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Sommersemester 2014
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs 19./20. Jahrhundert
6. Europäisches Mächtesystem 1871-1914
Literatur:
Christopher CLARK, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, Stuttgart
2013.
Klaus HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik 1871-1918, München 1989.
Ders., Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck zu Hitler 1871-1945,
Stuttgart 1995.
Jörn LEONHARD, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.
I. DEUTSCHE AUßENPOLITIK UNTER BISMARCK 1871-1890.
Die deutsche Reichsgründung von 1871 zerstörte zwar nicht das 1815 neu befestigte
europäische Mächtegleichgewicht, stellte aber das System durch die drohende „halbhegemoniale“ Stellung des Deutschen Reiches vor neue Herausforderungen. Russland und
Großbritannien hatten die Reichsgründung toleriert, beobachteten aber die neue Entwicklung
mit Sorgen (Benjamin DISRAELI). BISMARCK wollte dieser Entwicklung von Anfang an die
Spitze brechen. Nachdem er die Annexion von Elsaß-Lothringen (auch von großen Teilen der
öffentlichen Meinung in Deutschland gefordert) durchgesetzt hatte, erklärte Bismarck das
Deutsche Reich für saturiert. Der verordnete Stillstand war sinnvoll, brachte aber auf Dauer
ein Problem. Auf vielen Feldern von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur herrschte
Aufbruch. Andere Staaten setzten auch machtpolitisch weiter auf Veränderung. Gleichzeitig
aber wollte Bismarck wie METTERNICH nach 1815 einen einmal ereichten Zustand einfrieren.
Er bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu Russland und Österreich-Ungarn. Im Sommer
1873 kam es zum so genannten „Dreikaiserabkommen“. ALEXANDER II., FRANZ JOSEPH und
WILHELM I. verständigten sich darauf, den in Europa herrschenden Friedenszustand zu
festigen und die gemeinsamen Grundsätze zu bekräftigen. Das Abkommen hatte aber für die
Politik des Reiches nur begrenzten Wert.
Für die deutsche Außenpolitik gab es grundsätzlich drei Wahlchancen. Die wenig aussichtsreiche Konvenienzpolitik lief darauf hinaus, sich mit den anderen Großmächten über
einen Interessenausgleich zu verständigen und die Einflusszonen zu Lasten kleinerer Staaten
abzustecken. Sie scheiterte schon 1875 an der russischen Weigerung, feste Bindungen einzugehen. Auch die zweite Möglichkeit deutscher Außenpolitik, der Präventivkrieg, schied aus
den Überlegungen nach 1875 eigentlich aus. Bismarck stand dieser Strategie der Militärs,
gegen einen potentiellen Gegner einen kurzen, begrenzten Krieg zu führen, ohnehin skeptisch
gegenüber. Die so genannte „Krieg in Sicht-Krise“ zeigte 1875, dass Großbritannien und
Russland einen deutschen Präventivschlag gegen Frankreich nicht akzeptieren würden. Die
Krise lehrte Bismarck endgültig, dass sich die Stellung des Reiches in Europa nur mit Hilfe
einer Gleichgewichtsdiplomatie auf der Grundlage einer hohen militärischen Schlagkraft des
Reiches sichern ließ.
Im berühmten „Kissinger Diktat“ von 1877 hielt Bismarck fest, dass es für die deutsche
Politik darauf ankomme, die beständige Gefahr gegnerischer Koalitionen aufzuheben, sei es
eine Koalition der beiden Westmächte, sei es eine russisch-französische Allianz oder eine
russisch-österreichisch-französische. Um einen solchen gefährlichen Zustand zu vermeiden,
müsse man eine politische Gesamtsituation herbeiführen, „in der fern vom Ziel eines Ländererwerbs alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch
ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“.
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Kissinger Diktat, Balkankrise und Zweibund
Die Umrisse dieser neuen Außenpolitik wurden durch die 1875 neu ausbrechende BalkanFrage sichtbar. Sie leitete eine neue Phase kontinentaler Hochspannung ein. 1875 kam es auf
dem Balkan zu neuen Aufständen gegen die türkische Herrschaft. Für das Deutsche Reich war
dies einerseits von Vorteil, weil sie vom deutsch-französischen Gegensatz ablenkten. Andererseits gab es für das Reich das Problem, dass die früheren Kooperationspartner Preußens,
also Österreich und Russland, auf dem Balkan unterschiedliche Wege gingen. Bismarck
lehnte eine einseitige Option ab. Nach dem im April 1877 begonnenen russisch-türkischen
Krieg und dem russischen Diktatfrieden von San Stefano (3. März 1878) versuchte Bismarck
auf dem Berliner Kongress als „ehrlicher Makler“ die Streitigkeiten um den Balkan auszugleichen und so die Sicherheit des Reiches zu festigen. Der Kongress machte aber deutlich,
dass dies nicht einfach war. Vor allem die russische Seite, die einen Teil der türkischen Beute
wieder herausgeben musste, war mit Bismarcks Vermittlung sehr unzufrieden (Ohrfeigenbrief
des Zaren an den deutschen Kaiser). Die neue Situation ließ Bismarck enger an die Donaumonarchie heranrücken, der nun ein weit reichendes Angebot gemacht wurde. Mit dem
Zweibund, der an frühere, von Wien aus unterbreitete Mitteleuropakonzepte anknüpfte, wollte
Bismarck die selbst verordnete Erstarrung des Deutschen Reiches aufbrechen. Der Außenminister Österreich-Ungarns, Gyula ANDRÁSSY, ging auf diese weit reichenden Mitteleuropapläne aber nicht ein. Er wollte nur eine militärische Defensivallianz, deren abwehrende Spitze
gegen Russland gerichtet war. Obwohl der Kaiser skeptisch war, setzte Bismarck im Oktober
1879 einen geheimen Bündnisvertrag zwischen Berlin und Wien durch. Die Defensivallianz
brachte Österreich weit mehr, als es umgekehrt versprach (Frankreich blieb ausgeklammert).
Bismarck nahm dies hin, weil er ja nicht auf Krieg aus war, sondern weiterhin zwischen den
Großmächten ausgleichen wollte. Er hoffte, das nun isolierte Russland über den Zweibund
langfristig wieder fester an das Reich zu binden oder im Falle einer russischen Weigerung
Großbritannien enger an die mitteleuropäische Allianz heranzuführen. Der Zweibund zeigte
bereits, dass Bismarcks Strategie des freien Maklers auf Grenzen stieß und er immer wieder
zu Aushilfen greifen musste. Dennoch begann mit dem Zweibund zunächst einmal ein
Jahrfünft, das dem Deutschen Reich neue Bündnisse und eine verhältnismäßige Entlastung
brachte.
Die Außenpolitik der frühen 1880er Jahre
Mit dem im Juni 1881 abgeschlossenen Dreikaiservertrag zwischen Österreich-Ungarn,
Russland und dem Deutschen Reich gelang es Bismarck dann doch wieder, Russland
bündnispolitisch einzubinden. Man versprach sich wohlwollende Neutralität für den Fall, dass
einer der drei Partner von einer vierten Macht angegriffen werden sollte. Russland konnte im
Falle eines Krieges mit Großbritannien, das Reich im Falle eines Krieges mit Frankreich auf
die Neutralität der Partner setzen. Ferner wollte man die gegenseitigen Interessen auf dem
Balkan beachten und neue territoriale Veränderungen nur über gemeinsame Entscheidungen
vorzunehmen. Auf den ersten Blick war der Vertrag zweifellos ein Erfolg Bismarckscher
Diplomatie. Schließlich war die Möglichkeit, dass sich Russland zu einem Kriegsbündnis mit
Frankreich zusammenschließen könnte, um freie Hand auf dem Balkan zu erhalten, nicht zu
unterschätzen. Auch sympathisierte der neue Zar ALEXANDER III. mit der nationalrussischen
Bewegung, die ihrerseits Verbindungen zu den französischen Nationalisten suchte. Günstig
für Bismarck war der Wechsel im russischen Außenministerium von Alexander GORTSCHAKOW zu Nikolai de GIERS. Bismarck gelang es, die russisch-österreichischen Rivalitäten
zunächst etwas zu dämpfen und von der Vermittlerposition zu profitieren. Nach Ablauf des
Vertrages im Jahre 1884 wurden die eingegangenen Verpflichtungen durch eine Erneuerung
des Vertrages für weitere drei Jahre festzuschreiben. Bismarck setzte sich hier nicht zuletzt
gegen die höchsten deutschen Militärs durch. Sie plädierten zu diesem Zeitpunkt bereits
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dafür, sich gemeinsam mit der Donaumonarchie auf einen Zweifrontenkrieg gegen Russland
und Frankreich einzustellen.
Parallel zum Dreikaiservertrag bemühte sich Bismarck zugleich auch an anderen Stellen,
das System deutscher Bündnispolitik auszubauen. Am 20. Mai 1882 kam es zum Abschluss
des so genannten Dreibundvertrages, zu dem sich das Königreich Italien, das Deutsche Reich
und Österreich-Ungarn zusammenschlossen. Der Dreibund kam trotz der Spannungen
zwischen Italien und Österreich (Welsch-Tirol-Problem, Italia Irredenta) zustande, weil man
in Italien dem beginnenden Konflikt mit Frankreich um die Machtpositionen im Mittelmeer
und Nordafrika eine höhere Bedeutung zumaß und nun Schutz bei anderen Mächten suchte.
Nach dem Dreibund tat Bismarck dann etwas, was viele überraschte und über dessen Motive
in der historischen Forschung lange gestritten worden ist. Es war der Versuch einer Annäherung an Frankreich in Verbindung mit einer Aktivierung deutscher Kolonialpolitik.
II. IMPERIALISMUS UND KOLONIALISMUS:
Literatur:
Jürgen OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995.
Kolonialismus definiert OSTERHAMMEL als eine Herrschaftsbeziehung zwischen zwei
Kollektiven (beherrschender Staat und beherrschte Einheit). In dieser Beziehung werden alle
fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch die kulturell
andersartigen Kolonialherren getroffen und durchgesetzt (sendungsideologische Doktrin). Der
europäische Kolonialismus begann 1500 mit dem Aufbau des spanischen Kolonialsystems
und erfasste bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitere Teile Amerikas, Afrikas und Ostindiens. Die wichtigsten beteiligten Mächte waren Spanien, Portugal, Frankreich, Holland und
vor allem England. Kolonialherrschaft war sowohl von machtpolitischer als auch von wirtschaftlicher Bedeutung, wenngleich vor der Vorstellung gewarnt werden muss, den europäischen Industrialisierungsprozess in erster Linie als Folge der kolonialen Ausplünderung
anderer Weltteile zu interpretieren (These Immanuel WALLERSTEIN). Das frühe 19. Jahrhundert hatte einerseits in Südamerika die Auflösung bestehender Kolonialreiche gebracht. Auf
der anderen Seite wurden in anderen Teilen der Welt neue Gebiete kolonisiert. Führende
Macht war Großbritannien, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert nicht nur mit der
Besiedelung Australiens und Neuseelands begann, sondern nun vor allem auch seine Position
in Indien ausbaute. Indien wurde zum Prototyp einer Beherrschungskolonie ohne große
eigene Siedlerelemente (anders als Amerika und Australien) und damit zu einem Modell für
die britische Expansion in andere Teile Asiens und Afrikas. Die neue Phase der europäischen
Expansion machte sich auch in anderen Gebieten schon vor 1880 bemerkbar („Freihandelsimperialismus“). Trotz vieler Kontinuitäten europäischer Welteroberung und vieler Verbindungen zu späteren Erscheinungsformen spricht einiges dafür, die Zeit um 1870/80 als eine
Epochenzäsur im Prozess des Kolonialismus anzusehen. Jetzt begann das, was als das
eigentliche Zeitalter des Imperialismus oder auch als Hochimperialismus bezeichnet wird.
Unter Imperialismus ist nicht mehr bloße Kolonialpolitik zu verstehen, sondern Weltpolitik.
Es ist der Drang von Saaten und ihrer Machthaber, ihre überseeischen Besitzungen zu
erweitern, diese fester dem nationalen Machtzentrum zu unterwerfen und sich mit einem solch
gefestigten Weltreich einen angemessenen Anteil an der Weltherrschaft zu sichern.
Den Anstoß für die letzte große Epoche im Aufteilungsprozess der Welt, die erst mit dem
Ersten Weltkrieg abgeschlossen wurde, erfolgte in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts.
Neben wirtschaftlichen Interessen (Rohstoffe, Absatzmärkte) spielte auch das Prestigedenken
politischer Führer und Gruppen eine ausschlaggebende Rolle. Oft setzt man mit der DisraeliRede von 1872 ein. Disraeli war zu diesem Zeitpunkt Oppositionsführer und wusste, dass man
mit dem Appell an die nationale Sache bei den künftigen Wahlen Erfolge erzielen konnte. Er
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sah aber auch, dass auf dem Kontinent andere europäische Staaten durch die nationale
Einigungspolitik oder durch Expansion auf Kosten des Osmanischen Reiches Machtgewinne
erzielt hatten, hinter denen Großbritannien nicht zurückbleiben durfte. Als Disraeli dann 1874
Premierminister wurde, hat er sogleich in diesem Sinne gewirkt. Die auf einen knappen Zeitraum befristete konzentrierte Enteignung des ganzen afrikanischen Kontinents war innerhalb
der Geschichte des Kolonialismus zweifellos ein einzigartiger Vorgang. Bis 1870 waren
eigentlich nur Südafrika und Algerien (seit 1830) europäische Kolonisationsgebiete. Hinzu
kamen punktuelle Einflüsse der Portugiesen (Mocambique, Angola), der Engländer (Sierra
Leone) und der Franzosen (Senegal). 1869 war dann der Suezkanal eröffnet worden. Dabei
hatte Frankreich eine wichtige Rolle gespielt. Es teilte sich mit dem ägyptischen Vizekönig
die Hälfte der Aktien der Kanalgesellschaft. Der Suezkanal stellte nun aber die wichtigste
europäische Verbindung zu Indien dar, dem Kernstück des britischen Weltreiches. 1875
erwarb Großbritannien vom ägyptischen Vizekönig dessen Aktienanteil. In Nordafrika stießen
nun britische und französische Interessen immer härter aufeinander. Hinzu kam, dass auch
Italien Interessen am Norden Afrikas besaß. Frankreich errichtete 1881 ein Protektorat über
Tunesien, das zuvor formell noch unter türkischer Oberhoheit gestanden hatte. Als in Ägypten
ein Aufstand gegen den wachsenden Einfluss der europäischen Großmächte einsetzte, nutzte
Großbritannien 1882 die Lage, um Ägypten zu besetzen. Es gab die Position am Nil nicht
mehr auf, sondern baute sie in den folgenden Jahren weiter aus (Sudan). Die sich mit alldem
abzeichnenden britisch-französischen Afrikarivalitäten sorgten 1884 dafür, dass nun auch die
deutsche Seite erstmals eine aktivere Rolle in den Kolonialfragen zu spielen begann. Schon in
den siebziger Jahren verstärkte sich der deutsche Afrikadiskurs. Zugleich mehrten sich private
Initiativen zum Aufbau einer deutschen Kolonialposition (Kolonialvereine, Missionare,
deutsche Afrikaforscher wie Gustav NACHTIGAL sowie Hamburger und Bremer Kaufleute wie
Adolf LÜDERITZ und Carl PETERS). 1884 wurde erstmals die schwarz-weiß-rote Reichsflagge
auf afrikanischem Boden gehisst (Deutsch-Südwestafrika, Togo, Kamerun, Ostafrika). Auch
in der Südsee wurde das Deutsche Reich aktiv.
1884/85 war Berlin Tagungsort einer internationalen Afrikakonferenz. Beteiligt waren die
europäischen Großmächte, andere europäische Staaten und die wirtschaftlich und militärisch
erstarkenden USA. Die so genannte Kongo-Konferenz war ein wichtiger Schritt zur weiteren
Aufteilung Afrikas. Es wurde festgelegt, dass der belgische König LEOPOLD II. die Rechte
über den Kongo-Freistaat erhält, der Handel auf dem Kongo und dem Niger aber frei sein soll.
Man verbot zudem die Sklaverei und verpflichtete sich, die Würde der indigenen Bevölkerung
zu achten. Die Realität in den kolonisierten Gebieten sah aber anders aus.
Das imperiale Denken erfasste am Ende des 19. Jahrhunderts auch Staaten wie Japan,
Russland und die USA. In Afrika rangen vor allem England, Frankreich, aber auch das
Deutsche Reich, Italien und Belgien um größere Landanteile. Bis 1914 wurden immer größere
Teile Afrikas in eine von den Kolonialmächten beherrschte Weltwirtschaft integriert, dabei
allerdings ganz den Bedürfnissen der Kolonialmächte unterworfen. Europäische Handelsgesellschaften dominierten den Handel, die von europäischen Unternehmen betriebene
Plantagenwirtschaft (Kaffee, Kakao) ging zu Lasten der einheimischen Bauern. Über die
Abbau- und Raubwirtschaft plünderte man mit Hilfe billiger einheimischer Arbeitskräfte die
Rohstoffe, beziehungsweise beutete ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit die Natur aus (Hölzer,
Elfenbein). Am Ende des 19. Jahrhunderts rückte auch Asien immer stärker in das Zentrum
imperialistischer Aktivitäten. Europäische Staaten, die USA und das aufstrebende Japan
erzwangen seit den 1890er Jahren Protektorate, Handels- und Rohstoffsausbeutungsrechte
über chinesische und verschiedene südostasiatische Gebiete.
Während Europa zwischen 1815 und 1914 eine vergleichsweise friedliche Phase seiner
Geschichte durchlief und hier nur begrenzte, auch schnell wieder beendete Kriege stattfanden,
führte die von einer überlegenen Waffen- und Kommunikationstechnik geförderte europäische Expansion gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert in Asien und Afrika zu heftigen
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militärischen Konflikten. Die eng mit nationalem Prestigedenken und ökonomischen Interessen verknüpfte Kolonisierung großer Teile Afrikas und Asiens durch die europäischen
Mächte wurde zwar mit christlichen und zivilisatorischen Missionsgedanken gerechtfertigt.
Aber schon zeitgenössische Kritiker des europäischen Kolonialismus wie der Engländer John
A. HOBSON betonten den Vorrang ökonomischer Interessen und kritisierten die militärische
Gewalt, mit welcher die Kolonien und Einflusszonen erobert und jeder Widerstand der
Kolonisierten brutal niedergeschlagen wurde. Beispiele solcher Konflikte waren die Opiumkriege zwischen Großbritannien und China (1839-42, 1856-1860), die Niederschlagung des
Indischen Aufstandes von 1857/58, der englische Krieg gegen die Zulus (1879), das
französische Vorgehen gegen Aufstände in Indochina, der Abessinien-Krieg Italiens, der
Mahdi-Aufstand im Sudan gegen die britische Herrschaft, die Niederschlagung des
chinesischen Boxeraufstandes im Jahre 1900 durch ein internationales Expeditionskorps, an
dem auch das Deutsche Reich beteiligt ist (Hunnenrede WILHELMS II.), die harte
Niederschlagung der Aufstände von Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika (1904/07)
oder die im belgischen Kongo begangenen Gräueltaten der königlichen Kolonialverwaltung.
Konfliktreich verlief auch die britische Unterwerfung Südafrikas, wo zunächst einheimische
Stämme wie die Zulus unterworfen und dann gegen die Republiken der holländischen Siedler
(Buren) vorgegangen wurde, die der Expansion englischer Magnaten (Cecil RHODES,
Diamantenförderung) entgegentraten. Im zweiten, von den Briten mit aller Härte geführten
Burenkrieg zwischen 1899 und 1902 wurden die Buren von den britischen Truppen besiegt
und ganz Südafrika dem britischen Kolonialreich eingegliedert.
Das „normative Projekt“ des Westens (Heinrich August WINKLER), das von den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts ausgegangen war
und das Bekenntnisse zu Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Herrschaft des Rechts
enthielt, wurde gerade in der politischen Praxis des europäischen und nordamerikanischen
Imperialismus vielfach grob missachtet.
Bismarck und der Imperialismus:
1884/85 trat auch Deutschland in den Kreis der Kolonialmächte. Über Bismarcks Motive
ist vielfach gestritten worden. Hans-Ulrich WEHLER entwickelte die These, dass eine
gesellschaftliche und politische Systemstabilisierung das dominierende Politikziel Bismarcks
gewesen sei und alle Außenpolitik in erster Linie innenpolitischen Zielen gedient habe
(Primat der Innenpolitik). Wehler bezeichnete dies als „Sozialimperialismus“. Diese Interpretation stieß auf heftige Kritik, die auch von Historikern der DDR klar formuliert wurde
(Konrad CANIS). Die klarste Gegenposition in der alten Bundesrepublik bezog Lothar GALL in
seiner großen Bismarck-Biographie von 1980. Für Gall war Bismarcks Kolonialpolitik eher
eine kurze Episode, ein Spiel mit einem neuen Faktor, um die europäische Position des
Deutschen Reiches zu festigen. Dass das Ganze eher ein außenpolitisches Manöver war,
zeigte sich auch daran, wie schnell Bismarck 1885 wieder das Interesse an der Kolonialpolitik
verlor. Bismarcks Kolonialpolitik blieb eine Episode, dennoch waren die Errichtung deutscher
Schutzgebiete und das Anstoßen einer öffentlichen Kolonialdebatte keine unwichtigen
Vorgänge. Dies sollte sich nach Bismarcks Ausscheiden aus dem Kanzleramt nur allzu
deutlich zeigen.
Bismarcks Bündnissystem in der Krise
Mitte der achtziger Jahre gab es neue Probleme auf dem Balkan. Russland und ÖsterreichUngarn betrieben hier eine Politik, die mit dem Geist des Dreikaiservertrages kaum noch zu
vereinbaren war. Zwar konnte man die Bulgarien-Krise (Anschluss des zum Osmanischen
Reich gehörenden Ostrumeliens, Sturz des seit 1879 herrschenden Fürsten ALEXANDER von
Battenberg) durch Kompromisse noch einmal entschärfen. 1887 wurde der Prinz FERDINAND
von Sachsen-Coburg-Gotha-Kohàry von der bulgarischen Nationalversammlung zum neuen
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Fürsten gewählt. Für die russische Seite war aber klar, dass der Bruch mit Wien nicht mehr zu
kitten war und der Dreikaiservertrag nicht mehr fortgesetzt werden würde. Bismarck stand
damit vor noch größeren Problemen, zumal auch die öffentliche Stimmung in Russland sich
weiter zuungunsten des Deutschen Reiches entwickelte. Bismarck förderte 1887 das
Zustandekommen eines so genannten Mittelmeerabkommens zwischen Österreich, Italien und
Großbritannien. Ende 1887 wurde dieses Mittelmeerabkommen zum so genannten Orientdreibund ausgebaut, der jetzt klar Züge einer antirussischen Eindämmungspolitik trug. Das
Mittelmeerabkommen war von Bismarck gefördert worden, weil es eine wichtige Grundlage
für die Verlängerung des Dreibundes zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien
war. Dieser lief nach 5 Jahren aus und wurde 1887 erneuert. Italien konnte nur dadurch
gewonnen werden, dass das Deutsche Reich in Zusatzabkommen italienische Expansionstendenzen in Nordafrika und auf dem Balkan tolerierte. Damit lief Bismarck aber Gefahr, dass
seine Bündnispolitik ihren rein defensiven, auf Status quo ausgerichteten Charakter verlor,
dass sie andere Partner zur Expansion ermunterte und so die Kriegsgefahr in Europa
vergrößerte.
Um die Sicherheit des Reiches trotzdem zu gewährleisten, schloss das Deutsche Reich den
geheimen Rückversicherungsvertrag am 18. Juni 1887 mit dem Zarenreich ab (wechselseitige
Neutralität für den Verteidigungsfall zwischen Russland und dem Deutschen Reich). Erkauft
aber hatte Bismarck den Rückversicherungsvertrag durch ein „ganz geheimes Zusatzprotokoll“. In ihm sicherte man den Russen auch für den Fall die Neutralität zu, dass Russland zur
Wahrung seiner Interessen selbst die Sicherung seines Zugangs zu den Meerengen am
Schwarzen Meer übernehme. Zugleich erkannte das Reich die geschichtlich erworbenen
Rechte Russlands auf dem Balkan an. Diese moralische und diplomatische Unterstützung
russischer Ansprüche stand eigentlich im Widerspruch zu Vertragsverpflichtungen, die das
Deutsche Reich über andere Bündnisverträge direkt oder indirekt eingegangen war. Bismarck
ging es darum, die endgültige Auflösung der Verbindungen zu Russland hinauszuschieben,
um weitere Sicherungsmaßnahmen gegen einen möglicherweise drohenden Zweifrontenkrieg
ergreifen zu können. Rückblickend gesehen ist der Rückversicherungsvertrag somit ein Beleg
dafür, wie begrenzt die außenpolitischen Handlungsspielräume für Bismarck geworden
waren. Zwar waren durch die Verträge des Jahres 1887 die wichtigsten europäischen Staaten
mit Ausnahme des isolierten Frankreich mit Deutschland vertraglich gebunden. Aber auch
Bismarck selbst war sich nur zu bewusst, wie brüchig gerade die Kette zu St. Petersburg war.
Wirtschaftliche Gegensätze (Agrarzölle und Kreditverweigerung durch Deutschland) und
innenpolitische Stimmungen sorgten dafür, dass sich das deutsch-russische Verhältnis gleich
nach Abschluss des Rückversicherungsvertrages noch weiter verschlechterte. Russland
orientierte sich nun neu. Vor allem Frankreich stieg zum wichtigsten Kreditgeber Russlands
auf. Es finanzierte den Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes und neue Rüstungsmaßnahmen und schuf damit zugleich wichtige Grundlagen für den Aufbau einer engen
politischen Allianz.
Das Verhältnis zu Russland blieb bis zum Ende der Kanzlerschaft Bismarcks außerordentlich schwierig. Bismarck fürchtete einen Zweifrontenkrieg, hoffte aber, Russland durch seine
Politik noch eine ganze Weile vom Schlimmsten abhalten zu können. Zu diesem Zweck
verstärkte er 1889 auch noch einmal die Bemühungen um ein engeres Verhältnis zu Großbritannien. Trotz gemeinsamer Gegner waren die Interessen beider Seiten zu unterschiedlich.
Großbritannien ging es um die Politik an den Rändern seines Empire; Deutschland ging es um
die Sicherung der von zwei Seiten bedrohten eigenen Grenzen. Als Bismarck 1890 das
Kanzleramt räumte, hinterließ er eine außenpolitische Situation, die außerordentlich prekär
war. Sein System der Aushilfen konnte keine Lösung auf Dauer sein, war aber auch nicht
Ausdruck einer komplett gescheiterten Politik, denn die großen Alternativen waren nicht in
Sicht. Bismarck hatte dem Reich Bewegungslosigkeit verordnet und setzte auf den Status quo.
In einer Phase, in der alle anderen Großmächte expandierten, war das aber für viele nicht
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mehr zeitgemäß. Bismarcks Festhalten an den Kategorien des alten europäischen
Gleichgewichts wurde daher auch in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend als veraltet
angesehen und kritisiert. Eine neue Politik, die Deutschland in die Offensive brachte, war
dennoch mit ungleich größeren Risiken verhaftet als die Bismarcksche.
III. DEUTSCHE AUßENPOLITIK UND EUROPÄISCHES MÄCHTESYSTEM 1890-1914
Neuorientierung deutscher Außenpolitik
Die Jahre nach 1890 brachten für das Deutsche Reich eine Zeit wachsender außenpolitischer Spannungen, zu denen die neue Politik unter Wilhelm II. maßgeblich beitrug.
Während sich Bismarck mit Ausnahme der Jahre 1883/84 in der Kolonialpolitik sehr
zurückgehalten hatte, betrieb das Deutsche Reich unter Wilhelm II. seit 1890 eine aktivere
Politik und strebte nach Ausdehnung des deutschen Kolonialreiches. Das Deutsche Reich trat
relativ spät in die imperialistische Politik ein und konnte nur noch begrenzte Erfolge erzielen.
1898/99 erweiterte das Reich sein Kolonialgebiet um Kiautschou (China) und mehrere
Pazifikinseln.
Seit 1890 verschlechterten sich die Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik. Russland
schloss schon 1892 mit Frankreich eine Defensivallianz. Zudem näherte sich Frankreich
allmählich an Italien an, dem Dreibundpartner des Deutschen Reiches. Dagegen blieben die
Beziehungen zwischen Großbritannien und Frankreich wegen des Streits um afrikanische
Gebiete in den 1890er noch spannungsreich. Erst die so genannte Faschoda-Krise 1898 und
die folgende friedliche Verständigung über den Sudan führten zu einer langsamen Annäherung. Deutschland verpasst in dieser Situation die Chance einer eigenen Annäherung an
Großbritannien. Die deutschen Kolonialaktivitäten und der 1897 begonnene Ausbau der
deutschen Kriegsflotte (Alfred von TIRPITZ als Staatssekretär im Reichsmarineamt) führten zu
Spannungen zwischen dem Reich und Großbritannien. Deutsch-britische Bündnissondierungen scheiterten an der deutschen Weigerung, die Rolle des Juniorpartners zu spielen. Im
Deutschen Reich setzte man zu lange darauf, dass die anhaltenden Spannungen zwischen
Großbritannien einerseits und Russland sowie Frankreich andererseits sich weiter verschärfen
würden und man von London bessere Bedingungen erhalten könnte. Als das Deutsche Reich
1903 die Konzession zum Bau der Bagdadbahn erhielt, verschärfte dies die Spannungen mit
Großbritannien und Russland. 1904 suchte Großbritannien daher den Ausgleich mit dem
bisherigen Rivalen Frankreich (Entente cordiale). 1907 folgte die Verständigung zwischen
Großbritannien und Russland, das 1904/05 im Krieg mit Japan eine schwere Niederlage
erlitten hatte und wo mit der gescheiterten Revolution von 1905 auch innenpolitisch eine neue
Lage entstanden war. Als Wilhelm II. in dieser Situation den Zaren zu einem Kontinentalbündnis mit dem Deutschen Reich bewegen wollte, führte dies zu weiterem Misstrauen der
Briten. Am Ende entstand eine Tripelentente aus Russland, Frankreich und Großbritannien.
Wie isoliert das Deutsche Reich zu Beginn des Jahrhunderts in der europäischen Machtpolitik war, zeigte bereits die Erste Marokkokrise von 1905/06, die durch deutsch-französische Rivalitäten ausgelöst wurde. Auf der von Januar bis April 1906 tagenden internationalen Marokkokonferenz in der spanischen Stadt Algeciras stand nur Österreich-Ungarn hinter
den Ansprüchen des Deutschen Reiches. In Deutschland sprach man nun von der „Einkreisung“, ohne genügend zu berücksichtigen, dass die wilhelminische Außenpolitik mit seiner
Selbstüberschätzung und notorischen Unberechenbarkeit das gegnerische Allianzsystem mit
herbeiführte. So scheiterte die 2. Haager Friedenskonferenz von 1908, wo es um die friedliche
Schlichtung künftiger Konflikte ging, vor allem auch am deutschen Auftreten. Am Ende hatte
das Reich nur noch Österreich-Ungarn als europäische Großmacht hinter sich. Für diese
Allianz musste man aber politisch einen immer höheren Preis bezahlen, der die Einkreisung
Deutschlands weiter verstärkte.
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Als 1908 im Osmanischen Reich die jungtürkische Revolution begann, die unter Führung
Enver PASCHAS und Kemal ATATÜRK einen modernen Verfassungsstaat schaffen wollte,
nutzte Wien die inneren Wirren und annektierte im Oktober 1908 Bosnien und Herzegowina.
Bisher standen beide Provinzen nur unter österreichischer Militär- und Verwaltungshoheit,
gehörten aber formell noch zum Osmanischen Reich. Der Schritt Wiens wurde von den
anderen Großmächten heftig kritisiert, Das Deutsche Reich stellte sich aber fest auf die Seite
Wiens und trug so zu einer weiteren Verschlechterung seiner Beziehungen zu Russland bei,
die schon durch den 1903 begonnen Bau der Bagdadbahn verschärft wurden. Das Deutsche
Reich versuchte, durch den Bau dieser Bahnlinie Einfluss auf den Nahen Osten zu gewinnen.
Die Spannungen zwischen dem Reich und Großbritannien wuchsen durch das gegenseitige
Wettrüsten.
Als BETHMANN HOLLWEG 1909 Kanzler wurde, hat auch er sich zunächst einmal bemüht,
die Isolierung des Reiches zu durchbrechen. Die Zweite Marokkokrise von 1911 zeigte aber
erneut, dass der Ring der Gegner nicht aufzubrechen war. Das Deutsche Reich muss in der
Marokko-Frage den Wünschen Frankreichs nachgeben und erhält nur geringe Kompensationen in Kamerun. Auch der Dreibund mit Italien erwies sich nun immer mehr als eine wenig
zukunftsreiche Angelegenheit. Angesichts der wachsenden internationalen Spannungen und
der eigenen außenpolitischen Isolation setzte die Reichsregierung 1912 dann doch noch
einmal ganz stark auf eine Verständigung mit London. Im Februar 1912 kam der britische
Kriegsminister Richard HALDANE zu Verhandlungen nach Berlin. Die deutsch-britischen
Verständigungsversuche wurden aber schon durch die Politik des Kaisers und von Tirpitz
torpediert. Zwar gelang es dem Reich und Großbritannien 1912/13, eine Eskalation der so
genannten Balkankriege zu einem großen europäischen Krieg zu verhindern. Diese Krisenstrategie versagte dann aber in der Julikrise des Jahres 1914, die durch den Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger FRANZ FERDINAND am 28. Juni 1914 ausgelöst wurde.
Verhängnisvolle Fehleinschätzungen der europäischen Diplomatie, das risikobereite Denken
der Militärs und eine nationalistische aufgeheizte öffentliche Meinung ebneten den Weg in
den Ersten Weltkrieg.
Die Kriegsschuldfrage gehört zu den umstrittensten Themen der Geschichtswissenschaft
(Fischer-Kontroverse). Heute lässt sich sagen, dass weder die alte These vom gerechten
deutschen Verteidigungskrieg noch die These eines lange geplanten Angriffs- und
Eroberungskrieges aufrechtzuerhalten sind. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, nach der
die politische Führung Deutschlands die Julikrise nutzte, um eine als unerträglich empfundene
Position der Defensive durch eine Politik der begrenzten Offensive zu verbessern. Der
Reichskanzler und sein Staatssekretär des Äußeren wollten den Ring der Gegner diplomatisch
sprengen und nahmen dabei im Falle eines Scheiterns das Risiko eines Krieges bewusst in
Kauf. Es war also die Angst vor einer weiteren Festigung der Einkreisung und die Angst vor
einer weiteren schnellen Aufrüstung Russlands, welche die politische Führung zur riskanten
Politik veranlasste. Darüber hinaus wollte man auch nicht die einzige Macht im Stich lassen,
die noch als sicherer Bündnispartner gelten konnte. Hinzu kamen schließlich die innenpolitischen Motive. Die innenpolitische Stellung der Regierung Bethmann Hollweg war nicht die
beste. Der Kanzler stand nicht nur bei der nationalen Rechten, sondern auch bei den anderen
Parteien wegen der als erfolglos eingestuften Außenpolitik unter Beschuss. Die öffentliche
Meinung in Deutschland war überwiegend der Ansicht, dass Österreich-Ungarn nach der
Ermordung des Thronfolgers das Recht habe, gegen Serbien vorzugehen. Und dass neben
Serbien in Russland der Hauptstörenfried eines europäischen Ausgleichs gesehen wurde, hat
diese Haltung noch zusätzlich bekräftigt. Seit Frühjahr 1914 häuften sich in der deutschen wie
in der russischen Presse die gegenseitigen Vorwürfe bis hin zu Kriegsbejahung, ja Kriegsaufforderung.
Das Militär war schließlich seit langem der Ansicht, dass nur ein schneller Krieg gegen
Russland noch die Chance zum Sieg biete, ehe dann die russische Rüstung und der Bahnbau
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ganz neue Voraussetzungen geschaffen hätten. Zu all dem kam im Frühsommer 1914 noch
die Nachricht hinzu, dass Russland und Großbritannien geheime Marineverhandlungen
aufgenommen hätten. Damit drohte sich das letzte Glied in der Kette des Einkreisungsrings zu
schließen. All das verstärkte Bethmann Hollweg in seiner Entscheidung, im Juli 1914 die
Flucht nach vorne anzutreten. Diese Bereitschaft zum Risiko war aber auch in der Politik
Frankreichs und Russlands zu finden, und auch Großbritannien betrieb im Sommer 1914 eine
Politik, die im Unterschied zu den Entwicklungen von 1912/13 den großen europäischen
Krieg nicht mehr ausschloss. Jörn LEONHARD hebt in seinem neuen großen Buch über den
Ersten Weltkrieg hervor, dass zur Eskalation alle Seiten – gerade auch Russland und
Frankreich – beitrugen, Deutschland und Großbritannien aber mehr zur Deeskalation der
Krise hätten tun können.
Folgen des Krieges: Der Erste Weltkrieg verstärkte auf vielen Gebieten nochmals die seit
langem erkennbaren Entwicklungstendenzen. Er ließ die Ambivalenzen der Moderne noch
deutlicher hervortreten. Die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts
ermöglichte jetzt den industrialisierten Krieg, eine ungeahnte Mobilisierung der Ressourcen
und neue schreckliche Waffensysteme. Der Krieg beschleunigte den sozialen Wandel, den
Ausbau der Staatstätigkeit und brachte zugleich neue Herausforderungen für die Regierungen,
die sich bald mit neuen politischen Forderungen (Parlamentarisierung, Wahlrechtsreformen,
Sozialpolitik) konfrontiert sahen. Der Krieg führte zum Zerfall großer europäischer Mächte,
er leitete den Aufstieg neuer Weltmächte (vor allem USA) ein und die Entkolonialisierung.
Die weltpolitische Rolle des alten Europas hatte ihren Höhepunkt nun überschritten.
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