78 Maurice Ravel – Gedanken über das Wesen seiner Erkrankung und seinen Tod Maurice Ravel – Gedanken über das Wesen seiner Erkrankung und seinen Tod Klaus-Heinrich Bründel (Gütersloh) Zusammenfassung Ravel wurde am 7. März 1875 geboren. Seine hohe Musikalität wurde früh gefördert. Er starb mit nur 62 Jahren am 28. Dezember 1937 nach einer Hirnoperation in Paris. Persönlichkeit, Lebensstil, Kompositionen und seine Erkrankung, mit ihren Auswirkungen auf sein Leben, werden dargestellt. Es folgt eine kurze Darstellung des Gehirns, seine Funktion für Sprache und Musikalität einschließlich der neuronalen Verknüpfungen. Angeschlossen werden die Darstellung der frontotemporalen lobären Degeneration: Klinik, Pathologie, Differentialdiagnosen, Genetik, Neurochemie, Tau-Protein. Das Ende bilden Anmerkungen zur Problematik der Übertragbarkeit heutiger Diagnosen auf Probleme der Vergangenheit. Abstract Schlüsselwörter Neurologie, Wissenschaftsgeschichte, Musikgeschichte, Frontotemporale lobäre Degeneration, Tauopathie, Maurice Ravel Key Words Neurology, History of Science, Music History, Frontotemporal Lobar Degeneration, Tauopathy, Maurice Ravel Einleitung Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte sich ein großes wissenschaftliches Interesse, mögliche Zusammenhänge zwischen der Intelligenz herausragender Persönlichkeiten und ihren anatomischen Hirnstrukturen zu erforschen [33]. So sind bei Musikern oder Komponisten die Hirnstrukturen nicht nur in ihrer physiologischen Funktion, sondern auch in ihrem pathologischen Zustand gegenüber der „Normalbevölkerung“ außergewöhnlich [23]. Zu ihnen gehört der französische impressionistische Komponist Maurice Ravel (1875–1937), der unter degenerativen Hirnveränderungen litt, die bis heute keiner eindeutigen Diagnose zuzuordnen sind, zumal eine Autopsie zur Abklärung der Ätiologie seiner Erkrankung unterblieben war. Dies gab Anlass zu vielen spekulativen und kontroversen Diskussionen – auch im Hinblick auf die Auswirkungen auf seine musikalische Schaffenskraft – in der neurologischen und musikalischen Fachwelt, nachdem 1948 mit dem Artikel „aphasia and artistic realization” des französischen Neurologen Théophile Alajouanine ein Meilenstein zum Thema „Wernickes Aphasie Maurice Ravel – A Reflection on the Nature of his Disease and on his Death This presentation provides neurological and medical-historical information on the life and death of the famous composer Maurice Ravel. Signs and symptoms, pathology, differential diagnosis, genetics, neurochemistry, and laboratory findings such as tau-protein will be discussed. Ravel’s disease can possibly be classified as a frontotemporal lobar degeneration with fatal consequences for the composer’s life, leading to his early death at the age of 62. Some remarks are included on the difficulty of applying todays diagnoses and approaches to a problem of the past. und künstlerische Gestaltung am Beispiel Maurice Ravels“ gesetzt wurde [1]. Im Folgenden soll unter Berücksichtigung der aktuellen Hirnforschung die Ätiologie der Erkrankung Maurice Ravels erneut beleuchtet und das mögliche Vorliegen einer frontotemporalen lobären Degeneration (FTLD) überprüft werden. Bibliographie und Persönlichkeit Der französische Komponist Maurice Ravel wurde am 07. März 1875 in der französischen Kleinstadt Ciboure im Département Pyrénees-Atlantique als erster von zwei Söhnen geboren. Seine musikalische Begabung, zu der musikalisches Vorstellungsvermögen, musikalisches Gedächtnis, rhythmisches Empfinden und Erfassen musikalischer Strukturen gehören, verdankte Ravel seinen Eltern. Seine Mutter, ein baskisches Mannequin und Sängerin, und sein Vater, ein Genfer Ingenieur der Automobilindustrie und erfolgreicher Pianist, erkannten und förderten die musikalische Anlage ihres Sohnes. So begann seine Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 2. Jg. 21 79 musikalische Erziehung im Alter von sieben Jahren, dem ein Studium am Konservatorium für Musik in Paris von 1889–1895 und sich anschließende Studien bei Fauré und Gédalge bis 1905 folgten. 1905, mit 33 Jahren, befand er sich auf den Zenit seiner Karriere als Meister origineller Orchestermusik [16]. Kopf. Er kleidete sich auffällig und elegant, geradezu dandyhaft, gab sich gefühlsscheu, distanziert und ironisch, wobei er einen „höchst eigentümlichen Zug zur Kindlichkeit bekundete“ [35]. Er war Kettenraucher (Caporalzigaretten) und Liebhaber starken Kaffees, schwerer Weine und scharfer Gewürze. Zeit seines Lebens war er nicht verheiratet, hatte nicht einmal intime Beziehungen zu Frauen, „seine einzige Liebe war die Musik“ [35]. Krankheitsvorgeschichte und -verlauf Ravels Leben, seine Entwicklung zum führenden Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts, seine starken seelischen Belastungen und ihr Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen sind in sorgfältigen Biographien dargestellt [16, 35, 31, 34]. Eine eingehende Analyse der Briefe von Ravel an seine Freunde und Wegbegleiter sowie Äußerungen seiner behandelnden Ärzte, erlauben einen tiefen Einblick in seine körperliche und seelische Gesundheit [35] und spiegeln den Beginn und Verlauf seiner Erkrankung wider [16, 35, 31, 34, 26, 30]. Eigene Schilderungen seiner Abb. 1: Maurice Ravel. Portrait von Ludwig Nauer (*1988) um 1930 aus [32] Befindlichkeit zeigen einen ängstlichen, chronisch müden, Während des ersten Weltkriegs trat er der Armee bei, schlaflosen, neurasthenischen Menschen. So schrieb aus der er 1917 wegen Erfrierungen, die er sich im der Komponist 1911 an Helene Kahn-Cassela: Winter 1916/17 zugezogen hatte, entlassen wurde; „Ich war in einem bemitleidenswerten Zustand, denn bei den ihm 1920 angebotenen Orden eines Ritters der mir nimmt das Komponieren den Anschein einer schweren Ehrenlegion lehnte er ab. Ab Mitte der 20er Jahre Krankheit an: Fieber, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit.“ unternahm er zahlreiche Konzertreisen durch Europa, Auch Depressionen und ein Gefühl von auf denen er seine Werke als Pianist und Komponist Unzulänglichkeit plagten Ravel ein Leben lang [35, vorstellte. 1928 trat er eine viermonatige Tournee durch 31, 26]. Da die „neurasthenischen Beschwerden“ im die USA und Kanada an. Im selben Jahr wurde ihm die Laufe der Jahre zunahmen, unterzog er sich diversen Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen. Kuren zur Stabilisierung seines GesundheitszuAm 28. Dezember 1937 starb Ravel im Alter von 62 standes, der geprägt war von beginnender Jahren, wenige Tage nach einer Hirnoperation in Paris. Schlaflosigkeit, Fieberschüben, unerträglichen Kopfschmerzen, unregelmäßigem Puls und einer Ravel war von kleiner Statur (1,53 m) mit einem für anhaltenden Anämie. Der Umstand, dass sein Bruder seinen schlanken Körper unverhältnismäßig großen und er bis zu seinem 42. Lebensjahr im Elternhaus 80 Maurice Ravel – Gedanken über das Wesen seiner Erkrankung und seinen Tod lebten, trugen sicher dazu bei, dass der Tod der Eltern – sein Vater starb im Oktober 1908, seine Mutter im Januar 1917 – sowie die Kriegserlebnisse im ersten Weltkrieg zu einer seelischen Verwandlung bei ihm führten. Es tauchten Gefühle der Trauer, Einsamkeit und Lebens- sowie Todesängste auf und führten bei dem Komponisten 1920 zu einer langandauernden „neurasthenischen“ Episode [32, 35]. Sein behandelnder Arzt Prof. Pasteur ValléryRodot berichtete zudem über eine extreme geistige Erschöpftheit (fatigue intellectuelle) bei Ravel [34]. Im Jahre 1927 zeigten sich bei ihm erstmals gelegentlich auftretende Schwierigkeiten Klavier zu spielen und erste Symptome einer Dysphasie [19]. In Oktober 1932 nach einem Autounfall während einer Taxifahrt in Paris, bei dem er eine Kopfverletzung, den Verlust einiger Zähne und eine leichte Gehirnerschütterung davontrug, machten sich erhebliche Störungen in der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit bemerkbar, sodass es ihm nicht mehr möglich war, jede weitere seiner musikalischen Kompositionen zu vollenden. Die Folge war ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben und nur noch wenige Konzertauftritte in Frankreich und Belgien [19]. 1933 war das entscheidende Jahr in Ravels Krankengeschichte: Es traten Koordinations- und Bewegungsstörungen auf und er hatte Schwierigkeiten, Briefe und seinen Namen zu schreiben. So äußerte sich Ravel 1934 in einem Brief an die Freundin Marie Gaudin über „eine anemie cerebrale und eine Langsamkeit, ihre Briefe zu beantworten“ [34]. Symptome einer Alexie kamen hinzu. Dennoch waren seine Schwierigkeiten eher motorischer und expressiver Natur, denn Musik konnte er noch wahrnehmen und schätzen und auch sein musikalisches Gedächtnis war intakt [39], allerdings konnte er seine eigenen Stücke nicht mehr spielen, weder aus dem Gedächtnis noch vom Blatt, weshalb in einigen Arbeiten auch der Ausdruck Dysmusie verwendet wird [9]. Der französische Neurologe François Boller beschrieb es so: „Er verlor nicht die Fähigkeit, Musik zu komponieren, sondern er verlor die Fähigkeit, sie auszudrücken“[2]. Während eines Klinikaufenthaltes am Genfer See, wegen einer hochgradigen Depression, wurden neben zerebraler Anämie, mentaler Fatigue auch die Diagnosen Apraxie, Aphasie, Agraphie und Amusie gestellt [35, 30]. Weitere Symptome waren Insomnie, Störungen der Konzentration und des Sensoriums, orthographische Fehler, Händezittern und Angstzustände [35, 31]. Im Herbst 1937 verschlechterte sich der Zustand Ravels zunehmend, er konnte nicht einmal mehr Musikentwürfe, die seine Gedanken füllten, zu Papier bringen und so wurde ihm unter dem Verdacht auf einen Hirntumor oder einen Hydrocephalus mit zunehmender Hirndrucksymptomatik angeraten, sich einer Gehirnoperation zu unterziehen. So entschied sich der Neurochirurg Clovis Vincent am 17. oder 19. Dezember 1937 zu einer explorativen, rechtsseitigen Kraniotomie, in deren Folge Ravel am 28. Dezember verstarb [19]. Diagnosen und mögliche Differentialdiagnosen Der behandelnde Chirurg Vincent hatte auch nach durchgeführter Operation keine Erklärung für die Erkrankung Ravels gefunden, denn Hinweise für eine Atrophie oder Erweichung der Gehirnsubstanz fanden sich laut seinen Angaben nicht, was auch daran lag, dass er die Kraniotomie auf der rechten Seite durchführte [19]. Andererseits zitierte Stegemann den klassischen makroskopischen Befund einer frontotemporalen Demenz vorrangig der linken Hemisphäre [34]. Schon der französische Neurologe Alajouanine, der sich mit der Erkrankung Ravels auseinandersetzte, vermutete bei dem Komponisten eine degenerative Erkrankung der Hirnrinde, die jedoch, abweichend von der Pick-Krankheit, besonders das Wernickesche Sprachzentrum betraf [35, 31]. 1892 hatte Arnold Pick erstmals bei einem dementen Patienten eine Form der frontotemporalen Demenz mit ausgeprägter Aphasie und linksseitiger Temporallappenatrophie beschrieben, die dann als Pick-Krankheit – früher Picksche Krankheit – benannt wurde und später nach der ICD-10-Codierung in G31.0 umschriebene Hirnatrophie – Pick-Krankheit und F 02.0 Demenz bei Pick-Krankheit klassifiziert wurde [22]. Es zeigte sich aber, dass die Meinungen über das Wesen von Ravels Erkrankung und seinen Tod in der Literatur weit auseinandergehen (siehe Tabelle 1). So wurden verschiedene andere Krankheiten wie die Alzheimer Krankheit, eine traumatische Hirnschädigung oder eine chronische endokrine Dysfunktion aufgrund 81 Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 2. Jg. 21 Autor Jahr Todesursache Erkrankung Symptome Stuckenschmidt [35] 1966 keine keine Mahieux u. Laurent [20] 1988 subdurales Hämatom Schumann [27] 1991 Gehirntumor Herzfeld [14] 1993 Sergent [30] 1993 Seddon [28] 1995 Jankelevitsch [15] 1995 Demenz Baeck [5] 1996 Corticobasale Degenration Kelly [18] 2001 Pick’ disease Pritzel, Markowitsch [26] 2003 Linksseitiger Schlaganfall Otte et al. [25] 2001 Baeck [4] 2002 postoperativ selektive fokale zerebrale Degeneration Schlaganfall Hirnembolien Primäre progressive Aphasie / Pick’s disease in Zusammenhang mit Autounfall Pick-Komplex (FTD, PPA und CBD) Otte et al. [24] 2003 Schleudertrauma-Syndrom in Kombination mit zerebralen Störungen Cardoso [8] 2004 PPA / Pick disease und CBD Stegemann [34] 2005 Spitzer [32] 2005 Anderson [3] 2006 Taxiunfall 1932 Janowski [16] 2007 Pick-Krankheit Sellal [29] 2008 fokale parietale Atrophie Warren, Rohrer [40] 2009 Progranulinopathie Kanat et al. [17] 2010 Cavallera et al. [9] 2012 postoperativ Kraniotomie ventrikuläre Dilatation; linke Gehirnhälfte in ihrer Kammer zusammengefallen Abbauprozess im linken oberen Temporalhirn und angrenzendem Parietalhirn Pick Krankheit und traumatische Hirnschädigung durch Autounfall zerebrale Taupathie wegen Progranulin-Mutation („Pick-Komplex“) Tabelle 1: Verschiedene Differentialdiagnosen zur Erkrankung und zum Tod Ravels Apraxie, Agraphie, Dysphasie Aphasie Aphasie, Agraphie, Apraxie, Alexie Störzungen in Konzentration, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Kopfschmerzen, Tinnitus Amusie Apraxie, Alexie, Agraphie 82 Maurice Ravel – Gedanken über das Wesen seiner Erkrankung und seinen Tod seines Infantilismus und seiner Asexualität in Betracht gezogen [19], obwohl aufgrund der Vorgeschichte und Symptome eine frontotemporale Demenz (Pick-Komplex) am wahrscheinlichsten war, die in der neueren Nomenklatur nach Tolnay und Frank als frontotemporal lobar degeneration (FTLD) bezeichnet wird [36]. mit der Unfähigkeit, neue Stücke zu komponieren, beobachtet werden konnte [19, 17]. In die differentialdiagnostischen Überlegungen gingen zudem ein chronisches subdurales Hämatom und ein Wirbelsäulen-Schleudertrauma nach dem Autounfall [20, 5, 23] und eine mentale Erschöpfung ein. Obwohl Ravel ein starker Raucher Gegen eine Alzheimer Krankheit sprechen auch war, fanden sich keine Hinweise für das Vorliegen der Erhalt seiner kognitiven Fähigkeiten und das einer Arteriosklerose und eine Syphilis-Infektion intakte semantische und visuospatiale Gedächtnis konnte ebenfalls ausgeschlossen werden [35, 31]. [19]. Die genannten Defizite im Konzentrations- Jedoch konnte bis heute keine überzeugende Diagnose der Erkrankung Ravels zugeordnet werden. Das klinische Bild entspricht zwar einer linksseitigen frontotemporalen lobaren Demenz [39], jedoch wurde auch eine mögliche Überlagerung verschiedener zerebraler Pathologien wie eine primäre progressive Aphasie (PPA) / Pick Krankheit und eine corticobasale Degeneration (CDB) zur Diskussion gestellt [9, 5, 8, 4]. Letztere schlossen andere Autoren dagegen aus, da Ravel noch bei seiner Marokkoreise im Jahr 1935 Bewegungsabläufe mit einer präzisen manuellen Koordination zeigte, die nicht dem Bild einer corticobasalen Degeneration entsprechen, eher schlossen sie auf eine trauAbb. 2: Obere Reihe – Normales Gehirn [22], Querschnitt mit intakten Tempo- matische Hirnschädigung als rallappen [22]; Untere Reihe – Gehirnatrophie der frontotemporalen Lappen bei mögliche Comorbidität [2, 24, Pick-Krankheit [34], Querschnitt mit zerstörten Temporallappen, die Ventrikel klaf- 29]. fen in die leeren Räume [22] und Aufmerksamkeitsvermögen Ravels sowie seine Unfähigkeit, Kompositionen zu beenden, werden als Hauptsymptome in Folge traumatischer Hirnschädigungen gewertet, wie sie auch nach einem Schleudertrauma auftreten können. Deshalb sahen einige Autoren den Autounfall als Schlüsselerlebnis seiner Erkrankung, bei dem eine mögliche traumatische Hirnschädigung eine Pick Krankheit getriggert haben könnte, wofür auch spricht, dass Ravel sich nach dem Unfall nie wieder richtig erholte und innerhalb des Folgejahres ein rapider Progress seiner Erkrankung Gedächtnis – Gedächtnisleistung – Hören – Schreiben Bevor die heutigen Erkenntnisse über eine frontotemporale Demenz (frontotemporal lobar degeneration) mit den Symptomen und Befunden Maurice Ravels verglichen werden, soll das Gedächtnis und seine Leistung in Maß und Zahl erläutert sowie der Prozess des Hörens und Schreibens kurz beschrieben werden. Unter Gedächtnis versteht man ein gespeichertes Muster von Verbindungen zwischen Neuronen im Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 2. Jg. 21 83 Gehirn. Die ca. 100 Billionen solcher Neuronen liegen in einem dichten Parenchym multifunktionaler Gliazellen, die Myelin synthetisieren, die Homöostase sichern und die Immunantwort regulieren. Jedes Neuron kann 5.000–10.000 synaptische Verbindungen mit anderen Neuronen eingehen, wodurch ein neuronales Netzwerk entsteht. Im durchschnittlichen Gehirn eines Erwachsenen liegen in der Gesamtheit ca. 500–1000 Trillionen Synapsen vor. Jedes Gefühl, jeder Gedanke, den wir haben, verändert die Verbindungen innerhalb dieses riesigen Neuronennetzwerks. Synapsen werden dabei verstärkt, geschwächt oder neu gebildet. Die medialen Temporallappen enthalten den Hippocampus, der zusammen mit den angrenzenden Hirnregionen unsere Wahrnehmungen in Langzeiterinnerungen transformiert [21]. Netzwerk, von dem man weiß, dass es die Sprachverarbeitung unterstützt – weniger bereichsspezifisch ist, als früher angenommen und auch zur Verarbeitung musikalischer Informationen genutzt wird (Abb.4). Besonders bei professionellen Musikern ist die linke Hemisphäre in die musikalischen Entwicklungsprozesse einbezogen [37]. Auch das Schreiben ist an unser Gehirn adaptiert, sodass jeder Mensch seine eigene individuelle Handschrift besitzt. Beim Schreiben – einem komplexen Vorgang – werden verschiedene Gehirnareale aktiviert: das Zentrum für die Motorik, die Sprachregion, das Areal für das Sehen und die visuelle Verarbeitung sowie Gedächtniskerne. So ist die Schrift Zeichen einer intakten Hirnfunktion. Die Abbildung 2 zeigt in der oberen Reihe ein gesundes Gehirn mit intakten Temporallappen, in der unteren Reihe zeigt sich eine frontotemporale Gehirnatrophie bei der PickKrankheit mit durch Zelltod zerstörten Temporallappen. Das Hören als neuronales Netzwerk veranschaulicht Abbildung 3. Während das Auge 100 Millionen Lichtrezeptoren besitzt, hat das Innenohr nur 3.500 Haarzellen. Trotzdem wird beim Hören von Musik das gesamte Gehirn aktiviert, Endorphin ausgeschüttet und ein Chill ausgelöst – „wie beim Hören des Bolero“ [27, 28, 7]. Die Areale Broca und Wernicke, der Sulcus temporalis superior, die Heschl’sche Windung sowie der anteriore superiore Inselrindenbezirk sind die Gehirnstrukturen, die eine wesentliche Rolle beim Sprachverständnis spielen [15]. Neue Forschungen mit der funktionellen MRT-Bildgebung haben ergeben, dass das menschliche Gehirn – dieses neuronale Abb. 3: Ein gigantisches neuronales Netzwerk – rechts sind die am Hören beteiligten Neuronen aufgeführt, deren Anzahl von der Cochlea bis zum auditorischen Cortex enorm zunimmt [32]. 84 Maurice Ravel – Gedanken über das Wesen seiner Erkrankung und seinen Tod Abb. 4: Links – Lage des motorischen Sprachzentrums (Broca) und des sensorischen Sprachzentrums (Wernicke) [32], rechts: linke Seitenansicht des Gehirns mit dem bei Ravel vermutlich geschädigten Gehirnbereich (grau). Die Areale überlappen mit den beim vom Blatt spielen aktivierten Bereichen des Gehirns [32]. Die frontotemporale Demenz / FTLD: Neurochemische Pathogenese – Klinik – Diagnostik Ein breites Spektrum neurologischer Untersuchungen bei Verdacht auf das Vorliegen einer FTLD ist in zahlreichen Studien dargestellt worden, um die Pathologie, die Genetik und Neurochemie dieses Krankheitsbildes zu ergründen [22, 36, 10, 38, 13, 6]. Besonders die Molekulargenetik hat der Neurologie faszinierende Einsichten gewährt, sodass 350 krankheitsverursachende Gene bisher identifiziert worden sind und mehr als 1000 neurologische Erkrankungen durch Genmapping verschiedenen Chromosomen zugeordnet werden konnten. Beispiele für seltene monogene Ursachen sind Mutationen des Amyloid-Vorläuferproteins bei der familiären Alzheimer Erkrankung, das α-Synuklein bei der Parkinson Erkrankung oder des Mikrotubuliassoziierten Proteins Tau bei der frontotemporalen Demenz [12, 11]. Der Begriff der frontotemporalen lobären Degeneration (FTLD) umfasst neurodegenerative Krankheitsbilder, die im Frontalund Temporallappen des Gehirns auftreten. Zu ihren Unterformen gehören die frontotemporale Demenz (FTD), die primäre progressive Aphasie (PPA) und die semantische Demenz (SD) [36]. Genetische Faktoren: Bei der frontotemporalen Demenz konnte als ein Auslöser eine Mutation des Microtubuli-assoziierten Proteins Tau (MAPT) codierten Gens, das auf dem Chromosom 17q21 lokalisiert ist, identifiziert werden [11]. Kausale Gene und Chromosomen einer FTLD sind Tau-Exon (H1 tau) und Intron-Mutationen, in deren Folge Tau-Protein-Einschlüsse, so genannte „Pick-Körper“, durch Aggregation und Ausbildung eines neurofibrillären Netzwerks entstehen. Auch eine Anhäufung des Proteins TDP-43 in den Nervenzellen wird vermutet und tritt in 10 % der familiären Fälle auf [6]. Dabei scheint eine Mutation des sekretorischen Wachstumsfaktor Progranulin (GRN)-Gens ursächlich an der familiären FTLD zu sein, weshalb im Falle Ravels auch die hypothetische Diagnose einer zerebralen TDP-43-Pathie aufgrund einer Mutation des GRN-Gens gestellt wurde [40]. Eine neue Einteilung folgt dem Nachweis oder Fehlen dieser neuronalen fibrillären Tau-Einschlüsse, sodass heute von Tauopathien oder Non-Tauopathien (z. B. eine FTLD mit Ubiquitin-positiven neuronalen Einschlüssen) gesprochen wird. Die frontotemporale lobäre Degeneration (FTLD) wird nach Tolnay und Frank den Tauopathien zugerechnet. Nach der Anzahl der Tandem Repeats, den Wiederholungen an der Mikrotubuli-Bindungsstelle, werden Tauopathien oftmals noch in 3R- und 4R-Tauopathien unterteilt. Zu den Prädominanten 3R-Tauopathien zählen die Prick-Krankheit und die FTLD-MAPT [36]. Epidemiologie: Die Prävalenz der FTLD wird mit unterschiedlichen Fallzahlen angegeben, kann aber bei bis zu 50/100.000 liegen. Die Erkrankung beginnt Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 2. Jg. 21 85 zwischen dem 45. und 69. Lebensjahr, wurde aber auch schon bei unter 30-Jährigen beschrieben. Sie ist die zweithäufigste Demenzerkrankung der unter 65-Jährigen. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 53 Jahren. Die Geschlechtsverteilung zwischen Männern und Frauen wurde mit 3 : 4 bis 14 : 3 recht variabel beschrieben [10]. Tau-Proteins im Liquor auch bei entzündlichen Prozessen und anderen neurodegenerativen Prozessen eine pathologisch erhöhte Konzentration aufweisen [36, 41]. Neben einer neurologischen Untersuchung stehen heutzutage zur Abklärung einer frontotemporalen Demenz / FTLD ein EEG sowie verschiedene bildgebende Verfahren wie die Computertomographie oder Magnetresonanztomographie zur Verfügung, anhand deren im Verlauf Atrophien des Frontal- und Temporallappens sowie die Erweiterung der Fissuren und Sulci darstellbar sind [10]. Die Single-PhotonEmissionscomputertomographie (SPECT) sowie die funktionelle Kernspintomographie bleiben dagegen Forschungsfragen vorbehalten [30, 24]. So konnte Sergent durch eine SPECT-Untersuchung an Versuchspersonen die nicht musikalischen Funktionsverluste (Aphasie, Apraxie, Agraphie, Alexie) von musikalischen Funktionsverlusten (Notenlesen, Notenschreiben, Komponieren, vom Blatt spielen, auswendig spielen) unterscheiden und ausgesparte, erhaltene musikalische Funktionen nachweisen: Hörfunktionen, Tonleitern spielen, Erinnerung eigener Stücke, musikalisches Denken [30]. Klinik: Je nach Lokalisation des neurodegenerativen Prozesses unterscheidet man drei neurobehaviorale prototypische Syndrome, die durch die FTLD verursacht werden: die frontale oder Verhaltensvariante, die semantische Demenz und die progressive non fluent Aphasie. So zeigen die Patienten klinisch Verhaltens- und bzw. oder Sprachauffälligkeiten. Erste Symptome sind Apathie, Störungen der Urteilsfähigkeit, des Verständnisses, der Sprache und Esssucht. Die Verhaltensauffälligkeiten bestimmen die frühe Phase der Erkrankung, wobei das Gedächtnis lange intakt bleibt. Ferner treten Ängstlichkeit, Hypochondrie, Interessensverlust und Aphasie auf [6]. Diagnostik: Die histologischen Hauptbefunde bei der Pick-Krankheit sind ein schwerwiegender Verlust der Neuronen, ballonierte Neuronen und pathognomonische argyrophile Einschlüsse in den Nervenzellen wie die Pick-Körper (Abb. 5) [36]. Abb. 5: Tau-gefärbte Pick-Körper in der Granulazelllage des Gyrus dentatus [36] Zum Screening auf eine FTLD eignet sich die Bestimmung von Gesamt- und phosphoryliertem Tau-Protein im Liquor [41]. Die Tau-Proteinkonzentration im Liquor bei < 60Jährigen liegt unter 150 ng/l, bei über 60-Jährigen < 250 ng/l. Allerdings kann die Konzentration des Überschaut man Maurice Ravels Leidensweg, waren ein Teil der oben genannten Symptome Teil seiner Primärpersönlichkeit. Der langsame Beginn und das allmähliche Dominieren von Frontalhirnsymptomen machen eine frontotemporale Demenz bei Pick-Krankheit wahrscheinlich, die auch schon der behandelnde Neurologe Alajouanine diagnostiziert hatte. Auch sein Lebensalter bei Erkrankungsbeginn und die Auswirkungen der Erkrankung auf seine Persönlichkeit sowie sein Dasein als Komponist könnten das Vorliegen einer linksseitigen frontotemporalen lobären degenerativen Störung bestätigen. In Anbetracht neuer molekularbiologischer Erkenntnisse über die Ätiologie ist auf dem Boden einer Mutation neuronaler Gene die Diagnose einer frontotemporalen lobären Degeneration sehr wahrscheinlich. Wegen der Vielzahl diagnostischer Möglichkeiten wäre in der heutigen Zeit auch der operative Eingriff, der nicht indiziert war, dem Komponisten erspart geblieben. 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