Leistungsbewertung unter dem Blickwinkel wahrnehmungspsychologischer Gesetzmäßigkeiten und konstruktivistischer Überlegungen. (Ouellen: Bovet, G., Huwendiek, V. (Hrsg.): Leitfaden Schulpraxis. Cornelson 1998; Lernende Schule Heft 21, 2003, Friedrich Verlag 2003; Sämmer, G.: Psychologische Gesetzmäßigkeiten bei Beurteilungen in der Schule. Seminar 2/1999. S. 74ff. Schneider Verlag Hohengehren, 1999; Sprenger, R: Das Prinzip Selbstverantwortung. Frankfurt a.M. 1999; Lernprogramm http://www.personalbeurteilung.de/wirtschaft/index.htm) Wahrnehmung bezeichnet den Prozess der Informationsaufnahme eines Lebewesens über seine Sinne. Auch die aufgenommenen und ausgewerteten Informationen selbst werden gelegentlich Wahrnehmung(en) genannt. Aus der Sicht der verschiedenen Wissenschaften wird Wahrnehmung unterschiedlich ausgelegt. Die Biologie versteht darunter generell die Fähigkeit eines Lebewesens mit seinen Sinnesorganen Informationen in Form von Reizen aufzunehmen und im Gehirn zu verarbeiten. In der Psychologie bezeichnet Wahrnehmung die Aufnahme, Interpretation, Auswahl und Organisation von nur jenen sensorischen Informationen, die von der wahrnehmenden Person zur Anpassung an ihre Umwelt bzw. zur Orientierung in dieser oder zu deren Veränderung aufgenommen werden. Gemäß dieser Definition sind also nicht alle Sinnesreize Wahrnehmungen, sondern nur diejenigen, die auch in der Situation geistig verarbeitet werden. Der Konstruktivismus ist primär eine Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass Wirklichkeit nicht von sich aus vorhanden und damit zugänglich ist, sondern vom Individuum konstruiert wird. Menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis von Wirklichkeit kann somit niemals objektiv sein, die Konstruktion ist immer eine subjektive. Die konstruktivistische Theorie ist in die Pädagogik, Psychologie, Soziologie wie auch Philosophie eingegangen. I. Wahrnehmungspsychologie I.1 Einige Erkenntnisse aus der Wahrnehmungspsychologie: - Je bekannter ein Wahrnehmungsmuster ist, desto eher wird es beim Wahrnehmungsvorgang spontan erkannt. Dagegen fallen unbekannte Muster erst viel später auf. Bekannte Wahrnehmungsmuster bleiben in unserer Wahrnehmung länger erhalten als unbekannte Muster. Wahrnehmungen lassen sich willentlich durch verbal vermittelte Voreinstellungen (verbale Induktion) steuern. Dies ist für bekannte Muster leichter als für unbekanntere. Jede Vorinformationen über eine Person beeinflusst alle weiteren Wahrnehmungen über diese Person. Jede neue Information wird im Sinne der bereits vorhandenen interpretiert. Alle Vorinformationen (Vor-Urteile) sowie der jeweils erste Eindruck, den wir von einer Person haben, leiten die Verarbeitung aller nachfolgenden Informationen über diese Person. Ein vermeintlich ganzheitliches, zusammenhängendes Bild, das man von einer Person hat, verleitet dazu, auf das Vorhandensein von weiteren Eigenschaften zu schließen. I.2 Hypothesentheorie von Bruner & Postman (http://www.psychonomie.de/sozialpsychologie/theorien.htm): Bei jedem Wahrnehmungsvorgang werden die durch die Sinnesorgane einlaufenden Informationen zum einen selektiert (aus der übergroßen Menge der sensorischen Daten ausgewählt) und zum anderen interpretiert (in den Zusammenhang vorhandener Daten eingepasst). Grundlage dieser Selektions- und Interpretationsprozesse sind die Erwartungen, die die wahrnehmende Person an das Wahrzunehmende hat. Sie erkennt Erwartetes eher als Unerwartetes und interpretiert Wahrgenommenes eher im Sinne dessen, was sie bereits kennt, bzw. was sie wahrzunehmen erwartet. Für das Bekannte gibt es im verarbeitenden Gehirn bereits Assoziationspunkte. Solche Wahrnehmungserwartungen werden Wahrnehmungshypothesen genannt. Wahrnehmungshypothesen werden geprägt durch: Erfahrungen, Motive und Interessen, Werthaltungen, Einstellungen und Vor-Urteile. Je stärker eine Wahrnehmungshypothese ist, desto eher wird das wahrgenommen, was den Erwartungen entspricht, desto eher wird eine Situation in ihrem Sinne interpretiert. Bei jedem Wahrnehmungsvorgang kann eine bestehende Wahrnehmungshypothese entweder bestätigt oder verworfen werden. Entspricht die Wahrnehmung der Erwartung, so wird die Hypothese bestätigt, entspricht sie den Erwartungen nicht, wird sie verworfen. Je öfter eine 1 Wahrnehmungshypothese bestätigt wird, desto stärker wird sie; je öfter sie verworfen wird, desto schwächer wird sie. Wahrnehmungshypothesen haben jedoch die Tendenz, sich selbst zu bestätigen. II. Konstruktivistische Theorie II.1 Einige Aussagen aus konstruktivistischer Sicht (Miller, R.: Leistungsbewertung aus konstruktivistischer Sicht. Lernende Schule 21/2003, Friedrich Verlag 2003 ): - Die Wirklichkeit wird nicht vorgefunden, sondern tagtäglich immer wieder neu von den Menschen - - - - erfunden bzw. konstruiert. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des menschlichen Gehirns. Der Mensch bildet in seinem Kopf nicht die Wirklichkeit ab, sondern er konstruiert die Wirklichkeit auf der Grundlage eigener Erwartungen und Erfahrungen. Deshalb enthält jede Beurteilung zwangsläufig subjektive Elemente. Diese Elemente kann keine Person ausschließen – auch die um Gerechtigkeit bemühte Lehrperson nicht. Es gibt keine objektiven Beobachter. Um die Welt objektiv zu erfassen und so zu einem widerspruchsfreien, in sich geschlossenen Erkennen der Welt vorzustoßen, wäre eine absolute Trennung zwischen Objekt (Welt) und Subjekt (Betrachter) nötig. Eine solche Trennung ist weder gegeben noch möglich. Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, das es beobachten könne ohne sich selbst. Wie immer jemand einen anderen Mensche wahrnimmt, sieht, beurteilt, es ist seine Wahrheit, aber nicht die Wahrheit. Lernprozesse, Lernergebnisse und deren Einschätzung, Bewertung und Benotung sind subjektive Vorgänge und entziehen sich jeglicher Objektivität, nicht aber der intersubjektiven Überprüfbarkeit. So gibt es keine gerechte Beurteilung im Sinne einer unumstößlichen Objektivität und Gewissheit, sondern nur verantwortliches Handeln im Bewusstsein subjektiver Sichtweisen. Leistungsanforderungen und -messung sind an Subjekte gebunden und damit immer subjektiv. Alle Beurteilung sagt immer mehr über den Beurteiler aus als über den Beurteilten. Jede Beurteilung ist Selbstbiographie. III. Drei Formen von "Beurteilungsfehlern" A. Beurteilungstäuschungen: Solche Fehlertendenzen in der Personenwahrnehmung sind vor allem in der sozialpsychologischen Forschung nachgewiesen worden. In diesen Fällen kann die beurteilende Person gar nicht „gerecht“, d.h. frei von ihrer Subjektivität beurteilen. Die einzelnen Schüler werden nicht ihrer aktuellen Leistung entsprechend wahrgenommen, sondern der Vorstellung entsprechend. Hier wird die beurteilende Person betrogen durch ihr Gedächtnis. B. Beurteilungsverzerrungen: In diesem Fall will die bewertende Person gar nicht gerecht benoten, dies ist ihr eigentlich auch bewusst. Hier wendet die beurteilende Person bei einer Schülerin/einem Schüler einen wohlwollenden Maßstab und bei der anderen/dem anderen einen kritischen Maßstab an. Personen mit „ähnlichen Merkmalen oder denselben Denkstrukturen“ (z.B. Begeisterung und Vorlieben für ein Fach oder ein Thema) erhalten oftmals einen Sympathiebonus. C. Beurteilungsversagen: Hier wird zwar eine Differenzierung der Beurteilungsnoten vorgenommen, aber aus moralischen oder strategischen Überlegungen heraus werden die Noten nach leistungsfremden Gesichtspunkten vergeben. 2 A. Beispiele für Beurteilungs- /Wahrnehmungstäuschungen: Der „Akteur-Beobachter-Effekt“ Dieser psychologische Effekt beruht auf einer unterschiedlichen Ursachenzuschreibung bei Akteur und Beobachter. Versagt ein Schüler bei einer Leistungsüberprüfung, so ist die Einschätzung dieser Minderleistung entscheidend davon abhängig, auf welche Ursachen der bewertende Beobachter das Zustandekommen dieser Minderleistung des beurteilten Akteurs zurückführt. Der „primacy-effect“ („Effekt des ersten Eindrucks“) Der erste Eindruck von einem Menschen ist meistens entscheidend. Der Mensch trifft in der Regel innerhalb weniger Sekunden eine Einschätzung über Sympathie oder Antipathie des Gegenübers. Dieser Eindruck wirkt sich auf die Interaktion und auch auf alle weiteren Beurteilungen über die Leistungen dieser Person aus. Personen, die uns sympathisch sind, treten wir freundlicher entgegen, wobei in der Regel diese Freundlichkeit dann auch erwidert wird. So kann der erste Eindruck schnell zu einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ werden. Der „halo-effect“ Jede Vorinformation, die wir über eine Person haben - oder zu haben glauben, beeinflusst die Interpretation und Einordnung aller weiterer Informationen, die wir über diese Person noch bekommen. Jede neue Information wird also „im Lichte“ der bereits vorhandenen abgespeichert. Der „recency-effect“ („Nikolaus– Effekt“) Der „recency-effect“ beschreibt ein Gedächtnisphänomen, das das Kurzzeitgedächtnis betrifft. Später eingehende Informationen üben einen größeren Einfluss auf die Erinnerungsleistung einer Person aus als früher eingehende Informationen. Der „Pygmalion-Effekt“ („Rosenthal-Effekt“) Dieser Effekt charakterisiert das Phänomen, dass sich im Lehrer-Schüler-Verhältniss die Erwartungen, Einstellungen, Überzeugungen sowie Vorurteile des Lehrers nach Art der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ auf das Verhalten und die Leistungen des Schülers auswirken. Hat der Lehrer bereits eine bestimmte vorgefertigte Einschätzung im Sinne von: „der Schüler ist dumm, klug, ..., so wird er diese Ansicht auch bestätigt finden. Dies wird dadurch möglich, dass der Lehrer seine Erwartungen in subtiler Weise dem Schüler übermittelt, z.B. durch die Wartezeit auf eine Schülerantwort, durch Häufigkeit und Intensität von Lob oder Tadel oder durch Beachtung oder Missachtung. Der „Effekt des Selbstbezugs“ In jede Personeneinschätzung gehen auch die eigenen Maßstäbe ein. „Fleißig ist der Mensch, der mindestens so fleißig ist wie ich.“ Eine Lehrperson, die an sich selber einen hohen Leistungsanspruch hat oder sich selbst sehr um ein genaues Arbeiten ohne Fehler bemüht, neigt dazu, auch an ihre Schülerinnen und Schüler einen entsprechenden Maßstab anzulegen. Es besteht bei einigen Lehrpersonen die Gefahr, dass die eigene Einschätzung „Ich bin fleißig“ zu der Einstellung führen kann: „Fleißiger als ich kann keiner sein - die beste Note steht nur mir zu.“ Insofern steckt in jeder Fremdbeurteilung auch eine Selbstbeurteilung. Der „Effekt der subjektiven Theorien“ Die eigenen Lebenserfahrungen bilden in jedem Menschen individuelle „subjektive Theorien“ aus. Die häufigsten sind: - Jungen sind sprachlich weniger begabt als Mädchen - Mädchen sind fleißiger und ordentlicher als Jungen - Jungen haben insbesondere in den Naturwissenschaften die genialeren Ideen - Wer sich gut ausdrücken kann, der kann auch klar denken - Wer in Mathematik gut ist, ist auch in Latein gut - Die Unsauberkeiten in der Heftführung spiegeln die Unordnung der Gedanken wider - Wer regelmäßig mitarbeitet bekommt alles Wichtige mit. 3 Der „Kontrast-Effekt“ - „Unter den Blinden ist der Einäugige König“ Welcher Innenkreis ist größer? Beide Kreise sind gleich groß. Richtig! Sie fallen aber auch auf gar nichts herein. Aber seien Sie doch mal ehrlich: Auf den ersten Blick erscheint doch der linke Kreis größer zu sein. Sie sehen, wie das jeweilige nähere Umfeld unsere Wahrnehmung beeinflusst, wobei das Auge dazu neigt, bestehende Unterschiede überzubetonen. In der schulischen Leistungsbeurteilung führt dies zu dem Phänomen; Eine schwache Schülerin/ein schwacher Schüler wird in einer Lerngruppe noch schwächerer Schüler als relativ leistungsstark wahrgenommen, ist sie/er jedoch von leistungsstärkeren Schülern umgeben, fällt ihre/seine Leistungsschwäche noch stärker ins Auge. Der „Effekt des Konformitätsdrucks“ Welche der drei Linien A,B oder C ist so groß wie die Ausgangslinie? Ausgangslinie C ist richtig! Sie werden sicherlich sagen, diese Aufgabe war sehr eindeutig. Stimmt! In den Experimenten, die der Wahrnehmungspsychologe S. Asch durchgeführt hat, haben nur 0,7 % aller Teilnehmer diese Frage falsch beantwortet. Wie kann man da zu einem anderen Ergebnis kommen? Asch veränderte das Experiment. Jeweils 7 Personen sollten nacheinander derartige Größeneinschätzungen vornehmen. 6 Personen waren Mitarbeiter des Versuchsleiters, die die Anweisung hatten, systematisch falsch zu antworten. Die eigentliche Versuchspersonen, die davon natürlich nichts wusste, wurde durch die falschen Einschätzungen der anderen so verunsichert, dass fast 37 % die Liniengrößen falsch einschätzten. Sie glaubten anscheinend den Urteilen anderer mehr als den eigenen Augen. Bei dem Experiment handelte es sich um ein noch relativ eindeutiges Bild. Bei Personeneinschätzungen bewegen wir uns auf einem viel unsicheren Feld. Hier wird das Bedürfnis, sich auf das Urteil anderer zu verlassen und sich an ihm zu orientieren, noch ausgeprägter sein! Indem wir die Urteile anderer übernehmen, fühlen wir uns einer Gruppe zugehörig und von daher auf der sicheren Seite - „Zehn Augen sehen mehr als zwei!“ Aber was ist, wenn alle in die falsche Richtung sehen? Im Bereich der Leistungsbewertung ist dies für die betreffende Schülerin/den betreffenden Schüler von entscheidender Bedeutung. Aus der Gruppendynamik ist bekannt, dass, wenn eine Gruppe sich über den „Sündenbock“ einig ist, der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt wird. Unsere sozialen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Anerkennung steigern die Konformität des Denkens und des sozialen Urteils. Der „gute/schlechte Laune-Effekt“ „Gestern hatte ich meinen letzten Unterrichtsbesuch, es ist alles gut gelaufen, meine Fachleiterin hat meine Leistung ausdrücklich gelobt. Deshalb bin ich heute morgen gut gelaunt, ich freue mich so richtig auf meine Schüler.“ Persönliche Stimmungslagen beeinflussen die Beurteilung. Gut gelaunte Menschen erinnern sich vor allem an positive Sachen aus der Vergangenheit - so die Ergebnisse von Gedächtnisexperimenten. Bei guter Laune sieht der Mensch alles „durch die rosarote Brille“. Er nimmt die Welt so wahr, dass seine gute Laune erhalten bleibt. Im obigen Beispiel werden die Schüler sicherlich einen positiv gestimmten Lehrer erfahren und gut beurteilt werden. Umgekehrt wäre es sicherlich weniger erfreulich für die Schüler. Wenn Sie eine „annähernd gerechte Beurteilung“ abgeben wollen, beurteilen Sie Ihre Schüler nicht, wenn Sie in einer besonders positiven oder negativen Stimmungslage sind. 4 B. Beispiele für Beurteilungsverzerrungen: Der „Milde-Effekt“ Die beurteilende Person will der Schülerin / dem Schüler nicht „weh tun“, deshalb bewertet sie mehr die Anstrengungsbereitschaft als die konkreten Arbeitsleistungen, denn sie befürchtet Motivationseinbußen bei realistischer Beurteilung. Sie will als eine „positiv denkende“ Pädagogin erscheinen. Nach diesem Prinzip werden die letzteren Bewertungsstufen „ungenügend“ und „mangelhaft“ höchst selten vergeben, nahezu alle Schüler haben ja schließlich zumindest etwas in dem Unterricht gelernt und sind deshalb mindestens mit „ausreichend“ zu bewerten. Die „Milde-Tendenz“ kann auch manchmal ins Gegenteil umschlagen so dass die Spitzennote „sehr gut“ nur begrenzt vergeben wird. Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind. Johann Wolfgang Goethe Der „Nähe/Beziehungs-Effekt“ „Beurteilungen sind in erster Linie Beurteilungen von Beziehungen und erst in zweiter Linie Beurteilungen von Leistungen“. Nähe, Sympathie und Antipathie, Überordnung und Unterordnung sind zentrale Aspekte, die stets bei Personenbeurteilungen mitschwingen. Sie beeinflussen unsere Personenwahrnehmung. Sie beeinflussen aber auch unser Leistungsverhalten. Je näher der Kontakt/die Beziehung der beurteilenden Person zu der zu beurteilenden Person ist um so besser fällt die Beurteilung aus. Personen, die eng mit dem Beurteiler zusammenarbeiten, haben es leichter, sich positiv bei dem Beurteiler zu profilieren. Es bestehen mehr Möglichkeiten, die gegenseitigen Erwartungen aufeinander abzustimmen. Personen, die sich besser kennen, können auch besser mit den Stärken und Schwächen des anderen umgehen - sie wissen sich „besser zu nehmen“. Der Beurteiler sollte hier stets kritisch seinen eigenen Standpunkt in dem Beziehungsgeflecht hinterfragen, im Sinne von: „Wie stehe ich zu der beurteilten Person? In wie fern könnte meine persönliche Einstellung zu dieser Person sich auf die Leistungseinschätzungen niederschlagen? Was ist die Ursache von eventuell vorhandenen Beziehungsstörungen?“ „Status-quo-Effekt“ („Klebe-Effekt“) „Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen in der Meinung , sie passten heute noch.“ Georg Bernard Shaw Übertragen auf „das Messen“ in der Schule könnte dies bedeuten : „Wer einmal eine gute Note erreicht hat, der behält diese auch!“ Jede Schülerin/jeder Schüler hat eine Beurteilungsgeschichte, die in aktuelle Beurteilungen hineinwirkt - auch wenn jeder Lehrer/jede Lehrerin weiß, dass Beurteilungen unabhängig von den vorausgegangenen Beurteilungen zu erstellen sind. Die Schüler kennen ihre letzten Beurteilungen und reagieren insbesondere auf eine Verschlechterung oftmals mit Abwehr und Empörung. Aus Angst hiervor orientiert sich die beurteilende Person zuerst einmal an vergangenen Beurteilungen. So kann eine einmal erfolgte Leistungseinschätzung an einem Schüler „kleben bleiben“, auch dann, wenn sie sachlich nicht mehr zutreffend ist. Die Tendenz, am Status quo festzuhalten und ihn nicht zu hinterfragen, ist in vielen Experimenten der psychologischen Entscheidungstheorie nachgewiesen worden. Menschen halten am Status quo fest, weil davon abweichen heißt: handeln, sich neu entscheiden, Verantwortung übernehmen und ggf. Konflikte aushalten. 5