Sechsjahreskrise Mit sechs Jahren wird aus dem Kindergartenkind ein Schulkind, aus dem putzigen Kleinkind ein Kind. Experten nennen diese Phase Sechsjahreskrise. Anders als das so genannte "Trotzalter" oder die Pubertät ist die "Sechsjahreskrise" nur wenigen ein Begriff. Dabei kann dieser Einschnitt im Leben eines Kinder durchaus belastend sein, weil sich in wenigen Monaten sehr viel verändert. Das Ende der Kleinkindzeit ist eine energievolle Entwicklungszeit, die zum einen in einen von außen markierten Übergang, nämlich vom „Vorschulkind“ im Kindergarten zum Schuleintritt, fällt und andererseits auch durch dramatische körperliche Veränderungen gut sichtbar wird. Oft wird die Sechsjahreskrise auch von Experten als solche nicht erkannt und so viele Entwicklungschancen vergeben. Vor allem ist es wichtig zu wissen, dass durch die Bewältigung dieser Krise die Kinder selbstständiger und zu logischem Denken angeregt werden. Sie fördert auch das Vertrauen in sich selbst und andere sowie den Teamgeist. Das offensichtlichste in der Sechsjahreskrise ist der Gestaltwandel: Aus dem Kleinkind mit seinen körperlichen Rundungen entsteht nun das völlig anders proportionierte Schulkind. Der Kopf wirkt im Verhältnis zum Körper kleiner, die Stirn ist nicht mehr so dominant, Mittel- und Untergesicht sind charakteristisch ausgebildet, Nasenbein und Kinn entwickeln sich. Der Rumpf wird verkleinert, weniger fettreich, die Muskulatur zeichnet sich ab, die Schulter wird breiter als die Beckenbreite, die Taille beginnt, sich abzuzeichnen. Die Arme und Beine werden länger, dünner und knochiger und die Gelenke treten hervor. Generell wird der Bewegungsapparat leistungsfähiger, hier sind vor allem die Finger wichtig, denn sie lassen sich leichter dirigieren, was eine wichtige Voraussetzung darstellt, um schreiben zu lernen. In dieser Zeit entwickelt sich auch eine eindeutige Seitendominanz – d.h. der bevorzugte Bereich bzw. die bessere Ausführung einer Körperhälfte – für Auge, Hand und Bein und es entscheidet sich, ob das Kind künftig Rechts- oder Linkshänder ist. Charakteristisch für diese Zeit ist auch der Zahnwechsel. Sehr einschneidend ist aber die Veränderung des Gesichts. Es verliert sein stupsnäsiges Kindchenschema und nimmt erwachsenere Züge an, die an die Umwelt neue Signale aussenden. Für Oma, Opa und Tanten ist das Kind ganz plötzlich nicht mehr das herzig-liebe Kleinkind, sondern ein kleiner Erwachsener, für den quasi jetzt der Ernst des Lebens beginnt. Das Kind muss diesen körperlichen Gestaltwandel nun auch in der Psyche integrieren und verarbeiten – es muss ein neues inneres und äußeres Bild von sich selbst entwerfen. Psyche Das Kind muss sich nun an die Aufgabe machen, diesen Gestaltwandel in sein Leben zu integrieren und zu verarbeiten, denn durch die Veränderung in Körperform und Bewegung ergibt sich auch eine Veränderung des kindlichen Verhaltens. Es ist nicht robust und zuverlässig, sehr unbeständig und bei weitem nicht mehr so ausgeglichen wie zuvor. Das Kind muss sich nun ein inneres und äußeres Bild von sich selbst machen. Auf der einen Seite sind sie noch ganz das kleine Kind, denn sie leben in der Gegenwart, dem Hier und Jetzt und erleben es sehr intensiv. Sie sind sehr kontextbezogen und erfahren ihre Umwelt noch sinnlich-zusammenhängend. Andereseits allerdings erweben sie eine Vielzahl neuer kognitiver und sozialer Kompetenzen und gelt es, zwischen diesen beiden Bereichen ein Gleichgewicht zu finden. Das Kind selbst muss seine Rolle neu definieren, ein neues Eigenleben beginnen was so manches Mal ganz schön unsicher machen kann. Aus dieser Orientierungslosigkeit entwickelt sich häufig ein ruppiges Verhalten oder ein übersensibles Reagieren. In der Sechsjahreskrise sind Kinder sehr krankheitsanfällig, vor allem Ohrenerkrankungen und plötzlich auftretendes kurzweiliges Fieber sind besonders häufig. Auch können Schlafstörungen auftreten, die aus der Unsicherheit, in der das Kind lebt, resultieren. Die Kinder werden schneller müde, dass sie einen Großteil ihrer Energie in das Wachsen und Reifen stecken müssen. Seit kurzer Zeit wurde daher auch der Mutter-Kind-Pass erweitert und wird vom Kinderarzt vor dem Schuleintritt im Rahmen dieses Passes noch einmal konsultiert. Der Kinderarzt stellt dann auch die Schulreife des Kindes fest. Schulreife Erreicht ein Kind die Schulreife, so beginnt es, erfahrungsorientiert, kausal und begrifflich zu denken. Langsam wird das Erfahrungswissen in das logische Denken miteinbezogen. Schulreife ist nicht nur eine einzelne Fähigkeit sondern ein ganzes Meer von Fertigkeiten und Reifungsschritten. Die Schulreife manifestiert sich in vier untereinander vernetzten Ebenen: 1) Körperliche Schulreife Sie wird angezeigt durch den vollzogenen Gestaltwandel und der Umgestaltung der Muskulatur. Durch die Unterstützung einer gesammelten Körperhaltung erreicht das Kind eine gute Konzentration und beweist somit Sitzfleisch. Der Zahnwechsel hat bereits begonnen, gleichzeitig kommt es zu einer Hirnreifung und es ergibt sich die nötige Handgeschicklichkeit für das Schreiben. 2) Emotionale Schulreife Das Kind ist psychisch reif, auch außerhalb der Familie belehrt zu werden und ist fähig, sachliche Kritik anzunehmen (Frustrationstoleranz). Es kann Konflikte erkennen und meistens verbal lösen. Es ist in seiner Autonomieentwicklung so weit gewachsen, dass es ohne unmittelbaren Schutz eines Elternteiles selbstsicher bestehen kann. 3) Soziale Schulfähigkeit Das Kind ist imstande, in der Gruppe von gleichaltrigen Kindern zuzuhören, ohne ständig selbst etwas zu tun oder sprechen zu müssen. Nun ist es vermehrt gewillt, sich Regeln unterzuordnen und kann auch auf Wunsch Aufgaben erfüllen, die weniger interessant sind. Es lernt in der Gruppe, auch einmal verlieren zu können. Gerechte Behandlung ist wichtig geworden und es kann zwischen "mein" und "dein" unterscheiden. Außerdem kann es mit anderen Kindern an einer gemeinsamen Aufgabenstellung arbeiten und sich mit ihnen am Erfolg freuen. Das Kind ist fähig, für Jüngere oder Schwächere Verantwortung zu tragen. 4) Intellektuelle Schulreife Die Muttersprache wird weitgehend beherrscht, Fragen können korrekt beantwortet und Wünsche formuliert werden. Das Zeichenverständnis des Kindes ist so weit entwickelt, dass das schulische Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen gestartet werden kann. Das schulreife Kind sollte durch Ausbildung der Konzentrationsfähigkeit länger bei derselben Sache bleiben können. Das Denken ist jetzt vermehrt objektiv zentriert, logische Vorstellungsbilder gesellen sich zu den subjektiven. Im Grunde freut sich das Kind auf die Schule, es ist stolz, dass es eine eigene Lebensaufgabe und Arbeit hat. Diese Freude wird aber oft von den Eltern getrübt. Eltern wollen, dass aus ihren Kindern tolle Schüler werden. Das ist normal, macht aber enormen Druck. Wichtig wäre, dem Kind in dieser Phase echten Rückhalt zu bieten und ihm zu vermitteln, dass man es immer nehmen wird, wie es ist, auch wenn es einmal schlechte Noten geben sollte. Das Kind braucht Eltern und Bezugspersonen, die ihm Schutz geben, aber auch loslassen können – mit der sicheren Hand in der Nähe. Die Eltern haben hohe Erwartungen an die Kinder, sie sollen sie aber nicht damit belasten, sondern im Gegenteil ein hohes Vertrauen haben. Oft ist dies schwierig, weil Eltern mit ihren Kinder die eigene Entwicklung bewusst oder unbewusst wieder erleben. In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass Kinder sich in dieser Zeit ganz stark am gleichgeschlechtlichen Elternteil orientieren. Für Buben werden die Väter sehr wichtig, für Mädchen die Mütter. Gleichzeitig sind die Vorbilder aber auch Reibebäume. Kinder können sich nur entwickeln und wachsen, in dem sie schwierige Phasen gut und stark überstehen. Intellekt Gerade in diesem Bereich passieren viele Dinge. Das Kind ist imstande zu begreifen, dass man nicht alles selbst machen muss, sondern durchaus von den Erfahrungen des anderen profitieren kann. Es lässt sich nun auch besser überzeugen und hält nicht mehr starr an den eigenen Vorstellungen fest. Die Bilder werden differenziert und führen zu echten logischen Begriffen. Außerdem wird die Wahrnehmung im Bereich der Optik und Akustik stark ausdifferenziert. Das Kind will jetzt zeigen, dass es etwas kann, will ernst genommen werden und ist bereit, sich an Verbindlichkeiten zu halten um mit anderen Zusammen etwas zu erarbeiten. Es gestaltet seine Lebenswelt zunehmend autonomer und erobert sich immer größere Freiräume. Soziales Leben Die soziale Welt der Kinder und ihre soziale Entwicklung sind gerade in dieser schwierigen Zeit sehr wichtig, denn das soziale Leben der Kinder hat einen wichtigen Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Integration in die Gesellschaft. In der Schule und im Spiel erproben die Kinder die Kooperation mit Gleichaltrigen ebenso wie den Wettbewerb. Moralische Prinzipien wie Gleichheit, Gerechtigkeit und die Verpflichtung auf gemeinsam aufgestellte Regeln werden zunehmend wichtiger. Sie lernen das Verlieren aber auch das Gewinnen. Auch fördert das Festhalten an Fakten und Traditionen den Zusammenhalt in der Gruppe. Es ist auf alle Fälle zu fördern, dass das Kind Kontakt mit gleichaltrigen Freunden hat, denn am einfachsten ist die Sechsjahreskrise zu bewältigen mit Freunden, die das gleiche mit- bzw. durchmachen. Zu Beginn stehen sich hier gleichwertige Partner gegenüber und zeigen sich erst in der Auseinandersetzung Unterschiede. Der Austausch und das Ausbalancieren unterschiedlicher Positionen und Ansichten stellen wichtige Anreize für die sozial-kognitive Entwicklung dar, und sie sind auch für die sozialisatorische Entwicklung des Kindes unverzichtbar. Kontinuität und Vertrautheit (im positiv erlebten wie auch im negativ wahrgenommenen Sinne) sind für viele wichtige Orientierungsmuster. Hier geht es darum, Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu machen und die geschlechtliche Identität auszubilden, sich seine soziale Position in der Gruppe zu erarbeiten. Für die Schulanfänger z.B. scheinen die sozialen Auseinandersetzungen die weitaus schwierigeren und belastenderen Aufgaben zu sein als die inhaltlichen und fachlichen Herausforderungen der Schule. Bei den jungen Kindern ist die soziale Position in der Klasse meist eng verknüpft mit ihren Schulleistungen. Im Sozialen verlangt nun aber auch die Gesellschaft etwas vom Kind. Es soll fähig sein, die Kulturtechniken zu erlernen, d.h. in die Schule einzutreten und damit aus dem engen Familienverhältnis in die Öffentlichkeit zu treten, Leistungen zu erbringen und somit einen Beitrag für die Gesellschaft zu erbringen. Das Bewältigen der Sechsjahreskrise legt den Grundstein für die Pubertät. Kinder, die in dieser Zeit Respekt für ihr selbstständiges Denken erfahren, werden mit viel mehr Mut in die Umbruchphase der Pubertät eintreten. Freude an dem weiteren Ausbau und der Blüte ihrer Intellektualität haben und nicht so leicht verängstigt sein. Was die autonome Entwicklung anbelangt, kann das Kind im besten Fall schon auf den positiven Ausgang der Entwicklungskrise des frühkindlichen Opponierens zurückgreifen. Jetzt in der Sechsjahreskrise benötigt das Kind in noch größerem Umfang und auf noch mehr Gebieten das Zutrauen all derer, die ihm nahe stehen, dass es selbstständig handeln kann. Noch benötigt das Kind den Erwachsenen, er kann noch nicht alleine durch das Leben gehen – sicher aber schon zu Freunden oder zur Schule.