I.4 Bestimmungsfaktoren der realen Konvergenz Rahmen des Erweiterungsprozesses nicht überbewertet werden sollte. Da die Annäherung des Pro-Kopf-Einkommens in den mitteleuropäischen Ländern an das EU-Niveau ein langfristiger Prozess ist, erscheint ein Ansteigen der Auswanderung jedoch als nahezu sicher, sobald diese keinen Restriktionen mehr unterworfen ist. Nach Schätzungen könnte die Nettozuwanderung in die Europäische Union sofort nach Beseitigung der Hindernisse etwa 335.000 Personen pro Jahr betragen. Diese Zahl dürfte sich jedoch innerhalb eines Jahr8 zehnts auf unter 150,000 verringern. Bis dahin könnte die Zahl der Menschen aus mitteleuropäischen Ländern, die in der Europäischen Union leben, 2,9 Millionen erreichen und 10 Jahre später auf 3,7 Millionen gestiegen sein, bis 30 Jahre nach der Einführung der Freizügigkeit ein Höchststand von 3,9 Millionen erreicht wird. Dies hat zur Folge, dass der Anteil der Einwohner mit der Staatsbürgerschaft eines mitteleuropäischen Landes in den bestehenden EU-Mitgliedstaaten innerhalb der nächsten 30 Jahre von 0,2 % der Gesamtbevölkerung im Jahre 1998 auf etwas über 1 % ansteigen wird. Nach diesen Schätzungen erscheint die Sorge, dass die EU-Arbeitsmärkte von den Einwanderern aus den mitteleuropäischen Ländern überschwemmt werden, als grundlos. Die Wanderungsströme aus den mitteleuropäischen Ländern werden voraussichtlich hauptsächlich nach Deutschland und Österreich fließen, wo die Zahlen bereits jetzt hoch sind. Gemäß den Schätzungen werden 65 % der Auswanderer nach Deutschland einwandern und 12 % nach Österreich. Innerhalb dieser Länder werden sich die Auswanderer vor allem in den Grenzregionen und wirtschaftlichen Zentren ansiedeln, in Deutschland in den Regionen im Süden, die an die Tschechische Republik grenzen, weniger aber in den neuen Bundesländern, in Österreich in den Gebieten im Osten des Landes. In Regionen mit Grenzen zu den mitteleuropäischen Ländern werden sich die Zuwanderung und der Pendlerverkehr wahrscheinlich zeitweise erhöhen. Diese Konzentration könnte in den betroffenen Gebieten zu sozialen Spannungen führen. … und könnte den Arbeitskräftemangel lindern Die vielleicht interessanteste und möglicherweise wichtigste Schlussfolgerung der jüngsten Untersuchungen lautet, dass es in den mitteleuropäischen Ländern im Gegensatz zur Europäischen Union in den nächsten zehn Jahren ein starkes Wachstum bei den Jugendlichen im Alter von 20 bis 35 Jahren geben wird. Das stellt eine Chance für die erweiterte Europäische Union dar. Denn es eröffnet den Arbeitgebern die Möglichkeit, junge Menschen mit hohem Bildungsniveau anzustellen. Wenn sich der konjunkturelle Aufschwung mit der heute prognostizierten Geschwindigkeit fortsetzt, wird dies in einer Zeit der Fall sein, in der der Fachkräftemangel ein größeres Ausmaß annehmen wird. Es Hinweise darauf, dass in einigen Regionen der Europäischen Union auch in den Wirtschaftszweigen mit geringeren Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmer Arbeitskräftemangel herrscht, selbst in Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit relativ hoch ist. Die Einwanderer könnten die Lücken in diesen Regionen schließen. Gleichzeitig müssen jedoch entsprechende Maßnahmen durchgeführt werden, um die Betreffenden in die lokale Gemeinschaft zu integrieren und ihre soziale Ausgrenzung zu verhindern. In einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung der Kommission zur Einwanderungspolitik der Gemeinschaft (COM(2000)757) wird die Einführung einer kontrollierten Einwanderungspolitik vorgeschlagen. Dadurch soll den Problemen aufgrund der demographischen Entwicklung begegnet werden. Betont wurde der potentielle Beitrag der Einwanderung zur europäischen Beschäftigungsstrategie. Die Abwanderung junger Menschen könnte kurz- und mittelfristig dazu führen, dass sich das Entwicklungspotential in den Regionen, aus denen die Auswanderer stammen, verringert. Unter den Auswanderern wird sich eine überproportional hohe Zahl von Hochqualifizierten befinden. Doch könnte ihre Rückkehr die Entwicklung in den mitteleuropäischen Ländern aufgrund des „ Imports“ der erworbenen Qualifikationen und Fachkenntnisse stimulieren. Die Erweiterung wird die EU-Arbeitsmärkte voraussichtlich nicht vor ernste Probleme stellen Es ist unwahrscheinlich, dass die Einführung der Freizügigkeit große Auswirkungen auf die EU-Arbeitsmärkte insgesamt haben wird, sie könnte jedoch die Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße betreffen, je nach den bestehenden Bedingungen. Die mitteleuropäischen Länder sind im ökonomischen Sinne derzeit als „ klein“ zu bezeichnen, wodurch ausgedrückt werden soll, dass steigende Importe aus diesen Ländern die Preise auf den EU-Gütermärkten sowie nachfolgend auch die Löhne und den Beschäftigungsstand nur in beschränktem Ausmaß beeinflussen werden. Nach einer jüngst durchgeführten Untersuchung wird beispielsweise die Einwanderung in den nächsten 15 Jahren durchschnittlich etwa 200.000 Personen pro Jahr betragen, wodurch das Einkommen nur um 1 % verringert 9 werden wird. In den Grenzgebieten könnten die Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte jedoch einschneidender sein. Dies gilt auch für die Wirtschaftszweige, die der Konkurrenz durch Importe aus mitteleuropäischen Ländern am stärksten ausgesetzt sind. Die Nähe zu den neuen Märkten eröffnet andererseits auch neue Gewinnmöglichkeiten. Investitionen Investitionen sind in den Bewerberländern der Schlüssel zum Wachstum Investitionsindikatoren sind ein gutes Barometer für das Wachstumspotential einer Wirtschaft (siehe Schaubilder 10 A.10 und A.11). Die durch die Höhe der Bruttoanlagein- 47 I.4 Bestimmungsfaktoren der realen Konvergenz vestitionen gemessenen Investitionen waren 1998 im Vergleich zum BIP in den Bewerberländern höher als in den EU-Mitgliedstaaten: 25 % des BIP im Vergleich zu 20 %. Es ist von großer Wichtigkeit, dass dieser Unterschied erhalten oder sogar noch vergrößert wird, wenn die Bewerberländer die für die Angleichung an die EU-Wirtschaft benötigten hohen Wachstumsraten erzielen wollen. Hohe Investitionssummen an sich sind jedoch keine Erfolgsgarantie, sie müssen sinnvoll eingesetzt und an den technischen Fortschritt gekoppelt werden (siehe unten). Sie stellen aber eine notwendige Bedingung dar. Das Investitionsniveau in den einzelnen Bewerberländern unterscheidet sich erheblich. In der Tschechischen Republik, der Slowakei und Polen liegen die Investitionen bei 25 % bis 35 % des BIP. Im Gegensatz dazu befinden sich diese in den Ländern mit dem niedrigsten Pro-Kopf-BIP weit darunter (in Bulgarien im Jahre 1998 nur etwa 11,5 % des BIP). Innerhalb der Europäischen Union verzeichnet Portugal, das Land mit dem zweitniedrigsten Pro-Kopf-BIP, im Vergleich zum BIP die höchsten Investitionen (28 %), während der Wert in Spanien, Griechenland und Irland ebenfalls weit über dem EU-Durchschnitt liegt. Auf der anderen Seite weist Schweden, dessen Pro-Kopf-BIP in etwa dem EU-Durchschnitt entspricht, das niedrigste Niveau auf (17 % des BIP). Kapitalbestand: rückständige Volkswirtschaften müssen noch viel aufholen Für die Beurteilung der Auswirkung der Anlageinvestitionen auf die wirtschaftliche Entwicklung muss außer den aktuellen Investitionen auch der akkumulierte Kapitalbestand berücksichtigt werden, der in den Bewerberländern nach 9 15 11 und nach aufgebaut wurde. Allerdings beruhen diese Daten zum großen Teil auf Schätzungen und sollten nur als Näherungswerte betrachtet werden. Dennoch können einigen interessante Schlussfolgerungen gezogen werden. Die wesentlichste Erkenntnis besteht darin, dass reichere Länder einen höheren Kapitalbestand aufweisen als ärmere. In den drei Kohäsionsländern wurde der Kapitalbestand 1999 lediglich auf 33.000 EUR pro Kopf geschätzt, im Gegensatz zu 54.000 EUR in der Europäischen Union insgesamt und 75.000 bis 80.000 EUR in Dänemark, Deutschland und Österreich (siehe Tabelle A.19 und Schaubilder A.12 und A.13) Die Kohäsionsländer erreichen demnach nur 60 % des in der Europäischen Union insgesamt verfügbaren Pro-Kopf-Kapitals. Da der Kapitalbestand über viele Jahre hinweg aufgebaut wird, ändert es sich in der Regel nur langsam und wird von vergangenen Investitionen bestimmt. Das gilt vor allem für Gebäude, die jahrzehntelang genutzt werden können, aber auch Maschinen und Einrichtungen haben oft eine Lebensdauer von zehn Jahren oder mehr. Dennoch verringert sich aufgrund der höheren Investitionsrate die Lücke zwischen den Kohäsionsländern und dem Rest der Europäischen Union – wenn auch langsam: vor zehn Jahren betrug der Kapitalbestand in den Kohäsionsländern nur 54 % dem der Europäischen Union insgesamt. Die Kohäsionsländer holen relativ gesehen zwar auf, absolut gesehen aber haben sie in den letzten zehn Jahren für Pro-Kopf-Investitionen weniger ausgegeben als der EU-Durchschnitt: 10.000 EUR im Vergleich zu 13.000 EUR. Investitionen in Wissen: die Grundlage für langfristiges Wachstum Investitionen in Wissen % des BIP 15 F&E privater Sektor F&E öffentlicher Sektor Private Bildung (*) Erziehung und Unterricht (*) einschl. kirchlicher und freiwilliger Sektor Die Definition von öffentlich und privat ist von Land zu Land unterschiedlich 12 12 L: keine F&E Daten verfügbar B: Bildungsdaten beziehen sich nur auf Flandern A: Aufschlüsselung von F&E nicht verfügbar D K/ FI N /S EU 15 EU 3 S D K F N FI U K L N IR A 0 B 0 D 3 P 3 E 6 I 6 L 9 EL 9 L 48 Investitionsausgaben für physisches Vermögen sind zwar von großer Bedeutung, die nicht-fassbaren Investitionen in Forschung und Entwicklung, Bildung und Informationstechnologie werden für die wirtschaftlichen Entwicklung in der Europäischen Union jedoch immer wichtiger. Deshalb beruht das langfristige Wachstum nicht nur einer Zunahme des Anlagevermögens, sondern stärker noch auf den technologischen Verbesserungen, die die Effizienz der Kapitalnutzung und der 12 Arbeitskraft erhöhen. Durch die Informationsrevolution werden Investitionen in den technologischen Fortschritt in der wissensbasierten Wirtschaft darüber hinaus in Zukunft immer bedeutender werden. Daher muss innerhalb der Europäischen Union die Höhe der Investitionen in Wissen I.4 Bestimmungsfaktoren der realen Konvergenz ebenso wie die der in Sachanlagen untersucht werden. Dies ergibt etwas andere Schlussfolgerungen, da viele der Länder mit unterdurchschnittlichen Raten für die Anlageninvestitionen zu den Ländern mit den höchsten Werten für Technologieinvestitionen zählen. Insbesondere Schweden ist zu nennen, dort ist die Sachanlageninvestitionsrate in der Europäischen Union am niedrigsten, Wissensinvestitionsrate jedoch am höchsten (siehe Schaubild 9). In Frankreich, Großbritannien und Finnland fließen ebenfalls nur geringe Mittel für Investitionen in Sachanlagen, dafür hohe für Wissensinvestitionen. Auf der anderen Seite investieren die drei Kohäsionsländer und Irland unterdurchschnittlich wenig in Investitionen. Während sich die Lücke zwischen ihnen und dem Rest der Europäischen Union hinsichtlich des Kapitalbestands aufgrund der hohen Anlageninvestitionen schließt, stellen die niedrigen Investitionen in immaterielles Kapital keine sichere Grundlage für langfristiges Wachstum im digitalen Zeitalter dar. Infrastrukturausstattung Der größte Teil der öffentlichen Investitionsmittel in den Mitgliedsstaaten wie auch der Strukturfonds fließen in die Infrastruktur. Eine adäquate Infrastrukturausstattung stellt eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit einer Region dar. Sie ist ein wichtiger Faktor, der sowohl den Standort der Unternehmen als auch die Entwicklung der Wirtschaftszweige und Sektoren bestimmt. Investitionen in die Infrastruktur sind von grundlegender Bedeutung, um die Auswirkungen der Entfernungen zwischen den Regionen zu reduzieren, insbesondere zwischen den peripheren und den zentralen Regionen. Daneben müssen allerdings auch andere Bedingungen erfüllt werden, wenn die zunehmende Erreichbarkeit der peripheren Regionen nicht eine Bedrohung, sondern eine Chance darstellen soll. Verkehrsinfrastruktur Die Verkehrsinfrastruktur hat für die Verringerung der regionalen Disparitäten und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen eine besonders große Bedeutung, indem sie den Handel und die Wanderung der Arbeitskräfte erleichtert. Eine verbesserte Infrastruktur reduziert Zeitaufwand und Kosten des Gütertransports, steigert dadurch die Produktivität und relativiert die Standortvorteile in den einzelnen Regionen. Ebenso wirkt sie sich auf die Anfahrtszeit zum Arbeitsplatz aus, weitet dadurch die Grenzen für lokale Arbeitsmärkte und steigert die Verfügbarkeit effizienter Arbeitskräfte. Die Verkehrsinfrastruktur fällt allerdings größtenteils in den Verantwortungsbereich der nationalen Regierungen und stellt immer noch eine wichtige Komponente der Strukturund Regionalpolitik dar. Obwohl einige Verkehrsmittel in den vergangenen Jahren privatisiert wurden (insbesondere Hochgeschwindigkeitseisenbahnen und Autobahnen), sind die Kosten für Investitionen in die Basisinfrastruktur zu hoch, als dass der private Sektor allein für sie aufkommen könnte. Darüber hinaus sollten bei den Entscheidungen über Infrastrukturinvestitionen auch die daraus entstehenden Folgekosten für die Instandhaltung berücksichtigt werden. Straßengüterverkehr weiterhin dominierend Straßen sind die Hauptverkehrswege. 1997 wurden sie in der Europäischen Union für 86 % aller Fahrten genutzt (in Passagierkilometern gemessen) und für 94 % aller auf dem Landweg zurückgelegt. Darüber hinaus nimmt der Straßengüterverkehr weiter zu. In Frachtkilometer gemessen wurden 1997 43 % aller Gütertransporte auf der Straße abgewickelt, im Vergleich zu 31 % im Jahr 1970. Luft- und Seefrachtverkehr ausgenommen wurden 74 % aller Güter in der Europäischen Union auf der Straße transportiert, während für lediglich 14 % die Schiene und 12 % die Binnengewässer oder eine Pipeline genutzt wurden. Der Ausbau der Autobahnen hat den Straßengüterverkehr weiter zunehmen lassen. Während sich der Umfang des Straßennetzes in der Europäischen Union kaum verändert hat, nahm die Länge der Autobahnen zwischen 1988 und 1998 um 40 % zu, hauptsächlich aufgrund des Wachstums in den vier Kohäsionsländern, wo viele Straßen zu Autobahnen ausgebaut wurden. In diesem Zeitraum nahm die Auto13 bahndichte in diesen vier Ländern insgesamt von weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts (43 %) auf etwa diesen Durchschnittswert zu. Spanien verzeichnete dabei den größten Zuwachs von 63 % des Durchschnitts auf 136 %. Dagegen gab es in Irland und Griechenland zwar ein erhebliches Wachstum, aber die Dichte ist immer noch weit geringer als im Durchschnitt (1998: 12 % des Durchschnitts in Irland im Vergleich zu 2 % im Jahr 1988 und 17 % in Griechenland im Vergleich zu gar keinen Autobahnen im Jahr 1988). Auf regionaler Ebene verlief die Entwicklung ähnlich. Während die Autobahndichte in den zentralen oder fortgeschrittensten Regionen der einzelnen Ländern immer noch höher ist als in den Ziel-1- oder peripheren Regionen, waren die höchsten Wachstumsraten in letztgenannten Regionen zu verzeichnen. In den nordischen Ländern sind die Autobahnnetze aufgrund der geographischen und demographischen Bedingungen weniger gut ausgebaut (in Finnland beträgt die Dichte nur 41 %, in Schweden 65 % des EU-Durchschnitts), vor allem in den dünn besiedelten Ziel-1-Regionen im hohen Norden. 49