y=y0 = d tan x dx 1 = x=arctan0 y0 1 1+ tan2 (arctan 0 y0 ) 1 2 1 + tan x x=arctan0 y0 = 1 1 + y02 Die Ableitung von f (x) = arctan x|R lautet daher f 0 (x) = 1 |R. 1 + x2 Beispiel 8.8 (Die Exponentialfunktion ex und ihre Umkehrfunktion): ∞ k P x Die Vorschrift ex = lim (1 + nx )n = k! für ein x ∈ R ist wohl definiert und besitzt die n→∞ Eigenschaften: 96 k=0 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit y − π2 π 2 f (x) = tan x 4 3 2 π 2 f −1 (x) = arctan(x) 1 x −4 −3 −2 −1 1 2 3 4 −1 − π2 −2 −3 −4 Abbildung 46: Die Umkehrfunktion zu f (x) = tan x (i) ex+y = ex · ey (ii) e0 = 1 (iii) e1 = e (iv) ex > 1 für alle x > 0 . Damit ist ex streng monoton wachsend auf ganz R, denn für x1 > x2 gilt ex1 e−x2 = ex1 −x2 > 1 und somit ex1 > ex2 . Außerdem ist ex immer ungleich Null, denn für x > 0 gilt: ex e−x = ex−x = e0 = 1 und somit e−x = e1x > 0. Der Wertebereich We beschränkt sich also auf We = (0, ∞). Damit existiert wieder die Umkehrfunktion und wird als Logarithmus x = ln y|(0, ∞) bezeichnet. Die Rechengesetze für den Logarithmus lassen sich aus denen für die Exponentialfunktion ableiten. Der wichtige Zusammenhang dabei ist: x = ln y ⇔ y = ex . Damit erhalten wir sofort: eln y = y für y > 0, ln(ex ) = x, ln 1 = 0 und ln e = 1, sowie auch für a, b > 0: ln(a · b) = ln(eln a · eln b ) = ln(eln a+ln b ) = ln a + ln b . 97 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Die anderen Rechnengesetze für den Logarithmus ergeben sich analog. Wir wollen nun die Logarithmusfunktion x = f −1 (y) = ln(y)|R+ ableiten. Wie wir bereits wissen, ist f 0 (x) = ex . Die schon oft verwendete Formel liefert dann: d ln y = dy y=y0 dex 1 dx x=ln y 0 1 1 1 = x = ln y0 = e x=ln y0 e y0 1 + |R . x Bemerkung 8.4 (Allgemeine Exponential- und Potenzfunktion): Unter Verwendung von e- und ln-Funktion lässt sich auch die allgemeine Exponentialfunktion für a > 0 definieren durch: ax := ex ln a mit dem Definitionsbereich R. Ebenso kann für alle α ∈ R auch die allgemeine Potenzfunktion erklärt werden durch: xα := eα ln x mit dem Definitionsbereich (0, ∞). Mittels der Kettenregel kann man diese Funktionen ableiten: Die Ableitung von f (x) = ln(x)|R+ lautet daher f 0 (x) = (ax )0 = (ex ln a )0 = ex ln a · ln a = ax · ln a α α (xα )0 = (eα ln x )0 = eα ln x · = xα · = αxα−1 x x y f (x) = ax a>1 4 3 2 −4 −3 −2 −1 2 α>1 y f (x) = 1 a=1 0<a<1 x 3 4 y xα f (x) = xα α=1 4 4 3 3 a < −1 0<α<1 2 2 1 1 1 2 3 4 x 1 2 −1 < a < 0 a = −1 x 3 4 Abbildung 47: Die Umkehrfunktion zu den Potenz- und Exponentialfunktion Die Umkehrfunktionen sind bei der allgemeinen Potenzfunktion für α 6= 0 gegeben durch 1 x = f −1 (y) = y α |(0, ∞) und bei der allgemeinen Exponentialfunktion (mit a 6= 1): ax = y 98 ⇔ ex ln a = y ⇔ x ln a = ln y ⇔ x= ln y =: loga y . ln a Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit 8.4. Mittelwertsatz und Regel von l’Hospital Definition 8.3 (Lokales Maximum, Minimum und Extremum): (i) Die Funktion y = f (x)|(a, b) besitzt in x0 ∈ (a, b) ein lokales Maximum wenn ein δ > 0 existiert, sodass (x0 − δ, x0 + δ) ⊆ (a, b) ist und für x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) stets f (x) ≤ f (x0 ) gilt. (ii) Die Funktion y = f (x)|(a, b) besitzt in x0 ∈ (a, b) ein lokales Minimum wenn ein δ > 0 existiert, sodass (x0 − δ, x0 + δ) ⊆ (a, b) ist und für x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) stets f (x) ≥ f (x0 ) gilt. (iii) Die Funktion y = f (x)|(a, b) besitzt in x0 ∈ (a, b) ein lokales Extremum wenn sie in x0 ein lokales Maximum oder Minimum besitzt. Lemma 8.1 (Notwendiges Kriterium für ein lokales Extremum): Es sei die differenzierbare Funktion y = f (x)|(a, b) gegeben, die in x0 ∈ (a, b) ein lokales Extremum hat. Dann gilt: f 0 (x0 ) = 0. Beweis: Wir nehmen zunächst an, dass in x0 ein lokales Maximum vorliegt. Damit gilt also für alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) immer f (x) ≤ f (x0 ). Da wir x −→ x0 betrachten, können wir immer davon ausgehen, dass x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) gilt. Daher gilt also immer f (x) − f (x0 ) ≤ 0 und wir erhalten: f 0 (x0 − 0) = lim x↑x0 f (x) − f (x0 ) ≥0 x − x0 | {z ≥0 } sowie f 0 (x0 + 0) = lim x↓x0 f (x) − f (x0 ) ≤0 x − x0 | {z } ≤0 Da f 0 (x0 ) existieren sollte, muss also f 0 (x0 ) = f 0 (x0 − 0) = f 0 (x0 + 0) = 0 sein. Ganz analog - nur mit vertauschten Relationszeichen - erhalten wir die Behauptung, falls x0 ein lokales Minimum ist. Lemma 8.2 (Satz von Rollé): Es sei die Funktion y = f (x)|[a, b] gegeben, die stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) sein soll. Außerdem gelte f (a) = f (b) = 0. Dann existiert mindestens ein ξ ∈ (a, b), sodass f 0 (ξ) = 0 ist. Beweis: Falls es sich bei f um die Nullfunktion f ≡ 0 handelt, ist die Aussage trivial, denn dann wäre auch f 0 ≡ 0 und somit wäre f 0 (ξ) = 0 für jedes beliebige ξ ∈ (a, b) erfüllt. Wir gehen also nun davon aus, dass f 6≡ 0 gilt. Dann gibt es wegen Satz 7.4 ein x∗ := inf{f (x) : x ∈ [a, b]} und ein x∗ := sup{f (x) : x ∈ [a, b]}. Diese x∗ , x∗ ∈ [a, b] können nicht beide die Randpunkte darstellen, denn sonst wäre f (x∗ ) = 0 = f (x∗ ), was wiederum f ≡ 0 zur Folge hätte. Es gilt also x∗ ∈ (a, b) oder x∗ ∈ (a, b). In beiden Fällen sehen wir, dass f in einer Stelle ξ ∈ (a, b), wobei ξ ∈ {x∗ , x∗ } ist, ein lokales Extremum besitzt. Mit Lemma 8.1 erhalten wir somit, dass f 0 (ξ) = 0 gilt. Satz 8.6 (Mittelwertsatz): Es sei die Funktion y = f (x)|[a, b] gegeben, die stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) (a) gilt. sein soll. Dann existiert mindestens ein ξ ∈ (a, b), sodass f 0 (ξ) = f (b)−f b−a 99 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beweis: Wir definieren auf [a, b] die folgende Funktion: h(x) := f (x) − f (a) − f (b) − f (a) (x − a) b−a Diese ist wegen Satz 7.3 stetig auf [a, b] und wegen Satz 8.3 differenzierbar auf (a, b). Außerdem gilt h(a) = h(b) = 0. Unter Verwendung von Lemma 8.2 erhalten wir also, (a) dass ein ξ ∈ (a, b) existiert, sodass 0 = h0 (ξ) = f 0 (ξ) − f (b)−f ist. Die Umstellung der b−a Gleichung liefert die gewünschte Behauptung. Bemerkung 8.5: Wenn wir x, x0 ∈ [a, b] als gegeben annehmen, dann gilt unter den Voraussetzungen von (x0 ) mit einem ξ, welches zwischen x und x0 liegt. Umgestellt Satz 8.6 auch f 0 (ξ) = f (x)−f x−x0 heißt das aber auch, dass f (x) = f (x0 ) + f 0 (ξ)(x − x0 ) gilt. Satz 8.7 (Verallgemeinerter Mittelwertsatz): Es seien die Funktionen y = f (x)|[a, b] und y = g(x)|[a, b] gegeben, die beide stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) sein sollen. Außerdem soll g 0 (x) 6= 0 für alle x ∈ (a, b) gelten. Dann existiert mindestens ein ξ ∈ (a, b), sodass gilt f 0 (ξ) f (b) − f (a) = g 0 (ξ) g(b) − g(a) . Beweis: Der Beweis erfolgt völlig analog zum vorhergehenden Satz, nun mit der Funktion h(x) := f (x) − f (a) − f (b) − f (a) (g(x) − g(a)) . g(b) − g(a) Bemerkung 8.6: Satz 8.6 erhalten wir aus Satz 8.7 wenn wir g(x) := x setzen. Satz 8.8 (Regel von L’Hospital): Es seien die Funktionen f und g differenzierbar und es gelte lim f (x) = 0 = lim g(x) oder lim f (x) = ±∞ = lim g(x). 0 (x) f (x) f 0 (x) so gilt lim = lim 0 . Existiert der Grenzwert lim fg0 (x) g(x) g (x) Dabei ist der Ausdruck lim als eine der folgenden Möglichkeiten zu verstehen: lim , lim , lim , lim oder lim . x→x0 x↑x0 x↓x0 x→∞ x→−∞ Beweis: Exemplarisch führen wir den Beweis für den rechtseitigen Grenzwert: Da f (x0 ) := 0 und g(x0 ) := 0 gilt, erhalten wir aus Satz 8.7: f (x) f (x) − 0 f (x) − f (x0 ) f 0 (ξ) = = = 0 g(x) g(x) − 0 g(x) − g(x0 ) g (ξ) Im Grenzwert gilt, weil die Zwischenstelle ξ auch gegen x0 konvergiert, nun auch: lim x↓x0 100 f (x) f 0 (ξ) = lim 0 . g(x) ξ↓x0 g (ξ) Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Beispiel 8.9: Wir wollen lim ln(x+1) bestimmen. Zunächst bemerken wir, dass dies ein Ausdruck der x x↓0 Form 00 ist. Damit kann die Regel von L’Hospital angewendet werden und wir erhalten, da der Grenzwert des Quotienten der Ableitungen existiert: 1 lim x↓0 ln(x + 1) 1 = lim x+1 = lim =1 x↓0 1 x↓0 x + 1 x Bemerkung 8.7 (Weitere undefinierte Grenzwerte und deren Umformungen): Durch Satz 8.8 haben wir nun die Möglichkeit Grenzwerte der Form 00 oder ∞ ∞ auszurechnen. Aber auch Grenzwerte anderer Form können dank der Regel von L’Hospital nun berechnet werden, wenn sie sich durch eine Umformung auf die Gestalt 00 oder ∞ ∞ bringen lassen. Typ Umformung 0 0 1 f (x) g(x) lim = lim 1 g(x) f (x) ∞ ∞ 1 f (x) g(x) lim = lim 1 g(x) f (x) 0·∞ lim f (x) · g(x) = lim Beispiel lim x→∞ 1 x 1 ln x 1 lim x − 1 1 x→1 ln x f (x) g(x) = lim 1 1 g(x) f (x) ∞−∞ 1 1 − g(x) f (x) lim f (x) − g(x) = lim 1 f (x) · g(x) 1∞ lim g(x)f (x) = elim f (x)·ln g(x) 00 lim f (x)g(x) = elim g(x)·ln f (x) ∞0 lim g(x)f (x) = elim f (x)·ln g(x) lim (x · ln x ) x→0 lim x→1 x 1 − x − 1 ln x 1 lim x 1−x x→1 lim xx x→0 1 lim x x x→∞ Bei Grenzwerten der Form 00 oder ∞ ∞ hat man entweder die Möglichkeit der Umformung laut der obigen Tabelle oder man wendet die Regel von L’Hospital direkt an. Beispiel 8.10: Wir wollen uns nun noch einige weitere Beispiele ansehen. 1 (i) Gesucht ist der Grenzwert von (1 + arctan x) x für x ↓ 0. Dies ist ein Ausdruck der 101 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Form 1∞ . Laut der Tabelle aus Bemerkung 8.7 formen wir wie folgt um: 1 lim ln(1+arctan x)· x1 1 lim(1 + arctan x) x = lim eln(1+arctan x)· x = ex↓0 x↓0 x↓0 . x) Es gilt also den Grenzwert lim ln(1+arctan zu bestimmen. Dies ist ein Ausdruck der Form x x↓0 0 0 und somit liefert eine Anwendung der Regel von L’Hospital: ln(1 + arctan x) lim = lim x↓0 x↓0 x 1 1+arctan x · 1 1+x2 1 =1 . Setzt man dies in die obige Umformung ein so erhält man schließlich: lim ln(1+arctan x)· x1 1 lim(1 + arctan x) x = ex↓0 x↓0 (ii) Wir betrachten x wieder um: √1 x = e1 = e . für x −→ ∞. Dies ist ein Ausdruck der Form ∞0 . Wir formen lim x √1 x = lim e x→∞ ln x· √1x x→∞ lim ln x· √1x = ex→∞ . √ x zu bestimmen. Dies ist ein Ausdruck der Form Es gilt also den Grenzwert lim ln x→∞ x somit liefert eine Anwendung der Regel von L’Hospital: √ 1 ln x 2 x x lim √ = lim 1 = lim =0 . x→∞ x→∞ √ x→∞ x x 2 x ∞ ∞ und Setzt man dies in die obige Umformung ein so erhält man schließlich: lim x √1 x x→∞ lim ln x· √1x = e x→∞ = e0 = 1 . (iii) Wir betrachten xx für x ↓ 0. Dies ist ein Ausdruck der Form 00 . Wir formen wieder um: lim x ln x lim xx = lim eln x·x = e x↓0 x↓0 x↓0 . Es gilt also den Grenzwert lim x ln x zu bestimmen. Dies ist ein Ausdruck der Form 0 · ∞ x↓0 und somit liefert eine Anwendung der Regel von L’Hospital: lim x↓0 ln x 1 x 1 x x↓0 − 12 x = lim = lim − x↓0 x2 = lim −x = 0 . x↓0 x Setzt man dies in die obige Umformung ein so erhält man schließlich: lim x ln x lim xx = ex↓0 x↓0 = e0 = 1 . (iv) Wir betrachten x cot x für x ↓ 0. Dies ist ein Ausdruck der Form 0 · ∞. Wir formen um und wenden L’Hospital an: lim x cot x = lim x↓0 102 x x↓0 1 cot x = lim x↓0 1 x = lim =1 x↓0 1 + tan2 x tan x Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit (v) Zuletzt schauen wir uns noch x12 − cotx x für x ↓ 0. Dies ist ein Ausdruck der Form ∞ − ∞. Wir formen um und wenden L’Hospital an: lim x↓0 x 1 − x cos cot x sin x − x cos x 1 sin x − = lim = lim x↓0 x↓0 x2 x x2 x2 sin x cos x + x sin x − cos x sin x = lim = lim x↓0 x↓0 2 sin x + x cos x 2x sin x + x2 cos x cos x 1 = lim = x↓0 2 cos x + cos x − x sin x 3 Man beachte, dass wir hier sogar zwei mal die Regel von L’Hospital angewendet haben, denn auch nach dem ersten Anwenden erhielt man einen Term der Form 00 . Bemerkung 8.8: Im vorhergehenden Beispiel 8.10 (iii) hat man zwei Möglichkeiten den Term x ln x umzuformen. Entweder man bringt ihn auf die Gestalt 00 lim x ln x = lim x↓0 oder man formt ihn auf die Gestalt ∞ ∞ x↓0 x 1 ln x um, indem man schreibt: lim x ln x = lim x↓0 x↓0 ln x 1 x . Wie wir gesehen haben führt die zweite Umformung zum Erfolg, die erste hingegen würde auch nach mehrfachem Anwenden der Regel von L’Hospital nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen. 8.5. Ableitungen höherer Ordnung und Taylor’scher Satz In diesem Kapitel sei eine differenzierbare Funktion f : (a, b) −→ R gegeben. Wie wir schon gesehen haben, wird durch f 0 : (a, b) −→ R wieder eine Funktion bestimmt. Nun wollen wir dieses fortsetzen durch: f 00 (x) := (f 0 (x))0 = d dx df dx = d2 f dx2 Induktiv lässt sich dieses Prinzip fortsetzen, womit auch die anschließende Definition gerechtfertig ist. Definition 8.4 (Höhere Ableitungen): Wir definieren die k-te Ableitung einer Funktion durch: f (0) (x) := f (x) sowie f (k) (x) := (f (k−1) (x))0 für k ∈ N . Beispiel 8.11: (i) Gegeben sei die Funktion 8 < 2 f (x) := : x falls x ≥ 0 0 falls x < 0 103 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Diese Funktion ist überall differenzierbar, aber ihre Ableitung 8 f 0 (x) := < : 2x falls x ≥ 0 falls x < 0 0 ist zwar stetig, aber in x = 0 nicht mehr differenzierbar. (ii) Gegeben sei die Funktion 8 < 3 f (x) := : x falls x ≥ 0 0 falls x < 0 Diese Funktion ist überall zweimal differenzierbar, aber ihre 2. Ableitung 8 f 00 (x) := < 6x : falls x ≥ 0 falls x < 0 0 ist zwar stetig, aber in x = 0 wiederum nicht mehr differenzierbar. (iii) Die Funktionen cos x, sin x, ex , ln x und ihre Umkehrfunktionen sind auf ihren Definitionsbereich beliebig oft differenzierbar. Definition 8.5: Gegeben sei die Funktion f : (a, b) −→ R, welche (n + 1)-mal stetig differenzierbar sein soll und ein beliebiges x0 ∈ (a, b). Wir definieren dann das Taylorpolynom der Funktion f an der Stelle x0 vom Grade n durch: y(x) = PnT (x, x0 ) := n X f (k) (x0 ) (x − x0 )k . k! k=0 Satz 8.9 (Taylor’scher Satz): Zu jedem x ∈ (a, b) existiert ein ϑ ∈ (0, 1), sodass für ξ = x0 + ϑ(x − x0 ) (d.h. ξ liegt zwischen x und x0 ) stets gilt: f (x) = PnT (x, x0 ) + f (n+1) (ξ) (x − x0 )n+1 (n + 1)! Beweis: Der Beweis verwendet wieder den Satz von Rollé (Lemma 8.2) und ist ähnlich zu dem des Mittelwertsatzes. Bemerkung 8.9: (i) Für n = 0 erhalten wir den Mittelwertsatz (Satz 8.6), denn dann lautet der Taylor’sche Satz: f (x) = f (x0 ) + f 0 (ξ)(x − x0 ) (ii) Der Taylor’sche Satz gibt eine Aussage darüber wie gut die Funktion f lokal durch ein Polynom n-ten Grades dargestellt werden kann. Der Term Rn (x, x0 ) := f (n+1) (ξ) (x − x0 )n+1 (n + 1)! gibt dabei den Fehler der Approximation an. 104 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Bemerkung 8.10 (Lokale Approximation bei x0 ): Für den Fehler bei der Approximation gilt: Rn (x, x0 ) ≤ c|x − x0 |n+1 , wobei x dicht bei x0 liegt. Das zeigt, dass die lokale Approximation umso besser ist, je höher der Grad des Approximationsfehler |x − x0 |n |x − x0 |n+1 x x0 Abbildung 48: Der lokale Approximationsfehler Taylor-Polynoms ist. 1. Wie schon bemerkt erhalten wir für n = 0 den Mittelwertsatz: f (x) = f (x0 ) + f 0 (ξ)(x − x0 ) 2. Für n = 1 approximiert man die Funktion durch die Tangente an f in x0 und einen Fehlerterm der Ordnung 2: f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + | {z } Tangente f 00 (ξ) (x − x0 )2 2 | {z } R1 (x,x0 ) 3. Für n = 2 approximiert man f durch eine quadratische Funktion und einen Fehlerterm der Ordnung 3: f 000 (ξ) 1 f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + f 00 (x0 )(x − x0 )2 + (x − x0 )3 2 6 | {z } | {z } quadratische Funktion R2 (x,x0 ) Beispiel 8.12: (i) Wir wollen nun die Funktion y = f (x) = ex auf dem Definitionsbereich R und im Entwicklungspunkt x0 = 0 in eine Taylorreihe entwickeln. Zunächst ist trivialerweise f (k) (x) = ex für alle k ∈ N0 und somit gilt dann auch f (k) (x0 ) = 1. Das Taylorpolynom stellt sich also in diesem Fall wie folgt dar: PnT (x) = 1 + x + x2 xn + ... + 2! n! Die Funktion ex lässt sich also mit ϑ(x) ∈ (0, 1) aufschreiben als: ex = 1 + x + x2 xn eϑ(x)x n+1 + ... + + x 2! n! (n + 1)! 105 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler n=1 y n=4 f (x) n=0 n=3 n=2 x x0 Abbildung 49: Die ersten fünf Taylorpolynome einer Funktion f (ii) Nun betrachten wir die Funktion y = f (x) = ln(x) auf dem Definitionsbereich (0, ∞), die wir durch ihr Taylorpolynom im Punkt x0 = 1 und das Taylor’sche Restglied darstellen wollen. Zunächst gilt für alle n ∈ N \ {0} immer f (n) (x) = (−1)n−1 (n−1)! xn . Daher gilt hier (n) n−1 f (1) = (−1) (n − 1)! für alle n ∈ N \ {0} und f (1) = ln(1) = 0. Damit lautet die Darstellung aus Satz 8.9 in diesem Fall: 1 2 (−1)n−1 f (x) = 0 + 1(x − 1) − (x − 1)2 + (x − 1)3 + . . . + (n − 1)!(x − 1)n 2 3! n! (−1)n n! (x − 1)n+1 + (1 + ϑ(x)(x − 1))n+1 (n + 1)! Damit hat die Logarithmus-Funktion die Darstellung: ln(x) = (x − 1) − (x − 1)2 (x − 1)3 (−1)n−1 (x − 1)n (−1)n (x − 1)n+1 + + ... + + 2 3 n (1 + ϑ(x)(x − 1))n+1 (n + 1) Nun taucht zwangsläufig folgende Frage auf: Kann f durch PnT beliebig gut approximiert werden? Das heißt: Gilt f (x) = lim PnT (x) für jedes fixierte x ∈ U (x0 )? (Was äquivalent zu n→∞ lim Rn (x) = 0 gleichmäßig für x ∈ U (x0 ) ist.) n→∞ Beispiel 8.13: (i) Wir wollen das Taylor’sche Restglied der Funktion y = ex |R und x0 = 0 aus Beispiel 8.12 (i) betrachten. Hier hat das Restglied die Darstellung: Rn (x) = 106 xn+1 ϑ(x)x e (n + 1)! . Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Sei x ∈ R fixiert, dann gilt xn+1 ϑ(x)x |x|n+1 |x| 0 ≤ |Rn (x)| = e e −−−−→ 0 ≤ n−→∞ (n + 1)! (n + 1)! an n→∞ (n+1)! denn es ist lim sup |Rn (x)| = 0 bzw. = 0 für alle a > 0. Damit folgt lim n→∞ x∈[−a,a] ∞ X xk xk = n→∞ k! k! k=0 k=0 ex = lim PnT (x) = lim n→∞ n X im Sinne der gleichmäßigen Konvergenz. Außerdem ist ebenfalls eine qualitative Abschätzung möglich. Wenn beispielsweise x ∈ [−2, 2] ist, dann gilt e|x| ≤ e2 ≤ 32 = 9. Damit gilt für das Restglied: 8 2 < 2n+1 |Rn (x)| ≤ 9 · ≤ 5 (n + 1)! : 4 ≈ 0, 0012 3465 für n = 5 für n = 10 (ii) Analog erhalten wir für |x| < 1 die Taylorreihe für die Logarithmusfunktion: ln(1 + x) = ∞ X (−1)k+1 k=1 x2 x3 x4 xk =x− + − ± ... k 2 3 4 (iii) Wenn wir y = sin x|R in x0 = 0 in eine Taylorreihe entwickeln erhalten wir: sin x = ∞ X (−1)k k=0 x2k+1 (2k + 1)! . Das Restglied hat in diesem Fall die Gestalt: Rn (x) = (−1)n x2n+1 cos(ϑx) (2n + 1)! . (iii) Analog erhalten wir für y = cos x |R in x0 = 0 die Taylorreihe: cos x = ∞ X (−1)n k=0 x2n . (2n)! Bemerkung 8.11 (Nährungsweise Berechnung von Funktionswerten): (i) Wir wollen sin x mit einer Genauigkeit von 10−2 berechnen. Zunächst überlegt man sich, dass sin x mit x ∈ [0, 2π] ausreicht, da der Sinus seine Werte sonst nur periodisch wiederholt. Es reicht sogar weiter aus nur x ∈ [0, π2 ] zuzulassen, denn die restlichen Werte kann man durch Überlegungen zur Symmetrie erhalten. Es gilt: f (x) = sin x und f (k) kπ (x) = sin x + 2 Außerdem gehen wir wieder vom Entwicklungspunkt x0 = 0 aus. Dann erhalten wir: sin(ϑx + (n+1)π ) π sin π 2 sin x = sin 0 + sin (x − 0) + (x − 0)2 + . . . + (x − 0)n+1 2 2 (n + 1)! 107 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Damit gilt für das Restglied: |x|n+1 1 π |Rn (x)| ≤ < (n + 1)! (n + 1)! 2 n+1 Ziel < 10−2 Für n = 7 erhält man: sin x = x − x3 x5 + + R7 (x) 3! 5! mit |Rn (x)| ≤ 0, 0016 √ (ii) Nun betrachten wir nuch die Wurzelfunktion und wollen Nährungsweise 10 berechnen. √ Dazu wählen wir x0 = 9, denn 9 = 3 ist bekannt. Die Ableitungen der Funktion lauten: 1 1 √ 2 x 1 1 f 00 (x) = − √ 4 x3 3 1 f 000 (x) = √ 8 x5 f 0 (x) = 1 6 ⇒ f 0 (9) = ⇒ f 00 (9) = − 1 4 · 33 Das Taylor-Polynom 2. Grades lautet hier also: 1 1 P2T (x) = 3 + (x − 9) − (x − 9)2 6 4 · 27 · 2 1 1 1 1 683 P2T (10) = 3 + (10 − 9) − (10 − 9)2 = 3 + − = ≈ 3, 16204 6 4 · 27 · 2 6 216 216 Für den Fehlerterm gilt: R2 (10) = ⇒ |R2 (10)| = 1 31 (10 − 9)3 È 8 3! (9 + ϑ(10 − 9))5 1 1 1 1 1 È = < 3 · 10−4 ≤ 5 16 (9 + ϑ)5 16 3 3888 Vergleicht man mit dem ”richtigen” Wert gute Näherung dar. √ 10 = 3.16227766... stellt dies offenbar eine sehr 8.6. Eigenschaften differenzierbarer Funktionen In Lemma 8.1 hatten wir gesehen, dass f 0 (x0 ) = 0 gilt, falls bei x0 ein lokales Extremum vorliegt. Nun können wir diese Aussagen noch erweitern und zu einem hinreichenden Kriterium für ein lokales Extremum gelangen. Satz 8.10 (Hinreichendes Kriterium für ein lokales Extremum): Die Funktion y = f (x)|U (x0 ) sei zweimal stetig differenzierbar. Gilt f 0 (x0 ) = 0 und f 00 (x0 ) 6= 0, so liegt im Punkt x0 ein lokales Extremum vor. Für f 00 (x0 ) > 0 ist f (x0 ) ein lokales Minimum und für f 00 (x0 ) < 0 ist f (x0 ) ein lokales Maximum. 108 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 8. Differenzierbarkeit Beweis: Wir nehmen o.B.d.A. an, dass f 00 (x0 ) > 0 ist. Der Fall f 00 (x0 ) < 0 wird völlig analog behandelt. Aus Satz 8.9 mit n = 1 erhalten wir, dass für jedes x ∈ U (x0 ) ein ϑ(x) ∈ (0, 1) existiert, sodass gilt: 1 f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + f 00 (x0 + ϑ(x)(x − x0 ))(x − x0 )2 | {z } 2 =0 1 = f (x0 ) + f 00 (x0 + ϑ(x)(x − x0 )) (x − x0 )2 ≥ f (x0 ) {z }| {z } 2| >0 >0 Dabei verwenden wir, dass f 00 als stetig vorausgesetzt war und es somit ein δ > 0 gibt, sodass f 00 (x) > 0 für alle x ∈ Uδ (x0 ) ist. Damit haben wir f (x) ≥ f (x0 ) für alle x ∈ Uδ0 (x0 ) gezeigt. Das bedeutet, dass x0 ein lokales Minimum von f ist. Bemerkung 8.12: Die gleiche Aussage ist auch für alle geradzahligen Ableitungen gültig: ”Die Funktion y = f (x)|U (x0 ) sei 2n-mal stetig differenzierbar und f (k) (x0 ) = 0 für alle k ∈ {1, 2, . . . , 2n − 1} sowie f (2n) (x0 ) 6= 0, dann liegt im Punkt x0 ein lokales Extremum vor. Für f (2n) (x0 ) > 0 ist f (x0 ) ein lokales Minimum und für f (2n) (x0 ) < 0 ist f (x0 ) ein lokales Maximum.” Satz 8.11 (Zusammenhang zwischen Ableitung und Monotonie): Es sei Funktion y = f (x)|I differenzierbar und I ein beliebiges Intervall. Dann gilt: f ist monoton wachsend (fallend) auf I genau dann wenn f 0 (x) ≥ 0 (f 0 (x) ≤ 0) für alle x ∈ I ist. Beweis: ”⇒”: Durch ähnliche Überlegungen wie im Beweis von Lemma 8.1 erhalten wir: x > x0 : x < x0 : f (x) − f (x0 ) ≥0 x − x0 f (x) − f (x0 ) ≥0 x − x0 ⇒ f 0 (x0 + 0) ≥ 0 ⇒ f 0 (x0 − 0) ≥ 0 Da f differenzierbar sein sollte folgt also f 0 (x0 ) ≥ 0. ”⇐”: Aus Satz 8.6 folgt für x1 < x2 , dass ein ξ ∈ (x1 , x2 ) existiert, sodass gilt: f (x2 ) − f (x1 ) = f 0 (ξ) ≥ 0 x2 − x1 Da diese Ungleichung auch bei der Multiplikation mit x2 − x1 erhalten bleibt, erhalten wir f (x2 ) − f (x1 ) ≥ 0. Das heißt also, dass f monoton wachsend auf I ist. Definition 8.6: Die Gleichung der Sekante einer Funktion durch die Punkte x1 , x2 lautet: η= f (x2 ) − f (x1 ) (ξ − x1 ) + f (x1 ) x2 − x1 109 8. Differenzierbarkeit Mathematik für Werkstoffwissenschaftler y f (x) f (x2 ) f (x1 ) x1 x2 x Abbildung 50: Eine konvexe Funktion f (i) Eine Funktion f heißt konvex auf dem Intervall [x1 , x2 ] wenn für alle ϑ ∈ (0, 1) immer f (ϑx1 + (1 − ϑ)x2 ) ≤ ϑf (x1 ) + (1 − ϑ)f (x2 ) Anders ausgedrückt bedeutet dies: ”Die Funktionswerte von f liegen unterhalb der Sekante durch x1 und x2 ”. (ϑx1 + (1 − ϑ)x2 stellt eine beliebige Stelle zwischen x1 und x2 dar und ϑf (x1 ) + (1 − ϑ)f (x2 ) ist der Wert der Sekante durch (x1 , f (x1 )) und (x2 , f (x2 )) an der Stelle x.) (ii) Eine Funktion f heißt konkav auf dem Intervall [x1 , x2 ] wenn für alle ϑ ∈ (0, 1) immer f (ϑx1 + (1 − ϑ)x2 ) ≥ ϑf (x1 ) + (1 − ϑ)f (x2 ) ”Die Funktionswerte von f liegen überhalb der Sekante durch x1 und x2 ”. Bemerkung 8.13: (i) Eine differenzierbare Funktion y = f (x)|I ist auf I konvex gdw. f 0 (x) auf I monoton wachsend ist. (ii) Sei y = f (x)|I auf I zweimal differenzierbar. Dann ist f konvex genau dann wenn f 00 (x) ≥ 0 auf I ist bzw. f ist konkav auf I genau dann wenn f 00 (x) ≤ 0 auf I ist. Beispiel 8.14: (i) y = f (x) = x2 |R ist konvex auf R, denn f 00 (x) = 2 > 0 für alle x ∈ R. √ (ii) y = f (x) = x|(0, ∞) ist konkav auf (0, ∞), denn f 00 (x) = − 41 √1 3 < 0 für alle x x ∈ (0, ∞). Definition 8.7: y = f (x)|I hat bei x0 einen Wendepunkt, falls a, b ∈ I existieren mit a < x0 < b und y = f (x)|[a, x0 ] ist konvex und y = f (x)|[x0 , b] ist konkav oder umgekehrt. Bemerkung 8.14: (i) Sei y = f (x)|I auf I dreimal stetig differenzierbar. Gilt f 00 (x0 ) = 0 und f 000 (x0 ) 6= 0 so besitzt f in x0 einen Wendepunkt. (ii) Wendepunkte sind Extremwerte der ersten Ableitung. 110 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung 9. Integralrechnung 9.1. Das Riemann Integral Das Ziel dieses Abschnittes ist die Bestimmung des Flächeninhaltes spezieller krummlinig begrenzter Flächen. Abbildung 51 veranschaulicht, dass dies sehr schwierig sein kann. Abbildung 51: Fläche Im zweiten Semester werden wir klären, was überhaupt eine Fläche ist. Für einige Gebiete lässt sich diese Frage jedoch noch einfach beantworten. Solche Flächen nennt man Normalgebiete. Definition 9.1 (Normalgebiete): Eine Menge G heißt Normalgebiet, wenn es ein Intervall [a, b] und zwei stetige Funktionen ϕ|[a, b] und Φ|[a, b] gibt, sodass für G eine Darstellung G := {(x, y) ∈ R2 : a ≤ x ≤ b, ϕ(x) ≤ y ≤ Φ(x)} existiert. y Φ(x) ϕ(x) a x b Abbildung 52: Beispiel für ein Normalgebiet Beispiel 9.1: Wir wollen die Fläche unter der Funktion f (x) = x2 |[a, b] bestimmen (mit a ≥ 0). Dazu 111 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler zerlegen wir das Intervall [a, b] in N gleichgroße Teilintervalle der Länge h := b−a N I1 = [a, a + h] I2 = [a + h, a + 2h] .. . Ij = [a + (j − 1)h, a + jh] .. . IN = [a + (N − 1)h, a + N h] = [b − h, b] Um die Fläche unterhalb der Funktion zu bestimmen, bilden wir das Minimum und y f (x) = x2 a x b Abbildung 53: Ober- und Untersummen der Funktion f (x) = x2 Maximum der Funktionswerte auf jedem der Teilintervalle. Das Minimum wird immer in der linken und das Maximum immer in der rechten Intervallgrenze angenommen. Das heißt: mj := f (a + (j − 1)h) = (a + (j − 1)h)2 bzw. Mj := f (a + jh) = (a + jh)2 Damit erhalten wir eine Einschränkung der gesuchten Fläche zwischen den sogenannten 112 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Ober- und Untersummen: UN = N X (a + (j − 1)h)2 · h j=1 und ON = N X (a + jh)2 · h = h j=1 =h N X (a2 + 2ajh + j 2 h2 ) j=1 N X a2 + 2ah2 j=1 N X j + h3 j=1 N X j2 j=1 N (N + 1) N (N + 1)(2N + 1) = hN a2 + 2ah2 + h3 2 6 2 b−a b−a b − a 3 N (N + 1)(2N + 1) = N a2 + a N (N + 1) + N N N 6 (N + 1)(2N + 1) N +1 + (b − a)3 . = (b − a)a2 + a(b − a)2 N 6N 2 Analog kann man auch die Untersumme UN umformen. Für beide Summen erhalten wir im Grenzwert für N −→ ∞: N +1 (N + 1)(2N + 1) ON =(b − a)a2 + a(b − a)2 + (b − a)3 −−−−→ N →∞ N 6N 2 1 1 1 (b − a)a2 + a(b − a)2 + (b − a)3 = b3 − a3 . 3 3 3 Wir gehen davon aus, dass eine beschränkte Funktion y = f (x)|[a, b] gegeben ist, die außerdem f (x) ≥ 0 erfüllt. Das heißt es gilt: 0 ≤ m = inf f (x) ≤ f (x) ≤ sup f (x) = M für alle x ∈ [a, b]. Außerdem sei eine Zerlegung Z = {x0 , x1 , . . . , xN } des Intervalls [a, b] gegeben für die a = x0 < . . . < xN = b gilt. Definition 9.2 (Größen für eine Zerlegung): Wir führen nun einige abkürzende Schreibweisen für Kenngrößen einer Zerlegung Z = {x0 , x1 , . . . , xN } ein. (i) Ij := [xj , xj+1 ] ist das j-te Teilintervall. (ii) |Ij | := xj+1 − xj ist die Länge des j-ten Teilintervalls. (iii) |Z| := max{|Ij | : j ∈ {0, . . . , N − 1} ist die Feinheit der Zerlegung Z. (iv) mj := inf{f (x) : x ∈ Ij } und Mj := sup{f (x) : x ∈ Ij } sind das Infimum und Supremum im j-ten Teilintervall. (Vgl. Kapitel 1, Definition 1.7 wo festgelegt wurde, dass beschränkte Mengen reeller Zahlen immer Supremum und Infimum besitzen.) (v) U (f, Z) := NP −1 mj |Ij | = j=0 NP −1 mj (xj+1 − xj ) ist die Untersumme von f bezüglich j=0 der Zerlegung Z. (vi) O(f, Z) := NP −1 Mj |Ij | = j=0 NP −1 Mj (xj+1 − xj ) ist die Obersumme von f bezüglich j=0 der Zerlegung Z. (vii) ~ := Z(f, Z, ξ) NP −1 j=0 f (ξj )|Ij | = NP −1 f (ξj )(xj+1 − xj ) ist für beliebige ξj ∈ Ij eine j=0 Zwischensumme von f bezüglich der Zerlegung Z. 113 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Lemma 9.1 (Eigenschaften der Größen einer Zerlegung): Es sei eine beschränkte Funktion y = f (x)|[a, b] gegeben. Dann gilt: ~ ≤ O(f, Z) ≤ M (b − a) für alle Zerlegungen Z (i) m(b − a) ≤ U (f, Z) ≤ Z(f, Z, ξ) des Intervalls [a, b]. (ii) Falls für zwei Zerlegungen des Intervalls [a, b] die Beziehung Z1 ⊆ Z2 gilt, so folgt: UZ1 ≤ UZ2 sowie OZ2 ≤ OZ1 . (iii) Für beliebige Zerlegungen Z1 , Z2 des Intervalls [a, b] gilt: UZ1 ≤ OZ2 . (iv) Die Werte U := sup U (f, Z) und O := inf O(f, Z) existieren stets und es gilt: Z Z U ≤ O. Definition 9.3 (Integrierbarkeit): Gegeben sei die beschränkte Funktion y = f (x)|[a, b]. f heißt Riemann-intergrierbar falls sup U (f, Z) = inf O(f, Z) gilt. Außerdem definiert man in diesem Fall Z Z Z b f (x) dx := sup U (f, Z) = inf O(f, Z) a Bemerkung 9.1: Ist f (x) ≥ 0, so wird durch dem Graph Γf = {(x, y) ∈ Z Z Rb a R2 . f (x) dx der Flächeninhalt der von x = a, x = b, y = 0 und : x ∈ [a, b], y = f (x)} berandeten Fläche beschrieben. Beispiel 9.2: (i) Im einfachsten Fall der Funktion y = f (x) ≡ 1 erhalten wir: Z b 1 dx = (b − a) . a (ii) Wie wir schon zum Teil gezeigt haben gilt: Z b b3 a3 − 3 3 x2 dx = a . (iii) Die Dirichlet-Funktion, deren Graph gegeben ist durch Γd = {(x, y) ∈ R2 : (x, 0) falls x irrational, (x, 1) falls x rational}, ist nicht integrierbar. Satz 9.1: Gegeben sei die beschränkte Funktion y = f (x)|[a, b]. f ist integrierbar auf [a, b] gdw. für alle Folgen von Zerlegungen (Zn )∞ lim |Zn | = 0 n=1 mit n→∞ ~ = I gilt. und beliebige Wahl von ξ~ immer auch lim Z(f, Zn , ξ) n→∞ Der gemeinsame Grenzwert I ist dann I = Rb f (x) dx. a Satz 9.2 (Existenz des Integrals): (i) Ist f auf [a, b] stetig, so existiert Rb f (x) dx. a (ii) Ist f auf [a, b] monoton, so existiert Rb a 114 f (x) dx. Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Beweis: Die Ideen für den Beweis sind folgende: (i) Hier wird die gleichmäßige Stetigkeit aus Satz 7.4 verwendet. (ii) Für ein monoton wachsendes f folgt Mj = mj+1 . Nimmt man zusätzlich eine äquidistante Zerlegung, so gilt O(f, Z) − U (f, Z) = (f (b) − f (a)) · |Z|. Für eine Folge (Zn )∞ n=1 mit |Zn | −→ 0 erhalten wir somit O = U . Satz 9.3 (Eigenschaften des Integrals): Es seien die Funktionen f und g auf [a, b] integrierbar. (i) Für a < c < b gilt: Z b Z c Z b f (x) dx f (x) dx + f (x) dx = c a a (ii) Für λ, µ ∈ R gilt: Rb a a a g(x) dx f (x) dx + µ λf (x) + µg(x) dx = λ (iii) Das Integral Z b Z b Z b |f (x)| dx existiert stets und es gilt: a Z b Z b f (x) dx ≤ a |f (x)| dx a Die Umkehrung ist im Allgemeinen nicht richtig. Satz 9.4 (Mittelwertsatz der Integralrechnung): Es sei f |[a, b] stetig (und somit auch integrierbar). Dann existiert ein ξ ∈ (a, b) mit Z b f (x) dx = f (ξ)(b − a) . a Beweis: Nach Satz 7.4 existieren x0 , x1 ∈ [a, b] mit: f (x0 ) = inf {f (x) : x ∈ [a, b]} = min {f (x) : x ∈ [a, b]} f (x1 ) = sup {f (x) : x ∈ [a, b]} = max {f (x) : x ∈ [a, b]} Damit erhalten wir: Z b f (x0 )(b − a) ≤ U (f, Z) ≤ a f (x) dx ≤ O(f, Z) ≤ f (x1 )(b − a) Umgestellt ergibt dies: f (x0 ) ≤ 1 b−a Z b a f (x) dx ≤ f (x1 ) Nach Satz 7.5 (Zwischenwertsatz) existiert ein ξ ∈ [a, b] mit f (ξ) = 1 b−a Das entspricht der gewünschten Behauptung. Z b f (x) dx a 115 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Numerische Integration (Quadraturformeln) Ist die Existenz von Rb f (x) dx gesichert (z.B. durch die Stetigkeit von f ), so erhebt sich a die Frage nach der Berechnung dieser Zahl. Es gibt mehrere Quadraturformeln, die dazu verwendet werden können. a a+b 2 b Abbildung 54: Rechteckformel Zunächst betrachten wir die Rechteckformel. Als Approximation für Rb f (x) dx dient hier a - also die Breite des Intervalls multipliziert mit dem Wert in der der Wert (b − a)f a+b 2 Mitte zwischen a und b. Um eine bessere Approximation zu erhalten wird das Intervall [a, b] durch die Zerlegung Zn in n Teile zerlegt und man setzt ξj in die Mitte des Intervalls Ij . Dann erhält man die Zwischensumme: b−a h Z(f, Zn , ξ~(n) ) = f a+ n 2 Dabei ist h die Abkürzung für h := a 3h +f a+ 2 (2n − 1)h + ... + f a + 2 b−a n . b Abbildung 55: Trapezformel Eine ähnliche Variante ist die Trapezformel. Hier approximiert man Rb f (x) dx durch den a (b) (b − a). Auch hier erhält man durch Verfeinerung der Teilung eine ZwischenWert f (a)+f 2 summe, die den wirklichen Wert approximiert: h Z(f, Zn , ξ~(n) ) = (f (a) + 2f (a + h) + . . . + 2f (b − h) + f (b)) 2 mit dem gleichen h wie im vorhergehendem Fall. Praktisch berechnet man ein Integral indem man das Intervall nicht in n sondern in 2n Teile aufteilt, denn dann muss man beim Schritt von 2n zu 2n+1 nur die neu hinzugekommenen Teilpunkte neu berechnen. 116 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Für den Fehler dieser Approximation gilt: Z b a h3 f (x) dx − Z(f, Z2n , ξ~(2n ) ) ≤ sup |f 00 (x)| . 12 x∈[a,b] Zuletzt betrachten wir noch die Kepler’sche Formel. Kepler publizierte diese Formel 1615 zum ersten Mal in seinem Buch ”Nova stereometria doliorum viuariorum” Hier suchen wir zunächst ein Polynom 2. Grades, welches die folgenden Bedingungen erfüllt: p2 (a) = f (a) = y0 p2 a+b 2 =f a+b 2 = y1 p2 (b) = f (b) = y2 Das Polynom p2 (x) = b2 x2 + b1 x + b0 ist hierdurch eindeutig bestimmt, wie folgende Rechnung zeigt. Es sei p2 (x) = b2 x − a+b 2 2 + b1 x − a+b 2 + b0 . Dann gilt: p2 (a) = b2 p2 a+b 2 a−b 2 2 + b1 a−b 2 + b0 = y0 = b0 = y1 p2 (b) = b2 b−a 2 2 + b1 b−a 2 + b0 = y2 Kombiniert man diese Bedingungen miteinander, so erhält man: y0 − y2 = b1 · a y0 + y2 = 2b2 sowie a−b 2 2 + 2b0 . Integriert man nun dieses ”Ersatz-Polynom”, so erhält man Z b a b2 b − a 3 b2 a − b 3 b1 b − a 2 b1 a − b − + − 3 2 3 2 2 2 2 2 2 b−a a−b b−a = b2 + 3b0 = (y0 + y2 + 4y1 ) 3 2 6 p2 (x) dx = 2 + b0 b − b0 a Wir erhalten schließlich: Z b a b−a p2 (x) dx = f (a) + 4f 6 a+b 2 + f (b) Der Fehler bei dieser Quadraturformel beträgt − (b − a)5 (4) f (ξ) 2880 mit einem ξ ∈ (a, b). 117 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Allgemein kann eine Quadraturformel geschrieben werden als: Z b f (x) dx ≈ a n X (n) (n) ci f xi i=0 (n) (n) Dabei sind die xi Stützstellen und ci als Newton-Côtes-Formeln bekannt. Gewichtungskoeffizienten. Diese Verfahren wurden 9.2. Die Stammfunktion Definition 9.4 (Stammfunktion): (i) Gegeben sei die stetige Funktion y = f (x)|I, wobei I wieder ein beliebiges Intervall sein soll. Die Funktion y = F (x)|I heißt Stammfunktion von f wenn F (x) auf I differenzierbar ist und F 0 (x) = f (x) ist für alle x ∈ I gilt. (ii) Die Menge aller Stammfunktionen F zu einer gegebenen Funktion f heißt unbestimmtes R Integral und wird mit f (x) dx bezeichnet. Satz 9.5 (Unterschied der Stammfunktionen): Gegeben sei die Funktion y = f (x)|I. Die Stammfunktionen von f unterscheiden sich nur durch additive Konstanten. Beweis: Die Funktionen y = F (x)|I und y = Φ(x)|I seien zwei Stammfunktionen zu f . Wegen Satz 8.3(ii) gilt dann für alle x ∈ I: (F − Φ)0 (x) = F 0 (x) − Φ0 (x) = f (x) − f (x) = 0 . Damit folgt nun aus Satz 8.6 bzw. Satz 8.11 F (x) − Φ(x) = c für ein c ∈ R. Durch Umstellen erhalten wir F (x) = Φ(x) + c, was der gewünschten Behauptung entspricht. Bemerkung 9.2: Dies rechtfertigt die Schreibweise 118 R f (x) dx = F (x) + c. Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Grundintegrale Z xn dx = xn+1 n+1 für n ∈ N und x ∈ R xk dx = xk+1 k+1 für k ∈ Z \ {−1} und x ∈ R \ {0} xα dx = xα+1 α+1 für α ∈ R \ {−1} und x ∈ R+ Z Z Z Z 1 dx = ln |x| x für x ∈ R \ {0} 1 dx = arctan x 1 + x2 für x ∈ R Z Z √ für x ∈ R \ {−1, 1} 1 dx = arcsin x 1 − x2 für x ∈ (−1, −1) Z √ 1 x2 − 1 Z √ 1 1 x + 1 dx = ln 2 1−x 2 x − 1 1 x2 + 1 È È dx = ln x + dx = ln x + Z αx dx = αx ln α x2 − 1 x2 + 1 für x ∈ R \ [−1, −1] für x ∈ R für α ∈ R+ und x ∈ R Z sin x dx = − cos x für x ∈ R cos x dx = sin x für x ∈ R Z Z Z § ª π + kπ : k ∈ Z 2 1 dx = tan x cos2 x für x ∈ R \ 1 dx = − cot x sin2 x für x ∈ R \ {kπ : k ∈ Z} Alle diese Beziehungen ergeben sich sofort aus Kapitel 8 indem die Ableitungen der meisten dieser Stammfunktionen berechnet wurden. 119 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Bemerkung 9.3 (Linearität der Integration): Die stetigen Funktionen y = f (x)|I und y = g(x)|I mit ihren Stammfunktionen F und G seien gegeben. Dann gilt für alle λ, µ ∈ R: Z Z λf (x) + µg(x) dx = λ Z f (x) dx + µ g(x) dx = λF (x) + µG(x) + c . Diese Aussage ist unmittelbar aus der Linearität der Differentiation ersichtlich. Satz 9.6 (Partielle Integration): Die Funktionen y = f (x)|I und y = g(x)|I seien differenzierbar. Dann gilt: Z Z 0 f 0 (x) · g(x) dx . f (x) · g (x) dx = f (x) · g(x) − Beweis: Wir wenden in diesem Beweis die Produktregel aus Satz 8.3(ii) an. Z f (x) · g(x) = (f · g)(x) = Z (f · g)0 (x) dx = Z = f 0 (x) · g(x) + f (x) · g 0 (x) dx Z 0 f (x) · g 0 (x) dx f (x) · g(x) dx + Umstellen dieser Gleichung führt zum gewünschten Ergebnis. Beispiel 9.3: R (i) Wir wollen x2 ex dx berechnen. Dazu setzen wir f (x) := x2 und g 0 (x) := e2x und wenden Satz 9.6 an. Damit erhalten wir: Z 1 x2 e2x dx = x2 e2x − 2 Z 1 x2 2x 2x e2x dx = e − 2 2 Z xe2x dx . Nochmaliges Anwenden, nun mit f (x) := x und g 0 (x) := e2x liefert: Z Z Z x2 2x x2 2x 1 1 x e dx = e − xe2x dx = e − x e2x − 1 · e2x dx 2 2 2 2 Z 2 x x 1 x2 2x x 2x 1 = e − e + e2x dx = e2x − e2x + e2x + c . 2 2 2 2 2 4 2 x R (ii) Nun betrachten wir ln x dx für x ∈ R+ . Wir setzen hier f (x) := ln x und g 0 (x) := 1 und wenden erneut Satz 9.6 an. Damit erhalten wir: Z Z ln x dx = Z 1 · ln x dx = x ln x − x 1 dx = x ln x − x Z 1 dx = x ln x − x + c Satz 9.7 (Integration durch Variablensubstitution): Die Funktion y = f (t)|Df sei stetig und t = g(x)|Dg mit t ∈ Df für alle x ∈ Dg sei stetig differenzierbar. Falls F die Stammfunktion von f bezeichnet, gilt: Z f (g(x)) · g 0 (x) dx = F (g(x)) . Beweis: Hier erhalten wir aus Satz 8.4 (Kettenregel): Z F (g(x)) = 120 Z 0 (F (g(x))) dx = Z 0 0 F (g(x)) · g (x) dx = f (g(x)) · g 0 (x) dx Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Beispiel 9.4: R 2 (i) Wir wollen nun mittels Satz 9.7 das Integral xex dx berechnen. Dazu setzen wir f (t) := et und t = g(x) := x2 . Dann erhalten wir damit: Z xe x2 1 dx = 2 Z 1 2 2 2xex dx = ex + c 2 . (ii) Gegeben seien F als Stammfunktion von f und die Parameter a, b ∈ R, wobei a 6= 0 gelten soll. Dann ist mit g(x) := ax + b: Z f (ax + b) dx = 1 F (ax + b) + c a . Z g 0 (x) dx. Wenn g(x) (iii) Ein sehr häufig benötigter Spezialfall von Satz 9.7 ist das Integral wir t = g(x) und f (t) := Z 1 t setzen, erhalten wir: g 0 (x) dx = g(x) Z 1 · g 0 (x) dx = ln |g(x)| + c g(x) . (iv) Unter Verwendung von (iii) ergibt sich sofort: Z Z tan x dx = sin x dx = − cos x Z − sin x dx = − ln | cos x| + c cos x Für die Integration rationaler Funktionen vom Typ R(x) = Partialbruchzerlegung und folgende Integrale benötigt: am xm + . . . + a1 x + a0 werden bn xn + . . . + b1 x + b0 Z Z Z 1 dx = ln |x − a| x−a Z 1 1 1 dx = − (x − a)k k − 1 (x − a)k−1 2x + p dx = ln |x2 + px + q| x2 + px + q für k ≥ 2 1 dx = 2 x + px + q Ik+1 Beispiel 9.5: (i) Wir wollen Z x2 È 1 q− p2 /4 arctan x + p/2 È q− p2 /4 falls q − p2 /4 > 0 Z 1 t 2k − 1 = + Ik 2k (t2 + 1)k 2k für k ≥ 2 und Ik = 1 dt (t2 + 1)k 1 dx bestimmen. Es gilt −1 x2 1 A B A(x + 1) + B(x − 1) = + = −1 x−1 x+1 x2 − 1 . Zur Bestimmung der unbekannten Koeffizienten A und B setzen wir in 1 = A(x + 1) + B(x − 1) zwei verschiedene x-Werte ein. Für x = 1 erhalten wir zum einen 1 = 2A + 0, also A = 21 und für x = −1 erhalten wir zum anderen 1 = 0 − 2B, also B = − 12 . Damit können wir den gegebenen Ausdruck folgendermaßen zerlegen: 1 0, 5 −0, 5 1 1 1 = + = − x2 − 1 x−1 x+1 2 x−1 x+1 121 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Somit erhalten wir für das gesuchte Integral: Z 1 1 dx = 2 x −1 2 Z 1 1 dx − x−1 2 Z 1 1 1 1 x − 1 +c dx = ln |x − 1| − ln |x + 1| + c = ln x+1 2 2 2 x + 1 Z (ii) In ähnlicher Weise wollen wir nun 2x2 + 3 dx bestimmen. Hier gilt: x(x − 1)2 2x2 + 3 A B C A(x − 1)2 + Bx(x − 1) + Cx = + + = x(x − 1)2 x x − 1 (x − 1)2 x(x − 1)2 Zur Bestimmung der Koeffizienten setzen wir in 2x2 + 3 = A(x − 1)2 + Bx(x − 1) + Cx diesmal x = 1, x = 0 und x = 2 ein. Dann erhalten wir: 2 + 3 = 0 + 0 + C also C = 5, 3 = A + 0 + 0 also A = 3 und 8 + 3 = 3 + 2B + 10 also B = −1. Damit können wir den gegebenen Ausdruck folgendermaßen zerlegen: 3 1 5 2x2 + 3 = − + 2 x(x − 1) x x − 1 (x − 1)2 . Somit erhalten wir für das gesuchte Integral: Z 2x2 + 3 dx = 3 x(x − 1)2 Z Z Z 1 1 dx + 5 dx x−1 (x − 1)2 1 = 3 ln |x| − ln |x − 1| − 5 +c . x−1 Z (iii) Nun betrachten wir 1 dx − x −2x dx. Der Ansatz lautet hier: (x + 1)(x2 + 1) A Bx + C A(x2 + 1) + Bx(x + 1) + C(x + 1) −2x = + = (x + 1)(x2 + 1) x+1 x2 + 1 (x + 1)(x2 + 1) Betrachtet man nun wieder nur den Zähler, so erhält man die Gleichung −2x = Ax2 + A + Bx2 + Bx + Cx + C. Ein Koeffizientenvergleich liefert: 0 = A + B sowie −2 = B + C und 0 = A + C. Löst man dieses lineare Gleichungssystem auf (beispielsweise wie in Kapitel 4 beschrieben), so erhält man A = 1 und B = C = −1. Damit erhalten wir: Z −2x dx = (x + 1)(x2 + 1) Z Z Z Z 1 x+1 1 2x 1 dx − dx = ln |x + 1| − dx − dx 2 2 2 x+1 x +1 2 x +1 x +1 1 = ln |x + 1| − ln |x2 + 1| − arctan x + c . 2 Z 1 (iv) Zuletzt wollen wir noch die Stammfunktion dx berechnen. Hier gilt: x(x2 + x + 1) x(x2 1 A Bx + C 1 x+1 = + 2 = − 2 + x + 1) x x +x+1 x x +x+1 Z Der erste Term lässt sich einfach durch: zweiten Term, so erhält man: Z − 122 Z . 1 dx = ln |x| integrieren. Betrachtet man den x Z x+1 1 1 2x + 1 1 dx = − dx − dx 2 2 2 x +x+1 2 x +x+1 2 x +x+1 Z 1 1 1 = − ln |x2 + x + 1| − dx 2 2 x2 + x + 1 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Z 1 dx integrieren. Hier gilt: +x+1 Z Z Z Z 1 1 4 1 4 dx = dx = dx = 4 1 2 x2 + x + 1 3 3 (x + 12 )2 + 34 3 (x + 2 ) + 1 √ 4 3 2x + 1 2 2x + 1 √ √ √ = arctan = arctan 3 2 3 3 3 Damit ist jeder Teil des Stammfunktion bekannt. Damit müssen wir nun noch x2 1 2x+1 √ 3 2 dx +1 Bemerkung 9.4: Die Partialbruch-Zerlegung und die Integration gebrochen rationaler Funktionen ist auch mit Hilfe der Programme MATHEMATICA oder MATLAB möglich. Bemerkung 9.5 (Integration anderer gebrochener Funktionen): Die Integration der gebrochen-rationalen Funktionen ermöglicht uns die Integration diverser anderer Funktionenklassen. Dabei bezeichne R wieder eine rationale Funktion in einer oder zwei Variablen. 1. Integration von R(cos x, sin x) Variablensubstitution t = tan(x/2) führt zu Z Z R(cos x, sin x) dx = R 2t 1 − t2 , 2 1 + t 1 + t2 2 dt 1 + t2 2. Integration von R(ex ) R R Variablensubstitution t = ex führt zu R(ex ) dx = R(t) 1t dt √ 3. Integration von R(x, x2 − 1) Variablensubstitution t = arcosh x führt zu Z Z È t + e−t et − e−t et − e−t e , dt R(x, x2 − 1) dx = R 2 2 2 √ 4. Integration von R(x, x2 + 1) Variablensubstitution t = arsinh x führt zu Z Z È t − e−t et + e−t e et + e−t , dt R(x, x2 + 1) dx = R 2 2 2 √ Entsprechend für R(x, x2 − a2 ) die Variablensubstitution t = arcosh(x/a) und für √ R(x, x2 + a2 ) die Variablensubstitution t = arsinh(x/a). √ 5. Integration von R(x, 1 − x2 ) Variablensubstitution t = arcsin x führt zu Z 1− R(x, 6. Integration von R x, q n Variablensubstitution t = Ê Z R x, n Z È ax + b cx + d x2 ) dx = R(sin t, cos t) cos tdt ax+b cx+d q n ax+b cx+d führt zu ! Z dx = n(ad − bc) dtn − b tn−1 R , t dt a − ctn (a − ctn )2 123 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9.3. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung Satz 9.8: Es sei f : [a, b] → R stetig. Dann existiert für alle x ∈ [a, b] Z x f (t)dt Φ(x) := a und es gilt Φ0 (x) = f (x) für alle x ∈ [a, b]. Beweis: Wir nehmen zunächst an, dass x0 < x ist. Dann gilt unter Verwendung von Satz 9.4: Z x Φ(x) − Φ(x0 ) = f (t)dt − Z x Z x 0 f (t)dt = x0 a a MW S f (t)dt = f (ξ)(x − x0 ) mit einem ξ ∈ [x0 , x]. Umgestellt bedeutet dies: Φ(x) − Φ(x0 ) = f (ξ) x − x0 . Betrachtet man nun den Grenzwert x ↓ x0 , so gilt auch ξ ↓ x0 und da f stetig ist, folgt: Φ(x) − Φ(x0 ) = lim f (ξ) = f (x0 ) x↓x0 x − x0 lim x↓x0 . Gleiche Überlegungen können auch für die linksseitige Ableitung angestellt werden. Satz 9.9 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung): Es sei f : [a, b] → R stetig und F eine Stammfunktion zu f . Dann gilt: Z b f (x) dx = F (b) − F (a) . a Beweis: Wegen Satz 9.5 und Satz 9.8 ist F (x) = Φ(x) + c mit der Funktion Φ(x) aus dem vorhergehendem Satz. Damit erhalten wir: Z b F (b) − F (a) = Z a f (x) dx + c − a Z b f (x) dx f (x) dx + c = a . a Satz 9.10 (Partielle Integration für bestimmte Integrale): Die Funktionen y = f (x)|I und y = g(x)|I seien differenzierbar. Dann gilt: Z b a f (x) · g 0 (x) dx = f (x)g(x)|ba − Z b f 0 (x) · g(x) dx a Dabei bezeichnet ϕ(x)|ba = ϕ(b) − ϕ(a). Satz 9.11 (Integration durch Variablensubstitution für bestimmte Integrale): Die Funktion y = f (t)|Df sei stetig und t = g(x)|Dg mit t ∈ Df für alle x ∈ Dg sei stetig differenzierbar. Falls t = g(x) streng monoton ist, gilt: Z b a f (g(x)) · g 0 (x) dx = Z g(b) Z β f (t) dt g(a) Z g −1 (β) f (t) dt = bzw. α g −1 (α) Das heißt das Integrationsintervall muss auch transformiert werden. 124 f (g(x)) · g 0 (x) dx Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Beispiel 9.6: (i) Wir wollen das Integral R1 0 1 (1+x2 )2 9. Integralrechnung dx berechnen. Die Substitution x = tan t liefert dx = 1 + tan2 t dt dx = (1 + tan2 t)dt ⇒ Für die Grenzen, welche mit substituiert werden gilt: 0 = tan 0 und 1 = tan π4 . Somit erhalten wir: Z 1 0 1 dx = (1 + x2 )2 Z π 1 + tan2 t dt = (1 + tan2 t)2 4 0 Z π 4 0 π 4 1 π 1 cos t dt = (t + sin t cos t) = + . 2 8 4 0 2 (ii) Völlig analog erhält man durch die Substitution t = 4x + 7: Z 1 1 1 dx = cos2 (4x + 7) 4 0 (iii) Wir substituieren t = Z 2 x2 x Z 5 + 1 dx = 1 0 (iv) Wir substituieren t = Z 2 1 1 1 ln dx = − 2 x x 1 x 1√ 2 1 3 5 1 √ t dt = t 2 = ( 125 − 1) . 2 3 2 1 3 und erhalten im letzten Beispiel: Z 1 2 7 1 1 dt = (tan 11 − tan 7) . cos2 t 4 + 1 und erhalten: È x2 Z 11 Z 1 ln t dt = 1 1 2 ln t dt = t ln t − t|11 = 0 − 1 − 2 1 1 1 1 1 ln + = ln 2 − . 2 2 2 2 2 9.4. Uneigentliche Integrale Bisher sind wir bei der Berechnung von Integralen immer von einer beschränkten Funktion über einem endlichen Intervall ausgegangen. Diese Annahmen wollen wir nun verwerfen und sehen, wie wir trotzdem ein Integral sinnvoll definieren können. 1. Fall: Gegeben sei eine Funktion f : (a, b] → R, die auf (a, b] zwar stetig aber unbeschränkt sein soll. Dann definieren wir (sofern der Grenzwert existiert) Z b Z b f (x) dx := lim ε↓0 a f (x) dx . a+ε Beispiel 9.7: (i) Für die Funktion f (x) = x1 |(0, 1] gilt: Z 1 0 1 dx = lim ε↓0 x Z 1 ε 1 dx = lim ln x|1ε = lim(ln 1 − ln ε) = ∞ . ε↓0 ε↓0 x 1 (ii) Nun modifizieren wir die obige Funktion leicht. Gegeben sei f (x) = α |(0, 1] mit α 6= 0. x Dann gilt: Z 1 0 1 dx = lim ε↓0 xα = Z 1 ε 1 1 x−α+1 dx = lim = lim ε↓0 −α + 1 ε↓0 xα ε 1 1 − lim 1 − α ε↓0 (1 − α)εα−1 1 ε−α+1 − −α + 1 −α + 1 8 = < ∞ falls α > 1 : 1 1−α falls 0 < α < 1 . 125 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler y x ε 1 Abbildung 56: Annährung bei einem uneigentlichen Integral 2. Fall: Gegeben sei eine stetige Funktion g : [a, ∞) → R. Dann definieren wir Z ∞ Z N g(x) dx := lim g(x) dx N →∞ a a Beispiel 9.8: (i) Für die Funktion f (x) = x1 |[1, ∞) gilt: Z ∞ 1 1 dx = lim N →∞ x Z N 1 1 dx = lim ln x|N (ln N − ln 1) = ∞ . 1 = Nlim N →∞ →∞ x (ii) Für die modifizierte Funktion f (x) = Z ∞ 1 1 dx = lim N →∞ xα Z ∞ 1 1 |[1, ∞) mit α 6= 0 gilt: xα N 1 x−α+1 dx = lim = lim N →∞ −α + 1 N →∞ xα 1 1 N −α+1 − −α + 1 −α + 1 8 1 < 1 1 α−1 = lim + = N →∞ (1 − α)N α−1 α − 1 :∞ falls α > 1 falls 0 < α < 1 . 3. Fall: Für eine Funktion f : [a, b] → R, die in c ∈ [a, b] eine Polstelle hat, definieren wir Z b Z c f (x) dx := a Z b f (x) dx + a Z c−ε f (x) dx = lim ε↓0 c Z b f (x) dx + lim δ↓0 a f (x) dx . c+δ 4. Fall: Gegeben sei eine stetige Funktion f : R → R. Dann definieren wir Z ∞ Z 0 f (x) dx := lim M →∞ −M −∞ Z N f (x) dx + lim Beispiel 9.9: (i) Wir wollen die Fläche unter der Funktion f (x) = Z ∞ 0 126 1 dx = lim N →∞ 1 + x2 Z N 0 N →∞ 0 f (x) dx . 1 bestimmen. 1 + x2 1 π π dx = lim (arctan N − arctan 0) = − 0 = N →∞ 1 + x2 2 2 Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Analog gilt auch: Z 0 −∞ 1 dx = lim M →∞ 1 + x2 Z 0 1 π dx = lim (arctan 0 − arctan −M ) = 0 − − M →∞ 1 + x2 2 −M = π 2 Zusammen erhalten wir also für die gesamte Fläche: Z ∞ −∞ 1 dx = 1 + x2 Z ∞ 0 1 dx + 1 + x2 Z 0 −∞ 1 π π dx = + = π 1 + x2 2 2 (ii) Ein Beispiel für ein nicht existierendes uneigentliches Integral ist Z N Z ∞ sin x dx = lim sin x dx = lim − cos x|N 0 = lim (1 − cos N ) N →∞ N →∞ N →∞ 0 0 wobei dieser Grenzwert nun offensichtlich nicht existiert. Lemma 9.2: 1 (i) Falls für die Funktion f eine Abschätzung der Art |f (x)| ≤ c · α mit α < 1 und für x alle 0 < x ≤ 1 gilt, dann existiert das Integral R1 f (x) dx. 0 (ii) Falls für die Funktion g eine Abschätzung der Art |g(x)| ≤ d · alle 1 ≤ x < ∞ gilt, dann existiert das Integral ∞ R 1 mit α > 1 und für xα g(x) dx. 1 Beweis: Hier soll nur eine Beweisskizze für Teil (ii) gegeben werden, bei welcher das Beispiel 9.8 (ii) Verwendung finden wird. Wir definieren für alle N ≥ 1 die Folge Z N Z N |g(x)| dx ≤ d G(N ) := 1 1 1 d dx ≤ xα α−1 . Damit sieht man sofort, dass G(N ) monoton wachsend und beschränkt ist, womit der Grenzwert Z N lim G(N ) = lim N →∞ N →∞ 1 |g(x)| dx immer existiert. Analoge Überlegungen liefern auch, dass der Grenzwert von Z N |g(x)| + g(x) dx H(N ) = 1 existiert. Zusammengesetzt erhält man also, dass Z N lim N →∞ 1 Z N g(x) dx = lim N →∞ 1 Z N g(x) + |g(x)| dx − lim existiert, wobei g(x) nicht zwangsläufig positiv sein muss. Beispiel 9.10: (i) Wir wollen das Integral N →∞ 1 |g(x)| dx ∞ R sin x dx betrachten und untersuchen, ob es existiert. Zunächst x 0 sin x sin x hat die Funktion bei x = 0 eine Lücke und keine Polstelle, denn es gilt lim = 1. x↓0 x x 127 9. Integralrechnung Mathematik für Werkstoffwissenschaftler Das zeigt, dass nur die obere Grenze durch einen Grenzübergang behandelt werden muss. Wir erhalten: Z ∞ 0 sin x dx = lim N →∞ x Z N 0 sin x dx = x Z π sin x dx + lim N →∞ x 2 0 Z N π 2 sin x dx . x Der erste Summand existiert, da die Funktion stetig ist. Daher betrachten wir nun nur noch den zweiten Summanden. Hier gilt: Z sin x cos x dx = − − x x Z cos x dx . x2 Damit erhalten wir: Z N lim N →∞ π 2 sin x cos x N dx = lim − − lim N →∞ x x π2 N →∞ = lim N →∞ cos N 0 − − π N 2 Z N = −0 + 0 − lim N →∞ Das Integral ∞ R π 2 π 2 Z N π 2 cos x dx x2 Z N − lim π 2 N →∞ cos x dx x2 cos x dx x2 . cos x dx existiert nach Lemma 9.2 (ii), denn es gilt die Abschätzung x2 1 cos x ≤ 1 · 2 für alle 1 ≤ x < ∞. 2 x x Somit existiert auch das gesuchte Integral ∞ R 0 sin x dx. An dieser Stelle sei nur noch erwähnt, x dass Folgendes gilt: Z ∞ 0 ∞ R sin x π dx = x 2 . sin x dx existiert hingegen nicht, was einen Unterschied zum endlichen x 0 Intervall darstellt. Zunächst gilt: (ii) Das Integral Z N π 2 sin2 x 1 dx = x 2 Z N π 2 1 − cos 2x 1 dx = x 2 Z N π 2 1 dx − x Z N π 2 cos 2x dx x Der erste Summand ist divergent und der zweite konvergent (würde wie in Teil (i) nach∞ sin2 x R dx nicht, bzw. es strebt gegen ∞. gewiesen werden). Damit existert das Integral π x 2 sin x π sin2 x ≥ Da für alle ≤ x < ∞ die Abschätzung gilt, existiert auch das Integral 2 x x ∞ R sin x dx nicht. x 0 Definition 9.5 (Die Gammafunktion): Wir definieren für alle x > 0 die Funktion Z ∞ Γ(x) := 0 128 e−t tx−1 dt Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung Zunächst sei bemerkt, dass diese Funktion wohldefiniert ist. Das soll heißen, dass das uneigentliche Integral für alle x > 0 einen endlichen Wert besitzt. 1. Fall (0 < x < 1): Hier gilt: Z ∞ −t x−1 e t Z 1 −t x−1 e t dt = Z ∞ dt + e−t tx−1 dt 1 0 0 1 Für den Bereich 0 < t ≤ 1 gilt die Abschätzung e−t tx−1 ≤ 1 · 1−x und da 1 − x < 1 ist, t existiert der erste Summand. Für den Bereich 1 ≤ t < ∞ gilt andererseits die Abschätzung ∞ R 1 e−t tx−1 ≤ e−t und da das Integral e−t dt = existiert, ist auch der zweite Summand e 1 endlich. 2. Fall (1 ≤ x < ∞): Hier erhalten wir durch die Aufspaltung Z ∞ Z 1 −t x−1 e t −t x−1 e t dt = Z ∞ dt + t 1 0 0 t e− 2 tx−1 e− 2 dt im ersten Summand ein ”normales Integral”, welches trivialerweise existiert. Im zweiten t Summand ist e− 2 tx−1 ≤ M , also beschränkt und das Integral ∞ R t e− 2 dt ist konvergent. 1 Damit existiert auch hier der Wert Γ(x). Eigenschaften der Gamma-Funktion Die Gamma-Fuktion ist immer positiv, d.h. Γ(x) > 0 für alle x > 0. Außerdem gilt: lim Γ(x) = ∞ lim Γ(x) = ∞ . sowie x↓0 x→∞ Den ersten Grenzwert erhält man durch die folgenden Überlegungen: Zunächst gilt für alle 0 < t ≤ 1 die Abschätzung: e−1 tx−1 ≤ e−t tx−1 ≤ tx−1 . Damit erhalten wir auch e −1 Z 1 Z 1 x−1 dt ≤ t −t x−1 e t 0 Z 1 dt ≤ 0 tx−1 dt 0 was äquivalent ist zu: −1 1 e x Z 1 ≤ e−t tx−1 dt ≤ 0 1 x . Eine wichtige Eigenschaft der Gamma-Funktion ist Γ(x + 1) = xΓ(x), welche man über partielle Integration nachweisen kann. Z ∞ Γ(x + 1) = e−t tx+1−1 dt = lim Z 1 ε↓0 0 1 Z 1 ε ε = lim −e−t tx + x ε↓0 Z 1 =x e−t tx−1 dt + x 0 Z ∞ =x ε e−t tx dt + lim e t e−t tx dt N →∞ N −e−t tx + x ε↓0 Z N 1 e−t tx−1 dt + lim e−ε εx − lim 1 −t x−1 N →∞ 1 e−t tx−1 dt + lim Z ∞ Z N N →∞ e−t tx−1 dt 1 e−N N x dt + 0 − 0 = x Γ(x) 0 129 9. Integralrechnung Außerdem ist Γ(1) = Mathematik für Werkstoffwissenschaftler ∞ R e−t dt = 1 und somit: Γ(2) = 1 · Γ(1) = 1, Γ(3) = 2 · Γ(2) = 2, 0 Γ(4) = 3·Γ(3) = 6 etc. Damit erhalten wir für alle n ∈ N: Γ(n+1) = n!. Daher wird Γ auch oft als die Erweiterung der Fakultät für beliebige positive reelle Zahlen x bezeichnet. Weiterhin ist Γ beliebig oft differenzierbar, konvex und besitzt ein lokales Minimum in x∗ ≈ 1, 4616 mit dem Minimalwert Γ(x∗ ) ≈ 0, 8856. Der Graph der Gamma-Funktion sieht in etwa so aus: y Γ(x) 3 2 1 x 1 2 3 Abbildung 57: Die Gamma-Funktion Γ(x) Mit Hilfe der Gamma-Funktion kann man eine geschlossene Formel für das Volumen der n-dimensionalen Einheitskugel Kn := {(x1 , x2 , . . . , xn ) ∈ Rn : x21 + x22 + . . . + x2n ≤ 1} und der Oberfläche ωn := {(x1 , x2 , . . . , xn ) ∈ Rn : x21 + x22 + . . . + x2n = 1} derselben angeben. Die Formel lautet: n |ωn | = 2π 2 Γ n2 . Wie man durch Einsetzen leicht überprüft gilt |ω2 | = 2π, was tatsächlich √ dem Umfang des π 3 Einheitskreises im R2 entspricht und mit dem Wissen, dass Γ = ist, erhält man 2 2 auch 3 2π 2 |ω3 | = 1 √ = 4π 2 π . Das Volumen der Einheitskugel im Rn ergibt sich aus: Z Z 1Z rn−1 dw dr = 1 dx = Kr 130 0 ωn n 1 1 |ωn | 2π 2 |ωn |rn = = n n nΓ n2 0 . Mathematik für Werkstoffwissenschaftler 9. Integralrechnung 9.5. Anwendungen Anwendung findet die Integralrechnung bei Kurvenintegralen und Volumenbestimmung von Rotationskörpern. 131