Heiner Müller: Die Hamletmaschine

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Heiner Müller:
Die Hamletmaschine
Von: Marius Schuy, Udo Eidinger, Sophie Hellriegel, Henriette Fock, Conrad Kreter,
Frank Haustein, Kerstin Fischer, Simone Wessels, Marie Hakenberg
Gliederung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Titel, Struktur,Gattungszuordnung; Stil
Interpretationsangebote

Biographisch

Historisch

Intertextuell
Theatrale Rezeption
Sind wir nicht alle ein bisschen Hamlet?
Gesamtbezug zum Seminar: Verortung in der Hamletrezeption in
Deutschland
Literatur
01. Titel, Struktur, Gattungsbezug, Stil
01.01. Titel

‚Die Hamletmaschine’ - neologistisches Kompositum Müllers
a) Inhaltliche Motive des Titels




‚Hamlet’ referiert dabei nach Girshausen (1978:10) v.a. auf d. ‚Motiv Hamlet’
als d. Problematik des Verhältnisses des Erkennens zum Denken
‚Maschine’ dann als Umkehrung dieser Problematik, ‚Maschine’
(etymologisch v. griech. ‚mēchanē’, f. ‚mechanisch’) als Synonym f.
‚Aktionen d. ohne Steuerung durch Überlegung’ (nach Duden
Universalwörterbuch 2001: 1062) ablaufen
‚Hamletmaschine’ insgesamt (gemäß d. Textstelle „Ich will eine Maschine
sein. (…) kein schmerz kein Gedanke.“ (553)) als Wunschphantasie des
gequälten Intellektuellen nach e. gedanken- u. gefühlfreien, rein
aktionistischen Existenzweise
‚Maschine’ aber auch als Kurzform f. ‚Schreibmaschine’, als konträrer
Verweis auf d. intellektuelle Tätigkeit des Schreibens u. damit als
Selbstthematisierung Müllers. Wiederum aber Thematisierung d.
(politischen) Wirkungslosigkeit des Intellektuellen.
b) Formale Strukturen des Titels

D. Titel realisiert exemplarisch f. den Gesamttext folgende formale
Strukturen:

D. Kompositionsverfahren d. Intertextualität (‚Hamlet’-Bezug).

Hybridität d. Komposition (Kombination v. Unpassendem in d.
Erzeugung e. ‚Menschmaschine’)

Eingeschränkt auch Selbstreflexivität d. Struktur
(Monogramgleichheit u. formale Widerspiegelung d.
Kompositumsglieder)
01.02. Struktur
Fünfteilige Struktur des Gesamttextes
a) Historischer Bezug

In d. Fünfteiligkeit Aufrufung e. konkreten historischen
Dramenkonvention: Dramenstruktur des franz. Klassizismus u. d.
dt. Aufklärung u. dem damit verbundenen Postulat d. drei
Einheiten bzw. dem v. Gustav Freitag zugeordneten
Handlungsverlauf. Nutzung dieser Dramenkonvention als
Kontrastfolie.

b) Werkinterne Strukturierung

Auch inhaltliche Mittelstellung des dritten d. fünf Abschnitte
(‚SCHERZO’)

Abschnitt eins u. vier: Figur des Hamlet, Abschnitt zwei u. vier:
Figur d. Ophelia mit jeweiliger Thematik

Also: 1. Hamlet / 2. Ophelia / 3. ‚SCHERZO’ / 4. Hamlet / 5.
Ophelia

D. Fünfteiligkeit d. Makrostruktur wiederholt sich dann als
Mikrostruktur in den Bildern ein u. vier.
01.03. Gattungsbezug



Keine Gattungsbezeichnung im Paratext; uneindeutige
Einordnung in d. Gattungstrias aufgrund des fortwährenden
Bruchs mit Gattungskonventionen.
Vermischung dramatischen, lyrischen u. Prosa-Elementen;
Integration aller literarischer Gattungen bei Dominanz des
Dramensystems.
D. Hamletmaschine als ‚Theater-Text’, dessen Text-, Schauplatzu. Figurenkonzeption nicht nur e. illusionistische
Theaterrealisierung des Textes unmöglich machen, sondern auch
Teil d. Metareflexion Müllers auf d. Medium Drama u. Theater
sind.
Textbeispiel
1
FAMILIENALBUM
Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung
BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten
das Staatsbegräbnis ein, Mörder und Witwe ein Paar, im
Stechschritt hinter dem Sarg des Hohen Kadavers die Räte, heulend
in schlecht bezahlter Trauer WER IST DIE LEICH IM
LEICHENWAGEN / UM WEN HÖRT MAN VIEL SCHREIN UND
KLAGEN / DIE LEICH IST EINES GROSSEN / GEBERS VON
ALMOSEN das Spalier der Bevölkerung, Werk seiner Staatskunst
ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN. Ich stoppte
den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei
brach die Klinge, mit dem stumpfen Rest gelang es, und verteilte
den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH
GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in
Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang
der Mörder die Witwe SOLL ICH DIR HINAUFHELFEN ONKEL
MACH DIE BEINE AUF MAMA. Ich legte mich auf den Boden und
hörte die Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der
Verwesung.
01.04 Typografische Markierung

Text als Prisma, Palimpsest: unterschiedliche Dimensionen,
Schnittstellen

kein linearer Textfluss - Einsatz untersch. Schriftarten/untersch.
Schichten des Textes

Wirkung: permanente Störung des Leseflusses, selektierendes
Lesen, Lesen als Bewegung im Raum der Buchstaben

kein konkreter Bezug zw. Raum- und Zeitangaben und
Ausgesagtem

die Räume sind ubiquitär (siehe Foucault: Heterotopien)

Das Theater/die HAMLETMASCHINE selbst wird zu einem
„Enormous room“
1.
2.
3.
4.
5.
Überschriften:
Bsp.: „FAMILIENALBUM“ (Majuskeln)
Angaben zu Raum, Zeit und nicht-sprachlichen Aktionen
(typografisch gekennzeichnet wie die Didaskalien des
traditionellen Dramas):
Bsp.: „Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr“
(Kursivschrift)
Sprecherangabe:
Bsp.: „OPHELIA [CHOR/HAMLET]“ (Kapitälchen)
Dramatische Rede:
Bsp.: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der
Brandung BLABLA“ (halbfette Normalschrift, z.T. durchsetzt mit
Majuskeln, diese wiederum z.T. noch durch Absätze
hervorgehoben)
Der Kursivtext ist seinerseits von Majuskeln in Kursivschrift
durchsetzt:
Bsp.: „HAMLET 1, ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE
UMZUWERFEN; IN DENEN DER MENSCH...“
(Keim 1998)
01.05. Collagestil
Verweise (Auswahl)
 Vaterunser: „Fernsehen der tägliche Ekel [...] Unsern täglichen Mord
gibt uns heute...“ [Ekel - Sartre, Nietzsche]
 Shakespeare: Hamlet (z.B. Motiv des Hahnenschreis I,1 V. 138ff bei Müller zum Motiv der Verweigerung umgedeutet: „Die Hähne
sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt.“; „´A was a
man, take him for all in all, I shall not look upon his like again.“ I,2 V
187f - „ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN“)
 T.S. Eliot: The waste land
 J. Conrad: Im Herz der Finsternis
 F. Fanon/Sartre Vorwort zu „Verdammten dieser Erde“: „Unter der
Sonne der Folter“
 S. Freud: Psychoanalyse (ödipale Grundsituation: „Ich werde dich
wieder zur Jungfrau machen, Mutter [...] Jetzt nehme ich dich meine
Mutter, in seiner, meines Vaters unsichtbaren Spur“)
 Hamletdeutungen von B. Brecht (politische Aktualität), Jan Kott
(Lebensverhältnisse im Stalinismus)
 K. Marx: Kommunistisches Manifest (siehe: „Ein Gespenst geht um
in Europa“ - „IM RÜCKEN DAS GESPENST, DAS IHN GEMACHT
HAT“) / Kommunismus: Lenin, Mao, Marx treten auf
 Theater als Institution: „In seinem Kasten verfault der Souffleur“,
„HAMLETDARSTELLER“, „HoratioPolonius“

Schrift selbst wird bedeutungstragendes Element

kein Autor, die Sprache selbst „spricht“

Bewusstmachung der der Schrift selbst als Kulturmerkmal, als
prägendes Kulturelement (des Abendlandes):

„HAMLETMASCHINE“ bedient Theatermetapher „als Instrument der
Sichtbarmachung der logozentrischen Kultur“ (Keim)
2. Lesarten: Biographisch - Historisch
1.0 Allgemein:

drei unterschiedliche gesellschafts-politische Systeme:
 1929: in Eppendorf (bei Chemnitz) geboren, Vater war
sozialdemokratischer Verwaltungsangestellte
 Nationalsozialismus
 1940er Jahre: Entscheidung in der DDR zu bleiben, während seine
Eltern 1951 nach Westdeutschland fliehen
 DDR
 Mögliches Textbsp. für den Selbstmord seiner Frau im Jahr 1966
könnte im zweiten Teil DAS EUROPA DER FRAU angeführt
werden: „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau
am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau
mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem
Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.“
 Und letztlich Suche nach Identität in einer „neuen“ Gesellschaft, nach
dem Fall der Mauer 1989
 BRD, die für ihn einen „Raum mit unbekannten Dimensionen“
darstellte
Fazit

bewegtes Leben, die Stücke können als Bestandteil einer
Vergangenheitsbewältigung gesehen werden

„Die HAMLETMASCHINE ist ein Resümee der Arbeitshaltungen,
der Erfahrung der eigenen (Autor-) identität: die Epochenkollision
greift tief, auch schmerzhaft, in den einzelnen, der ein Autor noch ist
und nicht mehr sein kann.“ (Ulrich Zaum, Hrsg. von Theo
Girshausen, S. 85)
2. Interpretationsversuch des Textabschnitts aus dem ersten Teil FAMILIENALBUM

Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung
BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa (1). Die Glocken läuteten
das Staatsbegräbnis (2) ein, Mörder und Witwe ein Paar, im
Stechschritt (3) hinter dem Sarg des Hohen Kadavers die Räte, heulend
in schlecht bezahlter Trauer WER IST DIE LEICH IM LEICHENWAGEN /
UM WEN HÖRT MAN VIEL SCHREIN UND KLAGEN / DIE LEICH IST
EINES GROSSEN / GEBERS VON ALMOSEN das Spalier der
Bevölkerung, Werk seiner Staatskunst ER WAR EIN MANN NAHM ALLES
NUR VON ALLEN.

(1) Bezug zum Kriegsende, das Müller hautnah miterlebte und somit auch
die Zerstörung sowohl der Gebäude als auch die im Inneren der
Menschen
 Ruinen als Symbol für Vergangenheit
 selbstkritische Betrachtung eines Hamlet-Schauspielers, Rückblick auf
sein eigenes Drama, auf sein eigenes Leben

(2) Hier könnte das Ende des Nationalsozialismus und der Tod Stalins
gemeint sein.

(3) Stechschritt als militärische Form des Gleichschritts. Wurde sowohl in
der deutschen Wehrmacht als auch noch in der NVA in reduzierter Form
praktiziert.
Lesarten: Intertextuell

Hamlet als Paradigma, dessen Lesarten aufgerufen werden

Reflexivität des Hamletstoffs

Intertextualität durch widerkehrende Lexeme und Motive

Lose Zitate ohne offensichtlichen textuellen Zusammenhang

 Entlarvung des Unvermögens zu einem originären Ausdruck
3. Theatrale Rezeption





1976 Übersetzung des „Hamlet“ gemeinsam mit Matthias Langhoff
Text konfrontiert Theater mit Notwendigkeit seiner Veränderung
geplante Uraufführung der „Hamletmaschine“ 1978 in Köln
→ Regie: Volker Geissler
→ Aufbrechen konventioneller Produktionsweisen am Theater
angestrebt
→ Probenabbruch 2 Wochen vor Premierentermin
UA: 1979 in St. Denis/ Frankreich
→ Regie: Jean Jourdheuil

deutsche Erstaufführung: April 1979 am Theater Essen
→ Regie: Carsten Bodinus

Inszenierung von Robert Wilson 1986 in New York






deutsche Aufführung 1986 am Thalia Theater Hamburg
„Hamlet/Maschine“ ( Premiere: 24.3.1990 am DT unter der Regie
Heiner Müllers)
→ Integration der „Hamletmaschine“ in Aufführung der eigenen
Übersetzung des „Hamlet“
→ Probearbeiten seit Sep.1989, zur Zeit des politischen Umbruchs
„Die Hamletmaschine“ Musiktheater in 5 Teilen
→ Bearbeitung für die Oper durch Wolfgang Rihm
→ UA : Nationaltheater Mannheim 1987
4. Sind wir nicht alle ein bisschen Hamlet?
1.
Der „Mythos Hamlet“ als Prinzip – Hamlet als
menschliches Stereotyp

sowohl über seine Lebenswelt als auch über sich selbst stark
reflektierender Charakter

Denken vs. Handeln: reflexiv-kritisches Nachdenken bei
gleichzeitiger Entscheidungs- und damit Handlungsunfähigkeit

in diesem Sinne auch destruktives Denken, das jeden gefassten
Entschluss sogleich wieder aufhebt und sich im Zuge dessen
gegen einen selbst richtet

Versuch, aus der vorbestimmten „Rolle“ des zur Handlung
Verpflichteten auszubrechen

Versuch, (einen) Konflikt zu lösen und daraus resultierendes
(vorbestimmtes) Scheitern
→ Abstraktion, Konflikt ist variabel, Figurentypus ist gleich
2.
Textbezüge

Bild 1 FAMILIENALBUM

„[…] wie einen Buckel schleppe ich mein schweres Gehirn […]“

„[…] ich weiß, dass du ein Loch zuviel hast. Ich wollte meine
Mutter hätte eines zu wenig gehabt, als du im Fleisch warst: Ich
wäre mir erspart geblieben […]“

Bild 4 PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND

„[…] legt Maske und Kostüm ab […] Hamletdarsteller legt Kostüm
und Maske an […]“

„[…] ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehen
kein Schmerz kein Gedanke. […]“
6. Literaturverzeichnis



Eke, Norbert Otto: Heiner Müller. Reclam; Stuttgart 1999.
Girshausen, Theo (Hg.): Die Hamletmaschine. Heiner Müllers
Endspiel. Köln 1978.
Keim, Katharina: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers.
Niemeyer; Tübingen 1998.
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