Kolonialismus

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Kolonialismus
1
EINLEITUNG
Kolonialismus (von lateinisch colonia: Niederlassung, Ansiedlung), Bezeichnung für ein System der
wirtschaftlichen und politischen Herrschaft eines Staates über Regionen außerhalb seiner eigenen Grenzen.
Kolonien entstanden aus der Landnahme durch Besetzung bzw. militärische Eroberung oder vertragliche
Vereinbarungen mit den Landesautoritäten und entwickelten sich häufig aus der Gründung von
Handelsniederlassungen, Militärstützpunkten oder Siedlungen von Migranten ( siehe Migration).
In den Geschichtswissenschaften beschreibt der Begriff Kolonialismus in der Regel das Bestreben einiger
europäischer Staaten, neue Siedlungs- und Wirtschaftsräume zu erschließen und ihre Machtbasis
auszuweiten und stellt insofern eine erste Stufe der Globalisierung unter europäischen Vorzeichen dar.
Diese Epoche, die mit dem Beginn der frühen Neuzeit einsetzte und nach dem 1. Weltkrieg zu Ende ging,
erreichte ihren Höhepunkt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in der Hochphase der
imperialistischen Konkurrenz unter den Großmächten um die machtpolitisch noch unerschlossenen Teile der
Welt. Größte Kolonialmächte im 16. und 17. Jahrhundert waren Spanien und Portugal, im 19. und
20. Jahrhundert Großbritannien und Frankreich, der deutsche Kolonialbesitz zwischen 1884 und 1918 blieb
dagegen unbedeutend.
Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich 85 Prozent der Erdoberfläche unter Kolonialherrschaft oder in
einer halbkolonialen Abhängigkeit. Nach dem 2. Weltkrieg setzte eine rasche Auflösung der Kolonialreiche
ein (Dekolonisation) und mündete in die Gründung einer Vielzahl von Staaten, die nun das Gros der Dritten
Welt bilden. In einer Reihe von Fällen blieben die ehemaligen Kolonien trotz formeller Souveränität
weiterhin wirtschaftlich und politisch an die bisherigen Kolonialmächte gebunden, oder es ergaben sich neue
Formen der Abhängigkeit (Neokolonialismus).
2
ERWERB DER KOLONIEN, TYPEN UND VERWALTUNG
2.1
Gründe für den Erwerb
Die koloniale Unterwerfung fremder Gebiete wurde unterschiedlich begründet und legitimiert. Als Motive
herrschten vor:
– Überbevölkerung, politische Unterdrückung und religiöse Verfolgung, die viele Menschen zur
Auswanderung und zur Gründung von Siedlungskolonien veranlassten, z. B. in Nordamerika;
– Handels- und Wirtschaftsinteressen, die zur Anlage von Handelsstützpunkten und dem Erwerb
wirtschaftlich interessanter Gebiete in Übersee führten;
– strategische Gründe, um bereits bestehende Besitzungen und die Verkehrsrouten zu ihnen z. B. durch
Militärstützpunkte abzusichern;
– missionarische Absichten, das Christentum über die ganze Welt zu tragen; sie wurden später überlagert
von dem zivilisatorischen Motiv, die für zurückgeblieben und „wild” gehaltenen Völker an den Segnungen
der europäischen Kultur teilhaben zu lassen;
– nationalistisches Expansionsdenken, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in
imperialistische Rivalität umschlug.
Mehrere dieser Beweggründe wirkten im Laufe der Kolonialgeschichte häufig zusammen, überlagerten
einander oder folgten aufeinander. In der kolonialpolitischen Praxis der europäischen Staaten ging es
hingegen hauptsächlich um die Ausbeutung fremder Ressourcen für den eigenen Wohlstand und die
Erlangung oder Behauptung einer vorteilhaften geostrategischen Machtposition.
Die Erschließung und Inbesitznahme der Kolonien erfolgte in vielen Fällen zunächst auf Initiative und Risiko
von Privatgesellschaften, die von ihrem Staat mit einem Schutzbrief legitimiert wurden. Dem so genannten
Mutterland traten sie die Herrschaft dann ab, wenn sich das wirtschaftliche Engagement nicht mehr lohnte
und/oder sich als zu risikoreich erwies.
2.2
Typen
Entsprechend der beabsichtigten Nutzung des Gebiets, dem Herrschaftsverständnis der Kolonialmacht und
der Kooperationsbereitschaft der einheimischen Autoritäten entwickelten sich verschiedene
Kolonialsysteme. Aus Handels- und Expeditionsstützpunkten, wie sie vor allem in der ersten Phase der
europäischen Expansion nach Übersee von Portugiesen und Spaniern gegründet wurden, entstanden häufig
Wirtschaftskolonien, die vorrangig der Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen des
Kolonialgebiets dienten, um das Mutterland mit Rohstoffen und „Kolonialwaren” zu versorgen. Seit Mitte des
19. Jahrhunderts wurden die Kolonien umgekehrt zunehmend wichtig als Absatzmärkte für
Industrieprodukte und als günstige Investitionsräume für Kapital aus dem Mutterland.
Militärbasen und -kolonien dienten Sicherheitserwägungen und wurde angelegt, um die Routen zu den
Kolonien, aber auch koloniale Besitzungen selbst zu schützen. Siedlungskolonien wurden von Migranten
geschaffen, die als Angehörige religiöser Minderheiten, als politisch Verfolgte, Armutsflüchtlinge oder
Abenteurer ausgewandert waren. Sie verdrängten die einheimische Bevölkerung (wie z. B. in Nordamerika)
oder stellten die Herrenschicht dar (wie z. B. in Südamerika, Südafrika, Algerien). Eine besondere Form der
Siedlungskolonie war die Strafkolonie. Von Sträflingen, die nach New South Wales deportiert worden waren,
ging die weiße Besiedlung Australiens aus.
2.3
Status der Kolonien
Die Kolonialmächte nahmen die völkerrechtliche Hoheit über die kolonisierten Gebiete in Anspruch; deren
Abhängigkeit schlug sich aber in unterschiedlichen rechtlichen Formen nieder: Neben den eigentlichen
Kolonien gab es u. a. Protektorate, Dominions, Treuhand- und Mandatsgebiete. Britische Kolonien, die von
London aus direkt regiert wurden, erhielten den Status einer Kronkolonie. Manche Kolonialmächte
betrachteten einen Teil ihrer Erwerbungen als integrative Bestandteile des Gesamtstaates und gaben ihnen
den Status einer Provinz (z. B. Frankreich seinen Départements d’Outre-Mer). Staatsbürgerliche Rechte des
Mutterlandes (z. B. im Rechtswesen und im Wahlrecht) genossen jedoch auch in diesen Fällen fast nur die
Kolonisatoren.
Formal unabhängige Staaten, die jedoch unter dem beherrschenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss
anderer Mächte standen (vor 1914 z. B. Persien, Türkei, China), wurden als Halbkolonien bezeichnet.
2.4
Verwaltung
Die Regierungsgewalt wurde durch Gouverneure ausgeübt, die von der Regierung der Kolonialmacht
entsandt und durch ein Kolonialamt oder ein Kolonialministerium beaufsichtigt wurden. Die Gouverneure
regierten mit Methoden im Spektrum zwischen direkter und indirekter Herrschaft: Im ersten Fall
unterwarfen sie die eingesessene Bevölkerung einem aus dem Herrscherland importierten
Verwaltungsapparat, an dessen Vorschriften sie sich anzupassen hatte (wie z. B. in vielen Fällen in den
französischen Kolonien); die indirekte Herrschaft stützte sich dagegen auf bestehende Machtstrukturen,
überließ den einheimischen Autoritäten ein zum Teil hohes Maß an innerer Selbstverwaltung und
beeinträchtigte die Herrschaftstradition und kulturelle Identität der Bevölkerung weniger als im Fall der
direkten Herrschaft.
Vor allem Großbritannien praktizierte dieses Prinzip der indirekten in abgestufter Form. Den Kolonien
Nordamerikas erleichterte die „lange Leine” des britischen Selbstverwaltungssystems den Abfall vom
Mutterland. Andernorts schufen sich die Kolonisatoren durch gezielte Bildungsarbeit und die Heranführung
an Verwaltungs- und Wirtschaftsaufgaben unter den Einheimischen eine Bildungselite, die – vor allem in Fall
indirekter Herrschaft – die Kontrolle über die Kolonie vereinfachte. Die Zweischneidigkeit dieser Entwicklung
zeigte sich, wenn Angehörige dieser Bildungselite die Führung in Widerstands- und
Unabhängigkeitskämpfen übernahmen, wie z. B. in Indien ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts.
2.5
Kooperation und Widerstand
Trotz zahlreicher Zeugnisse für zumindest zeitweise erfolgreichen Widerstand gegen die Okkupatoren
konnten die militärisch unterlegenen einheimischen Bevölkerungen der Übermacht der weißen Eroberer und
ihrer Unterwerfung oder Vertreibung in der Regel wenig entgegensetzen. In vielen Fällen beugten sich die
lokalen Autoritäten den Kräfteverhältnissen und unterschrieben Übergabe- und „Schutzverträge”.
Doch in vielen Fällen wehrten sich die einheimischen Völker heftig und lange erfolgreich gegen die
europäischen Eindringlinge und lieferten ihnen auch nach Errichtung der Kolonien lang anhaltenden
Widerstand: Das Vordringen der europäischen Siedler in Nordamerika war über 200 Jahre lang von
anhaltenden Kämpfen mit Indianern begleitet; Zulu und Xhosa setzten den vorrückenden Treck-Buren in
Südafrika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerhaften Widerstand entgegen; unter Abd el-Kader
vereinigten sich die algerischen Stämme zu einer Aufstandsbewegung gegen die französischen Eroberer
(1832-1846); die erfolgreiche Mahdi-Bewegung gegen die osmanisch-ägyptische bzw. britische Herrschaft
(Mahdi-Aufstand 1881-1885) wurde erst 1898 von den Briten besiegt; die Herero und Nama (Khoikhoin)
leisteten den Deutschen in Südwestafrika erheblichen Widerstand. In Südostasien gelang Niederländern,
Briten und Franzosen die endgültige Eroberung von Indonesien bzw. Burma und Indochina im Verlauf des
19. Jahrhunderts erst nach langen blutigen Kämpfen.
3
GESCHICHTE
3.1
Kolonialismus in der Antike
Die Seehandel treibenden Bewohner Phöniziens gelten allgemein als die ersten Überseekolonisatoren. Sie
errichteten schon um 1100 v. Chr. Kolonien an den Küsten des Mittelmeeres. Seit dem 8. Jahrhundert
v. Chr. folgten viele griechische Stadtstaaten diesem Beispiel und gründeten Handelsniederlassungen im
Mittelmeerraum. Die Stadt Karthago, als phönizische Kolonie gegründet, wurde selbst eine bedeutende
Kolonialmacht: Die Karthager errichteten ein auf der Kontrolle der Schifffahrt des Mittelmeeres basierendes
Handelsimperium, zu dem auch Kolonien in Spanien und auf Sizilien gehörten. Das Reich der Karthager
wurde in den Punischen Kriegen (3. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) von Rom vernichtet. In den folgenden
Jahrhunderten dehnten die Römer ihren Herrschaftsbereich kontinuierlich aus und herrschten als
Kolonialmacht über weite Teile Europas und des Nahen Ostens.
Siehe auch Kolonien (Antike)
3.2
15. bis 18. Jahrhundert
3.2.1
Spanien und Portugal
Mit der Eroberung des marokkanischen Ceuta 1415 und der Errichtung von Stützpunkten an der
afrikanischen Küste zum Zweck des Gold- und Sklavenhandels eröffnete Portugal die europäische
Expansion. Den eigentlichen Beginn der Epoche des neuzeitlichen Kolonialismus setzten jedoch die
Entdeckung Amerikas durch Kolumbus von Spanien aus (1492) und die Erschließung des Seeweges nach
Indien durch den Portugiesen Vasco da Gama (1498). Im Vertrag von Tordesillas (siehe Demarkationslinie)
verständigten sich Spanien und Portugal, die beiden ersten Kolonialmächte der Neuzeit, über die Aufteilung
der noch unerschlossenen Teile der Erde.
Spanien und Portugal verfolgten in ihren Einflusszonen unterschiedliche Kolonialstrategien. Die Spanier
eroberten innerhalb weniger Jahrzehnte weite Teile Süd- und Mittelamerikas sowie der Karibik; die
Konquistadoren errichteten riesige Vizekönigreiche (Neuspanien 1535, Peru 1543), bauten systematisch die
überseeische Territorialverwaltung und die wirtschaftliche Erschließung aus und unterwarfen die
einheimische Bevölkerung einem drastischen Ausbeutungssystem (Encomienda). Die Territorien und der
Goldreichtum der Kolonien sicherten für eine Weile den Anspruch der spanischen Krone auf die
Vorherrschaft in Europa und in der Welt.
Die Portugiesen nahmen 1500 Brasilien in Besitz, gliederten es als integralen Bestandteil ihrer Monarchie
ein, kolonisierten es auf der Basis des Zuckerrohranbaus und nutzten extensiv ihr Monopol auf den
transatlantischen Handel mit Sklaven, die sie über ihre afrikanischen Stützpunkte geliefert bekamen. Da es
den Portugiesen im Übrigen vornehmlich um die Vorherrschaft im Gewürzhandel ging, für den sie Festungen
und Handelsposten an den Küsten Westafrikas (u. a. Moçambique, Sansibar), Indiens (Goa, Kalikut) und
Chinas (Macao) errichteten, verzichteten sie auf eine weiträumige Eroberung des Landesinneren, zumal sie
auch aufgrund der im Vergleich zu Spanien wesentlich geringeren Kapazitäten dazu kaum in der Lage
waren. Ende des 16. Jahrhunderts machten Engländer und Holländer den Portugiesen das Monopol im
Fernhandel mit Ostasien streitig und verdrängten sie nach und nach aus ihren Stützpunkten; Anfang des
17. Jahrhunderts etablierte sich die englische Ostindische Kompanie in Indien und begann 1757 mit der
Eroberung des Subkontinents, und um 1800 hatten die Holländer die Herrschaft über Java und Ceylon
(heute Sri Lanka) erlangt.
Gewachsenes Selbstbewusstsein der spanischen Statthalter in Südamerika, die zudem vom
Unabhängigkeitskampf der britischen Siedler in Nordamerika beflügelt wurden, führten im ersten Drittel des
19. Jahrhunderts zu einer relativ raschen Ablösung der spanischen Überseegebiete vom Mutterland.
Gleichfalls als Konsequenz aus gewachsenen Widersprüchen zwischen der portugiesischen Herrenschicht in
der Kolonie und der Zentrale in Europa erklärte sich 1822 Brasilien zur unabhängigen, konstitutionellen
Monarchie.
3.2.2
Niederlande
Ende des 16. Jahrhunderts traten die Niederlande durch die Aktivitäten der privilegierten Privatgesellschaft
Vereenigde Oostindische Companie in den Kreis der Kolonialmächte. 1619 wurde Batavia (Jakarta) auf Java
erobert, das Zentrum des niederländischen Kolonialreiches wurde. Die Gründung von Kapstadt als
Proviantstation 1652 auf der Route nach Südostasien ermöglichte die Zuwanderung von Siedlern, die als
Buren bald ein vom Mutterland abgeschiedenes Eigenleben entwickelten. Sie drangen auf Trecks ins
Landesinnere vor und gründeten im 19. Jahrhundert mehrere Republiken, u. a. den Oranje-Freistaat und die
Südafrikanische Republik (Transvaal).
3.2.3
Großbritannien
Die Ankunft und Ansiedelung englischer Kolonisten, die aus religiösen Gründen emigriert waren, in Amerika
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts legten den Grundstein für die Entstehung der 13 englischen
Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste. Auf der Grundlage einer massiven Zuwanderung aus Europa
dehnten die Kolonien ihr Siedlungsgebiet sukzessive nach Westen aus, wobei sie mehrmals in kriegerische
Konflikte mit den Franzosen gerieten, die 1608 Quebec gegründet hatten und in die gleiche Richtung
expandierten. Gegenüber den Indianern setzten sich die britischen Siedler trotz teilweise heftigen
Widerstands mit einer kompromisslosen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik durch. Die von England
geübte Praxis, die Kolonien weitgehend der Selbstverwaltung zu überlassen, barg die Gefahr, dass diese
sich rasch vom Mutterland emanzipierten, dass sie eher zu rebellieren begannen, wenn die Politik des
Mutterlandes den Interessen der Kolonie zuwiderlief. Ein solcher Konflikt mündete 1776 in die
Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien in Nordamerika und im Unabhängigkeitskrieg, aus dem
die USA siegreich und als souveräner Staat hervorgingen.
Ungeachtet dieser Niederlage blieb England, das im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) Frankreich im Kampf
um die koloniale Vorherrschaft besiegt hatte, führende Kolonialmacht. Zum Kern des britischen Empire
entwickelte sich im 18. Jahrhundert der indische Subkontinent, den sich die 1600 gegründete East India
Company vollständig erschloss, nachdem sie bis 1761 die französischen Kolonisatoren verdrängt hatte.
1858 musste die Kompanie nach einer breiten Aufstandsbewegung im Norden Indiens ihre Herrschaft über
den Subkontinent an die britische Regierung übertragen.
3.2.4
Frankreich
Frankreich gründete seit 1608 Handels- und Militärstationen in Kanada und dehnte seinen Einflussbereich
weiter in den Westen und Süden aus. Im Konflikt mit Großbritannien musste es sich 1763 nach dem
Siebenjährigen Krieg aus den südlichen Teilen seiner Eroberungen, die sich über den ganzen Kontinent bis
an den Golf von Mexiko (Lousiana) erstreckten, zurückziehen. Als zweite und dauerhaftere Säule der
französischen Kolonialherrschaft bildeten sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts die westafrikanischen
Besitzungen heraus.
3.3
1815 bis 1880
Im Gefolge der industriellen Revolution, die den Drang der Europäer nach Rohstoffen verstärkte und
zugleich ihre waffentechnischen Vorteile noch weiter ausbaute, wandelten sich im 19. Jahrhundert Intention
und Ausprägung des Kolonialismus. Mit Nachdruck wurden überseeische Gebiete in Besitz genommen: In
der Absicht, ein neues Kolonialreich aufzubauen, eroberte Frankreich Algerien (1830-1847), erweiterte
seine Kolonien im Senegal und begann mit der Eroberung Indochinas. Großbritannien expandierte auf dem
indischen Subkontinent, gliederte zahlreiche Territorien in das Empire ein, darunter die Kapkolonie (1815),
Australien und Neuseeland (1840), Natal (Südafrika, 1843), Burma (1852) und Lagos (Nigeria, 1861).
Zugleich wurden neue Regionen für den Handel und als Einflussgebiete europäischer Nationen erschlossen,
so das Osmanische Reich und Ägypten, Persien, Teile Chinas und Japan. Russland drang weiter nach
Sibirien und Zentralasien vor, wo es die kulturell hochentwickelten Khanate Kasachstan, Turkestan,
Turkmenien, Kokand, Chiwa und Buchara eroberte und an der langen Grenze zu Persien und Afghanistan an
den Einflussbereich Großbritanniens stieß. Im Osten dehnte es seine Kolonialaktivitäten in die Mandschurei
und nach Nordkorea aus, wo es schließlich die Expansionsinteressen Japans verletzte, von dem es im
Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 zurückgedrängt wurde.
3.4
Die imperialistische Phase (1870-1918)
Eine neue Dynamik entfaltete der europäische Kolonialismus nach der Eröffnung des Suezkanals 1869 und
vor allem der Besetzung Ägyptens durch Großbritannien 1882. Die Rivalität unter den europäischen
Mächten um die noch nicht kolonisierten Gebiete und geostrategische Vorteile steigerte sich zu einem
Wettlauf der kolonialen Expansion, an dem sich nach der deutschen Reichsgründung 1871 auch Deutschland
beteiligte (siehe Abschnitt 4). Um das Kriegsrisko zu vermindern, verständigten sich die Großmächte auf die
gegenseitige Abgrenzung ihrer Interessengebiete; auf der bedeutendsten dieser Teilungskonferenzen, der
Berliner Afrika-Konferenz (Kongo-Konferenz) 1885, teilten die Kolonialmächte Afrika komplett untereinander
auf: Frankreich übernahm die Regionen nördlich und südlich der Sahara (Französisch-Westafrika und
Französisch-Äquatorialafrika), die Briten den größten Teil des Ostens (Britisch-Ostafrika) und des Südens,
der Anspruch des Deutschen Reiches auf mittelafrikanische Gebiete wurde anerkannt, Portugal dehnte seine
Küstenenklaven von Angola und Moçambique ins Landesinnere aus, Belgiens König Leopold wurde die
Kongoregion als privater Kongo-Freistaat zugesprochen. Die Kolonialisierung des Kontinents (mit Ausnahme
Liberias und Äthiopiens) erfolgte ohne jede Rücksicht auf die Interessen der Völker Afrikas und war 1900
praktisch abgeschlossen. Dabei kam es in Regionen, in denen sich die Interessen der Kolonialmächte
überschnitten, z. B. im Sudan und in Marokko, zu Konflikten (Faschodakrise zwischen Frankreich und
Großbritannien 1898, Marokkokrisen 1905 und 1911 zwischen Deutschland und Frankreich), die zur
Verschlechterung des internationalen Klimas und einer Steigerung des Wettrüstens, insbesondere des
Flottenbaus, beitrugen.
Gegenüber dem politisch geschwächten China verständigten sich die Großmächte, von denen einige schon
bedeutende Gebiete in China kontrollierten, 1899/1900 auf eine Politik der offenen Tür. Die USA hatten sich
gegen eine regionale Aufteilung Chinas nach dem Muster Afrikas gewandt, um allen Staaten einen
ungehinderten Zugang zum potentiell riesigen chinesischen Markt zu gewährleisten. Zur Niederschlagung
des Boxeraufstands (1900) bildeten sie ein gemeinsames Expeditionskorps, das für die unbedingte
Durchsetzung ihrer imperialistischen Interessen sorgte.
4
DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS
(Siehe auch Deutsche Kolonien)
4.1
Kolonialpolitik
Als „verspätete Nation” machte Deutschland nach anfänglichem Zögern des Reichskanzlers Otto von
Bismarck erst seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts expansionistische Interessen in Übersee
geltend. Vorkämpfer und erste Träger der Kolonialpolitik waren Kolonialgesellschaften, besonders der
Deutsche Kolonialverein und die Gesellschaft für deutsche Kolonisation unter Führung von Carl Peters, die
sich 1887 zur Deutschen Kolonialgesellschaft zusammenschlossen. 1884/85 stellte Bismarck die ersten
Gebietserwerbungen – in Südwestafrika (heue Namibia), Togo, Kamerun, Ostafrika und im Pazifik – unter
den „Schutz” des Reiches. Zwar wertete Bismarck diese Kolonien öffentlich lediglich als unbedeutende
Handelsstützpunkte, doch brachte er mit ihnen Deutschland in den Kreis der Kolonialmächte. Die von
Bismarck geleitete Berliner Afrika-Konferenz 1885 bestätigte die deutsche Kolonialansprüche in Afrika und
im Pazifik.
Nach der Entlassung Bismarcks (1890) trat das Deutsche Reich in scharfe Konkurrenz zu den anderen
Großmächten, betrieb eine offensive Kolonialpolitik mit dem Ziel, die deutsche „Weltgeltung” zu heben, und
forcierte den Flottenbau, um dem Anspruch auf einen „Platz an der Sonne” Nachdruck zu verleihen.
Während sich Deutschland mit dieser Politik international isolierte, sich die Spannungen verschärften und in
ein allgemeines Wettrüsten mündeten, verstärkten führende Politiker, allen voran Kaiser Wilhelm II., große
Teile der bürgerlichen Presse, die Kolonialvereine sowie der Alldeutsche Verband und der Deutsche
Flottenverein chauvinistische und rassistische Emotionen. Im Gegensatz zum hohen propagandistischen
Aufwand, von dem die koloniale Expansion begleitet wurde, blieb deren Erfolg allerdings bescheiden: In der
zweiten Welle der Kolonialerwerbungen (1897-1899) kamen nur vergleichsweise unbedeutende Gebiete
hinzu: Kiautschou in China als Flottenstützpunkt, Nauru, die Karolinen-, Marianen-, Palau- und WestSamoa-Inseln im Pazifik.
4.2
Verwaltung
Bis 1898 ging die Verwaltung aller deutschen Überseegebiete, nicht zuletzt aus Kostengründen, von den
Kolonialvereinen an das Deutsche Reich über. 1894 wurde hierfür die Kolonialabteilung des Auswärtigen
Amtes, 1907 das Reichskolonialamt geschaffen, das von einem dem Reichskanzler unterstellten
Staatssekretär geleitet wurde. Jedes Schutzgebiet wurde von einem vom Kaiser ernannten Gouverneur
regiert.
4.3
Widerstand in Afrika
In Deutsch-Südwestafrika sah sich die deutsche Kolonialmacht mit dem anhaltenden Widerstand der
einheimischen Bevölkerung konfrontiert, der 1904 in den Herero-Aufstand mündete. Die Kontroverse in
Deutschland über das grausame Vorgehen der deutschen „Schutztruppe” und die Finanzierung der Kriege
gegen die Indigenen in Afrika führte zur Auflösung des Deutschen Reichstags und in chauvinistischer
Atmosphäre zu den so genannten „Hottentotten-Wahlen” von 1907, bei denen die SPD aufgrund des
Wahlrechts einen schweren Verlust an Mandaten hinnehmen musste, obwohl sie ihren Stimmenanteil
steigern konnte. 1905 weitete sich ein Aufstand in mehreren Gebieten Deutsch-Ostafrikas auf die ganze
Kolonie aus und wurde von Marinesoldaten niedergeschlagen.
4.4
Bilanz des deutschen Kolonialismus
Die weltpolitischen Aspekte des prestigeträchtigen Kolonialbesitzes waren den führenden deutschen
Politikern wichtiger als der wirtschaftliche Nutzen bei der Ausbeutung der Kolonien, die rund drei Millionen
Quadratkilometer und zwölf Millionen Menschen umfassten. Insgesamt war die wirtschaftliche Bilanz der
Kolonien negativ: 1912 standen für alle Kolonien zusammengerechnet 64 Millionen Mark an Einnahmen
(Steuern, Zölle u. a.) Ausgaben in Höhe von 88 Millionen Mark gegenüber (für Zivil- und Militärverwaltung,
Infrastrukturmaßnahmen wie Straßenbau, Schulen, Krankenhäuser). Auch als Auswanderungsgebiete
blieben die deutschen Kolonien unbedeutend. Bis zum 1. Weltkrieg siedelten 23 000 Deutsche in die
Kolonien, während allein zwischen 1887 und 1906 eine Million Deutsche in die USA auswanderten.
Im 1. Weltkrieg verlor das Deutsche Reich seine Kolonien an die Alliierten, teils kampflos, teils nach
Kämpfen im Kolonialgebiet (1915 Deutsch-Südwestafrika, 1918 Deutsch-Ostafrika, 1916 Kamerun). Im
Versailler Vertrag (1919) musste Deutschland auf alle Kolonien verzichten; der Völkerbund unterstellte sie
als Mandatsgebiete u. a. der Südafrikanischen Union (Deutsch-Südwestafrika), Großbritannien (DeutschOstafrika, Togo) und Frankreich (Kamerun). Forderungen nach einer Rückgabe der deutschen Kolonien in
der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland wurden von den Siegermächten des
1. Weltkrieges abgelehnt.
5
ENDE DES KOLONIALZEITALTERS
5.1
Nach dem 1. Weltkrieg
Die weltpolitische Lage nach dem 1. Weltkrieg gab den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen in den
Kolonien Auftrieb und leitete das Ende des Kolonialzeitalters ein. Zu den wesentlichen Triebfedern für die
neue Entwicklung gehörten folgende Faktoren:
– Im 1. Weltkrieg hatten sich die Völker der Kolonialgebiete mit Soldaten an der Kriegführung der
Kolonialmächte beteiligt und hierfür Versprechungen in Richtung auf größere Selbständigkeit erhalten,
deren Einlösung sie nun, selbstbewusster geworden, forderten.
– Obwohl selbst imperialistische Macht – mit den Philippinen als echter Kolonie und Kuba als De-factoKolonie (seit 1898) sowie Lateinamerika als offiziell beanspruchter Einflusszone –, machten sich die USA als
aufstrebende Weltmacht zum Fürsprecher der Freiheitsbestrebungen der Kolonialvölker (Vierzehn-PunkteErklärung von US-Präsident Woodrow Wilson).
– Der 1919 gegründete Völkerbund verpflichtete die Kolonialmächte auf das Fernziel, die kolonialisierten
Völker in die Unabhängigkeit zu führen. Bis dahin sollten Kolonien nur noch dem Zweck dienen, zunächst
noch für unmündig gehaltene Völker für die Unabhängigkeit zu qualifizieren. Die ehemaligen Kolonien des
Deutschen Reiches und die ehemals vom Osmanischen Reich abhängigen arabischen Gebiete wurden zu
Mandatsgebieten des Völkerbunds erklärt und deren Mandatsmächte beauftragt, sie nur bis zu ihrer
baldigen Selbständigkeit zu verwalten. Allerdings besaß der Völkerbund keine Mittel, die Mandatspolitik zu
kontrollieren. Erst 1989 wurde das letzte dieser Mandatsgebiete, Namibia, unabhängig.
– Die antiimperialistischen sozialistischen Bewegungen in Westeuropa trugen ihre Ideen auch in die
Kolonien, wo sie von den intellektuellen Eliten aufgegriffen wurden, die sie mit den eigenen nationalen
Zielsetzungen verknüpften. Die Russische Revolution von 1917 mit der anschließenden Gründung der
Sowjetunion und die Chinesische Revolution mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 setzten
Beispiele für die Möglichkeit der eigenen Emanzipation und waren Ansporn für den politischen Kampf gegen
die Kolonialmächte.
5.2
Nach dem 2. Weltkrieg
Jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg gelang den Freiheitsbewegungen der Durchbruch zur Entkolonialisierung.
Maßgebliche Faktoren hierfür waren:
– die neue Konstellation nach der Niederlage Japans, das zuvor die Kolonialmächte USA, Großbritannien und
Niederlande aus weiten Teilen Ost- und Südostasiens vertrieben hatte;
– die inzwischen vorhandene Bereitschaft der Kolonialmächte, den Kolonien im Gegenzug für die Beteiligung
am Kampf gegen Deutschland und Japan weit gehende Selbständigkeit einzuräumen;
– die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die das nationale Selbstbestimmungsrecht auch der
Kolonialvölker festschrieb und die Legitimation weiterer Kolonialherrschaft untergrub;
– die militärische Schwäche und die Kriegsmüdigkeit der Kolonialmächte nach dem 2. Weltkrieg, die die
Erfolgsaussichten von Unabhängigkeitskämpfen vergrößerten;
– der Ost-West-Konflikt, in dem Frankreich und Großbritannien die Unabhängigkeit ihrer Kolonien eher
hinzunehmen bereit waren, wenn diese sich politisch weiterhin am Westen orientierten; mit dem Ziel ihre
weltpolitische Position zu verbessern, unterstützte die Sowjetunion die Unabhängigkeitsbewegungen
energisch.
5.3
Wege in die Unabhängigkeit
Das Ende der Fremdherrschaft in einem Land wurde von der jeweiligen Kolonialgeschichte ebenso bestimmt
wie von der Art und Stärke der Unabhängigkeitsbewegungen und der politischen Situation im Mutterland.
Im Bereich der britischen Kolonialherrschaft verlief die Entkolonisierung weitgehend friedlich. Die
willkürliche Aufteilung des indischen Subkontinents 1947 löste aber einen Bürgerkrieg und den indischpakistanischen Krieg aus. Die Niederlande versuchten vergeblich, Indonesien, das seit 1942 von Japan
besetzt gewesen war und das sich 1945 für unabhängig erklärt hatte, mit Gewalt zurückzugewinnen und
mussten auf internationalen Druck 1949 die Republik anerkennen. Frankreich kapitulierte 1954 nach einem
blutigen Krieg um Indochina (siehe Indochinakrieg), aus dem die Staaten Laos, Kambodscha und Vietnam,
geteilt in Nord- und Südvietnam, hervorgingen. Auch die Herrschaft über Algerien verlor Frankreich erst
1962 nach einem achtjährigen Krieg (siehe Algerienkrieg). Zuvor hatte es fast alle Kolonien Schwarzafrikas
in die Unabhängigkeit entlassen. Die portugiesischen Kolonien (Angola, Moçambique, Guinea-Bissau,
Kapverde) erhielten erst 1974/75 die Unabhängigkeit, nachdem die Diktatur im Mutterland durch die
Nelkenrevolution gestürzt worden war.
6
FOLGEN DES KOLONIALISMUS
Mit der europäischen Kolonialherrschaft hielten die abendländische Zivilisation, der technische Fortschritt
und die kapitalistische Wirtschaftsweise Einzug in die überseeischen Kolonialgebiete, die Kolonien fanden
Anschluss an den Weltverkehr. Zugleich wurden sie mit neuen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung
überzogen, traditionelle Sozial- und Stammesordnungen wurden zerstört, die Völker ihrer eigenen
kulturellen und politischen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Dauerhafte ökonomische und ökologische
Schäden in vielen Regionen richtete der Raubbau an den natürlichen Ressourcen an. Die weiße
Fremdherrschaft war eine der Grundlagen, auf denen in vielen Kolonialgebieten, nachdem sie unabhängig
geworden waren, einheimische Potentaten autoritäre Systeme etablieren konnten. Der Kolonialismus legte
den Keim für viele kriegerische Konflikte zwischen den und auch innerhalb der neuen Staaten der Dritten
Welt, die sich z. B. in Grenzen einrichten mussten, die von den Kolonialmächten ohne Rücksicht auf die
sozialen und ethnischen Strukturen der Bevölkerung gezogen worden waren.
Verfasst von:
Wieland Eschenhagen
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