Die Ziele der politischen Gesellschaft und der Regierung

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Die Ziele der politischen Gesellschaft und der Regierung
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§ 123. Wenn der Mensch im Naturzustand so frei ist, wie gesagt worden ist, wenn er der
absolute Herr seiner eigenen Person und seiner Besitztümer ist, dem Größten gleich und
niemandem unter-tan, warum soll er auf seine Freiheit verzichten? Warum soll er seine
Selbständigkeit aufgeben und sich der Herrschaft und dem Zwang einer anderen Gewalt
unterwerfen? Die Antwort darauf liegt auf der Hand: obwohl er nämlich im Naturzustand ein
solches Recht hat, so ist doch die Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend
den Übergriffen anderer ausgesetzt ist. Denn da jeder im gleichen Maße König ist wie er, da
alle Menschen gleich sind und der größere Teil von ihnen nicht genau die Billigkeit und Gerechtigkeit beachtet, so ist die Freude an seinem Eigentum, das er in diesem Zustand
besitzt, sehr ungewiß und sehr unsicher. Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben,
der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist. Und nicht grundlos trachtet
er danach und ist dazu bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden, die
bereits vereinigt sind oder doch die Absicht hegen, sich zu vereinigen, zum gegenseitigen
Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen
Bezeichnung Eigentum zusammenfasse.
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§ 124. Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen
zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres
Eigentums. Dazu fehlt es im Naturzustand an vielen Dingen:
Erstens fehlt es an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, das durch
allgemeine Zustimmung als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine
Maßstab zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten von ihnen allen angenommen und anerkannt
ist. Denn obwohl das Gesetz der Natur für alle vernunftbegabten Wesen klar und
verständlich ist, werden die Menschen doch durch ihr eigenes Interesse beeinflußt, und da
sie außerdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig kennen, pflegen sie
es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwendung auf ihre eigenen Fälle für
sie verbindlich wäre.
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§ 125. Zweitens fehlt es im Naturzustand an einem anerkannten und unparteiischen
Richter, mit der Autorität, alle Zwistigkeiten nach dem feststehenden Gesetz zu
entscheiden. Denn da im Naturzustand jeder gleichzeitig Richter und auch Vollzieher des
Gesetzes der Natur ist, die Menschen aber sich selbst gegenüber parteiisch sind, ist es sehr
wahrscheinlich, daß in eigener Sache Leidenschaft und Rache sie zu weit fortreißen und
ihren Eifer übertreiben, in Sachen anderer Menschen dagegen Nachlässigkeit und
Gleichgültigkeit sie zu indifferent machen werden.
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§ 128. Denn im Naturzustand hat der Mensch, abgesehen von der Freiheit unschuldigen
Vergnügens, zweierlei Gewalten.
Die erste ist, alles zu tun, was er innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur für die
Erhaltung seiner selbst und der anderen Menschen als richtig ansieht. Durch dieses ihnen
allen gemeinsame Gesetz bilden er und alle übrigen Menschen eine einzige Gemeinschaft
und formen eine Gesellschaft, die sich deutlich von allen anderen Lebewesen abhebt. Und
gäbe es nicht die Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen, so würde man auch
§ 126. Drittens fehlt es im Naturzustand oft an einer Gewalt, dem gerechten Urteil einen
Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern.
Menschen, die sich durch irgendeine Ungerechtigkeit gegen das Gesetz vergehen,
werden, wenn sie dazu in der Lage sind, selten darauf verzichten, ihr Unrecht mit Gewalt
durchzusetzen: ein solcher Widerstand macht die Bestrafung häufig gefährlich und oftmals
für die, die sie durchführen sollen, verderblich.
§ 127. So sind trotz aller Vorrechte des Naturzustandes die Menschen doch, solange sie in
ihm verbleiben, in einer schlechten Lage und werden deshalb schnell zur Gesellschaft
gezwungen. Und das ist auch die Ursache, daß wir selten eine Anzahl von Menschen
finden, die längere Zeit in diesem Zustand Zusammenleben. Die Unzuträglichkeiten, denen
sie darin ausgesetzt sind durch die unregelmäßige und unbestimmte Ausübung der Macht,
die jeder Mensch hat, um die Übertretungen anderer zu bestrafen, veranlassen sie, zu den
festen Gesetzen einer Regierung Zuflucht zu nehmen und dort die Erhaltung ihres
Eigentums zu suchen. Eben das macht alle Menschen so bereitwillig, auf ihre persönliche
Macht der Bestrafung zu verzichten, damit sie allein von denjenigen ausgeübt werde, die
unter ihnen dazu bestimmt werden, und zwar nach solchen Regeln, wie sie die
Gemeinschaft oder diejenigen, die zu diesem Zweck von ihr ermächtigt werden,
vereinbaren. Und hierin sehen wir das ursprüngliche Recht und den Ursprung von beiden,
der legislativen und exekutiven Gewalt wie auch der Regierungen und der Gesellschaften
selbst.
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kein Verlangen nach einer anderen Gesellschaft haben; es läge keinerlei Notwendigkeit
vor, daß sich die Menschen von dieser großen und natürlichen Gemeinschaft trennen
sollten und sich durch positive Vereinbarungen zu kleineren oder Teilgemeinschaften
vereinigten. Die andere Gewalt, die ein Mensch im Naturzustand hat, ist die Gewalt,
Verbrechen zu bestrafen, die gegen jenes Gesetz begangen wurden. Die beiden Gewalten
gibt er auf, wenn er sich einer privaten oder, wenn ich es einmal so nennen darf,
besonderen politischen Gesellschaft anschließt und sich einem von der übrigen
Menschheit gesonderten Staatswesen einverleibt.
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§ 129. Die erste Gewalt, nämlich alles zu tun, was er für die Erhaltung seiner selbst und der
übrigen Menschheit als richtig ansieht, gibt er auf, damit sie durch die Gesetze der
Gesellschaft so weit geregelt werde, wie es die Erhaltung seiner selbst und der übrigen
Glieder dieser Gesellschaft erfordert. Diese Gesetze der Gesellschaft schränken in vieler
Hinsicht die Freiheit ein, die er nach dem natürlichen Gesetz hatte.
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§ 130. Die zweite Gewalt, nämlich die Gewalt zu strafen, gibt er vollständig auf und
verpflichtet seine natürliche Kraft (die er vorher auf Grund seiner eigenen Autorität nach
seinem Gutdünken nur zur Vollstreckung des natürlichen Gesetzes gebrauchen durfte), um
die exekutive Gewalt der Gesellschaft zu unterstützen, so wie es das Gesetz verlangt. Er
befindet sich jetzt in einem neuen Zustand, der ihm von der Arbeit, dem Beistand und
der Gesellschaft der übrigen Glieder dieser Gemeinschaft große Vorteile wie auch den
Schutz ihrer gesamten Stärke bringen soll, und er muss deshalb so weit auf seine
natürliche Freiheit für sich selbst zu sorgen verzichten, als es das Wohl, das Gedeihen
und die Sicherheit der Gesellschaft verlangen. Das ist nicht nur notwendig, sondern
auch gerecht, denn alle übrigen Glieder der Gesellschaft tun eben dasselbe.
§131 Aber obwohl die Menschen mit ihrem Eintritt in die Gesellschaft auf die
Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustandes verzichten um sie in die
Hände der Gesellschaft zu legen, damit die Legislative so darüber verfügen kann, wie
es das Wohl der Gesellschaft verlangt, so geschieht das doch nur mit der Absicht
jedes Einzelnen sich seine Freiheit und sein Eigentum um so besser zu erhalten (denn
von keinem vernunftbegabten Lebewesen wird man annehmen, dass es seine
Lebensbedingungen mit der Absicht verändert sie zu verschlechtern). Und darum kann
man auch niemals annehmen, dass sich die Gewalt der Gesellschaft oder der von ihr
eingesetzten Legislative weiter erstrecken soll als auf das gemeinsame Wohl. Sie ist
vielmehr verpflichtet eines jeden Eigentum dadurch zu sichern, dass sie Vorsorge trifft
gegen jene drei Mängel, von denen oben die Rede war, die den Naturzustand so
unsicher und unbequem machten. Wer immer deshalb die legislative oder höchste
Gewalt eines Staatswesens innehat, ist verpflichtet nach eingeführten, stehenden
Gesetzen zu regieren, die dem Volk verkündet und bekannt gemacht wurden - und
nicht durch Maßnahmeverordnungen -, durch unparteiische und aufrechte Richter,
die Streitfälle nach ebenjenen Gesetzen entscheiden müssen, und die Macht der Gemeinschaft im Inland nur zur Vollstreckung dieser Gesetze und nach außen zur
Verhütung oder Vergeltung fremden Unrechts und zum Schutz der Gemeinschaft vor
Überfällen und Angriffen zu verwenden. Und mit all dem darf kein anderes Ziel verfolgt
werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes.
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