1. „Es braucht kein Geist vom Grabe herzukommen,/ um das zu sagen.“ 1 „Die Schock- Strategie. Hamlet“ von Jorinde Dröse feierte im September 2008 Premiere im umstrukturierten und neuerfundenen Schauspiel Leipzig, jetzt Centraltheater. Damit reihte sich die Inszenierung als zweite in Sebastian Hartmanns neues Gesamtkonzept „Ende. Neu.“ ein Ende- Hamlet; Neu- Schockstrategie? Shakespeares „Hamlet“ bleibt in zurückgesetzter Stellung und wird mit Naomi Kleins Buch „Die Schockstrategie“2 verbunden: „Man müsse Katastrophen als Chancen begreifen, um radikalkapitalistische Strategien durchzusetzen. Dänemark ist so ein Fall. Dort herrscht ein ziemlich lächerliches historisches Kostümtheater, das vom oberlehrerhaften Claudius [...] und vor allem von seinem Regierungsberater Friedman [...] auf Vordermann gebracht wird. Der alte Hamlet muss ein reichlich zurückgebliebener sozialdemokratischer Königstrottel gewesen sein, der mit staatlichen Wohlfahrtsprogrammen das Land ruiniert hat.“3 „Hamlet“ scheint zudem zur Zeit eine beliebte Basis für Theaterinszenierungen mit Wirtschaftskrisenthematik zu sein4: „Nachdenken über kapitalistischen Änderungsbedarf“, nennt es Franz Wille auf jenes Thema bezogen in seiner Titelunterschrift und greift somit Hamlet Handlungsdilemma in einem politisch-aktuellen Kontext auf. Doch wie ist gegenwärtige Wirtschaftspolitik mit dem Klassiker des Zweiflers vereinbar? In der Aufführungsanalyse soll die Verknüpfung von traditionellem Sprechtheater und modernem Medieneinsatz thematisiert werden. Das Theater als intermediale Bühne wird anhand jener Inszenierung beleuchtet werden: Welche Ebenen kann das Theater mit Hilfe von Intermedialität erreichen? Welche Interpretations- und Denkansätze können sich im Publikum durch die verschiedenen Möglichkeiten der Beobachtungsform ergeben? Welche (Bühnen-)Räume eröffnen Filme und Videos innerhalb einer Aufführung? Lenken Medien vom Geschehen auf der Bühne ab, stören sie den Authentizitätscharakter des Theaters oder geben sie uns eine völlig neue Art des Theater- Schauens mit auf den Weg, der über die Plattform Bühne hinausgeht? Zunächst wird der Begriff der Intermedialität näher erläutert werden und, da in der zu analysierenden Aufführung mit einer (versteckten) Videokamera gearbeitet wird, die das Die Kapitelüberschriften sind nachfolgend Textpassagen aus „Hamlet“ von W. Shakespeare, übersetzt von August Wilhelm Schlegel (Reclam. Ditzingen. 2008) und werden im Anhang bibliographiert. 2 Klein, Naomi: Die Schock- Strategie. Aufstieg des Katastrophen- Kapitalismus. Fischer. Frankfurt a.M. 2007 3 Wille, Franz: Was tun? Oder nichts tun? in: TheaterHeute. Friedrich Berlin Verlag. #3/März 2009. S. 19 4 Ebd.. S. 18 1 1 gefilmte sofort an die zwei Leinwände projektiert, wird zudem ein Schwerpunkt auf „video and theatre as an intermedial stage“5 liegen. 2. „Da gilt kein Kunstgriff, da erscheint die Handlung/ In ihrer wahren Art, und wir sind selbst/ Genötigt.“ - Annäherungen an den Begriff der Intermedialität Der Einsatz von neuen Medien wie Film, Video- und Audioaufnahmen oder auch Internetnutzung, ist in der gegenwärtigen Theaterlandschaft immer häufiger anzutreffen Auch in der zur Analyse stehenden Inszenierung finden sich Live-Videos, Filmsequenzen und Audioinstallationen aus dem „Off“ wieder. Intermedialität ist nicht nur ein relativ neu anmutendes Thema, sondern auch sehr weitgefasstes Forschungsfeld, sodass hier nur ein kleiner, einführender Einblick in den zu bearbeiteten Begriff gegeben werden kann. Auch wenn „intermediale Bezüge schon immer den Mediengebrauch gestalten“, so erlebte die Forschung einen Auftrieb mit dem Aufkommen und Entwicklung neuerer technischer Medien6. Allem voraus muss die Akzeptanz, Theater als ein Medium zu begreifen gehen: Theater als „Hybridmedium“ ist in der Lage alle anderen Medien zur Darstellung zu bringen, zum Thema werden zu lassen und ist in seiner Grundstruktur immer schon intermedial gewesen 7. Es wird sogar soweit gegangen, Intermedialität „[…] as part of a wider movement in which all postmodern arts and media are involved.“8 anzusehen, also als Merkmal der Moderne, fast als Erkennungszeichen für Postdramatik9. Die Mischung, der Austausch, ein Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Medien bezeichnet Intermedialität, wobei dabei nicht zwischen literarischen, audiovisuellen oder technisch- elektronischen Medien unterschieden wird10. Bei Dröses Inszenierung wird sich mit dem Zusammenspiel von Live-Video-Aufnahmen und unmittelbarem Schauspiel auf der Bühne auseinandergesetzt werden. Die Besonderheit dahingehend ist hauptsächlich die Verwendung einer Live-Kamera und nicht etwa das Einspielen einer vorher schon aufgenommenen Sequenz. Hier reibt sich Intermedialität besonders spannend an Dekonstruktion und Integration: Differenzen aufzeigen, Abgrenzung 5 Titel von Sigrid Merx Beitrag in: Chapple, Freda/ Kattenbelt, Chiel [Hrsg.]: Intermediality in Theatre and Performance. 2. Aufl..Rodopi. Amsterdam, New York 2006 6 Kolesch, Doris in: Fischer- Lichte, Erika (et.al.) [Hrsg.]: Theatertheorie. Verlag J.B. Metzler. Stuttgart/Weimar. 2005. S.160 7 Vgl. Balme, Christopher in: Balme, Christopher/Moninger, Markus [Hrsg.]: Crossing Media. Theater-FilmFotografie-Neue Medien. epodium. München. 2004. S. 29- 31 8 Chapple/Chiel. S. 12 9 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren. Frankfurt a.M..1999. S. 433f. 10 Vgl. Kolesch in Fischer-Lichte 2005. S.159 2 von anderen Medien und (Spiel-)Techniken, jedoch auch Verstärkung und Vervielfältigung von Wahrnehmungsformen können Intermedialitätseffekte in einer Theaterinszenierung sein11. Dazu ist anzubringen, dass in Dröses Inszenierung die Intertextualität mit hinein spielt, da Textpassagen aus Naomi Kleins Buch auf der Bühne zitiert werden oder auch Aussagen Milton Friedmans in Film- und Live-Video-Sequenzen wiedergegeben werden, jedoch soll das Augenmerk dieser Aufführungsanalyse auf dem Medieneinsatz liegen und die textlichen Querverweise auf Literatur und gehaltenen Reden realer Personen hinten an gestellt werden. i. „Mehr Inhalt, wen’ger Kunst.“? - Live-Video im Theater „Video in theatre, on the other hand is more flexible in terms of time and space, which can be constructed with the help of camera movement, camera framing, montage and digital manipulation. As a result different perpectives, distances and sizes can be realised in theatre”, verteidigt Sigrid Merx die Verwendung dieser speziellen Technik12. Die zuweilen häufigste im Theater anzutreffende Medientechnik ermöglicht völlig neue Wahrnehmungsstrukturen und hilft den Blick des Publikums zu lenken oder auch absichtlich zu verwirren.13 Hans-Thies Lehman beschreibt Videoinstallationen als Grenzposition zwischen Theater und bildender Kunst und zeigt die Spezialität und Signifikanz der neuentstandenen Raum- und Zeitwahrnehmung auf: Die „«Situation» des Theaters“ sei eine andere geworden14. Eine weitere Variationsmöglichkeit besteht zudem darin, dass man den Kameramann mit in das Bühnengeschehen einzuflechten vermag oder nicht: „Beim Video schiebt sich die Kamera als neue Instanz; vermittelnd, drängt zurück, fügt hinzu, lässt aus. Die Kamera spielt die Rolle des Erzählers, platziert das was uns gezeigt wird, in einem narrativen Kontext und gibt uns Anweisungen, wie wir uns dazu verhalten sollen.“ 15 Ist es ein allgegenwärtiges „wachendes Auge“, welches die Schauspieler auf der Bühne beobachtet oder ein völlig neutraler Kameramann, der uncodiert und frei das Treiben dokumentiert? Genauso könnten aber auch die SchauspielerInnen selbst zu Kameramännern und –frauen werden, mit Spielintention oder aber auch „ohne Grund“ (in Bezug auf ihr 11 Vgl. Kolesch in Fischer-Lichte. S.161 Merx, Sigrid in Chapple/Kattenbelt. 2006. S.71 13 Vgl. Lehmann. S. 433f. 14 Ebd. 15 Engler, Balz: Buch, Bühne, Bildschirm: King Lear intermedial in: Helbig, Jörg [Hrsg.]: Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Erich Schmidt Verlag. Berlin. 1998. S. 64 12 3 Agieren in ihren Schauspielrollen) die Kamera führen. Auch diese Möglichkeiten des Einsatzes und je nach gewählter Präsenz, verleihen Aufnahme und Übertragung eine weitere Wahrnehmungs- oder Interpretationsebene, welche die Grenzen des klassischen „Guckkasten-Theaters“ aufbrechen und zu erweitern vermag. 3. „Es soll geschehn:/ Wahnsinn bei Großen darf nicht ohne Wache gehen.“ - Kurze Erläuterungen zu „Die Schockstrategie. Hamlet“ Die Inszenierung ist eine Verschmelzung der klassischen Hamletgeschichte von William Shakespeare mit dem Sachbuch „Die Schockstrategie. Aufstieg des Katastrophenkapitalismus“16 von Naomi Klein. Zwar kann man von einem ausgewogenen Zusammenspiel der beiden Themenkomplexe in der Inszenierung sprechen, jedoch ist die Hamlettragödie eher als Schablone für die theatralische Umsetzung des Buches zu betrachten. Was als vermeintliche Buchpräsentation Naomi Kleins beginnt, wird jäh von zwei aus dem Publikum kommenden Wächtern in Rüstung unterbrochen, die Hamlettragödie beginnt. Wieder abgetreten, tritt abermals Naomi Klein auf die Bühne. Schon scheint es, als gäbe es einen bestimmten Rhythmus, einen Wechsel und ein Ineinanderübergehen von Tragödie und Gegenwartsliteratur: es wird parallel zueinander aufgeführt und die verschiedenen (Zeit-)Ebenen würden sich nicht berühren. Jedoch tritt Milton Friedman“17, Zielperson von Kleins Anfeindungen, als königlicher Berater in Erscheinung und unterweist Claudius und Polonius in seine reformierenden Wirtschaftsideen. Schlussendlich tritt auch Naomi Klein mit Hamlet in Kontakt, nachdem dieser die Botschaft des Vatergeistes vernommen hat. Es folgt eine Art Ausnahmezustand auf der Bühne: Milton Friedman in Aufmachung von Naomi Klein und sie selbst entfachen eine aggressive Diskussion, Hamlet versucht scheinbar verzweifelt die Mordnachricht kundzutun und zwischen allen wandelt eine unwissende und deplatzierte Ophelia. Wie hier eine Konfliktlösung zwischen den beiden konkurrierenden Themenkomplexen, zwischen Alt und Neu, stattfinden soll, lässt sich kaum erkennen. „[...] an diesem Punkt trägt die ökonomisch aufgerüstete „Hamlet“-Achterbahn Shakespeare aus der Kurve. Macht aber nichts, denn es ist immer besser, an den „Erst Schock durch Krieg oder Katastrophe, dann der so genannte Wiederaufbau..[...]Während die Menschen noch gelähmt von der Katastrophe sind, werden sie einer weiteren, diesmal ökonomischen Schock-Behandlung nach den neo-liberalen Vorstellungen unterzogen. Naomi Klein erzählt die Geschichte einer der wirkmächtigsten Ideologien unserer Zeit, Milton Friedmans ökonomischer Doktrin des freien Marktes.[...]“ (Auszug aus dem Buchklappentext von „Die Schockstrategie“ v. N.Klein.) 17 Milton Friedman (1912-2006) war Ökonom und Nobelpreisträger, beeinflusste die Regierung unter Nixon und Reagan maßgebend mit seinen monetaristischen Wirtschaftsideen. 16 4 intelligenten Widersprüchen einer Interpretation zu scheitern als sie unter den Teppich zu kehren.“18 Und so kommt es, dass Hamlet aus seiner Rolle aussteigt: „Ich bin nicht Hamlet. Wissen Sie ja selber. Ich bin Guido Lambrecht.“19, verkündet jener und löst die Theatersituation auf. Das interaktive Spiel um Wahrnehmungsformen mit dem Publikum lässt fast den vorhergezeigten Teil vergessen, wird aber mit dem Ausruf „Ist Demokratie ein Unternehmen?!“ beendet. Es wird nahezu nahtlos zum eigentlichen Handlungsstrang übergegangen und auch Guido Lambrecht fordert seine Rolle zurück: da könne er wenigstens scheitern. Die Hamlettragödie wird mit Ophelias Tod beendet, eine Auflösung des an das Publikum herangetragenen Konfliktes findet nicht statt, dieser wird wohl von jedem Zuschauer selbst zu klären sein. Stattdessen betritt Superbarrio Gómez20 die Bühne und deklariert: „Das Absurde ist das kulturelle Erbe der ganzen Menschheit.“, und fliegt ab. 4. „Und da, wie sie berichtet, nach der Zeit,/ Gestalt des Dings, buchstäblich alles wahr,/ Kommt das Gespenst.“ - Eine Analyse In Jorinde Dröses Inszenierung versteht sich der Medieneinsatz vor allen Dingen als Raumerweiterung und Raumeröffnung. Einblicke in sonst verborgene Spielräume werden gewährleistet und der Blick des Zuschauers wird verdoppelt, sogar verdreifacht. Deswegen soll im Folgenden nicht nur das Interieur und Bühnenbild aufgezeigt, sondern zudem auch das Verhältnis von Bühnen- zum Zuschauerraum analysiert werden: Wo verläuft die Grenze von Bühne und scheinbar geschütztem Publikumsraum? i. „Wir wollen uns so stellen, dass wir sehend,/ doch ungesehn[...]“ – Bühnen-, Zuschauer- und Spielraum Es handelt sich im Centraltheater Leipzig um eine klassische „Guckkastenbühne“ mit integrierter Drehbühne. Ein „eiserner Vorhang“ mit der Aufschrift „GOTT MIT UNS“21 und eine beiger Stoffvorhang finden während der Aufführung Verwendung. Das Publikum ist zunächst durch die ansteigende Sitztribüne klar von der bespielten Bühne getrennt. 18 Wille, Franz in TheaterHeute. S. 19-20 Hierbei handelt es sich im folgenden um keine gesicherten Textangaben, sie wurden mit Hilfe der DVDAufnahme der Inszenierung verschriftlicht. 20 „Superbarrio Gómez“ heißt eigentlich Marco Rascón Córdova und ist ein sogenannter „Real-Life-Superhero“ aus Mexiko. 21 Hier zu ist anzumerken, dass dieser Schriftzug kein explizites Bühnenelement darstellen könnte, da es in einer weiteren Inszenierung am Haus „Matthäuspassion“ seine eigentliche Verwendung findet. „Die Schockstrategie. Hamlet“ war die zweite Premiere der Spielzeit war und sie die erste. Es könnte also ganz pragmatische Gründe haben, dass „Gott mit uns“ nicht von diesem Vorhang entfernt wurde. 19 5 Zusätzlich können die Leinwände, die kleinere nachträglich aufgestellt (vom Publikum aus rechts), und die große (mittig), erst nach Fall des Stoffvorhangs sichtbar, als „Bühnenraumerweiterung“ angesehen werden, da sie durch Kameraverfolgungen einen Blick hinter den noch hängenden Vorhang gewähren oder Einblicke in die Nebenbühnen geben. Die räumliche Distanz von Bühne und Zuschauerraum wird jedoch aufgehoben: Die zwei Wächter, die den Beginn der Hamlettragödie einläuten, treten von den Seiteneingangstüren des Zuschauerraumes auf. Während ihres Anfangsdialogs bewegen sie sich im Halbdunkel ansatzweise durch die Reihen und leuchten unkoordiniert auf die Bühne und auf das Publikum auf der Suche nach dem Geist. So wird der Theatergänger mit in das Geschehen einbezogen und vermeintlich als Mitspieler, heißt als „Geist“, ausgemacht. Eine vollständige Dekonstruktion der Theatersituation wird in der Mitte der Aufführung vollzogen, wenn Hamlet sich als den Schauspieler Guido Lambrecht offenbart und mitteilt, er schaffe es nicht, beide Themenkomplexe („Schockstrategie“ und „Hamlet“) in Einklang und Verbindung zu bringen. Er wendet sich direkt ans Publikum und wählt sogar jemanden aus, der seine Rolle an diesem Abend übernehmen soll22. Schließlich werden noch mehr Zuschauer zu Akteuren auf der Bühne wenn zwei Mannschaften sich gegenseitig einen Ball zu werfen und ein Wahrnehmungsexperiment durchgeführt wird. Auch hier befindet sich der Betrachter mehr in einer Situation einer interaktiven Fernsehshow als im Theater, denn auch zur Beantwortung der Fragen fällt ein Spotlicht auf den ausgewählten Zuschauer, der somit zu einem Mitspieler der Aufführung wird. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn die nächste „Quizfrage“ gestellt wird: Wie man sich verhalten würde, wenn man mit zwei anderen Personen auf der Straße zur gleichen Zeit einen 100-Euro-Schein finden würde; für sich behalten oder teilen? Wieder werden einige Zuschauer befragt und schlussendlich gewinnt eine Frau, die wie die meisten Deutschen geantwortet hätte, sie würde den Schein für sich selbst einstecken. Auf die Bühne gebeten, bekommt sie einen Blumenstrauß und einen 100-Euro-Schein überreicht, der aus (wie man dem Publikum mitteilt) den eingenommen Eintrittsgeldern subventioniert wurde23. Die direkte Anrede des Publikums ist signifikant für die gesamte Aufführung und findet sowohl in den „Hamlet“ - als auch in den „Schockstrategie“ -Sequenzen Verwendung. 22 Die nachfolgenden Schilderungen beziehen sich allesamt auf die erste gesehene Aufführung. Ob es sich wirklich um einen echten 100 Euro-Schein gehandelt hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen, aber ich vermute es stark. 23 6 ii. „[...]weh mir, wehe!/ Dass ich sah, was ich sah, und sehe, was ich sehe.“ - Einsatz der Live-Videos und Filme (ausgewählte Szenen) Zum ersten Mal kommt die kleinere, rechtsplatzierte Leinwand zum Einsatz, wenn Naomi Klein das zweite Mal auftritt und ihre Buchpräsentation fortsetzen möchte. Auf dieser beginnt während Naomi Klein noch redet, der Werbefilm von Milton Friedman abzulaufen. Interessant hierbei ist, dass der Originalton Friedmans verwendet wird und der Schauspieler auf der Leinwand „Playback“ dazu spricht: Es handelt sich um eine Vermischung von Original24- und neugedrehtem, zusammengekürzten Film. Hierbei wird man zum ersten Mal mit Milton Friedman konfrontiert und findet sich sogleich in einer Art „Public Viewing“Situation wieder, da der Film zusätzlich auf den beigen Stoffvorhang projiziert und kinoähnlich präsentiert wird. Noch scheinen die Ebenen klar voneinander getrennt zu sein: i) Die Moderne und der alltägliche Einsatz von Film ii) Vergangenheit, sprich 17. Jahrhundert und die klassische Theatersituation. Jedoch ist diese These schnell widerlegt, denn der Werbefilm Friedmans geht ruckartig in eine „Hinterzimmer“- Szene über, in welcher sich Polonius und Claudius, später mit Hilfe von Milton Friedman, über die weiteren Schritte der neuen Regierung in Dänemark und über Hamlet beraten. Hier ist nun das neue Medium zu beobachten: das Live-Video. Der Kameramann ist nicht zu sehen und anfänglich könnte man meinen, es handle sich um eine weitere, schon vorher gedreht Filmsequenz, jedoch schwenkt die Kamera nach Ende der Unterredung von den drei Männern ab. Es wird der Nebenabgang der Bühne sichtbar mit all seinen Rohheiten, Kabeln und Streben und der mobile Kameramann verfolgt Hamlet und Ophelia, die gerade unter den Stoffvorhang hindurch kriechen. So wird die neueröffnete Wahrnehmungsebene deutlich, da das Geschehen nicht nur von vorn, sondern auch von hinten beobachtet werden kann. Anschließend folgt ein Standbild mit Strandlandschaft und Palmen, sodass man die Leinwand als Bühnenbildelement wahrnehmen möchte, welches das romantische Geplänkel Hamlets und Ophelias unterstreicht und die Bühne mit einer genaueren Ortsbeschreibung versieht (oder aber als Atmosphärenbereicherung fungiert). Nachdem der Zuschauer seinen Blick auf das Bühnengeschehen verdoppeln konnte, wird zusätzlich noch eine Verdreifachung erreicht, indem ferner die große, mittige Leinwand zum Einsatz kommt: 24 Hamlet verfolgt den Milton Friedman: The Power Of the Market: http://www.youtube.com/watch?v=SW86iE-ddaI&hl=de 7 „Geist“ erfolgreich bis hin zu einem „Papphäuschen“ mit Wellblechdach, welches zuvor hinter dem Bühnenvorhang verborgen war. Der darin stationierte Kameramann wird jetzt als Schatten sichtbar und überträgt das Geschehen im Haus auf die kleinere Leinwand. Dazukommend wird auf die große Leinwand eine andere Ecke des Hauses gezeigt, in welcher der Geist des Vaters auftritt. Hierbei handelt es sich offenkundig um eine schon vorhergedrehte Filmsequenz, da der Schauspieler des Vatergeists derselbe ist, wie der des Hamlets. Diese spannende Überschneidung von Live-Video und Film und das unmittelbar präsente Bühnengeschehen stellen somit eine Herausforderung für das Auge dar. Da man nur die Schattenbilder des Hamlet-Schauspielers und das des Kameramannes von außen durch das „Papphaus“ hindurch sieht, bekommt die Dimension des Geistes noch eine völlig neue Ebene. Denn alle Zuschauer können den „Geist“ offenkundig auf der Leinwand „sehen“ und es wird glauben gemacht, dass jener Kameramann auf beide Akteure die Kamera zuhält. Auch scheint die Echtheit des Geistes bewiesen, wenn der Abgang des Geistes durch die Papphaustür gezeigt wird, der Zuschauer aber niemanden auf die Bühne hinaustreten sieht. „Sie glauben wirklich an ein Universum in dem es einen Geist gibt?! Ich mein, sie machen wirklich eine Fiktion zu einer Realität. Machen Sie das draußen im richtigen Leben auch so? Glauben Sie da auch alles, was man Ihnen sagt? Was man Ihnen so erzählt? Ich mein, ist die Realität die Sie wahrnehmen, dieselbe Realität die ich wahrnehme? Sehen wir dasselbe?“ 25 , fragt Schauspieler Guido Lambrecht das Publikum, wenn er aus seiner Rolle aussteigt und bringt die Medienproblematik auf den Punkt. Ist das, was wir tagtäglich im Fernsehen an Bildern und Berichten geliefert bekommen, die Wirklichkeit? Können wir den Medien vertrauen? Die Realitäts- und Wahrnehmungsdebatte wird noch gesteigert, als auf dem „eisernen Vorhang“ eine Nachrichtensendung übertragen wird, in der Claudius seine neuen Ziele, gemäß Milton Friedmans Schockdoktrin erläutert. In Manier einer Neujahrsansprache spricht der neue König zu seinem Volk und untermalt seine Visionen mit schnell hintereinander geschnittenen Bilderfolgen: ein Hurrikan verwüstet eine Landschaft und, das mehr als satirische Bild eines einstürzenden Hochhauses, welches sich später im Rücklauf wieder zusammensetzt und der zukünftigen Verbesserung wegen, in die Länge zieht. Auch diese Szene verliert im Spiel gewollt ihre Seriosität, wenn sich der Vorhang öffnet und man beobachten kann, wie Claudius samt Rednerschreibtisch von zwei Bühnentechnikern erst 25 Es handelt sich wieder um eine nachträglich mit Hilfe des Aufführungs-DVD Mitschrift. 8 nach links und dann doch wieder nach rechts abgerollt wird und er vergeblich versucht Haltung und Miene zu bewahren. Der Zuschauer kann „hinter die Kamera“ blicken und erkennt das Machtspiel des neuen Königs. Daneben besitzt er auch das nötige Hintergrundwissen, sodass ihn diese „Nachrichtensendung“ nicht täuschen kann und er die leeren Versprechungen und angeblich wertvollen Neuerungen als Mittel der Schockstrategie entlarven kann. Die Verdreifachung der Blickwinkel wird auch noch einmal aufgegriffen, wenn Hamlet und Ophelia ihre letzte Unterredung vor deren Tod führen: Auf der rechten Leinwand erscheint das Gesicht in der „Nahe“ und nach einiger Zeit taucht auch das Gesicht Hamlets auf der mittigen Leinwand auf. Der „Head-and-Shoulder-Close-Up“ bewirkt Nähe, erzeugt Mimikdetails, sodass Reaktionen besser sichtbar gemacht werden können26. Jedoch erzählt diese Szene genau das Gegenteil. Starre Blicke ins Publikum, keinerlei Gefühlsregungen und die innere Distanziertheit von Hamlet und Ophelia werden beobachtet. Zwar soll die Videoeinstellung Intimität vermitteln, aber auf der Bühne entsteht Ferne, Öffentlichkeit und Unbetroffenheit. Während der Abgang Ophelias über die Bühne in unmittelbarer Präsenz zu beobachten ist, bleibt Hamlet auf der Leinwand sichtbar und schaut gottähnlich auf das Bühnengeschehen hinab. Die Situation wird von Claudius aufgelöst der in der mittigen Leinwand erscheint, grimassenschneidend und mit Grabesstimme imitiert er den Geist des Vaters. Auch hier findet sich die Reibung von Aufnahmenähe und Gefühlsferne wieder. Nach dem Einsatz der Drehbühne wird nun auf der Rückseite der Leinwand eine Sequenz in Dauerschleife gezeigt, in welcher „Hamlet“ unaufhörlich mit einem Wasserstrahl in den Mund und das Gesicht geschossen wird, wahrscheinlich um ihn von seinem umtriebigen „Wahnsinn“ zu heilen. Auf der rechten Leinwand ist derweil ein Zimmer in schwarz-weiß zu sehen, mit einem Bett und einen in das Zimmer wehenden Vorhang. Wohl mag diese Filmeinstellung die Einsamkeit und Verlassenheit Ophelias symbolisieren, welche sich währenddessen schmerzhaft an die große Leinwand klammert und „Aufhören!“ schreit. Aber die Sequenz endet erst nachdem Milton Friedman beruhigend auf einer Gitarre zu spielen beginnt. Sie wechselt eine neue Filmsequenz gezeigt: einige Sekunden verharrt die Kamera auf einen mit Graffiti besprühten, kahlen Raum, ehe sie sich in Bewegung setzt. Zuerst sieht man Ophelia, dann Hamlet, wieder Ophelia und Hamlet und zuletzt Claudius inmitten des Abrisshauses zwischen Sperrmüll und Dreck stehen, wobei der Kontrast zwischen den altertümlichen, chicen Kostümen und den dreckigen Graffiti-Wänden merklich heraussticht. Parallel dazu proklamiert Milton Friedman seine Thesen zu Fairness, 26 Vgl.: http://www.movie-college.de/filmschule/filmgestaltung/einstellungsgroessen.htm, 19.04.09 9 welche übersetzt ins Deutsche dem Originalfilm „The Power of the Market“ entnommen sind27. Unterdessen läuft auf der anderen Leinwand apathisch das Bild des Zimmers mit der wehenden Gardine weiter. Die Protagonisten im „Abrisshaus der Gesellschaft“? Die alten Probleme im Dreck und Gewand der Moderne? Oder Friedmans „Reformen“ auf den brüchigen Pfeilern einer neuen Gesellschaftsordnung? 5. „Schämt Euch nur nicht, ihm vorzustellen,/ so wird er sich nicht schämen, Euch zu sagen, was es bedeutet.“ „Leipzig als gemeinsamer Ort, die Wende als gesellschaftliches Ereignis, der Lauf einzelner Lebenslinien in den Folgejahren – wie lassen sich biografische Schockerlebnisse mit den weltpolitischen Beispielen Naomi Kleins in Verbindung bringen?“, fragt Anja Sackarendt28 in ihrer Rezension und deutet damit auf die Vielschichtigkeit der Inszenierung hin. Es geht nicht nur um Kapitalismuskritik oder um eine aktuelle Neuinszenierung des Hamletstoffes, sondern auch um Neubeginne, Risikobereitschaft, Anecken in der Gesellschaft und schließlich auch um Theaterwagnisse. Denn der neue Intendant Sebastian Hartmann stieß in Leipzig nicht unbedingt auf Anerkennung und Akzeptanz. Argwöhnisch wurden seine Neuerungen betrachtet und die erste Premiere der Spielzeit 08/09, „Matthäuspassion“ wurde zerrissen und hochgelobt.29 Wenn man von jener Metaebene ausgeht, ist vielleicht das gerade genannte Triptychon von Hartmann, dieser „Schock“ gemäß Miltons Doktrin gewesen, welcher nun dazu dient, die Neuerungen am ehemaligen „Schauspielhaus“ durchzuführen. „Tabula rasa...reiner Tisch...nach der Sintflut...Stunde Null....“30, eröffnet Naomi Klein den zweiten Teil ihrer „Buchpräsentation“. Und hätte so nicht auch der Anfang der neuen Spielzeit 08/09 am Centraltheater Leipzig eröffnet werden können? Kleins Kritik an Milton Friedmans Wirtschaftsideen, Hamlets Zweifel und Uneinigkeit mit sich selbst, die Frage, ob Demokratie ein Unternehmen ist, alle Konflikte bleiben unausgetragen und im Raum, keine Hoffnung auf einen aufklärerischen Monolog seitens der SchauspielerInnen an das Publikum, keine Aussprache zwischen Milton Friedman und Naomi Klein auf der Bühne. 27 http://www.youtube.com/watch?v=SW86iE-ddaI&hl=de, 19.04.09 http://www.kreuzer-leipzig.de/kultur/564/_/dossiers/23, 19.04.09 29 http://www.taz.de/1/leben/kuenste/artikel/1/matthaeus-passion-und-rote-farbe/, 19.04.09 30 Vgl. DVD-Mitschnitt 28 10 Nur ein pinker, dickleibiger Superheld, der uns eine rosigere Zukunft verspricht, wenn wir im Kleinen anfangen und die Absurdität der Welt akzeptieren und lernen mit ihre umzugehen. „Bei der Premiere zu Saisonbeginn in Leipzig war Barack Obama noch lange nicht gewählt. Vielleicht überlegt man sich dort jetzt ja einen etwas optimistischeren Schluss.“31, resümiert Franz Wille. Dröses Inszenierung steht nicht ohne Grund als zweite Premiere der Spielzeit auf den Plan, vielmehr hat jene noch einmal den Kurs angegeben, in welche Richtung sich das Centraltheater bewegen wird- in Richtung Moderne und ins Absurde, in Horizonterweiterung. Dass dazu der Einsatz von Intermedialität auf der Theaterbühne verwendet wird, ist mehr als passend. Denn die drei genannten Punkte können damit optimal theatral umgesetzt werden: i) Moderne: Medienzeitalter ii) Absurdität: Auflösung und Spiel mit der Theatersituation, bzw. mit den vermeintlich seriösen Medien und iii) Horizonterweiterung durch Blickwinkelerweiterung, Raumöffnung, sowie Preisgeben der Theaterräumlichkeiten und kein „als-ob“- Handeln in Bühnenbildern. 31 Wille, Franz in TheaterHeute. S. 20 11 „Bringt mich zur Prüfung, und ich wiederhole/ Die Sach’ Euch Wort für Wort, wovon der Wahnwitz/ Abspringen würde.“ - Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur: Balme, Christopher/Moninger, Markus [Hrsg.]: Crossing Media. Theater-Film-Fotografie-Neue Medien. epodium. München. 2004 Chapple, Freda/ Kattenbelt, Chiel [Hrsg.]: Intermediality in Theatre and Performance. 2. Aufl..Rodopi. Amsterdam, New York 2006 Fischer- Lichte, Erika (et.al.) [Hrsg.]: Theatertheorie. Verlag J.B. Metzler. Stuttgart/Weimar. 2005 Helbig, Jörg [Hrsg.]: Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Erich Schmidt Verlag. Berlin. 1998 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren. Frankfurt a.M..1999 Sekundärliteratur: Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. 4.Aufl.. Erich Schmidt Verlag. Berlin. 2008 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Die Aufführung als Text. Band 3. 4.Aufl.. Gunter Narr Verlag. Tübingen. 1999 Klein, Naomi: Die Schock-Strategie. Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Fischer. Frankfurt a.M.. 2007 Klose, Dietrich [Hrsg.]: Shakespeare, William: Hamlet. Prinz von Dänemark. Reclam Universal-Bibliothek Nr. 31.Stuttgart. 2001 Verzeichnis der verwendeten Zitate: Titel: S. 16, 1. Aufzug, 2. Szene, Z. 32 1. S.31, 1. Aufzug, 5. Szene, Z. 18-19 2. S.64, 3. Aufzug, 2. Szene, Z. 13 3. S.80, 3. Aufzug, 3. Szene, Z 7-8 i. S.41, 2. Aufzug, 2. Szene, Z. 15 4. S.17, 1. Aufzug, 2. Szene, Z. 28-30 i. S.59, 3. Aufzug, 1. Szene, Z. 10-11 ii. S.63, 3. Aufzug, 1. Szene, Z.16-17 5. S. 69, 3. Aufzug, 2. Szene, Z. 25-27 6. S.86, 3. Aufzug, 4. Szene, Z.17-19 12 Analysequellen: „Die Schockstrategie. Hamlet.“ Anna Blomeier: Naomi Klein Martin Brauer: Polonius Ellen Hellwig: Königin Gertrude Andreas Keller: Claudius Guido Lambrecht: Hamlet Elisabeth Müller: Ophelia Norman Schenk: Milton Friedman Regie: Jorinde Dröse Notationen zu den Besuchen der Aufführungen am 29. Dezember 2008 und am 8. Februar 2009 Begleitmaterial zur Inszenierung: http://www.centraltheater-leipzig.de/centraltheater/denken_handeln/schock_strategie/, 19.04.09 Rezensionen: Wille, Franz in: TheaterHeute. Friedrich Berlin Verlag. #3/März 2009. S. 19-21 http://www.kreuzer-leipzig.de/kultur/564/_/dossiers/23, 19.04.09 http://www.freitag.de/2008/41/08411402.php, 19.04.09 http://www.taz.de/1/leben/kuenste/artikel/1/matthaeus-passion-und-rote-farbe/, 19.04.09 13