MB3_HydromorpholDiversitaetsindex_30062011

Werbung
1
> Der hydromorphologische Index der Diversität: ein Tool für Projekte im
2
Flussbau
3
4
Wörter: ca. 22‘890 Zeichen (inkl. Leerschläge – erlaubt max. 24‘000); Unterstrichen: Glossarbegriffe
5
6
Walter Gostner, Anton J. Schleiss
7
8
Die strukturelle Vielfalt bildet eine der Kernvoraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der
9
Gewässerökosysteme. Mit dem im vorliegenden Merkblatt beschriebenen hydro-morphologischen
10
Index der Diversität steht dem Wasserbauer ein Werkzeug zur Verfügung, welches es ihm erlaubt, die
11
Wirkung der flussbaulichen Projekte im Hinblick auf die Verbesserung der Strukturvielfalt zu
12
beurteilen.
13
14
Titelbild
15
16
Alles im Fluss oder der Flussbau im Wandel der Zeit
17
Das Wasser ist die Quelle unseres Lebens. Seit jeher hat der Mensch die Nähe der Fliessgewässer
18
gesucht. Ohne den Nil oder Euphrat und Tigris wäre die Entwicklung der antiken Hochkulturen nicht
19
möglich gewesen. Die Nutzung der Fliessgewässer erfolgt auf mannigfaltige Art und Weise. Sie
20
dienen zum Beispiel als Transportwege und als Vorfluter für das menschliche Abwasser, während das
21
verfügbare Wasser verschiedenen Nutzungsformen wie zum Beispiel der Bewässerung oder der
22
Stromerzeugung zugeführt oder das in den Flüssen vorhandene Geschiebe für industrielle Zwecke
23
verwendet wird. Wasser ist aber auch lebensbedrohlich und eine Einschränkung für die
24
Entwicklungsmöglichkeit des Menschen. Aktiver und passiver Hochwasserschutz dienen dem
25
Menschen dazu, sich und seine Güter vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen, während durch die
26
Begradigung der Talflüsse die Urbarmachung der grossen Überflutungsgebiete erfolgte.
27
28
Eingriffe an den Fliessgewässern auf verschiedenen Ebenen waren also die Voraussetzung für die
29
Entwicklung unserer Zivilgesellschaften. In der Vergangenheit hatten diese Eingriffe vor allem
30
sektoriellen Charakter und verfolgten meistens einen bestimmten Zweck. Fliessgewässer sind aber
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
31
nicht nur eine beliebig auszunutzende Ressource oder ein Element, vor dem man sich schützen muss.
32
Vielmehr hat sich in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fliessgewässer nicht
33
nur wesentliche landschaftsbestimmende Elemente darstellen, sondern auch wertvolle und
34
bestmöglich zu erhaltende Ökosysteme, die eine vielfältige Flora und Fauna beheimaten und als
35
Hotspots der Biodiversität zu interpretieren sind. Fliessgewässer bedecken ca. 0,8 % der
36
Erdoberfläche, beheimaten aber rund 6 % der bekannten Arten (Allan & Castillo, 2007). Zudem haben
37
die durchgeführten Massnahmen zum Hochwasserschutz oft ihre gewünschte Funktion nicht erfüllt.
38
Extreme Hochwässer haben gezeigt, dass ein absoluter Schutz nicht möglich ist und die traditionellen
39
Herangehensweisen zu überdenken sind.
40
41
Aus diesen Beweggründen heraus hat ein Wandel weg von einer sektoriellen Betrachtungsweise hin
42
zu ganzheitlichen und integralen Ansätzen stattgefunden. In den einschlägigen Gesetzen hat dieser
43
Paradigmenwechsel Eingang gefunden. Demnach müssen die Kantone nicht nur die Gefahrengebiete
44
bezeichnen, sondern auch den Raumbedarf der Gewässer festlegen, der für den Schutz vor
45
Hochwasser und für die Erfüllung der ökologischen Funktionen der Gewässer notwendig ist. Bei
46
Hochwasserschutzprojekten sind also auch die ökologischen Defizite zu ermitteln und zu beheben
47
(BWG, 2001). Weiters sind die Kantone verpflichtet, die Revitalisierung ihrer Gewässer vorzunehmen,
48
wobei darunter die Wiederherstellung der natürlichen Funktionen der oberirdischen Fliessgewässer zu
49
verstehen ist (Infobox 1).
50
51
Die Komplexität der durchzuführenden Projekte erfordert es, dass diese von interdisziplinär
52
zusammengesetzten Projektgruppen und in einem partizipativen Entscheidungsprozess, bei dem alle
53
Interessensgruppen mit einbezogen werden, geplant und umgesetzt werden. Der Wasserbauingenieur
54
benötigt dabei nicht mehr nur Instrumente zur fachgerechten Auslegung der
55
Hochwasserschutzmassnahmen, vielmehr muss er imstande sein, die Projekte so zu gestalten, dass
56
auch die Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der Gewässerökosysteme verbessert werden.
57
58
Der in diesem Merkblatt vorgestellte hydro-morphologische Index der Diversität (HMID) trägt diesen
59
Anforderungen Rechnung. Er soll in erster Linie als Werkzeug dienen, bei Variantenvergleichen von
60
flussbaulichen Projekten die aus ökologischer Sicht zu priorisierenden Massnahmen festlegen zu
61
können.
2
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
62
Strukturvielfalt als Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Gewässerökosysteme
63
Für die Funktionsfähigkeit der Gewässerökosysteme ist eine Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender
64
Faktoren abiotischer und biotischer Natur mitbestimmend (Abb. 1). Bei den abiotischen Faktoren spielt
65
neben der chemischen Gewässergüte vor allem die Gewässermorphologie eine tragende Rolle. Stellt
66
man Fliessgewässer mit natürlicher und künstlicher Morphologie einander gegenüber (Abb. 2), sind in
67
natürlichen Abschnitten (Bild links) stark variable Ausprägungen der Strömung zu erkennen: Zonen
68
mit hoher Fliessgeschwindigkeit wechseln sich ab mit Bereichen hoher Fliesstiefe und geringer
69
Fliessgeschwindigkeit. Weiters gibt es Wasserruhezonen, Kiesbänke unterschiedlicher Höhe und
70
dementsprechend verschiedenen Vegetationscharakteristiken und Sukzessionsstadien, Vorkommen
71
von Totholz und ein buntes Patchwork an verschiedenen Substrateigenschaften. Auch ist zwischen
72
dem Fliessgewässer und dem umliegenden Umland ein breiter Ufergürtel vorhanden. In kanalisierten
73
Abschnitten hingegen (Bild rechts) ist eine starke Monotonie mit konstant bleibenden
74
Strömungsmustern sowohl in Längs- als auch in Querrichtung und fehlenden aquatischen und
75
terrestrischen Habitaten zu beobachten.
76
77
Es ist weitgehend akzeptiert und durch Untersuchungen nachgewiesen, dass die Veränderung und
78
vor allem Homogenisierung der Gewässermorphologie in den Fliessgewässern zu einer Dezimierung
79
von Artenreichtum und Biomasse führt. Umgekehrt gilt der Grundsatz, dass die strukturelle Vielfalt des
80
Lebensraumes in verschiedenen räumlichen Massstabsebenen eine der wichtigsten
81
Grundvoraussetzungen für ein Entwicklung und Erhaltung artenreicher Lebensgemeinschaften ist
82
(Jungwirth et al., 2003).
83
84
Deshalb zielen viele Revitalisierungsprojekte an Fliessgewässern darauf ab, die morphologische
85
Vielfalt wieder herzustellen und damit sowohl für die in Flusslandschaften lebenden terrestrischen
86
Lebewesen als auch für die aquatischen Organismen eine hohe Vielfalt von Habitaten zu schaffen.
87
Diese ist notwendig, um den Gewässerlebewesen und semiaquatischen Lebensgemeinschaften für
88
verschiedene Lebensstadien und Aktivitäten Teillebensräume bereitzustellen. Fische zum Beispiel
89
erheben im Lauf ihres Lebenszyklus verschiedene Ansprüche an ihre Umwelt: es braucht geeignete
90
Laichplätze mit dem entsprechenden Sohlsubstrat, für die Nahrungsaufnahme begeben sich die
91
Fische in Bereiche schnellfliessenden Wassers mit hohem Nahrungsangebot, dann wiederum
92
benötigen sie zur Erholung Bereiche mit hohen Fliesstiefen und geringer Fliessgeschwindigkeit, wobei
3
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
93
die Präferenzen für Jungfische anders sind als für adulte Fische. Organismen können sich also nur
94
behaupten und erhalten, wenn ein bestimmtes Grundangebot an von ihnen benötigten Habitaten
95
vorhanden ist.
96
97
Der hydro-morphologische Index der Diversität (HMID)
98
Für die Entwicklung des HMID wurden folgende Hypothesen postuliert:
99
100
101
a. Die strukturelle Vielfalt eines Fliessgewässerabschnittes lässt sich mithilfe der dafür
massgebenden Schlüsselfaktoren und ihrer statistischer Parameter erfassen;
102
103
b. Die statistischen Parameter können anhand einer mathematischen Formulierung in einem
104
globalen Index zusammengefasst werden, der somit die strukturelle Vielfalt des
105
Fliessgewässerlebensraumes zu charakterisieren vermag.
106
107
Das wichtigste Charaktermerkmal des HMID ist seine Fähigkeit zur Vorhersage, womit er
108
hauptsächlich bei der Planung von flussbaulichen Projekten Anwendung finden kann. Anhand von
109
numerischen Abflussmodellierungen und darauffolgender statistischer Analyse der Schlüsselvariablen
110
kann der HMID für einzelne zur Diskussion stehende Varianten berechnet werden. Aus dem Vergleich
111
des für die einzelnen Varianten berechneten Wertes für den HMID kann man jene Variante definieren,
112
die das Fliessgewässer mit dem besten Strukturreichtum auszustatten imstande ist. Auch kann eine
113
Abschätzung darüber getroffen werden, inwieweit eine gewählte Variante sich aus
114
struktureller-morphologischer Sicht an den gewünschten Referenzzustand bzw. an das vorgegebene
115
Leitbild annähern kann.
116
117
In zeitlicher Sukzession betrachtet reiht sich der HMID damit zwischen den Methoden, welche eine
118
Bewertung des Ist-Zustandes eines Fliessgewässers erlauben (z.B. BUWAL, 1998) und den Anlass
119
zur Lancierung eines Projektes geben können, und den Methoden für die Erfolgskontrolle (z.B.
120
Woolsey, 2005), welche nach Umsetzung des Projekts zur Anwendung kommen, ein. Er füllt damit
121
jene Lücke, die zwischen der Bewertung von Fliessgewässern vor und nach Durchführung eines
122
flussbaulichen Projektes liegt und schafft eine Möglichkeit, als Ergänzung zu den gängigen
4
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
123
Bewertungsmethoden eine a-piori Bewertung von Projekten vorzunehmen und diese in
124
strukturell-morphologischer Hinsicht zu optimieren.
125
126
Die Entwicklung des HMID lief in mehreren Phasen ab (Gostner & Schleiss, 2010). An verschiedenen
127
Fliessgewässern in der Schweiz (Bünz - Kanton Aargau, Venoge - Kanton Waadt, Sense - Kantone
128
Freiburg/Bern) erfolgten bei Mittelwasserabfluss Felderhebungen mit der Aufnahme von hydraulischen
129
und morphologischen Grössen (Abb. 3). Allen Fliessgewässern ist gemein, dass Abschnitte mit
130
unterschiedlicher morphologischer Charakteristik vorhanden sind. Diese reicht von vollständig
131
naturbelassen über teilweise bis hin zu komplett verbaut, auch sind revitalisierte Abschnitte
132
vorhanden. An jedem der untersuchten Abschnitte wurden Querprofile definiert, entlang welcher
133
jeweils an den selben Punkten die topographische Lage, die Sohlhöhe, die Wassertiefe und die
134
Fliessgeschwindigkeit aufgenommen wurden. Weiters wurde die Korngrössenverteilungen der
135
vorhandenen Sohlsubstrate erhoben.
136
137
Danach erfolgte die Auswertung der erhobenen Daten, um wiederkehrende Muster und innere
138
Abhängigkeiten der gemessenen abiotischen Variablen zu erkennen. Aufgrund dieser statistischen
139
Analysen konnte die wichtige Erkenntnis gezogen werden, dass sich die Variabilität der Morphologie
140
und der Sohlsubstrate in der Variabilität der einfachen hydraulischen Grössen Fliesstiefe,
141
Fliessgeschwindigkeit und benetzte Breite widerspiegelt. Auch die komplexen hydraulischen Variablen
142
wie Sohlenschubspannung, Reynolds- oder Froudenummer sind direkt von den einfachen
143
hydraulischen Grössen abhängig. Aus diesem Grund ist es durchaus legitim, dass die strukturelle
144
Variabilität durch die Variabilität der hydraulischen Grössen ausgedrückt wird.
145
146
Stellt man die hydraulischen Grössen einander gegenüber, lassen sich verschiedene Beobachtungen
147
anstellen (Abb. 4). In kanalisierten Abschnitten (S3 an der Bünz, S2 und S3 an der Venoge, S5 an der
148
Sense) ist die Standardabweichung und somit auch Diversität der Variablen gering. Besonders evident
149
ist dies bei der benetzten Breite, aber auch bei Fliesstiefe und -geschwindigkeit bleibt die Streuung auf
150
einen engen Bereich beschränkt. Auch ist in diesen Abschnitten eine hohe durchschnittliche
151
Fliessgeschwindigkeit zu beobachten, Stillwasserzonen sind kaum vorhanden. An den
152
naturbelassenen Abschnitten hingegen lässt sich eine grössere Variabilität der Messgrössen
153
feststellen. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass gemäss Erwartungen die Diversität der
5
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
154
abiotischen Umwelt an den natürlichen Abschnitten (S1 und S2 an der Bünz, S1 und S4 an der
155
Venoge, S1 bis S3 an der Sense) deutlich höher ist als an kanalisierten Strecken (S3 an der Bünz, S2
156
und S3 an der Venoge, S5 an der Sense) oder auch am revitalisierten Abschnitt S4 der Bünz.
157
158
Zur Beschreibung der Vielfalt kann die Standardabweichung s verwendet werden (Palmer et al.,
159
1997), wobei deren Gewichtung eng mit dem Mittelwert µ zusammenhängt. Dieser Umstand kann am
160
besten mit dem Variationskoeffizienten cv = s/µ ausgedrückt werden. Die Teilvielfältigkeit eines
161
einzelnen Parameters lässt sich wie folgt berechnen (Schleiss, 2005):
162
163
V(i)  1 
 2i
 2i
164
165
Der HMID für einen Abschnitt wiederum wird aus dem Produkt der Teilvielfältigkeitsindizes für
166
Fliessgeschwindigkeit, Fliesstiefe und benetzte Breite berechnet:
167
168
HMID Abschnitt   V(i)  V(v)V(t)V(b)
i
169
170
Diese vorliegende Formulierung für den HMID beschreibt die räumliche Vielfalt der abiotischen
171
Umwelt. Durch numerische 2d-Modellierung der Untersuchungsabschnitte an der Sense für
172
verschiedene Abflüsse konnte nachgewiesen werden, dass der HMID in natürlichen Abschnitten für
173
nahezu alle im Jahresverlauf auftretenden Abflüsse (mit Ausnahme jener, die an ca. 5 Tagen pro Jahr
174
überschritten werden) annähernd konstant bleibt, während der HMID in verbauten Abschnitten mit
175
grösser werdenden Abflüssen sukzessive kleiner wird. Es sind also auch im Hinblick auf die zeitliche
176
Variabilität Unterschiede zwischen Abschnitten mit verschiedener morphologischer Ausprägung
177
festzustellen.
178
179
Der HMID stellt ein Hilfsmittel für die Optimierung von flussbaulichen Projekten im Hinblick auf die
180
Verbesserung der Strukturvielfalt dar. Er enthebt die zuständigen Fachstellen und den beauftragten
181
Wasserbauingenieur jedoch nicht der Pflicht zur Beachtung verschiedener Grundsätze, die es zur
182
Umsetzung eines nachhaltig wirksamen und erfolgreichen Projekts zu bewältigen gilt.
183
6
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
184
In erster Linie ist bei Projekten im Flussbau und vor allem bei Revitalisierungsprojekten ein Leitbild mit
185
klar definierten Zielen zu definieren (Palmer et al., 2005) und dementsprechend die Frage zu
186
beantworten, ob die strukturell-morphologischen Eigenschaften tatsächlich eine relevante Hürde auf
187
dem Weg zu diesem Leitbild darstellen. Sind nämlich andere Elemente massgeblich für eine verarmte
188
Biodiversität verantwortlich (z.B. zu starke Fragmentierung des betroffenen Fliessgewässers,
189
Nährstoff- und Sedimenteinträge durch eine intensive landwirtschaftliche Nutzung bis an den
190
Gewässerrand, mangelnde chemische Gewässergüte, usw.) und wird dieser Frage nicht auf den
191
Grund gegangen, können Massnahmen zur Verbesserung der Strukturvielfalt eventuell ohne positive
192
Effekte bleiben und damit den erwarteten Erfolg des Projektes nicht erreichen.
193
194
Weiters ist es unabdingbar, die Dynamik des Fliessgewässers und sein langfristiges Verhalten im
195
betroffenen Fliessgewässerabschnitt zu untersuchen und zu beurteilen. Fliessgewässer, die langfristig
196
positive strukturelle Lebensbedingungen anbieten, sind durch ein dynamisches Gleichgewicht
197
gekennzeichnet. Es treten zwar in periodischen Abständen bettbildende Prozesse mit der Neubildung
198
der Habitate auf, es kommt aber zu keinen irreversiblen Eintiefungs- bzw. Auflandungstendenzen, die
199
in der Regel zu einer Dezimierung des Habitatsangebot führen. Um diese Vorgänge bewerten zu
200
können, sind Untersuchungen des Geschiebe- und Wasserhaushaltes auf der Einzugsgebietsebene
201
notwendig.
202
203
Überdies ist bei Projekten, die integrale und ganzheitliche Ansätze verfolgen, auch in Zukunft die
204
fächerübergreifende Zusammenarbeit und der Input von Experten mit unterschiedlichem Hintergrund
205
notwendig. Die Abkehr von sektoriellen Betrachtungsweisen ist zu intensivieren und bereits bei der
206
Definition von Projektvarianten sind alle Entscheidungsträger und Interessensgruppen in einen
207
partizipativen Prozess einzubinden (s. auch Hostmann et al., 2005).
208
209
Anwendungsbeispiel für den HMID
210
In Abb. 5 ist ein Beispiel von möglichen Projektvarianten bei einem Revitalisierungsprojekt skizziert.
211
Als Ausgangszustand wird ein kanalisierter, trapezprofilförmiger und mit einem festen Uferschutz
212
gesicherter Abschnitt angenommen. Weiters wird die Annahme zugrunde gelegt, dass der betreffende
213
Abschnitt in seinem Referenzzustand ein verzweigter kiesführender Alpenfluss war und dass eines der
7
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
214
Zieles des Projektleitbildes ist, den Fluss wieder in Nähe des morphologischen Referenzzustandes zu
215
bringen.
216
217
Die ins Auge gefassten Massnahmen könnten sein: kleinräumiger Eingriff durch die Platzierung von
218
Störsteinen (Variante 1), die Auflösung einer der beiden Uferlinien zur Initiierung von alternierenden
219
Kiesbänken mit einem verdeckten Uferschutz am Rande des zugelassenen Pufferstreifens (Variante
220
2) oder eine Aufweitung mit Auflösung beider Uferlinien und Zulassen der vollständigen Eigendynamik
221
des Fliessgewässerabschnitts ohne laterale Einschränkungen (Variante 3).
222
223
Der HMID für die einzelnen Projektvarianten wird nun folgendermassen ermittelt:
224
225

Durchführung einer numerischen 2d-Modellierung für den Mittelwasserabfluss. Als Eingabedaten
226
für die Modellierung dienen das im Normalfall bereits vorliegende DTM der einzelnen Varianten,
227
da es auch für die Hochwasserabflussberechnung benötigt wird, und der Mittelwasserabfluss, der
228
entweder zu berechnen ist oder aus einer vorliegenden Abflussdauerkurve abgelesen werden
229
kann.
230
231

Auslesen der Fliessgeschwindigkeiten und Abflusstiefen für die einzelnen Zellen des Gitternetzes
232
des numerischen Abflussmodells sowie Definition einer genügend grossen Anzahl von
233
Querprofilen (mindestens 15) und Feststellung der jeweiligen benetzten Breite.
234
235

Berechnung der Mittelwerte und Standardabweichungen für die hydraulischen Variablen
236
Fliessgeschwindigkeit, Abflusstiefe und benetzte Breite und Berechnung des HMID gemäss oben
237
wiedergegebener Formel.
238
239
Variante 1 stellt in Bezug auf die strukturell-morphologische Vielfalt lediglich eine leichte Verbesserung
240
dar, sie ist auch eher als Habitatverbesserungsmassnahme denn als Revitalisierung zu beschreiben.
241
Bei Variante 2 ist ein wesentlich höherer HMID zu erreichen, aufgrund des nach wie vor existierenden
242
Uferschutzes ist aber auch bei Variante 2 keine vollständige Entwicklung der natürlichen aquatischen
243
und terrestrischen Habitate vorherzusehen. Variante 3 hingegen wäre für die Revitalisierung des
244
betroffenen Abschnittes ein Optimum: es kann sich eine grosse Vielfalt an Habitaten ausbilden und
8
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
245
der Fluss erhält wieder eine sehr hohe Eigendynamik, wodurch eine starke Verbesserung der
246
Biodiversität zu erwarten ist.
247
248
Durch die Anwendung des HMID eröffnet sich die Möglichkeit, den voraussichtlichen Erfolg von
249
verschiedenen zur Diskussion stehenden Projektvarianten abzuschätzen und somit im Sinne der
250
Gewässerschutzverordnung (Art. 41d.2b) eine Feststellung darüber zu treffen, welcher Nutzen im
251
Verhältnis zum voraussichtlichen Aufwand zu erwarten ist.
252
253
Literatur
254
Allan JD, Castillo MM. 2007. Stream Ecology. Structure and Function of Running Waters. Second
255
Edition. Springer, Dordrecht, Netherlands.
256
257
BUWAL (Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft). 1998. Ökomorphologie Stufe F. Methoden
258
zur Untersuchung und Beurteilung der Fliessgewässer in der Schweiz. Mitteilungen zum
259
Gewässerschutz Nr. 27, 51 S.
260
261
BWG. 2001. Hochwasserschutz an Fliessgewässern. Wegleitungen des BWG, 72 S.
262
263
Gostner, W., Schleiss, A.J. 2010. Der hydraulisch-morphologische Index der Diversität: Ein Indikator
264
für die ökologische Funktionsfähigkeit von Fliessgewässern. Beiträge zum 15. Gemeinschafts-
265
Symposium der Wasserbau-Institute TU München, TU Graz und ETH Zürich, vol. 124: 1-10
266
267
Jungwirth M, Haidvogl G, Moog O, Muhar S, Schmutz S. 2003. Angewandte Fischökologie an
268
Fliessgewässern. Facultas Universitätsverlag, Wien, 547 S.
269
270
Hostmann M., Buchecker M., Ejderyan O., Geiser U., Junker B., Schweizer S., Truffer B. & Zaugg
271
Stern M. 2005. Wasserbauprojekte gemeinsam planen. Handbuch für die Partizipation und
272
Entscheidungsfindung bei Wasserbauprojekten. Eawag, WSL, LCH-EPFL, VAW-ETHZ. 48 pp.
273
274
Karr JR, Chu EW. 2000. Sustaining living rivers. Hydrobiologia 422/423: 1–14.
9
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
275
Palmer, M.A., Hakenkamp, C.C., Nelson-Baker, K. 1997. Ecological heterogeneity in streams: why
276
variance matters. Journal of the North American Benthological Society 16: 189–202.
277
278
Palmer, M. A., Bernhard, E. S., Allan, J. D., Lake, P. S., Alexander, G., Brooks, S., Carr, J., Clayton,
279
S., Dahm, C. N., Follstad Shah, J., Galat, D. L., Loss, S. G., Goodwin, P., Hart, D. D., Hassett, B.,
280
Jenkinson, R., Kondolf, G. M., Lave, R., Meyer, J. L., O'Donnell, T. K., Pagano, L., Sudduth, E. 2005.
281
Standards for ecologically successful river restoration. Journal of Applied Ecology 42: 208-217
282
283
Schleiss, A.J. 2005. Flussbauliche Hochwasserschutzmassnahmen und Verbesserung der
284
Gewässerökologie – Vorschlag eines hydraulisch – morphologischen Vielfältigkeitsindexes. Wasser,
285
Energie, Luft – Eau, énergie, air. 97. Jg. Heft 7/8: 195 – 199
286
287
Woolsey, S., Weber, C., Gonser, T., Hoehn, E., Hostmann, M., Junker, B., Roulier, C., Schweizer, S.,
288
Tiegs, S., Tockner, K., Peter, A. 2005. Handbuch für die Erfolgskontrolle bei
289
Fliessgewässerrevitalisierungen. Publikation des Rhone - Thur Projektes. Eawag, WSL, LCH -EPFL,
290
VAW-ETHZ, 112 S.
291
292
10
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
293
# TEXTE FÜR BOXEN#
294
295
Infobox 1 Auszüge aus relevanten Gesetzestexten zum Wasserbau
296
297
1. Bundesgesetz über den Wasserbau vom 21. Juni 1991 (Stand am 1. August 2008).
298
.........
299
Art. 3.1 Die Kantone gewährleisten den Hochwasserschutz in erster Linie durch den Unterhalt der
300
Gewässer und durch raumplanerische Massnahmen
301
.......
302
Art. 4.2 Bei Eingriffen in das Gewässer muss dessen natürlicher Verlauf möglichst beibehalten
303
oder wiederhergestellt werden. Gewässer und Ufer müssen so gestaltet werden, dass:
304
a. sie einer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt als Lebensraum dienen können;
305
b. die Wechselwirkungen zwischen ober- und unterirdischen Gewässern weitgehend
306
erhalten bleiben;
307
c.
eine standortgerechte Ufervegetation gedeihen kann.
308
309
2. Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer (GSchG) vom 24. Januar 1991 (Stand am 1.
310
Januar 2011).
311
.........
312
Art. 36a Die Kantone legen nach Anhörung der betroffenen Kreise den Raumbedarf der
313
oberirdischen Gewässer fest, der erforderlich ist für die Gewährleistung folgender Funktionen
314
(Gewässerraum):
315
a. die natürlichen Funktionen der Gewässer;
316
.......
317
Art. 37.2 (wie Bundesgesetz)
318
Art. 38a Die Kantone sorgen für die Revitalisierung von Gewässern......
319
320
3. Gewässerschutzverordnung vom 28. Oktober 1998 (Stand am 1. Juni 2011)
321
Art. 41d.1 Die Kantone erarbeiten die Grundlagen, die für die Planung der Revitalisierungen
322
der Gewässer notwendig sind. Die Grundlagen enthalten insbesondere Angaben
11
3 Der hydromorphologische Index der Diversität
323
über:
324
a. den ökomorphologischen Zustand der Gewässer
325
.......
326
327
328
Art. 41d.2 ...... Revitalisierungen sind vorrangig vorzusehen, wenn deren Nutzen:........
c.
durch das Zusammenwirken mit anderen Massnahmen zum Schutz der natürlichen
Lebensräume oder zum Schutz vor Hochwasser vergrössert wird.
329
12
Herunterladen