Aggressitivät – Wie damit umgehen? Überlegungen zum Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen von Jugendlichen Mögliche Gliederungspunkte (alphabetisch geordnet) Ansatzpunkte für die Praxis (Ergebnisse der Praxisforschung zu der jugendlichen Klientel) Definitionen Diskussion in Hinblick auf die Zielgruppe Jugendliche [als Themeneinengung] Einleitung Erscheinungsformen und ein Fallbeispiel Forschungslücken, offene Probleme Konsequenzen für die Praxis Literaturverzeichnis Mögliche Gliederungspunkte Vermutete & erforschte Ursachen (Empirie, Theorien, Modelle) Zusammenfassung Den Massenmedien berichten fast täglich „von Gewalt unter Jugendlichen, von Kindermord durch Kinder, von kaltblütigen Strangulierungen, Folterungen, Erpressungen Schwächerer durch Stärkere, einzelner durch Banden, von barbarischen Zerstörungsakten, von Waffenbesitz und Waffengebrauch, von Vergewaltigungen“ (v. Hentig 1993, S. 11). Hinzu kommen die für die Medien nicht genügend sensationellen verbalen Attacken und Ehrverletzungen, das Mobben von anderen, das Schubsen, ein-Bein-Stellen u.a. Kürzlich beobachtete ich selbst folgende Szene: Eine Gruppe von sieben Kindern, vorwiegend kleine Mädchen, aber auch zwei Jungen, hatte das Kinder- und Jugendfreizeitheim „Flipper“ in Berlin-Schöneberg um 18 Uhr verlassen müssen, weil das Personal zu dieser Zeit Dienstschluss hat. Der älteste, ca. 13jährige türkische Junge hämmerte mit den Fäusten und trat so lange gegen die einfache Glastür, bis eine der Sozialpädagoginnen die Tür wieder öffnete. Sie fragte ihn, was er wolle und er antwortete, dass er wieder hinein wolle. Als sie ablehnte, spuckte er ihr ins Gesicht und nannte sie eine „alte Fotze“, was bei ihr keinerlei erkennbare Reaktionen hervorrief. Bei dem Versuch, die Tür wieder zuzuziehen, stellte der Jugendliche seinen Fuß zwischen Tür und Rahmen und spuckte durch den Türspalt der Sozialpädagogin ein zweites Mal seine Rotze ins Gesicht. Daraufhin klemmte sie seinen Fuß kräftiger ein, worauf er seinen Fuß zurückzog, so dass die Tür wieder geschlossen werden konnte. Meine Reaktion war eine unbeschreibliche Fassungslosigkeit und aufsteigende Wut gegen diesen „Türken“, den ich am liebsten verprügelt hätte. Aber ich hatte Angst vor einer Auseinandersetzung in dem mir fremden Kiez. Was hätte ich tun sollen? Wie hätte die Erzieherin reagieren sollen? Was waren die Beweggründe des Jugendlichen, wieder in das Freizeitheim zu wollen, was seine Gründe dafür, die Sozialpädagogin zu bespucken und zu beleidigen? Was rät die Wissenschaft? „Aggression beim Menschen wird definiert als körperliches oder verbales Handeln, das mit der Absicht ausgeführt wird, zu verletzen oder zu zerstören. Gewalt ist Aggression in ihrer extremen und sozial nicht verträglichen Form.“ (Zimbardo 1995, S. 425) Diese Definition beinhaltet mehrere Probleme: Sie definiert nur das beobachtbare Verhalten, nimmt jedoch eine Absicht in die Definition auf, die nicht unbedingt feststellbar ist, sagt nichts zu den Abgrenzungen zur Aggressivität ist auch nicht sonderlich trennscharf in Bezug auf die Unterscheidung von Aggression und Gewalt, und impliziert sozial verträgliche Aggression. Zudem unterschlägt diese Definition verborgene Aggressionsformen, die sich in selbstschädigendem Verhalten und Depressionen äußern kann (vgl. Ertle 1998, S. 19). Fröhlich (1997, S. 45) definiert Aggressivität als „Bezeichnung für gehäuft auftretendes feindseliges, sich in verbalen oder tätlichen Angriffen äußerndes Verhalten bzw. das Überwiegen feindselig-ablehnender und oppositioneller Einstellungen beim Menschen.“ Diese Definition grenzt Aggressivität nicht hinsichtlich Aggression und Gewalt ab, bringt aber Dispositionen ins Spiel. Kornadt/Zumkley (1981, S. 6; grammatische Anpassung & Auslassung: F.R.) differenzieren zwischen Aggression als „manifeste[m] Verhalten [...], dessen Ziel in der (intendierten) körperlichen oder symbolischen Schädigung/Ver-letzung von Personen, Tieren oder Objekten besteht“ und Aggressivität als „überdauernde, latente Bereitschaft zu aggressivem Verhalten“. Es gibt zahlreiche theoretische Ansätze, jedoch ist noch keine Metatheorie, die die einzelnen Versatzstücke anderer Theorien ausschließen bzw. integrieren könnte. Die wichtigsten Ansätze seien kurz in Anlehnung an Kornadt/Zumkley (1981) referiert. Psychoanalyse. Alfred Adler vermutete seit 1908 einen angeborenen Aggressionstrieb und Sigmund Freud sah bis 1915 Aggression als Teil des Sexualtriebs an. Ab 1915 betrachtete Freud Aggression als Reaktion auf Unlustempfindungen, was er 1920 revidierte: Seine jetzt dualistische Trieblehre geht von einem Lebens- (Eros) und einem Todestrieb (Thanatos) aus. Letzterer werde als Aggression nach außen ausgelebt, bevor er im spannungslosen Zustand des Todes endet. Diese Theorie wird nur von wenigen Psychoanalytikern geteilt (vgl. Kornadt/Zumkley 1981, S. 6f.; vgl. Zimbardo 1995, S. 426). Aggressions-/Frustrationsforschung. Erste theoretische und forschungspraktische Bedeutung haben die Ärgeraffekt- und Aggressionsforschung der Lewin-Schule, die entwicklungspsychologischen Arbeiten, z.B. zum Trotz, von Bühler, Winkler und Gesell erlangt sowie die Arbeiten zur Frustration von Rosenzweig u.a. Festgehalten wird bis heute an der 1939 von Dollard u.a. entwickelten Frustrations-Aggressionshypothese, die besagt, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen einer Versagung und der darauf folgenden Reaktion, also Aggressivität bzw. Aggression. Dieses Reiz-Reaktions-Gesetz wurde von dieser Forschergruppe selbst schon 1941 abschwächt. Modelllernen. Die Frustrations-Aggressionshypothese kam jedoch in ärgste Schwierigkeiten, als Bandura und Walters 1963 zeigen konnten, dass aggressives Verhalten durch bloße Nachahmung gelernt werden kann, ohne dass Frustration bei einem Aggressor vorliegt. Auf der Basis umfangreicher Experimente hat Bandura 1973 eine soziale Lerntheorie der Aggression vorgelegt, „in der neben aversiven Erlebnissen vor allem die antizipierten Konsequenzen der eigenen Handlungen eine entscheidende, verhaltenssteuernde Rolle spielen. [...] Theoretisch bedeutsam ist, daß nicht mehr der Druck (push) aversiver Zustände, sondern vor allem der Anreiz (pull) erwarteter positiver Ergebnisse das aggressive Verhalten bedingt.“ (Kornadt/ Zumkley 1981, S. 8f.) Ethologische Forschung. Konrad Lorenz definierte 1963 aus Tierbeobachtungen Aggression als triebbedingtes Angriffsverhalten unter Artgenossen. Auch ohne Auslöser könne sich diese Triebenergie spontan entladen. Öftere Aggressionsabfuhr sei nötig, damit kein Triebstau entstehe. Lorenz‘ Übertragung auf den Menschen wurde z.T. heftig abgelehnt, jedoch durch interkulturelle human-ethologische Vergleiche, z. B. durch EiblEibesfeldt (vgl. 1970), gestützt. Physiologische Grundlagen. Zahlreiche Untersuchungen weisen auch auf hirnphysiologische, neurologische, hormonelle und erbliche Komponenten sowie auf Einflüsse bei Drogeneinnahme oder Chromosomenanomalien hin. Insbesondere die hormonelle Seite scheint für die geschlechtsspezifisch unterschiedliche und in der Pubertät auffällige Aggressivität eine Rolle zu spielen (vgl. dazu ausführlicher: Zimbardo 1995, S. 426-429). Kognitive Theorieansätze. Hierbei geht es um die Bedeutung kognitiver Bewertungsprozesse im Zusammenhang mit aggressiven Handlungen. Was für eine Rolle spielen die unterstellten Intentionen, die Erwartungen, ein Ziel zu erreichen, die Berechtigung von Ärger- und Rachegefühlen, die Freude oder Befriedigung über die erzielten Aggressionseffekte? Solche und andere Fragen werden im Zusammenhang mit moralischer und kognitiver Entwicklung diskutiert. Mit zunehmender Berücksichtigung solcher komplexer kognitiver Prozesse der Abwägung und Bewertung eigener Handlungsmöglichkeiten, der Bewertung des sozialen Handlungs- und Interaktionsfeldes und sozialer und individueller Bezugsnormen wird der theoretische Rahmen im Sinne einer Motivationstheorie der A [= Aggression; F.R.] ganz wesentlich erweitert und damit wohl endgültig auch das Stadium monokausaler Theorien der A verlassen“ (Kornadt/Zumkley 1981, S. 10; Einfügung: F.R.). Was folgt nun aus den theoretischen Ansätzen im Hinblick auf den Umgang mit aggressivem Verhalten bei Jugendlichen? Ertle (vgl. 1998, S. 21f.) betont die schwierige Situation, in der Jugendliche (und ihre Umwelt) sich in ihrer Pubertät befinden. Die Fort- und Rückschritte, das Schwanken zwischen der Identität als Kind und der als Jugendlicher/Erwachsener läuft nicht ohne Konflikte und Auseinandersetzungen mit Personen ab sowie nicht ohne aggressive Ausbrüche gegenüber Personen, Tieren und/oder Sachen. Als Erklärung dienen einerseits die hormonelle Umstellung, andererseits triebtheoretisch hypostasierte Energieüberschüsse, die durch Sport und wettkämpferische Auseinandersetzung ausagiert werden sollen. Dabei sei es hilfreich, wenn eine Gleichaltrigengruppe emotionalen Halt gebe und in Konfliktfällen Lösungswege aufzeige, die möglichst ohne Gewalt gangbar sind. Nach der Frustrations-/Aggressionshypothese sollten Jugendliche in ihrem schwankenden Selbstwertgefühl gestützt und allzu häufige und starke Frustrationen vermieden werden. Die soziale Lerntheorie würde die Notwendigkeit positiver Vorbilder betonen und die Nachahmung schlechter Beispiele zu verhindern suchen. Dies hieße beispielsweise nicht nur, den Konsum von brutalen und grausamen Fernseh- und Kinofilmen für Kinder und Jugendliche zu verbieten und dem positive Beispiele entgegenzusetzen, sondern auch Jugendlichen den Umgang mit bestimmten anderen Jugendlichen zu verbieten sowie aggressives Verhalten öffentlich nicht erfolgreich werden zu lassen. Dies würde wiederum implizieren, dass Jugendliche für ihr Handeln und die Folgen ihres Tuns stärker und sofort zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Die kognitive Herangehensweise würde über Dilemma-Aufgaben und/oder konkrete Fallbeispiele im Gespräch herauszufinden suchen, auf welcher moralischen Entwicklungsstufe sich die Jugendlichen befinden und mittels gruppendynamischer Ansätze und psychosozialer Betreuung versuchen, die kognitive und moralische Entwicklung altersgemäß zu fördern. Auffällig deviante Jugendliche sollten in ihrem Einfluss auf andere gebremst und einer besonderen Einzelbetreuung unterzogen werden. Die ethologischen Ergebnisse würden auch Versuche rechtfertigen, die antisoziale Aggressivität besonders gewaltbereiter Jugendliche nur in richtige Bahnen zu lenken, also reglementierte bzw. prosoziale Gewalt zu fördern. Nicht aufhören sollte man, den Jugendlichen über Perspektivenwechsel die Perspektive des Opfers bzw. die Folgen seines Handelns vor Augen zu führen sowie durch kritische Selbstreflexion das reife Erwachsenwerden zu fördern. Im o.g. Fall hätte die Sozialpädagogin als Betroffene sicherlich neben dem Druck auf den eingeklemmten Fuß noch andere Reaktionen zeigen müssen. Dieses Ertragen oder Dulden spiegelt zu wenig die Gefühle der betroffenen Person. Was wäre geschehen, wenn sie selbst aggressiv geworden wäre? (Ich hätte – unpädagogisch – entweder zurückgespuckt oder ihm kräftig eine heruntergehauen.) Aber auch ich (sowie eine vorhandene Gruppe von fünf Erwachsenen) hätten reagieren müssen. Natürlich weiß der Jugendliche, dass man keinem anderen ins Gesicht spuckt und eine Frau nicht mit „alte Fotze“ beschimpft, aber er hatte sein passives Publikum. Und seine Tat blieb (in dieser Sequenz) ohne Folgen. Hierbei tut sich noch ein anderes Problem auf: Der Machismo türkischer Jugendlicher ist ja bekannt, aber soll und darf man ihn im öffentlichen Raum so einfach dulden? Hier kommt die Problematik der Ausländerfeindlichkeit ins Spiel, die die Betroffene und das Publikum in ihren Reaktionen vielleicht gebremst haben. Jeder Übergriff der Deutschen wäre sicher als Ausländerfeindlichkeit ausgelegt worden (gegenüber befindet sich ein türkisches Café). Aus pädagogischer Sicht wäre aber eine Reaktion erforderlich: Eruieren der häuslichen Situation, Gespräch mit dem Jungen, Hinweis auf sein vorurteilförderndes Verhalten, notfalls Beschwerde bei den Eltern, zeitweises Hausverbot, ... Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. München: Piper, 1970. Ertle, Christoph: Aggression. In: Lenzen, Dieter (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Bd. 1. 5. Aufl. Reinbek: Rowohlt, 1998, S. 19-22. Fröhlich, Werner D.: Aggressivität. In: Fröhlich, Werner D.: Wörterbuch Psychologie. 21., bearb. und erw. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997, S. 45. Hentig, Hartmut von: Die Schule neu denken. München: Hanser, 1993. Zimbardo, Philip G.: Psychologie. 6., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: Springer, 1995.