1 Die Ziele der politischen Gesellschaft und der Regierung 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 § 123. Wenn der Mensch im Naturzustand so frei ist, wie gesagt worden ist, wenn er der absolute Herr seiner eigenen Person und seiner Besitztümer ist, dem Größten gleich und niemandem unter-tan, warum soll er auf seine Freiheit verzichten? Warum soll er seine Selbständigkeit aufgeben und sich der Herrschaft und dem Zwang einer anderen Gewalt unterwerfen? Die Antwort darauf liegt auf der Hand: obwohl er nämlich im Naturzustand ein solches Recht hat, so ist doch die Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend den Übergriffen anderer ausgesetzt ist. Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, da alle Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht genau die Billigkeit und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist. Und nicht grundlos trachtet er danach und ist dazu bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden, die bereits vereinigt sind oder doch die Absicht hegen, sich zu vereinigen, zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse. 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 § 124. Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums. Dazu fehlt es im Naturzustand an vielen Dingen: Erstens fehlt es an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, das durch allgemeine Zustimmung als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten von ihnen allen angenommen und anerkannt ist. Denn obwohl das Gesetz der Natur für alle vernunftbegabten Wesen klar und verständlich ist, werden die Menschen doch durch ihr eigenes Interesse beeinflußt, und da sie außerdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig kennen, pflegen sie es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwendung auf ihre eigenen Fälle für sie verbindlich wäre. 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 § 125. Zweitens fehlt es im Naturzustand an einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit der Autorität, alle Zwistigkeiten nach dem feststehenden Gesetz zu entscheiden. Denn da im Naturzustand jeder gleichzeitig Richter und auch Vollzieher des Gesetzes der Natur ist, die Menschen aber sich selbst gegenüber parteiisch sind, ist es sehr wahrscheinlich, daß in eigener Sache Leidenschaft und Rache sie zu weit fortreißen und ihren Eifer übertreiben, in Sachen anderer Menschen dagegen Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit sie zu indifferent machen werden. 56 57 58 59 60 61 62 § 128. Denn im Naturzustand hat der Mensch, abgesehen von der Freiheit unschuldigen Vergnügens, zweierlei Gewalten. Die erste ist, alles zu tun, was er innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur für die Erhaltung seiner selbst und der anderen Menschen als richtig ansieht. Durch dieses ihnen allen gemeinsame Gesetz bilden er und alle übrigen Menschen eine einzige Gemeinschaft und formen eine Gesellschaft, die sich deutlich von allen anderen Lebewesen abhebt. Und gäbe es nicht die Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen, so würde man auch § 126. Drittens fehlt es im Naturzustand oft an einer Gewalt, dem gerechten Urteil einen Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern. Menschen, die sich durch irgendeine Ungerechtigkeit gegen das Gesetz vergehen, werden, wenn sie dazu in der Lage sind, selten darauf verzichten, ihr Unrecht mit Gewalt durchzusetzen: ein solcher Widerstand macht die Bestrafung häufig gefährlich und oftmals für die, die sie durchführen sollen, verderblich. § 127. So sind trotz aller Vorrechte des Naturzustandes die Menschen doch, solange sie in ihm verbleiben, in einer schlechten Lage und werden deshalb schnell zur Gesellschaft gezwungen. Und das ist auch die Ursache, daß wir selten eine Anzahl von Menschen finden, die längere Zeit in diesem Zustand Zusammenleben. Die Unzuträglichkeiten, denen sie darin ausgesetzt sind durch die unregelmäßige und unbestimmte Ausübung der Macht, die jeder Mensch hat, um die Übertretungen anderer zu bestrafen, veranlassen sie, zu den festen Gesetzen einer Regierung Zuflucht zu nehmen und dort die Erhaltung ihres Eigentums zu suchen. Eben das macht alle Menschen so bereitwillig, auf ihre persönliche Macht der Bestrafung zu verzichten, damit sie allein von denjenigen ausgeübt werde, die unter ihnen dazu bestimmt werden, und zwar nach solchen Regeln, wie sie die Gemeinschaft oder diejenigen, die zu diesem Zweck von ihr ermächtigt werden, vereinbaren. Und hierin sehen wir das ursprüngliche Recht und den Ursprung von beiden, der legislativen und exekutiven Gewalt wie auch der Regierungen und der Gesellschaften selbst. 63 64 65 66 67 68 69 70 kein Verlangen nach einer anderen Gesellschaft haben; es läge keinerlei Notwendigkeit vor, daß sich die Menschen von dieser großen und natürlichen Gemeinschaft trennen sollten und sich durch positive Vereinbarungen zu kleineren oder Teilgemeinschaften vereinigten. Die andere Gewalt, die ein Mensch im Naturzustand hat, ist die Gewalt, Verbrechen zu bestrafen, die gegen jenes Gesetz begangen wurden. Die beiden Gewalten gibt er auf, wenn er sich einer privaten oder, wenn ich es einmal so nennen darf, besonderen politischen Gesellschaft anschließt und sich einem von der übrigen Menschheit gesonderten Staatswesen einverleibt. 71 72 73 74 75 § 129. Die erste Gewalt, nämlich alles zu tun, was er für die Erhaltung seiner selbst und der übrigen Menschheit als richtig ansieht, gibt er auf, damit sie durch die Gesetze der Gesellschaft so weit geregelt werde, wie es die Erhaltung seiner selbst und der übrigen Glieder dieser Gesellschaft erfordert. Diese Gesetze der Gesellschaft schränken in vieler Hinsicht die Freiheit ein, die er nach dem natürlichen Gesetz hatte. 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 § 130. Die zweite Gewalt, nämlich die Gewalt zu strafen, gibt er vollständig auf und verpflichtet seine natürliche Kraft (die er vorher auf Grund seiner eigenen Autorität nach seinem Gutdünken nur zur Vollstreckung des natürlichen Gesetzes gebrauchen durfte), um die exekutive Gewalt der Gesellschaft zu unterstützen, so wie es das Gesetz verlangt. Er befindet sich jetzt in einem neuen Zustand, der ihm von der Arbeit, dem Beistand und der Gesellschaft der übrigen Glieder dieser Gemeinschaft große Vorteile wie auch den Schutz ihrer gesamten Stärke bringen soll, und er muss deshalb so weit auf seine natürliche Freiheit für sich selbst zu sorgen verzichten, als es das Wohl, das Gedeihen und die Sicherheit der Gesellschaft verlangen. Das ist nicht nur notwendig, sondern auch gerecht, denn alle übrigen Glieder der Gesellschaft tun eben dasselbe. §131 Aber obwohl die Menschen mit ihrem Eintritt in die Gesellschaft auf die Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustandes verzichten um sie in die Hände der Gesellschaft zu legen, damit die Legislative so darüber verfügen kann, wie es das Wohl der Gesellschaft verlangt, so geschieht das doch nur mit der Absicht jedes Einzelnen sich seine Freiheit und sein Eigentum um so besser zu erhalten (denn von keinem vernunftbegabten Lebewesen wird man annehmen, dass es seine Lebensbedingungen mit der Absicht verändert sie zu verschlechtern). Und darum kann man auch niemals annehmen, dass sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr eingesetzten Legislative weiter erstrecken soll als auf das gemeinsame Wohl. Sie ist vielmehr verpflichtet eines jeden Eigentum dadurch zu sichern, dass sie Vorsorge trifft gegen jene drei Mängel, von denen oben die Rede war, die den Naturzustand so unsicher und unbequem machten. Wer immer deshalb die legislative oder höchste Gewalt eines Staatswesens innehat, ist verpflichtet nach eingeführten, stehenden Gesetzen zu regieren, die dem Volk verkündet und bekannt gemacht wurden - und nicht durch Maßnahmeverordnungen -, durch unparteiische und aufrechte Richter, die Streitfälle nach ebenjenen Gesetzen entscheiden müssen, und die Macht der Gemeinschaft im Inland nur zur Vollstreckung dieser Gesetze und nach außen zur Verhütung oder Vergeltung fremden Unrechts und zum Schutz der Gemeinschaft vor Überfällen und Angriffen zu verwenden. Und mit all dem darf kein anderes Ziel verfolgt werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes.