SIGMUND FREUD: TEXTANALYSE PRIMÄRTEXT ZUR KULTUR ARBEITSAUFTRAG: BEANTWORTUNG VON FRAGEN 1 1) Kultur = Triebopfer. Erkläre dies. 2) Was wird in kultureller Hinsicht durch die Verinnerlichung (Internalisierung) von Zwang (Ver- und Gebote) erreicht? 3) Welche Anthropologie steckt hinter dem freudschen Kulturbegriff? Teilst du ein solches Menschenbild? Was spricht gegen ein solches Menschenverständnis? 4) Welche Funktion spielt Kultur, die von religiösen Motiven getragen wird? 5) Wie definiert Freud "Recht"? 6) Kläre folgenden Satz ab: "Einerseits widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur, andererseits bedroht die Kultur die Liebe mit empfindlichen Einschränkungen". 7) Hat nach Freud die Familie oder die Gesellschaft einen höheren kulturellen Wert? Begründe! 8) Erläutere den Begriff "zielgehemmt", was nach Freud einen wesentlichen Baustein unserer Kultur ausmacht, und bringe Beispiele. 9) Was hält Freud von der kommunistischen Idee einer Abschaffung des Eigentums und der völligen Liberalisierung des Sexuallebens? 10) "Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht". Erläutere. 11) Wieso könnte man diesen Text von Freud als Spiegelung einer europäischen Krisenstimmung interpretieren? 1) Triebe 1 Kultur http://www.loc.gov/exhibits/freud/images/vc91.jpg Schenkt man Freud Glauben, so ist der Mensch der in ihm ruhenden Einstellung nach ein Kulturfeind. In einer Zivilisation werden, um ein geregeltes und sicheres Zusammenleben zu ermöglichen, unsere Ureigenen Triebe auf verschiedenste Weise eingeschränkt2. Dies sind Opfer, die eine Kultur automatisch unseren Trieben abfordern muss, damit die Sicherheit der Allgemeinheit gewährleistet ist. Gäbe es in einer Zivilisation keinen Zwang und keine Triebunterdrückung, so wäre eine Verteidigung der kulturellen Werte gegen den triebgesteuerten Einzelnen, die Übermacht der Natur, nicht mehr möglich. Daher kommt Freud zu dem Schluss, es scheine vielmehr, „dass sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muss“. 2) Internalisierung von Zwängen Anhand des Beispiels der Zwangverinnerlichung weist Freud die Entwicklung der menschlichen Seele über die Jahrhunderte nach. Der seelische Zensor, das so genannte „Über-Ich“ entwickelt sich dadurch und macht uns zu moralischen und sozialen Menschen. Freud spricht von einer Umwandlung, die uns befähigt von Kulturgegnern zu Kulturträgern zu werden. Der besondere Wert darin liegt an der Sicherung dieser Kultur durch die Zahl derer, die in einer Zivilisation zu Kulturträgern geworden sind. Je mehr es sind, desto geringer werden die äußeren Zwangsmittel. 2 Fachinterne Transversale: siehe Psychoanalyse: Ich, Es und Über-Ich Das „Es“ stellt die Triebhaftigkeit, den Ich-fremden Teil im Menschen dar 3) Anthropologische Fragen 3.1) Das Freud’sche Menschenbild stellt uns dar als ein ganz und gar den Trieben unterworfenes Wesen. Das Individuum ist nicht einmal mehr „Herr im eigenen Hause“.3 Von Aggressionstrieben gesteuert, findet der Mensch Befriedigung in seiner sexuellen und individuellen, kulturfeindlichen Freiheit; Prinzipien wie jenes der Nächstenliebe sind ihm im Grunde genommen fremd, es läuft der Natur ursprünglich zuwider. Virtuell4 ist der Mensch Kulturfeind und Freud sieht allein die Möglichkeit, durch die Erstarkung des psychologischen Kulturbesitzes (das Über-Ich) eine Umwandlung in den Menschen von Kulturgegnern zu Kulturträgern zu vollziehen. Dies ist, was Freud dem Menschen zugute hält, seine „Stärke“. Diesem Gut begegnet er dennoch mit Skepsis: Freud fürchtet, dass der Mensch nicht in der Lage ist, seine Triebe genügend unter Kontrolle zu halten, um die benötigten Opfer auch erbringen zu können. 3.2) Ich teile Freuds Menschenbild nur teilweise: Meiner Meinung nach bildet Triebhaftigkeit genauso einen Teil des gesamten komplexen Gebildes „Mensch“, gleichgestellt der Vernunft, dem Verstande und unserer tiefsten, inneren Gefühlswelt (Beispiel: innige Geschwisterliebe, Mutterliebe, Vaterliebe). Zusammengesetzt aus einem komplizierten Gefüge diversester Teile unseres Bewusstseins, dem Unterbewusstsein und der Gefühlswelt, ergibt sich das menschliche Handeln. Nicht alles baut auf Trieben auf; allgemein erfolgt die Steuerung des Handelns über unser Hirn, wobei sich die Triebe nur stellenweise einschalten („einklinken“), wenn unser Geist oder 3 4 siehe Freud: Die drei Kränkungen * der in ihm (Menschen) ruhenden Einstellung nach unser Körper auf gewisse äußere Gegebenheiten ansprechen. Die Steuerung klinkt sich dann kurzzeitig aus. 3.3) Freud sagt zwar, Kultur sei ein aus Eigennützigkeit gebildeter Zusammenschluss vieler, sich in ihren Bedürfnissen einschränkender Menschen, mit dem Ziel sich vor der ureigenen Natur zu verteidigen und Sicherheit zu bewahren; allein aber das Bewusstsein, dass für die Erreichung der gesetzten Ziele (Sicherheit, Selbsterhaltung) eine Zivilisation vonnöten ist, beweist bereits, dass der Mensch mehr, als ein rein den Trieben unterworfenes Wesen ist. Ist es nicht möglich, dass es Dinge und Werte wie Moralität und Gerechtigkeitssinn gibt, die bereits a priori in uns festgelegt sind? Bedenkt man das Prinzip des freiwilligen Triebverzichts so kann man dem Ich dennoch einige positive Seiten abgewinnen. 4) Religiös motivierte Kultur Kultur entsteht aus einer Not: Man muss sich vor der Natur zu verteidigen wissen; deshalb schafft der Mensch kulturelles Zusammenleben als Lösung für dieses Problem. Um die Hilflosigkeit gegenüber der Natur zu überwinden, findet der Mensch eine spirituelle Stütze. Er kreiert übermenschliche, ihm ähnliche Figuren, die es ihm leicht machen, die Angst vor dem Unbekannten und Mystischem, das die Natur bis zu diesem Zeitpunkt darstellte, zu überwinden. So bietet die Religion eine Stütze der Kultur, fungiert sozusagen – unter der Motivation der Naturbändigung – als eine gesicherte Vorstellung inmitten der Wirren von Raum und Zeit. 5) Das Freud’sche Recht Formt sich eine geschlossene Mehrheit, die in der Lage ist, über den Einzelnen zu triumphieren und zusammenzuhalten, so steht sie gemeinsam als „Recht“ jeder „rohen Gewalt“ eines Einzelnen gegenüber. War der Einzelne nie durch Einschränkungen gebunden, so wird nun dessen Macht durch diejenige der Mehrheit ersetzt, wodurch die Triebe der einzelnen Opfern unterliegen. Das Recht ist nun Ausdruck der Gemeinschaft: Die Angehörigen der geschlossenen Mehrheit haben durch ihre eigenen Befriedigungseinschränkungen dazu beigetragen und schützen sich durch das Recht vor der rohen Gewalt. 6) Kultur Liebe Kultur und Liebe bilden einen Widerspruch in sich. Dieser sei im Folgenden aufgezeigt: Die stammesgeschichtlich ältere Art des Zusammenlebens, die Familie, bildet eine andere Weise der Gemeinschaft aus als jene später errungene Form, die Kultur. In der Familie entwickeln die einzelnen Individuen ein sehr enges Gemeinschaftsgefühl, eine Unverzichtbarkeit untereinander. Diese Liebe der Familienmitglieder zueinander kann dazu führen, dass sich die familiäre Einheit nur widerstrebend in die große, zusammengeballte kulturelle Gemeinschaft integrieren lässt. In dieser Hinsicht, widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur. Wie auch der Einzelne als Teil einer Zivilisation Einschränkungen seiner ureigenen Triebe in Kauf nehmen muss, so geschieht dies auch mit der familiären Keimzelle allen Zusammenlebens: der Liebe. Zwischenmenschliche Liebe hält Individuen untereinander gefangen und sie muss Einschränkungen durch die Kultur erfahren, soll eine funktionierende Integration in die kulturelle Gemeinschaft erfolgen können. 7) Der kulturelle Wert von Familie und Gesellschaft Die Gesellschaft hat einen höheren kulturellen Stellenwert, weil erst in der Gesellschaft die kulturelle Form des Zusammenlebens zur Vollendung gebracht werden kann. In der Familie spielen Faktoren wie Liebe eine größere Rolle als die Verteidigung ihrer Mitglieder vor der Übermacht der Natur oder der rohen Gewalt des Einzelnen. Der Entstehungsgrund beider Gemeinschaften ist sehr unterschiedlich: Die Familie, zwar Keimzelle der Kultur, gründet sich jedoch auf die Bande des Blutes und die Affektion ihrer Mitglieder zueinander, wohingegen die Gesellschaft der Zweckmäßigkeit entspringt, gemeinsam Sicherheit zu finden. 8) Zielgehemmtheit – Ein Baustein unserer Kultur Der Begriff „zielgehemmt“ bezeichnet eine weitere Art der Einschränkung menschlicher Triebe. Er macht deshalb einen wesentlichen Baustein unserer Kultur aus, weil durch gezielte Ablenkung des menschlichen Geistes auf kulturelle Errungenschaften so etwas wie ein Ersatz zum Sexualobjekt geschaffen wird und die Aggressionstriebe dadurch unter Kontrolle geraten. Der Einzelne identifiziert sich mit den „vergeistigten Ersatzobjekten“ wie Kunst (Musik, Malerei, Architektur, Literatur, Theater…), Technik, Wissenschaft … womit das Ausarten der triebhaften Bedürfnisse unterbrochen bzw. „zielgehemmt“ wird. Hierbei einige Beispiele aus dem täglichen Leben: Musik – ein Song, eine Ballade, eine Sinfonie uvm. – kann das Interesse eines Individuums derart stark in den Bann ziehen, dass es an keinerlei andere Dinge denkt und allein die Freude empfindet, welche beim Zuhören aufkommt. Dies ist von Person zu Person sehr verschieden und wird nicht von allen so empfunden. Bildende Kunst und Malerei können bei einigen Menschen Grund genug dafür sein, sich voll und ganz an das Werk zu verlieren und dabei an Nichts anderes mehr zu denken; die Triebe werden ausgeklinkt. Der Wissenstrieb und der Ehrgeiz, Dinge zu entdecken die noch niemand vorher gefunden hat, kann Menschen gänzlich von jeder anderen Tätigkeit abbringen. Freuds Begriff der „Zielgehemmtheit“ kann auch auf moderne Aspekte angewandt werden: Unsere Technik von heute vermag es eine derartige Faszination von sich ausgehen zu lassen, dass sie das Interesse des Individuums alleine an sich zu binden vermag. 9) Freud und der kommunistische Gedanke Freud erkennt die kommunistische Idee als eine „haltlose Illusion“. Zwar sieht er, dass die Abschaffung des Eigentums der menschlichen Natur entgegenwirkt und den Trieben damit ein starkes Werkzeug entzogen wird, gleichzeitig aber gibt er zu verstehen, dass die menschliche Natur nicht von den ureigenen Trieben befreit werden kann, auf keine Weise. Nicht der Entzug Aggressionsentwickelnder Mittel kann in dieser Beziehung zielführend sein sogar die Liberalisierung des Sexuallebens, unseres stärksten Motors der Triebhaftigkeit, bringt damit nicht die gewünschte Wirkung. Die Kultur würde sich in eine nicht vorauszusehende Richtung weiter entfalten und die ureigenen natürlichen Triebe würden den Menschen an den Fersen haften. 10) Ein Stück Glücksmöglichkeit gegen ein Stück Sicherheit Diese Aussage bezeichnet zusammenfassend, was Freud im gesamten Text stellenweise immer wieder sagt: Kulturträger haben sich in eine geschlossene Gemeinschaft gefügt, um sich vor den menschlichen Naturtrieben verteidigen zu können, um in Sicherheit zu sein. Damit diese Sicherheit erreicht werden kann, müssen an das Individuum gewisse Anforderungen gestellt werden, die Opfer an die Sexualität und Aggressionsneigung erfordern. Der Kulturmensch tauscht jenes Glück, welches der Urmensch - zwar ständiger Gefahr ausgesetzt und von keiner langen Lebenserwartung beglückt jedoch uneingeschränkt in den Trieben - genießen konnte, ein und erlangt dafür lebenslange Sicherheit in der geschlossenen Zivilisation. 11) Spiegelung einer europäischen Krisenstimmung? Freuds Abhandlung über die Kultur entstand zu einer Zeit, in der Europa gerade erst einen großen Krieg hinter sich gebracht hatte. Im Originalzitat Vergänglichkeit am Textanfang spricht Freud ganz konkret die Probleme an, welche der große Krieg mit sich brachte. Der Mensch wird in seiner ganzen nackten Triebgesteuertheit bloßgestellt. Freud spricht von Depression und Vergänglichkeit; Faktoren, welche zur Entwertung der Güter wie die bis dato errungene Kultur beigetragen haben. Das Ich ist am Ende, verwirrt, eingepfercht und Freud zeigt diese Situation anhand unserer Kultur auf. Die Krise spiegelt sich darin wieder, dass das Individuum sein Missgefallen an der momentanen Kulturform kundtut. Der Mensch fühlt sich in der momentanen kulturellen Gemeinschaft nicht mehr wohl. Man sucht nach Veränderungen, Verbesserungen und auf dem Wege scheint der Bolschewismus solche Systemverbesserungen gefunden zu haben. Diese scheinbare Lösung des Problems weist ebenso darauf hin, wie zerrissen diese Zeit war und Freud hat diese Stimmung in seinem Text auf etwas verschlüsselte Weise wiedergegeben.