GL Einleitung

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Einleitung
Inhalt
|11
S. 11-48
Dieser Grundriss >Philosophische Gotteslehre< soll in den Bereich philosophischen Ringens
mit der Gottesfrage einführen. Als Teil der Reihe >Leitfaden Theologie< wird der Bezug zur
christlichen Theologie besonders beachtet. Als philosophische Untersuchung unterscheidet
sich die philosophische Gotteslehre jedoch sowohl von der Offenbarungstheologie wie auch
von der Religionswissenschaft. Außerdem werden die religionskritischen Stellungnahmen zur
Gottesfrage nur insoweit einbezogen, als sie für die Systematik unerlässlich sind, da der
Religionskritik ein eigener Leitfaden gewidmet ist.
Ein solches Unternehmen ist Zeugnis der Sicht des Autors. Die Aufgabe einer Einführung und
der dadurch begrenzte Umfang bedingen die Auswahl. Im Blick auf das geschichtliche
Phänomen philosophischer Auseinandersetzung mit der Gottesfrage sind einige Grundzüge
herauszuarbeiten, die nach Meinung des Verfassers innerhalb der gegebenen Grenzen
verständlich gemacht werden und für eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit der
Gottesfrage eine Hilfe sein können.
Die Verschiedenartigkeit philosophischer Positionen und das Wiederkehren typischer
Denkweisen erfordern einen einführenden problemgeschichtlichen Überblick. Dieser bietet
zugleich Gelegenheit, Zusammenhänge aufzuweisen und terminologisch festzuhalten, die die
Stellung dieses Leitfadens zu den verschiedenen Zugängen zur Gottesfrage besser verstehen
lassen. Durch diesen Überblick soll auch die systematische Gliederung motiviert werden.
Die Analyse der klassischen Gottesbeweise dient nicht nur ihrer historischen Kenntnis. Es
geht gleichermaßen darum, ihre logische Struktur, ihre geschichtlichen Bedingungen und die
damit zusammenhängenden Weiterführungen dieser Gedankengänge zu erläutern. Dadurch
sollen ihre Bedeutung wie auch ihre Grenzen |12 aufgezeigt und die begrifflichen
Unterscheidungen, mit deren Hilfe philosophisch darüber gesprochen wird, eingeführt
werden.
Das Denken der Neuzeit hat neue Zugänge zur Gottesfrage gebracht und damit neue
Problemzusammenhänge. Eine Auseinandersetzung mit ihnen dient einem Verständnis der
gegenwärtigen Lage philosophischer Gotteslehre. Die neu bedachten Probleme werden daher
unter systematischer Rücksicht in Hinblick auf bestimmte Themen gegenwärtiger
Stellungnahmen aufgegriffen: Die Herausforderung durch die neuzeitliche Naturwissenschaft
stellt die Frage nach der Weltbildabhängigkeit. Die Auseinandersetzung mit Kants Kritik der
Gottesbeweise macht die erkenntnistheoretische Eigenart philosophischer Gotteslehre
deutlicher. Der Hinweis auf Standpunkte zur Gottesfrage mit postulatorischem Charakter läßt
sowohl den Lebensbezug der Gottesfrage wie auch die Notwendigkeit theoretischer Analyse
deutlich werden. Einsichten, die in der sprachanalytischen Diskussion über die Rede von Gott
aufgezeigt wurden, sollen Gesichtspunkte aufweisen, welche die Eigenart religiösen
Sprechens berücksichtigen lassen. | 13
1
Die Gottesfrage im philosophischen Denken
Worum geht es in der philosophischen Gotteslehre, und wie verhält sie sich zu verwandten
Disziplinen wie Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie (vgl. 3.3)? Zur
Klärung bedarf es eines Verständnisses der Aufgabe philosophischen Denkens, das sich
jedoch im Verlauf der Geschichte selbst gewandelt hat. Das blieb nicht ohne Einfluß auf die
Aufgabe, die der philosophischen Gotteslehre zugedacht war. So erfordert die Behandlung der
gestellten Frage zunächst einen wenn auch nur schematischen Überblick über die
Problemgeschichte der Beschäftigung philosophischen Denkens mit der Gottesfrage (vgl. 1
und 2).
1.1
Das griechische Denken
1.1.1 Die Frage nach dem Urgrund
Am Beginn philosophischen Denkens im Abendland, bei den Vorsokratikern (ab 6. Jh. v.
Chr.), steht die Frage nach dem Urgrund von allem (archē pāntōn) in einer Spannung zu den
anthropomorphen (vermenschlichenden) Göttervorstellungen der Mythen. Aufgrund dieser
Spannung besteht oft Zurückhaltung, den Urgrund Gott zu nennen. Er wird eher neutral als
göttlich bezeichnet. Als Beispiel seien Fragmente des ca. 570 v. Chr. in Kolophon in Ionien
geborenen Xenophanes, eines Vorläufers von Parmenides, dem Gründer der
Philosophenschule zu Elea in Unteritalien, genannt:
»Jedermann hat ja von Anfang her an Homer sich geschult. Alles hingen den Göttern
sie an, Hesiod und Homer, was bei den Menschen als Schande gilt und Tadel
hervorruft: Stehlen, Untreue gegen den Gatten, einander Betrügen. Aber die
Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren, |14
und sie hätten Gestalt und Tracht und Sprache wie sie.
Hätten die Ochsen, Rosse und Löwen Hände und könnten malen und Werke sie
schaffen und bilden gleich Menschen, dann würde das Pferd wie ein Ross und ähnlich
dem Ochsen der Ochse seine Götter gestalten und Körper würden sie bilden, so wie
jegliches selbst das eigene Aussehen kennt. Äthiopier sehn ihre Götter stumpfnasig,
schwarz, glänzenden Augs, rothaarig stellen die Thraker sie dar.
Wahrlich nicht alles enthüllten die Götter den Menschen von Anfang. Erst im Laufe
der Zeit und suchend finden sie Bessres.«1
Die im Text sich ausdrückende religionskritische Haltung wendet sich nicht gegen die
Anerkennung eines göttlichen Urgrundes, sondern gegen die unzulänglichen Vorstellungen,
welche sich Menschen davon machen. Das zeigen die Fragmente aus der Schrift von
Xenophanes >Über die Natur<:
»Ein Gott ist unter Göttern und unter den Menschen der größte,
nicht an Gestalt den Sterblichen gleich und nicht in der Einsicht. Gott ist ganz Auge,
ganz Denken und alles vernimmt er. Mühelos lenkt er das All, allein mit der Kraft des
Gedankens. Ewig verharrt er am nämlichen Orte, sich nirgends bewegend, kommt es
doch nimmer ihm zu, bald hierhin, bald dorthin zu wandern. «2
Das tastende und zögernde Suchen nach der Beziehung des in den Göttererzählungen
Angesprochenen, wonach Zeus der höchste der Götter ist, zu dem Urgrund, der bei Heraklit
als lōgos - in der Veränderung und im Gegensätzlichen waltendes Weltgesetz - bezeichnet
wird, zeigt sich auch in einem Fragment von Heraklit:
»Eines, das allein Weise, will nicht und will doch auch Zeus genannt werden. «3
Die vielfältigen gegensätzlichen Meinungen, welche sich die ersten |15 Philosophen über den
Urgrund gebildet haben, führten bei den Sophisten (Protagoras, Gorgias - Mitte des 5. Jhs. v.
Chr.) zu einem Agnostizismus, das heißt zu der Auffassung, daß wir bezüglich der letzten
Erklärung der Wirklichkeit keine Gewißheit erlangen können. Bei den Sophisten ist diese
Auffassung verbunden mit der Beobachtung, dass in verschiedenen Kulturen jeweils andere
Normen anerkannt werden. Mit der Entdeckung des kulturschöpferischen Handelns des
Menschen wird ein Relativismus verbunden, das heißt eine Auffassung, welche den für gültig
1
Frgmt. 10-18, Diels/Kranz 1, 131-133. Diels/Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Berlin
1954, ist die gebräuchliche Sammlung der Bruchstücke von Schriften der Vorsokratiker. Die im Text
verwendete Übersetzung ist genommen aus der deutschen Ausgabe von E. Howald, Die Anfänge der
abendländischen Philosophie, Zürich 1949, 48, dort überschrieben mit: »Aus den Spottgedichten«.
2
Frgmt. 23-26, Diels/Kranz 1, 135, Howald 49.
3
Frgmt. 32, Diels/Kranz I, 159, Howald 63.
7
angesehenen Einsichten und Normen eine absolute Geltung abspricht und die Geltung nur für
bestimmte Menschengruppen als bestehend betrachtet:
»Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, wie sie sind, der nicht seienden, wie
sie nicht sind.«4
»Über die Götter besitze ich kein Wissen; weder daß sie existieren, noch daß sie nicht
existieren, noch wie beschaffen an Gestalt sie sind. Denn vieles hindert daran, (über
sie) etwas zu wissen: einmal die Ungewißheit, dann die Kürze des menschlichen
Lebens.«5
Sokrates, 399 v. Chr. wegen »Einführung neuer Götter und Verführung der Jugend« zum
Tode verurteilt, sucht im lebendigen Gespräch (Dialog) das oberflächliche Scheinwissen und
den damit verbundenen Relativismus zu entlarven. Er führt den Partner zu Einsicht und
persönlicher Überzeugung. Diese bezieht sich zunächst auf rechtes Handeln: eher Unrecht zu
leiden, als Unrecht zu tun; gerechtes Leben dem Leben überhaupt vorzuziehen; in Gefahr
auszuharren. Was hier als Gewissen mit seiner absoluten Forderung auftritt, nennt Sokrates
daimōnion. Er versteht es als göttlichen Anruf, dem mehr zu gehorchen ist als allen Freunden
und als den Gesetzen der pōlis, auch wenn er diesen so viel Respekt entgegenbringt, daß er
sich der Verurteilung nicht durch Flucht entzieht. |16
1.1.2 Philosophisches Fragen
1.1.2.1 Wissenschaft und Weltanschauung
Der Aufbruch abendländischen Philosophierens wurde als Übergang vom Mythos zum Logos
gekennzeichnet. »Philosophie löst sich los von Mythos, Religion und traditioneller, ohne
Kritik befolgter Lebensgestaltung, ihre Entstehung ist damit zugleich ein Stück der Loslösung
des individuell-persönlichen vom kollektiven Denken und Leben. Philosophie setzt den
Philosophen voraus, dessen Persönlichkeit seiner Philosophie das Gepräge gibt: « 6
»Der Philosoph kann dem Propheten, dem Religionsstifter, dem Volksführer und -erzieher
nahe verwandt bleiben, und er kann sich zum Denker entwickeln, der mit den Waffen der
Logik den Problemen zu Leibe geht, die ihn innerlich ergriffen haben. - Zu ihrer vollen
Entwicklung ist die Philosophie in diesem letzten Sinne nur an einer Stelle gekommen, in dem
Volk, dessen Sprache uns auch das Wort und den Begriff geschenkt hat: bei den Griechen. In
der griechischen Philosophie verfolgen und beobachten wir den Weg zur Wissenschaft, die ja
selbst eine spezifische Schöpfung des europäischen Abendlandes und nicht denkbar ist ohne
das Begriffswerkzeug, das die griechische Philosophie geschaffen hatte.«7 Aristoteles hat im
Rückblick die ersten Philosophen von denjenigen abgehoben, die zuerst »Theologie
betrieben« hätten, wie Homer und Hesiod. Den Gegensatz sieht er in der Weise, wie
vorgegangen wird:
»Die um Hesiod also und die Theologen (Vertreter der mythischen Philosophie)
gingen nur darauf aus, für sich selbst eine annehmbare Lösung zu finden, und haben
auf uns keine Rücksicht genommen. ... Aber es lohnt sich nicht, Philosopheme, die nur
in mythischer Form auftreten, ernstlich zu untersuchen. Dagegen von denen, die eine
4
Frgmt. 1, Diels/Kranz II, 263, Howald 158.
Frgmt. 4, Diels/Kranz II, 265, Howald 158.
6
E. von Aster, Geschichte der Philosophie, Stuttgart 11949, XIX.
7
Ebd. XXI.
5
Begründung ihrer Behauptung geben, darf man Bescheid verlangen und fragen, warum
...«8 |17
Wenn also auch im Inhalt der Fragen, nämlich im weltanschaulichen Anliegen, zwischen
Mythos und Philosophie Ähnlichkeit besteht, so unterscheidet sich die Philosophie vom
Mythos dadurch, daß sie ihre Behauptungen begründet und bereit ist, Fragen gegenüber Rede
und Antwort zu stehen. Darin können wir das anfängliche wissenschaftliche Anliegen sehen.
Entscheidend für die Berechtigung philosophischer Behauptungen ist nicht die Berufung auf
eine überlieferte Auffassung, sondern der Appell an eigene Einsicht und Erfahrung.
1.1.2.2 Geschichtlichkeit
Diese Eigentümlichkeit der Philosophie, argumentierend Rechenschaft zu geben, schließt
nicht aus, daß Philosophen bestimmte, noch nicht ausdrücklich begründete Meinungen haben
oder daß sie von Überlieferungen, insbesondere ihrer kulturellen Herkunft, bestimmt sind.
Ausgeschlossen wird nur, daß diese Auffassungen als Grundlage zur Rechtfertigung
philosophischer Behauptungen herangezogen werden, bevor sie selber als berechtigt
ausgewiesen worden sind. Manche dieser Vormeinungen werden erst im Laufe der
Geschichte als Voraussetzungen bewußt und philosophisch fragwürdig - manche von ihnen
beziehen sich auch darauf, was von einer philosophisch argumentierenden Rechtfertigung
überhaupt zu fordern ist. Damit enthält der Ansatz philosophischen Fragens eine Dynamik
grundsätzlichen Fragens, die sich in der Geschichte in immer neuen Fragen entfaltet.
So ist das tatsächliche Philosophieren geschichtlich bedingt durch die Fragen, die tatsächlich
in den Blick kommen. Diese Bedingtheit kann vielfach erst aus geschichtlicher Distanz
erkannt werden, zum Teil aus dem Gegensatz verschiedener Philosophen. Dennoch ist es der
Philosophie aufgegeben, Wege zur Klärung dieser Voraussetzungen zu suchen, weil sie
logisch unabhängig von diesen Voraussetzungen zu sein beansprucht, das heißt sich nicht
ohne Prüfung auf sie berufen kann. In diesem Sinne ist |18 der Philosophie ein radikales
Fragen eigen.9 Ihr geht es wesentlich um die Berechtigung der Grundlagen, sie ist daher
Grundwissenschaft.
1.1.2.3 Philosophie und Leben
Wird Philosophie als Grundwissenschaft angesprochen, so heißt das nicht, daß menschliche
Erfahrung und Lebenspraxis, einzelne Wissenschaften und Formen der Lebensorientierung
erst von Gnaden der Philosophie bestehen dürften. Philosophie kann und will nicht das Leben
mit seinen vielfältigen Äußerungen ersetzen. Wohl aber treten im Leben Probleme auf,
insbesondere Konflikte von Ansprüchen, die mit diesen Lebensäußerungen verbunden werden
und die zu ihrer Lösung eine Klärung und Prüfung dieser Ansprüche auf Geltung von
Erkenntnis oder Geltung von Normen oder Werten erfordern. Die Auseinandersetzung mit
diesen Ansprüchen sollte zu einer kritischen Integration führen - zu einer Zusammenordnung
(integrum = lat.: das Ganze) durch Unterscheidung (krinein = griech.: unterscheiden) der
berechtigten von unberechtigten Ansprüchen. Von daher kommt der Philosophie der
Charakter einer Gesamtwissenschaft zu - nicht als Vereinheitlichung aller Wissenschaften,
sondern als Streben nach Verständnis des Vielfältigen im menschlichen Leben im Hinblick
auf dessen Ganzheit. Insofern ein solches Verständnis in einer Lebensauffassung oder
Weltanschauung enthalten ist, ist dies das weltanschauliche Anliegen der Philosophie.
Im Laufe der Geschichte der Philosophie ist immer wieder eine Spannung zwischem dem
wissenschaftlichen Anliegen rationaler Klärung und Prüfung und dem weltanschaulichen
8
Aristoteles, Metaphysik III, 4; 1000a9-24. Bei den Werken von Aristoteles wird neben Buch und Kapitel
gewöhnlich hinzugefügt Seitenzahl, Spalte (a oder b) und Zeilenzahl in der klassischen Gesamtausgabe von 1.
Becker: Aristotelis Opera, 5 Bde., Berlin 1831-1870.
9
W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, II, Darmstadt 1972,185-206.
Anliegen eines universalen Verständnisses der verschiedenen Wirklichkeits- und
Lebensbereiche zutage getreten. Wenn die an die beiden Anliegen geknüpften Erwartungen
als nicht zugleich realisierbar angesehen wurden, kam es in verschiedenen philosophischen
Richtungen zur Akzentuierung des einen oder des anderen Anliegens. |19
1.1.2.4 Philosophische Begriffsbildung
Aristoteles (384-322 v. Chr.) erlangte Bedeutung als erster großer Systematiker der
Philosophie. Auf ihn gehen viele Termini der Philosophie zurück, die - zum Teil mit
beträchtlich gewandelter Bedeutung - in unserer Bildungssprache verwendet werden,. z. B.:
Kategorie; die Begriffspaare Substanz - Akzidens, Form - Materie; Wirk- und Zielursache.
Diese Begriffe halten Gesichtspunkte, Unterscheidungen und Zusammenhänge fest, die wir in
unserem gewöhnlichen Sprechen über die Wirklichkeit berücksichtigen, aber für so
selbstverständlich halten, daß wir sie meist nicht besonders beachten. In der
Auseinandersetzung mit den ihm vorausgegangenen Philosophen erweist es sich für
Aristoteles als notwendig, diese selbstverständlichen Unterscheidungen ausdrücklich zu
machen. Dadurch kann er zeigen, unter welcher Rücksicht die zunächst vielfältigen und
gegensätzlichen Meinungen in ihrem berechtigten Kern verstanden werden können, das
Unberechtigte aber als ein Nichtbeachten von Gesichtspunkten aufgefaßt werden kann, die
zur Ergänzung notwendig wären. Hier tritt bereits der reflektierende und abstrakte Charakter
wissenschaftlichen Philosophierens hervor.
Reflektierend ist Philosophie, insofern sie nicht zuallererst bestimmte Einsichten in die
Wirklichkeit und die Zusammenhänge menschlichen Lebens gewinnt, sondern bereits
gewonnene, oft aber nicht genügend bedachte Einsichten ausdrücklich macht, prüft und das
Berechtigte in ihnen in seinem Verhältnis zu anderen Erfahrungen und Einsichten bestimmt.
Dadurch erhält die Philosophie einen Zug, der oft als enttäuschend empfunden wird: daß sie
nämlich nicht direkt bestimmte Lebensfragen beantwortet, sondern.die Gesichtspunkte und
Unterscheidungen herausstellt, die bei einer begründeten und verantwortbaren
Meinungsbildung bezüglich dieser Fragen zu berücksichtigen sind. Dabei orientiert sich die
Philosophie an den bisherigen Bemühungen der Auseinandersetzung mit diesen Fragen.
Wohl wird man es dem Fragesteller nicht verargen können, wenn er sich an den Philosophen
wendet mit der Aufforderung, zu sagen, welche Meinung er sich selbst unter
Berücksichtigung jener Ge- |20 sichtspunkte gebildet hat. Oft ist-wenn auch in
unterschiedlichem Maß - die Frucht dieser Meinungsbildung vorweg schon eingearbeitet in
die Untersuchungen, die ein Philosoph anstellt. Ein solches engagiertes Philosophieren tritt
oft in Gegensatz zur Meinungsbildung anderer Philosophen. Das weckt neues kritisches
Reflektieren und führt oft zur Entfaltung und Prüfung bisher nicht beachteter
Voraussetzungen und Gesichtspunkte. Gerade in Fragen, die für den Menschen als wichtig
und seine Stellungnahme herausfordernd empfunden werden - wie dies wohl gerade in der
Gottesfrage der Fall ist -, wird man mit dieser Spannung zwischen engagiertem und
reflektierendem Philosophieren rechnen müssen.
Anlass zur Enttäuschung durch Philosophie und zum Missverständnis ihrer Formulierungen
bietet auch der formale und abstrakte Charakter der in reflektierendem Philosophieren
herausgearbeiteten Grundbegriffe. Sie sind formal, weil sie nicht die Erfahrungen und
Einsichten ersetzen, sondern diese in ihrer Eigenart charakterisieren und sie unterscheidend zu
anderen Erfahrungen und Einsichten in Beziehung setzen. Abstrakt sind diese
Charakterisierungen und Unterscheidungen deshalb, weil sie von dem konkreten Inhalt an
Erfahrung und Einsicht weitgehend absehen, wenn sie auch gleichsam den Rahmen für diesen
Inhalt klären und ausdrücklich machen. Allerdings ist auch hier zu beachten, daß - besonders
bei engagiertem Philosophieren - die abstrakten Charakterisierungen mit Erfahrungen und
Einsichten des betreffenden Philosophen oder auch der Menschen seiner Zeit verbunden
werden. Oft sind bei einem Philosophen abstrakte Begriffe, die auch heute noch zu
berücksichtigende Zusammenhänge herausstellen, mit konkreten inhaltlichen Erfüllungen
verbunden, die wir als zeitbedingt und überholt ansehen. Wenn es bei einer
Auseinandersetzung mit diesem Philosophen nicht nur um eine philosophiegeschichtlich treue
Darstellung geht, sondern um das Gewinnen eines Beitrags für gegenwärtige Fragestellungen,
dann werden oft mit Recht zwei typische Interpretationstendenzen wirksam, die sich ergänzen
müssen (vgl. 4.4.2). Will man herausarbeiten, warum manche Anschauungen angesehener
Philosophen nicht ohne weiteres übernommen werden kön- |21 nen, dann wird man in
kritischer Interpretation vor allem die zeitbedingten und heute nicht mehr begründbaren
Inhalte herausarbeiten. Da hier der Nachdruck auf das Abzulehnende gelegt wird, könnte man
auch von einer negativen Interpretation sprechen. Sie wird zwar nicht dem gesamten Denken
des Philosophen gerecht, hilft aber, die notwendige kritische Distanz zu gewinnen.
Geht es aber darum, von dem betreffenden Philosophen zu lernen und das Berechtigte zu
übernehmen, wird man die Aufmerksamkeit auf jene Zusammenhänge abstrakter Art lenken,
die auch bei anderer inhaltlicher Erfüllung und damit auch in gegenwärtigem Denken zu
berücksichtigen sind. Eine solche Interpretation in systematischer Absicht beachtet die
Gründe für die von dem betreffenden Philosophen verwendeten Unterscheidungen und
aufgewiesenen Zusammenhänge, die auch für gegenwärtiges Denken von Bedeutung sind. Da
das auch heute Annehmbare im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und daher als
wesentlich an der Auffassung des Denkers betrachtet wird, könnte man von einer positiven
Interpretation sprechen.
Bereits bei der Auseinandersetzung, die Aristoteles mit seinen Vorgängern führte, kann man
diese Interpretationstendenzen am Werk sehen.
1.1.3 Theologie bei Platon und Aristoteles
Platon (427-347 v. Chr. ) war Vorläufer und Lehrer von Aristoteles. Er ist der erste
abendländische Philosoph, dessen Schriften, vorwiegend Dialoge, in denen er Sokrates seine
eigene Ansicht vertreten läßt, in größerem Umfang erhalten sind. Sein Denken fand bis heute
immer wieder starken Widerhall. Sokrates hatte aufgewiesen, daß uns trotz vielfacher
geschichtlicher Bedingtheit echte Einsichten möglich sind. Platon sucht diese Tatsache
verständlich zu machen. In einem kühnen Entwurf, der wegen seiner dichterischen Sprache
und der Vermengung mit mythischen Vorstellungen nicht immer leicht zu interpretieren ist,
entwickelt er seine Ideenlehre: Er deutet das Phänomen der Einsicht in Zusammenhänge, die
wir weder nur durch Übernahme von Lehrmeistern noch einfach aus einem Blick auf die
Gehalte der Sinneswahrnehmung erfassen, als Wiedererinnerung an eine frü- |22 here Schau
von Urbildern, nach denen die erfahrbaren Dinge gebildet sind. Weil die Dinge Abbilder
dieser Urbilder sind, erschließen uns solche Einsichten Züge der Wirklichkeit. Diese Urbilder
oder Ideen sind selbst wieder untereinander geordnet, an ihrer Spitze steht, sie überragend, als
höchste die Idee des Guten und Schönen. Diese ist letzter Grund sowohl unserer Erkenntnis
wie auch der erkannten Dinge.
Aristoteles ist stark von Platons Philosophie beeinflußt. Insbesondere übernimmt er die
Problemstellung, daß wir tatsächlich Einsichten in Zusammenhänge der Wirklichkeit haben
können, die sich nicht bloß in den Gehalten der Sinneswahrnehmung erschöpfen. Seine
Deutung dieser Tatsache ist aber viel nüchterner; darin setzt er sich von Platon ab und deutet
dessen Ideenlehre negativ: Die Einsicht ist nicht eine Erinnerung an eine Schau der von den
Dingen getrennten Urbilder; die Einsicht ist vielmehr die Frucht der Auseinandersetzung
unseres Wissensvermögens mit den durch die Sinne gegebenen Dingen und erfaßt nicht
Urbilder, die von diesen Dingen getrennt wären, sondern das, was der Kern dieser Dinge ist,
ihr Wesen. So hat man gelegentlich den Unterschied beider Denker dadurch gekennzeichnet,
daß Aristoteles die Ideen in die Dinge selbst verlegt habe.
In späterer Zeit hat man sich oft auf diesen Gegensatz bezogen. Unter Platonismus versteht
man oft ein Denken, das für unsere Begriffe eigene Gegenstände annimmt, die von den
konkreten Dingen unterschieden sind. Mit dieser Charakterisierung erhebt man zugleich den
Einwand, dies sei eine Verdoppelung der Wirklichkeit. Demgegenüber betonen Verteidiger
einer solchen Auffassung, hier liege eine negative Interpretation vor, denn es handle sich bei
diesen »Ideen« nicht um Dinge, sondern um Gründe der Dinge, die selbst nicht dinghaft
vorzustellen seien. Außerdem sei ihr Unterschied von den erfahrbaren Dingen nicht so
aufzufassen wie der der erfahrbaren Dinge untereinander, vielmehr seien sie als Gründe der
Dinge in diesen gegenwärtig. Der Gegensatz zu Aristoteles sei daher nicht so groß, wie es die
negative Interpretation der Ideenlehre vermuten lasse.10 |23
Ungeachtet dieser einschränkenden Bemerkungen hat sich der Gegensatz immer wieder neu
entfacht. Im christlichen Denken gilt z. B. Augustinus als eher von Platon angeregt, während
Thomas von Aquin stärker von Aristoteles geprägt scheint. Allerdings hat gerade Thomas die
Intuition Platons zu seiner besonderen Seinsauffassung umgeformt, dergemäß die
Eigenschaften der erfahrbaren Dinge teilhaben am Sein als Grund und nur dadurch wirklich
sein können. Dagegen stellten sich dann mittelalterliche Denker und neuscholastische im
Gefolge von Franz Suarez, die diese Seinsauffassung als zu platonisch empfanden und
ablehnten. Andererseits hat man in der Seinsauffassung von Thomas ein Gegengewicht gegen
den kosmologischen Charakter aristotelischen Denkens gesehen, ja sogar eine Tiefe des
Seinsverständnisses, wie sie durch das Denken Heideggers neu angeregt wird.
Der Ausdruck Theologie (theōs = griech.: Gott; lōgos = griech.: Rede, Sinn, Lehre) tritt zuerst
bei Platon und Aristoteles auf. Bei Platon ist mit »Theologie« zunächst noch die dichterischmythische Rede von Gott und Göttern gemeint, die er in der >Politeia< 11 der Kritik
unterwirft, ähnlich wie schon Xenophanes. Die Kritik macht aber selbst schon von
Vorstellungen darüber, wie das Göttliche aufzufassen sei, Gebrauch und entwickelt sie. Bei
Aristoteles wird »Theologie treiben« im Sinn der mythischen Rede von den Göttern
verstanden, »theologisch« aber auch verwendet als eine der Kennzeichnungen der
grundlegenden Wissenschaft, der »Ersten Philosophie«, die dann später den Namen
»Metaphysik« erhalten hat.
Unter den »theoretischen« Wissenschaften (theōria = griech.: Schau), die sich mit dem
befassen, was ist, im Unterschied zu dem, was der Mensch in seinem Handeln tut (prāxis =
Handlung) oder hervorbringt (poiēsis = Gestaltung; tēchnē = Kunstfertigkeit), hebt Aristoteles
die »Erste Wissenschaft« (prōtē philosophia), die er auch »Sophia« (Weisheit) oder
»theologische Wissenschaft« |24 (theologikē epistēmē) nennt, von der »Physik«, die sich mit
dem Bereich der erfahrbaren veränderlichen Dinge beschäftigt, und von der »Mathematik« ab,
die sich mit den aus den erfahrbaren Dingen herausgesonderten und idealisierten Gestalten
und Größen befaßt, die jedoch nicht für sich bestehen. Die »Metaphysik«, wie die Erste
Philosophie später genannt wurde, untersucht das, was ist, das Seiende, nicht unter einer
bestimmten Rücksicht, als Bewegtes, wie die Physik, oder als Größe, wie die Mathematik,
sondern einfach als Seiendes. Damit ist die Betrachtung nicht auf einen Sonderbereich
eingeschränkt, sondern grundsätzlich auf die gesamte Wirklichkeit ausgerichtet und soll deren
allgemeinste Bestimmungen herausarbeiten. In diesem Sinn weist ihr Aristoteles als
Gegenstand »das Seiende als Seiendes« (ōn hē ōn) zu - sie ist Seinslehre, in der Neuzeit
verwendet man dafür auch den Ausdruck »Ontologie«.
Da Wissenschaft nach Sachgründen, Ursachen forscht, die Sachgründe von allem aber auch
die Gründe einzelner Bereiche umfassen und begründen, kann Aristoteles die Aufgabe der
Ersten Philosophie auch als Erforschung der »ersten Ursachen« umschreiben. Insofern nun
ein göttlicher Urgrund als erster Sachgrund aufgefaßt wird, ist die Metaphysik »Theologik«,
theologische Wissenschaft. Dies ist natürlich nicht zu verwechseln mit der späteren
10
J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, I, Freiburg 51961, 113-115.
Politeia II, 379a. Seiten- und Abschnittszahlen sind der dreibändigen Platon-Ausgabe von Henricus Stephanus,
Paris 1578, entnommen. Zur Geschichte des Begriffs »Theologie« vgl. W. Kern/F. J. Niemann, Theologische
Erkenntnislehre (Leitfaden Theologie 4), Düsseldorf 1981,37-49.
11
Verwendung des Wortes »Theologie«, wo dieses etwa die methodische und systematische
Entfaltung christlichen Glaubensverständnisses meint.
Der Aufgabe der »Physik« entsprechend entfaltet Aristoteles ein philosophisches Verständnis
der Bewegung- jeder Art von Veränderung des Wirklichen, insbesondere aber auch der
Ortsveränderung. In seiner Auffassung darüber, wie Bewegungen ablaufen, ist er durch das
damalige Naturverständnis bestimmt, demgemäß die Körper ihrem »natürlichen Ort«
zustreben, z. B. die Luft nach oben, die Erde nach unten, und durch die damalige Astronomie,
dergemäß sich die Bewegung von den äußeren Himmelsschalen auf die inneren überträgt.
Philosophisch jedoch sucht er die Schwierigkeiten, welche die ihm vorausgehenden Denker
aufgeworfen haben, zu lösen. Diese hatten entweder das Bleibende (Parmenides) oder den
ständigen Wechsel (Heraklit) als Grundzug |25 des Wirklichen herausgestellt, unter
Vernachlässigung des jeweils anderen Moments. Aristoteles unterscheidet diese beiden
Momente und faßt ihre Zusammenordnung als Eigentümlichkeit alles in Bewegung
befindlichen Seienden. Demnach ist in der Bewegung ein Zugrundeliegendes (hypokeimenon,
Subjekt der Veränderung) vorauszusetzen, das zwar fähig ist, die Möglichkeit (griech.:
dýnamis; lat.: potentia) hat, verschiedene Bestimmungen aufzunehmen, diese jedoch nicht
immer als Wirklichkeit (griech.: enērgeia, lat.: actus) hat. Die Bewegung wird so verstanden
als »Verwirklichung (Akt) dessen, was der Möglichkeit nach (in Potenz) ist, insofern es
möglich (in Potenz) ist«. 12
Zugleich entfaltet Aristoteles, ebenfalls in Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern, vier
einander ergänzende Weisen der Erklärung des Bewegten, vier Typen von Ursache. Die
Angabe der »Materie« gibt ein Verständnis, insofern auf das Zugrundeliegende verwiesen
wird, auf das, woraus etwas gemacht ist. Eine Erklärung durch die Angabe der Bestimmung,
die das Zugrundeliegende erhalten hat, gibt die »Form« an. Was später »Wirkursache«
genannt wurde, ist nach Aristoteles das, »woher die Bewegung« kommt und verständlich
wird, während das »Ziel« (griech.: tēlos; lat.: finis) angibt, »weswegen« etwas ist, durch die
Wirkursache bewirkt wurde. Dabei setzt Aristoteles voraus, daß Wirkliches nur durch
Wirkliches hervorgebracht sein kann. Für alle Weisen der Bewegung und Veränderung meint
er aufweisen zu können, daß »alles, was in Bewegung ist, notwendig ein anderes voraussetzt,
von dem es bewegt wird« (einen »Beweger«).13 Diese Aussage, welche die ursächliche
Abhängigkeit alles in Veränderung oder Bewegung Befindlichen behauptet, wurde später als
»Bewegungssatz« bezeichnet und stellt eine spezielle Form des metaphysischen
Kausalprinzips dar, der Aussage nämlich, daß Seiende, insofern sie bestimmte Züge
aufweisen (z. B. in Bewegung sind), eine von ihnen verschiedene Ursache (griech.: aitia; lat.:
causa), meist zunächst in Form einer entsprechenden Wirkursache, voraussetzen (z. B. ei- |26
nen Beweger). Bei Platon 14 wird dies formuliert für Seiendes, das entsteht: »Es ist notwendig,
daß alles, was wird, durch eine Ursache wird.«
Für Aristoteles ergibt sich aus diesen Einsichten, daß die in vielfältiger Bewegung befindliche
Wirklichkeit, die als solche notwendig eine Akt-Potenz-Spannung aufweist und auf einen
Beweger zurückverweist, ein Bewegendes voraussetzt, das selbst nicht in einer solchen AktPotenz-Spannung steht, daher unbewegt ist. Diesen Gedankengang entfaltet er sowohl in der
>Physik< (Phys. VIII, 3-6) als auch in der >Metaphysik< (Metaph. XII, 6-7). Hier wird dann
auch die Tätigkeit dieses ersten Bewegenden, das auch als »der Gott« (ho theōs15)
angesprochen wird, als »Denken des Denkens« (nōēsis noēseōs) bestimmt, also als geistige
Lebenstätigkeit. Das Verhältnis zur bewegten Wirklichkeit wird verglichen mit der Weise,
»wie das Geliebte das Liebende« bewegt - also in zielursächlicher Erklärungsweise.
12
Aristoteles, Physik III, 1; 201a10..
Phys. VII, 1; 241624.
14
Platon, Timaios 5; 28a.
15
Aristoteles, Metaph. XII, 7; 1072b25-30.
13
1.1.4 Antike Lebensweisheit
In den folgenden Jahrhunderten treten in der hellenistischen Philosophie (3.-1. Jh. v. Chr.)
und der Philosophie der römischen Kaiserzeit (l. Jh. v. Chr.-526 n. Chr.) verschiedene
Schulen auf, die zwar einige Gedanken bisheriger Philosophie weiterführen, deren
Schwerpunkt aber auf einer Art Lebensphilosophie liegt, die auch zum Religionsersatz für
Gebildete wird. Fragen der Ethik, der rechten Lebensführung, die zu einem glücklichen Leben
anleitet, zu einer ungetrübten Heiterkeit, die über Furcht, unnützen Streit und Begierde
erhaben ist, stehen im Vordergrund, damit aber auch Fragen nach dem Sinn menschlichen
Lebens. Die Skeptiker (griech.: skeptikōs = Zweifler) sehen den Weg zum glücklichen Leben
in der Entwicklung einer Haltung der ataraxia (Unerschütterlichkeit). Zu ihr führt die Einsicht
in die Unerkennbarkeit der Dinge, aus der sich die epochē (Enthaltung vom Urteil) ergibt,
insbesondere in weltanschaulichen Fragen. Darin besteht eine Ähnlichkeit mit dem
Agnostizismus der Sophisten. |27
Epikur (341-270 v. Chr.) vertritt eine sensualistische Erkenntnislehre (lat.: sensus =
Sinn(eswahrnehmung)), die nur das durch Sinneswahrnehmung Erfaßbare für erkennbar hält,
und eine auf Demokrit zurückgehende mechanistische Wirklichkeitsauffassung, die das
Geschehen auf zufällige Verknüpfungen der Atome zurückführt. Die Lust (griech.: hēdonē),
nach der der Mensch strebt, besteht nicht in augenblicklicher Bedürfnisbefriedigung, sondern
in einer Gemütsruhe, ataraxia, die höher steht als die Lust des Fleisches (griech.: sārx). Da die
Furcht vor dem Tod und vor den Göttern als eine der stärksten Bedrohungen der Gemütsruhe
angesehen wird, muß der religiöse Aberglaube abgebaut werden durch das Wissen darum, daß
es keine übersinnlichen, den Menschen belohnenden oder bestrafenden Mächte gibt - selbst
wenn es »Götter« gibt, kümmern sie sich nicht um den Menschen.
Die stoische Schule hingegen versteht die Welt als durchwaltet von einer göttlichen
Weltvernunft. Diese zeigt sich in teleologisch (zielstrebig) geordnetem Naturgeschehen, sie
begründet die Überzeugung von einer göttlichen Vorsehung und Vorherbestimmung alles
Seienden, sie ist im »Inneren« jedes Menschen anwesend und zeigt sich in dessen Geist und
Vernunft. Echte Weisheit ist es daher, wenn der Mensch mit der Natur und dem sie
durchwaltenden Gesetz übereinstimmt, nicht mit seinem Geschick hadert und sich in Apathie
(griech.: pāthos = Leidenschaft) von allen Leidenschaften freihält.
Für die philosophische Gotteslehre ist hier von Bedeutung, daß nach der Auffassung von
Stoikern dem Menschen die Überzeugung eingewurzelt ist, es gebe Götter. Daraus werde
verständlich, daß alle Völker gewisse Grundvorstellungen von Göttern haben. So ist bei den
Stoikern nicht nur der Gedankengang, der von der Übereinstimmung der Völker (e consensu
gentium) auf die Existenz Gottes zu schließen sucht, vorgezeichnet. Ihrem Denken
entsprechen auch die Wege aus der zielstrebigen Ordnung der Natur (teleologischer Beweis)
und aus dem Inneren des Menschen (aus dem Gewissen bzw. der Einsicht) - Gedanken, die
besonders von Augustinus aufgenommen und weitergeführt werden. Bei den Stoikern wird
aber auch die philosophische Gotteslehre als solche von anderen »Theologien« abgehoben.
Von Panaitios von |28 Rhodos (185-109 v. Chr.) und seinem Schüler Mucius Scaevola wird
berichtet, daß sie drei Formen der Theologie unterschieden hätten: die der Dichter, die
anthropomorph und daher falsch und unglaubwürdig sei; die der Philosophen, die rational und
wahr sei, aber nicht brauchbar für das Volk; und die der Staatsmänner, die den
herkömmlichen Kult als für das Volk unentbehrlich aufrechterhalte. Bei M. T. Varro
entsprechen dem die mythische, die natürliche, um die es in der Philosophie geht, und die
staatliche Theologie.
Das dem religiösen Bedürfnis am meisten entgegenkommende und zugleich denkerisch
kühnste System entsteht im Neuplatonismus: Plotin (203-269), Proklos (410-485). Es bildet
Elemente der pythagoreischen und der platonischen Philosophie weiter, unter Einfluß
orientalischer, jüdischer und christlicher Religion, mit stark mystischer Tendenz. Die
menschliche Sehnsucht nach Erfüllung wird abgehoben von der Vereinzelung der vielfältigen
Dinge und dem damit verbundenen Leid. Sie geht auf Vereinheitlichung. Die Welt wird
zurückgeführt auf einen Urgrund, das Ur-Eine, von dem man eigentlich nicht aussagen kann,
was es ist, sondern nur, was es nicht ist (negative Theologie), weil all unser Sprechen Vielheit
in dieses Eine hineinträgt. Das Vielfältige der Welt wird aufgefaßt als in einem abgestuften
Prozeß aus dem Ureinen mit Notwendigkeit hervorgegangen und wieder zu diesem
zurückstrebend. Je mehr sich der Mensch von dem Vielfältigen befreit, desto mehr gelangt er
zur Verwirklichung seiner höchsten Bestimmung - voranschreitend über Abkehr von der
Alltagswelt, über begriffliches Erkennen und dieses überbietende schauende Betrachtung bis
zur ekstatischen mystischen Vereinigung mit dem Ur-Einen.
1.2
Christlicher Gottesglaube und Philosophie
1.2.1 Anfänge christlichen Denkens
In vielen Punkten stand das in den ersten Jahrhunderten sich ausbreitende Christentum in
Gegensatz nicht nur zu den Volksreligionen, sondern auch zu den philosophischen Schulen:
der strenge Ein-Gott-Glaube, der sich auf Offenbarung Gottes in der Geschichte stützt, die
Abhebung des persönlichen und freien Schöp- |29 fergottes von der Welt bei gleichzeitiger
engster Verbindung dieses Gottes mit den Menschen im Gottmenschen Jesus Christus. Dieser
wird von Menschen aller Schichten als tiefgreifende ethische Herausforderung zu einer
Lebensform tätiger Liebe und als Unterpfand der Hoffnung auf Erlösung des ganzen
Menschen, nicht nur des Geistes, in endzeitlicher Erfüllung geglaubt. Bereits in den
neutestamentlichen Schriften und bei den frühchristlichen Schriftstellern treten zwei
charakteristische Beziehungen zur Philosophie auf: einmal eine Entgegensetzung, dann aber
auch der Hinweis auf philosophische Einsicht. So warnt Paulus vor der »Weisheit der Welt«
(1 Kor 1,20) und ihrer Verführung (Kol 2,8). Für Tertullian (165-220) sind die Philosophen
die Patriarchen der Häretiker. Dass hier die Philosophie als Weltanschauung und Lebensweise
aufgefaßt wird, die zugleich/' die Rolle der Religion übernimmt, zeigt sich auch, wenn Justin
der Märtyrer (2. Jh.) den Gegensatz dadurch ausdrückt, daß er das Christentum die allein
sichere und heilsame Philosophie nennt, und wenn Chrysostomus die christlichen Mönche als
die einzigen echten Philosophen, die es noch gibt, bezeichnet. Zugleich finden wir aber bei
Paulus auch den Hinweis darauf, daß Gott dem Menschen in solcher Weise erkennbar ist, daß
auch außerhalb der christlichen Offenbarung Stehende keinen Entschuldigungsgrund für eine
Nichtanerkennung Gottes haben (Röm 1,19ff). Paulus zitiert auf dem Areopag (Apg 17,2231) auch griechische Philosophen zur Stützung seiner Verkündigung und nimmt als
Anknüpfungspunkt, daß Er »nicht fern von jedem von uns ist«, »denn in ihm leben wir,
bewegen wir uns und sind wir«.
In der Auseinandersetzung des Christentums vor allem mit den gebildeten Heiden wurden
philosophische Begriffe und Argumente verwendet, die zum damaligen Bildungsgut gehörten,
unter anderem auch die Kritik der Stoiker und Epikureer am antiken Polytheismus. In
Alexandrien, wo sich um die Zeitenwende Philon (25 v. Chr.-40 n. Chr. ) um die Verbindung
des alttestamentlichen Gottesbegriffs mit der griechischen Philosophie bemüht hatte, traten
die Vorbehalte gegenüber der Philosophie immer mehr zurück. Für Clemens von Alexandrien
(gestorben um |30 215) bereitet die Philosophie den Hellenen den Weg zu Christus wie das
Alte Testament den Hebräern. Immer mehr wurden philosophische Begriffe und Argumente
in der Entfaltung des Verständnisses christlichen Glaubens theologisch verwendet. Augustinus
(354-430) kommt, auch was den Einfluß auf die Folgezeit betrifft, besondere Bedeutung zu.
Es seien nur einige für die Gotteslehre wichtige Punkte erwähnt: Persönlich hat sich
Augustinus von der gnostischen Sekte der Manichäer gelöst, die einen Dualismus vertreten
hat, der zwei erste Urgründe annimmt, einen des Lichtes, des Guten, des Geistes, und einen
der Finsternis, des Bösen und der Materie. Er ringt mit dem Problem des Ursprungs des Übels
und des Bösen. Für ihn geht alles letztlich auf Gott als Schöpfer und einzigen Urgrund zurück.
Das Übel und das Böse stellen keine eigene Wirklichkeit dar, sondern sie sind als Mangel an
der geschaffenen Wirklichkeit zu verstehen. Beim sittlich Bösen geht dieser Mangel auf den
Mißbrauch geschaffener Freiheit zurück.
Gegenüber dem Zweifel der Skeptiker verweist Augustinus auf die Selbstgewissheit des
Denkens: Wenn jemand zweifelt, weiß er, daß er nichts Sicheres weiß, daß er nicht grundlos
seine Zustimmung geben darf. Die darin sich zeigende grundsätzliche Möglichkeit wahrer
und gewisser Erkenntnis verweist nach Augustinus auf Gott als Urwahrheit. Waren bei Platon
die Ideen als Urbilder der bestehenden Dinge Grund ihrer Erkennbarkeit und ihres Seins, so
sind dies jetzt bei Augustinus die schöpferischen Gedanken Gottes. Wie bereits bei Philon
werden die platonischen Ideen nun als Gedanken des Schöpfergottes verstanden. Augustinus
verbindet auch Grundgedanken der stoischen Philosophie mit dem Schöpfungsglauben. Was
bei den Stoikern das Weltgesetz war, das sich zugleich auch im menschlichen Wissen und
Gewissen manifestiert, das wird bei Augustinus das vom Schöpfergott in die Dinge
hineingelegte Naturgesetz. Dieses Gesetz hat für die freien Geschöpfe den zwar nicht physisch - zwingenden, aber - ethisch - verpflichtenden Charakter des Sittengesetzes. Von den
Stoikern übernimmt Augustinus auch den Gedanken von Keimkräften (lat.: rationes
seminales, griech.: lōgoi spermatikoi), die erst allmählich in einem Entwicklungsprozeß zur
Entfaltung ge- |31 bracht werden. Der Rahmen dafür ist aber mit der Schöpfung gegeben,
durch die erst eine raum-zeitliche Ordnung entstanden ist.
1.2.2 Scholastik
Die Philosophie des Mittelalters hat ihren Ausgang genommen von den Kloster- und
Domschulen zur Zeit Karls des Großen. Das legte auch die Bezeichnung »Scholastik« (lat.:
schola = Schule) für das Denken bis zur Schwelle der Neuzeit nahe. Diese Schulen griffen das
Erbe der antiken Bildung und das Denken der Kirchenväter auf. Besondere Bedeutung kam
dabei dem Denken Augustins zu. Von Aristoteles hingegen waren nur einige logische
Schriften bekannt.
Dieses Denken des christlichen Mittelalters findet seine erste richtungweisende Ausprägung
bei Anselm von Canterbury (1033 bis 1109), dem »Vater der Scholastik«. Die Denkhaltung
Augustins, die ein Verständnis des Glaubensinhaltes sucht - fides quaerens intellectum
(Glaube, der Einsicht sucht) -, wird nun Programm einer systematischen Durchdringung des
Glaubens. Insofern steht dieses Denken auf dem Boden des christlichen Glaubens.
Philosophische Elemente dienen der Systematisierung und dem Herausstellen von
Zusammenhängen. Dabei werden jedoch Analysen angestellt, die philosophisch von
Bedeutung sind. Dazu gehört ein von Anselm in seiner Schrift >Proslogion< vorgelegter
Gedankengang, der aus der Tatsache, daß wir den Gedanken eines höchsten Wesens fassen
können, folgert, daß dieses höchste Wesen auch notwendig existieren müsse: Unter Gott
verstehe man das Wesen, größer als das nichts gedacht werden könne (id quo maius cogitari
non potest). Nun aber sei etwas, das sowohl gedacht wird als auch wirklich besteht, mehr als
das, das nur gedacht wird, aber nicht wirklich besteht. Darum müsse das Wesen, größer als
das nichts gedacht werden kann, auch wirklich bestehen, weil gegenüber einem Wesen, das
nur gedacht wird, ein größeres gedacht werden könne, nämlich eines, das nicht nur im
Denken, sondern auch außerhalb des Denkens, also wirklich besteht.
Dieser Gedankengang, der seit Kant »ontologischer Gottesbeweis« genannt wird, steht bei
Anselm zunächst im Kontext eines gläubi- |32 gen Bekenntnisses. Später wurde er vielfach in
philosophischem Kontext aufgegriffen, weitergeführt und kritisiert. Übrigens ist dieser
Gedankengang von Anselm nicht mit anderen Gedankengängen zu verwechseln, die er
andernorts, nämlich im >Monologion<, entfaltet hat und die an platonischem und
augustinischem Denken orientiert sind. Allerdings denkt man meistens, wenn einfachhin vom
Anselmianischen Argument gesprochen wird, an den von ihm im >Proslogion< vorgebrachten
und später »ontologisch« genannten Gedankengang.
1.2.3 Thomas von Aquin
Die Gründung der Universitäten, das wissenschaftliche Leben und die Ordensstudien der neu
entstandenen Orden der Franziskaner und Dominikaner, die im 12. Jahrhundert bekannt
gewordenen Schriften des Aristoteles und die Auseinandersetzung mit ihnen und mit den
arabischen (Averroes, Avicenna) und jüdischen (Avicebron, Moses Maimonides)
Kommentatoren führte im 13. Jahrhundert zu einem Höhepunkt des mittelalterlichen
Denkens, zur Hochscholastik.
Die große Leistung des Thomas von Aquin (1224-1274) besteht in der durch Albert den
Großen vorbereiteten christlichen Interpretation des aristotelischen Gedankenguts und dessen
systematischer Verbindung mit dem augustinisch geprägten theologischen Erbe der
Scholastik. Diese Leistung ist wohl der sachliche Grund für das starke Weiterwirken seiner
Synthese, gerade auch für die Philosophie. Das liegt daran, daß er methodisch klar
Philosophie und Theologie unterscheidet - auch wenn er philosophische Argumentationen in
sehr verschiedenen Zusammenhängen verwendet: in Kommentaren zu Aristoteles, in kleinen
Schriften zu philosophischen Problemen, im Zusammenhang theologischer Fragestellungen
im Rahmen seiner Summen und in anderen Schriften. Thomas übernimmt den aristotelischen
Wissenschaftsbegriff. Den Unterschied zwischen Theologie, die sich auf die christliche
Offenbarung stützt, und Philosophie sieht er in der Eigenart der Prinzipien, der ersten Sätze,
von denen her Folgerungen gezogen und Zusammenhänge des Gegenstandsbereichs der
Wissenschaft abgeleitet oder erklärt werden. Während in der Philosophie diese er- |33 sten
Sätze grundsätzlich für einsichtig gehalten werden, werden die ersten Sätze der Theologie
geglaubt. Für beide gilt, daß diese ersten Sätze selbst nicht abgeleitet werden können - wohl
aber könnnen sie gegenüber Einwänden und Bedenken verteidigt werden, und zwar unter
Verwendung der Voraussetzungen, auf die sich der Gesprächspartner beim Erheben des
Einwandes stützt.
So unterscheidet Thomas deutlich jene Theologie, mit der sich Philosophen beschäftigen und
die von der metaphysischen Betrachtung der Gesamtwirklichkeit zu Gott als Urgrund gelangt,
von der Theologie, die sich auf die im Glauben angenommene christliche Offenbarung stützt
und direkt Gott zum Gegenstand hat. Hier wird also in methodischer Hinsicht, nämlich
hinsichtlich der Grundlage, auf die sich die Begründung und Rechtfertigung der Aussagen
stützt, deutlich zwischen einer philosophischen Gotteslehre und der Offenbarungstheologie
unterschieden. In der Quaestio 5 seines Kommentars zu dem Werk von Boethius >De
Trinitate< bringt Thomas seine wissenschaftstheoretische Auffassung zur Darstellung. Im 4.
Artikel schließt er seine Darlegungen mit der zusammenfassenden Stellungnahme:
»Sic ergo theologia sive scientia divina est duplex: una, in qua considerantur res
divinae non tamquam subiectum scientiae, sed tamquam principia subiecti, et talis est
theologia, quam philosophi prosequuntur, quae alio nomine metaphysica dicitur; alia
vero, quae ipsas res divinas considerat propter seipsas ut subiectum scientiae, et haec
est theologia, quae in sacra Scriptura traditur. - So ergibt sich, dass die Theologie oder
Gotteslehre zweifach ist: eine, in der das Göttliche nicht als Gegenstand der
betreffenden Wissenschaft behandelt wird, sondern als Erklärungsgrund des
Gegenstandes, und dergestalt ist die Theologie, welche die Philosophen betreiben und
die mit einem anderen Namen Metaphysik heißt; die andere (Theologie) ist jedoch
jene, welche das Göttliche selbst um seiner selbst willen zum Gegenstand der
Wissenschaft hat, und das ist die Theologie, die in der Heiligen Schrift überliefert ist.
16
«
Folgendes ist hier zu beachten, weil es für die Rolle der Philosophie in Hinblick auf die
Offenbarungstheologie wichtig ist:
16
In Boeth. de trin: q.5, a.4, resp. Deutsch vom Verfasser.
a) Philosophie und Offenbarungstheologie sind unterschieden |34 durch die Eigenart ihrer
Erkenntnis, durch die Grundlagen, auf die sich die Argumentationen stützen. Daher kann
grundsätzlich dasselbe sowohl theologisch als auch philosophisch behandelt werden. Der
entscheidende Unterschied liegt also nicht in der Thematik, sondern in der Beweisgrundlage.
In der >Summa theologiae< heißt es:
»Unde nihil prohibet de eisdem rebus, de quibus philosophicae disciplinae tractant,
secundum quod sunt cognoscibiles lumine naturalis rationis, etiam aliam scientiam
tractare, secundum quod cognoscuntur lumine divinae revelationis. - Daher ist nicht
ausgeschlossen, daß über Dinge, über die die philosophischen Disziplinen handeln,
sofern sie mit dem Licht der natürlichen Vernunft erkennbar sind, auch eine andere
Wissenschaft handelt, sofern sie mit dem Licht göttlicher Offenbarung erkennbar
sind.«17
b) Das Verhältnis philosophischer Erkenntnis zu der auf Offenbarung gegründeten wird näher
bestimmt: - Es gibt Gehalte der Offenbarung (z. B. Dreifaltigkeit), die philosophisch nicht
erkannt werden können.
- Zwischen den Gehalten der Offenbarung und dem philosophisch Erkannten kann es keinen
Widerspruch geben.
- Das Dasein Gottes kann philosophisch aufgewiesen werden.
- Die philosophische Erkenntnis Gottes ist schwierig, weshalb auch philosophisch von Gott
Erkennbares geoffenbart wurde,
»quia veritas de Deo per rationem investigata, a paucis hominibus et per longum
tempus et cum admixtione multorum errorum proveniret - weil die mit der Vernunft
erforschte Wahrheit von Gott nur wenigen Menschen, nach langer Zeit und mit
Beimischung vieler Irrtümer erreichbar wäre. «18
Philosophische Argumentationen dienen zum Aufweis dessen, was an Gehalten oder
Vorbedingungen der Offenbarung der menschlichen Vernunft zugänglich ist, zur Entkräftung
von Schwierigkeiten, die sich der Offenbarung entgegenzustellen scheinen, und zur
systematischen Entfaltung der Glaubensgehalte und als Hilfe für Folgerungen daraus. |35
Thomas kommentiert den in der aristotelischen Physik und Metaphysik vorgelegten
Gedankengang, der von den bewegten Dingen ausgeht und deren Abhängigkeit von einem
unbewegten Beweger aufweist. Diesen Bewegungsbeweis, zusammen mit Gedanken anderer
Philosophen (Platon Leges) und christlicher Denker (Augustinus u. a.), baut er in seine
>Summe wider die Heiden< ein - denn bevor systematisch von Gott bzw. von der Beziehung
des Menschen zu ihm gehandelt wird, ist sein Dasein aufzuweisen - da nach aristotelischer
Wissenschaftslehre die Fragen nach den Eigenschaften von etwas dessen Dasein
voraussetzen. Bei Thomas steht nicht im Vordergrund, durch den Beweis Gottes Dasein
Menschen nahezubringen, die es leugnen würden. Es geht vielmehr zunächst um die
Entfaltung der Überzeugung, daß das Bemühen der vom Glauben erleuchteten Vernunft, das
Verständnis der Offenbarung zu entfalten, an den in philosophischen Überlegungen sich
ausdrückenden Verweis der erfahrbaren Welt auf einen Urgrund, der religiös als Gott
anzusprechen ist, anknüpfen kann. In seiner >Summa theologiae< kommt den
philosophischen Wegen zum Erweis des Daseins Gottes dieselbe systematische Stellung zu.
Zunächst wird, wie übrigens auch in der anderen Summe, der vom Begriff Gottes ausgehende
Weg Anselms abgelehnt. Dann werden neben dem aristotelischen Weg aus der Bewegung der
Dinge noch vier weitere angeführt: aus der Ursachebeziehung unter den Dingen, aus der
Kontingenz des Entstehenden und Vergehenden, aus der Vielfältigkeit der Verwirklichung
17
18
S. th. 1, q. 1, a. 1, ad 2. Deutsch vom Verfasser.
S. th. 1, q. 1, a.l c. Deutsch vom Verfasser.
bestimmter Gehalte, die als Abstufung einer vollkommensten Verwirklichungsweise
verstanden werden, und aus dem Vorkommen zielgerichteten bzw. zweckmäßigen Wirkens in
der Natur.
Dem Stil des Werkes entsprechend sind diese fünf Wege (quinque viae), auf denen das Dasein
Gottes aufgewiesen werden kann, an dieser Stelle (S, th. I, q.2, a.3 c) knappe
Zusammenfassungen. Die in ihnen verwendeten philosophischen Grundsätze treten auch an
vielen anderen Stellen auf und werden dort weiter vertieft. Auf das in den fünf Wegen
entfaltete Verständnis von Gott als letztem Urgrund wird immer wieder zurückgegriffen, auch
wo im Kontext systematischer Offenbarungstheologie von Eigenschaften Gottes gesprochen
wird. |36
1.2.4 Einheit und Vielfalt von Ansätzen
Christliches Verständnis von Gott als Schöpfer und das damit verbundene Verständnis der
menschlichen Person führen, zusammen mit Elementen arabischer und jüdischer
philosophischer Auseinandersetzung mit aristotelischem Denken und mitbestimmt durch
augustinische Gedanken, zu einer deutlicheren Herausarbeitung philosophischer
Grundeinsichten. Diese Vorarbeiten ermöglichen Thomas eine kritisch-systematische
Interpretation von Aristoteles, die mit dem christlichen Glauben nicht nur vereinbar ist,
sondern zu dessen theologischer Entfaltung das Rüstzeug bereitstellt.
Allerdings zeigt sich auch hier die Schwierigkeit philosophischen Denkens: Die
Akzentuierung und die Interpretation von philosophischen Grundeinsichten sind von
vielfältigen geschichtlichen und persönlichen Faktoren mitbedingt und nicht allen Denkern
gemeinsam - auch nicht im Mittelalter. Wenn auch die bewundernswerte Synthese des
Thomas später große Beachtung gefunden und Wirkung ausgeübt hat, so hatten andere
Theologen des Mittelalters gerade in den grundlegenden philosophischen Auffassungen
andere Akzentuierungen vorgenommen: in der Auffassung von Wissenschaft, in dem für die
Entfaltung der Metaphysik grundlegenden Verständnis des »Seienden« und bezüglich der
Eigenart und Tragweite menschlicher Erkenntnis. Bei oft zunächst ähnlichen Formulierungen
zeigt sich der Unterschied des Verständnisses in der Divergenz der Folgerungen.
So betont etwa Bonaventura (1221-1274) mehr Elemente der augustinischen Tradition. Die
Wissenschaft, für die Aristoteles der Meister ist, soll zur Weisheit und Liebe führen, um die
es Augustinus gegangen ist. In seinem >Weg zu Gott< (>Itinerarium mentis in Deum<) geht
Bonaventura nicht von allgemeinen Strukturen der Welt aus, die auf einen ersten Grund
zurückweisen, sondern es geht ihm mehr darum, in verschiedenen Schritten zu zeigen, wie die
Erfahrung, die der Mensch von den Dingen und vor allem von sich selbst hat, transparent wird
auf Gott hin und zu einer vertieften lebendigen Gottesbeziehung führen kann.
Hier zeigt sich ein Gegensatz, der immer wieder auftritt: auf der |37 einen Seite eine Betonung
der konkreten Erfahrung und ihrer Deutung, auf der anderen Seite das philosophische
Herausarbeiten und Prüfen der bei dieser Deutung vorausgesetzten und konkret angewendeten
Denkweisen. Damit verbunden ist oft auch die Spannung zwischen einer Akzentuierung des
existentiellen und rationalen Aspekts philosophischen Fragens: Bei Fragen wie jener um Gott
handelt es sich um Lebensfragen, die den Menschen zutiefst herausfordern und seine ganze
Einstellung zum Leben betreffen und die letztlich nicht ohne Stellungnahme zu religiöser
Praxis ernst genommen werden können. Gerade bei einer so wichtigen Frage aber geht es um
eine
vernünftig
zu
verantwortende
Stellungnahme,
deren
vernünftige
Entscheidungsgrundlagen so weit als möglich analysiert und herausgearbeitet werden müssen
- wenn auch natürlich dadurch die Stellungnahme nicht ersetzt wird, wohl aber die
Voraussetzungen ihrer Verantwortbarkeit geklärt werden.
Als anderes Beispiel sei Duns Scotus (1266-1308) genannt. Den Beinamen »Doctor subtilis«
hat er wegen seines hervorstechenden Scharfsinns erhalten, mit dem er Gedankengänge
analysiert, kritisiert und weiterführt. Dabei geht er allerdings von anderen Voraussetzungen,
besonders von einem etwas anderen Seinsverständnis aus als Thomas. Das führt ihn dazu, daß
er bezüglich der Möglichkeiten philosophischer Erkenntnis und der Aussagen von Gott noch
zurückhaltender ist. Der aristotelische Bewegungsbeweis wird abgelehnt. Gedanken von
Anselm und Augustinus werden weitergeführt. Die Leibniz'sche Form des ontologischen
Arguments wird dadurch vorweggenommen. Vor allem aber wird bei der Entfaltung des
Gedankenganges von der Wirkursächlichkeit, Zielbestimmtheit und Ordnung der
Wesenheiten her die Analyse der ursächlichen Abhängigkeit wesentlich bereichert.
Eine vergleichbare Weiterführung der Analysen philosophischer Wege zu Gott finden wir wenn auch wieder von einem etwas anderen Seinsverständnis geleitet, das sich von
platonischen Einflüssen distanziert - in der Neuzeit bei Suarez (1548-1617). Seine
>Disputationes metaphysicae< gelten als die erste systematische Darstellung der Metaphysik.
Sie haben sowohl auf die protestantische Theologie, besonders die Hochorthodoxie, als auch
auf das neu- |38 zeitliche Philosophieren (Descartes, Rationalismus vor Kant) großen Einfluss
ausgeübt.
Für die philosophische Gotteslehre ist es hier zunächst wichtig, festzuhalten, daß bei diesen
Denkern sichtbar wird, wie die besondere Ausgestaltung der philosophischen Wege zu Gott
mit bestimmten Auffassungen über die Grundzusammenhänge der Wirk-. lichkeit verbunden
sind. Sowohl dadurch wie auch wegen unterschiedlicher Interpretation der dabei verwendeten
Ausdrücke fällt die Einschätzung der einzelnen Beweisgänge verschieden aus. Ohne eine
bestimmte Weise der Entfaltung der Grundstrukturen der Wirklichkeit, das heißt ohne eine
bestimmte Metaphysik oder Ontologie, scheint eine ins einzelne gehende Entfaltung des
Verweises der vorgegebenen Wirklichkeit auf ihren letzten Grund nicht möglich zu sein.
Eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen Wege läßt bestimmte Strukturelemente
erkennen, die immer wieder vorkommen und als tragend aufzufassen sind. Auf diese wird
eine spätere Analyse solcher Gedankengänge besonders zu achten haben.
1.3
Fragestellungen neuzeitlicher Philosophie
Das neuzeitliche Denken seit der Renaissance stellt die philosophische Beschäftigung mit der
Gottesfrage in neue Zusammenhänge: Im Humanismus kommt ein stärker werdendes
Interesse am Menschen mit seiner persönlichen Entscheidung und Freiheit zum Ausdruck.
Soziale und religiöse Ordnungen fächern sich auf oder werden abgelöst: Aufsteigen des
Bürgertums als Träger einer neuen Wirtschaftsform, die stark vom Unternehmergeist
einzelner abhängt; die Stärkung der Städte und die Herausbildung von Nationalstaaten; die
Reformation. Eine neue Beziehung zur Natur zeigt sich einerseits in einer staunenden und
forschenden Zuwendung zur Natur und zur Stellung des Menschen in der Natur, andererseits
in einer auf Naturbeherrschung ausgerichteten Naturwissenschaft. Beides führt zu einem
neuen Weltbild, das in Gegensatz zu dem überlieferten und sowohl mit dem christlichen
Glauben verbundenen als auch von der mittelalterlichen Philosophie vielfach vorausgesetzten
Weltbild trat. Im philosophischen Denken tritt eine Be- |39 sinnung auf die Möglichkeiten und
Wege der Erkenntnis der Wirklichkeit in kritischer Abhebung vom Überlieferten und im
Suchen nach neuen Methoden hervor.
In diesem Prozes wird bei Christian Wolff (1679-1754) in einer neuen Systematik der
Philosophie die philosophische Gotteslehre als eigene Disziplin der speziellen Metaphysik
verselbständigt. Im Zusammenhang der Aufklärung wird von der Philosophie die.Begründung
einer Vernunftreligion erhofft. Das Scheitern dieser Bemühungen führt zur Kritik der
Möglichkeit philosophischer Gotteslehre und zur philosophischen Reflexion über das
Kulturphänomen Religion und zur Religionskritik.
Im folgenden sollen einige kennzeichnende Positionen und Tendenzen dieser Zeit
herausgestellt werden.
1.3.1 Das neue Ideal der Wissenschaft
Einer der charakteristischen Züge der Neuzeit ist der Aufbruch naturwissenschaftlichen
Denkens. Vorbereitet wurde dieses Denken bereits im Spätmittelalter, als Programm
entworfen von Francis Bacon von Verulam (1561-1626) und zunächst in der Mechanik
verwirklicht durch Galileo Galilei (1564-1642) bis Isaak Newton (1642-1727). Als
Hauptanliegen erweist sich eine zielgerichtete methodische Erweiterung unseres Wissens
durch Erfahrung. Gesucht wird ein verbessertes Verständnis der Natur, das uns die Natur
besser beherrschen läßt. Dadurch erhofft man sich zugleich ein Überwinden von Grenzen der
spontanen Erfahrungserkenntnis, auf die man sich früher gestützt hatte. Die Grenzen zeigten
sich nach Bacon einmal in den verschiedenen Arten von Vorurteilen, von denen die spontane
Überzeugung abhängig war, und zum anderen in der Zufälligkeit dessen, was gerade beachtet
worden war. Die bisherige, an Aristoteles orientierte Wissenschaft sei höchstens zur
Systematisierung des zufällig zustande kommenden Wissens tauglich gewesen, nicht jedoch
zu einer echten Erklärung, die uns in die Lage setzt, den Verlauf der Natur vorauszusehen und
technisch zu gestalten.
Bereits bei Galilei tritt der schematisierend-konstruktive Charakter dieser neuen
Naturerkenntnis deutlich hervor. Für ihn liegt das Buch der Natur offen vor aller Augen, lesen
kann es nur derjenige, |40 der die Sprache und die Züge kennengelernt hat, in der es
geschrieben ist: nämlich die Sprache der Mathematik und die Schriftzüge von Dreieck, Kreis
und anderen geometrischen Figuren. 19 Damit aber wird von Idealisierung gesprochen. Galilei
selbst macht davon Gebrauch: für »freier Fall im Vakuum« und »ideale Pendel« gibt es im
Bereich der Phänomene keine unmittelbaren Beispiele, nur verschieden große Annäherungen.
So bedarf es für die Analyse der Naturphänomene der schöpferischen Phantasie, die zur
Annahme entscheidender Faktoren führt - z. B. von Fallstrecke und Fallzeit für den freien
Fall. Dann können Experimente ersonnen werden, welche Faktoren meßbar machen und ihr
Verhältnis bestimmen lassen und in denen Störungen kontrolliert werden können. Aufgrund
solcher Experimente kann das Verhältnis der Meßzahlen der Faktoren als Gleichung oder
Funktion formuliert und experimentell weiter überprüft werden.
In der späteren wissenschaftstheoretischen Diskussion wurde diese Art von Erklärung als
funktionale charakterisiert und der entscheidende Punkt darin gesehen, daß ein Phänomen
dann naturwissenschaftlich im Sinn der funktionalen Erklärung als erklärt angesehen wird,
wenn ein dieses Phänomen beschreibender Satz aus den als gültig anerkannten
Gesetzesaussagen und Randbedingungen, welche die konkrete Situation charakterisieren,
abgeleitet werden kann. 20 Aufgrund der für die praktisch-technische Anwendung wichtigen
Leistung, Prognosen über den Verlauf des Naturgeschehens erstellen zu können, spricht man
gelegentlich auch von prognostischer Relevanz dieses Typs von Erklärung. So liegt die
Bedeutung dieser Form von Erklärung der Natur a) in einem Verständnis des regelmäßigen
und vorhersehbaren Ablaufs der Naturvorgänge; b) in der Bereitstellung eines Wissens, das zu
einer technischen Gestaltung der Natur befähigt; c) in der Möglichkeit einer |41
intersubjektiven Überprüfung durch die Erfahrung anderer Experimentatoren.
19
Vgl. J. Losee, Wissenschaftstheorie, München 1977 (engl. 1972), 58ff.
In unserem Jahrhundert bekannt als »nomologisch-deduktive Erklärung«, benannt nach den
Wissenschaftstheoretikern Hempel und Oppenheim als H-0Schema. Sie untersuchten im einzelnen, welchen
weiteren Bedingungen die Ableitung (Deduktion) eines Beobachtungssatzes aus Gesetzes- (nomologischen)
Aussagen und Randbedingungen genügen muß, damit man sie als naturwissenschaftliche Erklärung des durch
den Beobachtungssatz dargestellten Sachverhalts auffassen kann.
20
Diese Charakteristika naturwissenschaftlicher experimenteller Erfahrungserkenntnis haben
immer mehr das Ideal des Wissens geprägt und bestimmen in der Gegenwart weitgehend die
Erwartungen, die von vielen an Wissenschaft gestellt werden. Dieses neue Ideal des Wissens
ist wohl zu unterscheiden vom aristotelischen Wissensideal, das z. B. auch den klassischen
Gottesbeweisen zugrunde liegt. Der Nachteil des aristotelischen Erklärens liegt darin, daß es
keine Voraussagen des Naturlaufs gestattet, keine prognostische Relevanz hat. Andererseits
leistet aber die aristotelische Erklärung etwas, was nicht durch die funktionale Erklärung
geleistet werden kann - nämlich die Klärung des Verhältnisses verschiedener
Gegenstandsbereiche und Wissensformen, die der Mensch verwendet, zueinander; darin
besteht also ihre Relevanz für das Verständnis der Ganzheit menschlichen Lebens und
Entscheidens. Diese integrative Funktion philosophischer Erklärung hat Bedeutung für die
Orientierung menschlicher Lebensgestaltung und für die Frage nach dem Sinn menschlichen
Lebens. Es bedurfte einer längeren Denkentwicklung, um über der Begeisterung für die neue
und erfolgreiche Methode der Erfahrungswissenschaften auch ihrer grundsätzlichen Grenzen
gewahr zu werden. Zunächst gab es nämlich Versuche, aus dem neuen Zugang zum
Verständnis der Natur auch gleich eine Weltanschauung zu errichten: den mechanistischen
Materialismus, der seinen ersten Höhepunkt bei den französischen Enzyklopädisten des 18.
Jahrhunderts gefunden hat. Bezüglich der Gottesfrage war er oft verbunden mit dem in der
Aufklärungszeit vertretenen Deismus (deus = lat.: Gott), der zwar einen persönlichen Gott
annimmt, der die Natur mit ihren Gesetzen geschaffen hat, der sich aber vom Theismus (theōs
= griech.: Gott) dadurch unterscheidet, daß Gott keinen weiteren Einfluß auf das
Weltgeschehen und die Geschichte ausübt, insbesondere daß er sich nicht übernatürlich
offenbart. Bei einigen, wie z. B. bei Diderot (1713-1784) und Holbach (1723 bis 1789), war
der Materialismus mit einem Atheismus verbunden: Gott werde für die Erklärung der Welt
überflüssig, da diese durch die Naturgesetze der Bewegung erklärt werden könne. Als Motiv
|42 für den Atheismus ist hier aber nicht nur die Entgegensetzung von naturwissenschaftlicher
und theologischer Erklärung der Welt maßgebend, sondern auch ein religionskritisches
Anliegen: eine Kritik an der Kirche, an der Intoleranz der Konfessionen und an dem
Festhalten an nicht einsichtigen Traditionen.
1.3.2 Das erkenntniskritische Anliegen
Für das neuzeitliche philosophische Denken wurde - wohl auch angesichts konfessioneller
Spannungen im Gefolge der Reformation und in Absetzung vom aristotelischmittelalterlichen Erkenntnisideal - die Frage nach den Grundlagen unseres Wissens
bestimmend. Die Behandlung dieser Frage prägte sich aus in den beiden Positionen des
englischen Empirismus und des kontinentalen Rationalismus. Diese Spannung und die
materialistische Deutung der Mechanik sind zugleich Ausgangsposition für das Denken
Kants.
1.3.2.1 Rationalismus
Der Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff) sucht die Mängel der spontanen
Erfahrungserkenntnis dadurch zu beheben, daß er prüft, in welchem Ausmaß sich
Erkenntnisinhalte, vor allem allgemeine Aussagen, auf unmittelbar einsichtige und gewisse
erste Sätze zurückführen und von ihnen deduktiv ableiten lassen. Wird die Geltung der
Erkenntnis vor allem in Hinblick auf die Ableitbarkeit von ersten Sätzen beurteilt, spricht man
gelegentlich von einem deduktiven Geltungsideal. Descartes (1596-1650) geht aus von der
Suche nach einem sicheren Fundament für unser Wissen. Diese Grundlage findet er zunächst
in der unbezweifelbaren Selbstgewißheit unseres Denkens, im »Cogito ergo sum«21: Das ist
21
Descartes, Principia Philosophiae 1, 7 (Buchenau, 2). Die deutsche Ausgabe der Prinzipien der Philosophie
von Descartes wurde besorgt von A. Buchenau, Hamburg 71965 =41922.
es, was uns am klarsten ist: daß ich denke und daß ich bin. Als Kriterium der Wahrheit gilt
ihm die Klarheit und Deutlichkeit des Gedankens. Manche unserer Gedanken (Ideen) sind uns
angeboren, und die Klarheit und Deut-|43 lichkeit verbürgt uns die Wahrheit ihres Inhalts.
Dazu gehöre auch die Idee Gottes als eines vollkommensten Wesens.
In verschiedenen Ansätzen sucht Descartes zu zeigen, daß es Gott als vollkommenstes Wesen
geben müsse: es würde sonst ein angemessener Grund für die Tatsache fehlen, daß uns diese
Idee angeboren ist. Außerdem wandelt er das ontologische Argument Anselms ab: Zum
Begriff des höchst vollkommenen Wesens gehöre das Dasein dieses Wesens, so wie zum
Begriff des Dreiecks gehöre, daß die Winkelsumme gleich zweier rechter Winkel sei. Diese
Form des ontologischen Beweises tritt im Rationalismus wiederholt auf. Bei Leibniz wird sie
dadurch ergänzt, daß er die innere Möglichkeit (Widerspruchsfreiheit) des vollkommensten
Wesens aufzuweisen sucht. In dieser Form erhält dieser Gedankengang von Kant den Namen
»ontologischer Gottesbeweis«. Er steht dann im Zentrum der Kritik Kants an den
Gottesbeweisen.
Im Rationalismus wird vernachlässigt, dass die ersten Sätze und die in ihnen vorkommenden
Begriffe auf Abstraktionen aus unserer alltäglichen, lebensweltlichen Erfahrung beruhen und
dass es eine zentrale philosophische Frage ist, was Sinn, Geltung und Anwendungsbereich
dieser Sätze ist. Eine Funktion der Unterscheidungen, die Aristoteles entwickelt hat, war die
Präzisierung von Antworten auf diese Frage. Die aposteriorischen Gottesbeweise bei Thomas
werden systematisch verwendet als Klärung des Sinnes und der Anwendbarkeit der Prädikate,
die Gott zugesprochen werden. Im Rationalismus besteht die Tendenz, bei den
Gottesbeweisen vor allem die allgemeinsten Begriffe und Prinzipien herauszuarbeiten. Das ist
sicher eine Hilfe, um die logische Struktur der Gedankengänge besser zu durchleuchten. So
wird etwa der Bewegungssatz auf das Kausalprinzip und dieses wieder auf das Prinzip vom
zureichenden Grund zurückgeführt. Offen bleiben aber zwei Problembereiche: Worauf stützt
sich die Geltung dieser allgemeinsten Grundsätze? Worauf stützen sich Sinn und Geltung der
besonderen Begriffe, durch welche diese allgemeinsten Sätze auf besondere Bereiche
angewendet werden? Darauf kann sich dann Kant in seiner Kritik der Gottesbeweise
beziehen.
Bezüglich der Begriffe, die in Aussagen von Gott verwendet wer den, zeigt sich die
rationalistische Vernachlässigung der Erfah- |44 rungsgrundlage und der dadurch bedingten
Differenzierungen etwa in der Schwierigkeit, die bereits Descartes empfindet, »Substanz« und
»Gott« auseinanderzuhalten - da beide, wenn auch in anderer Weise, unabhängig sind: die
Substanz bezüglich der Inhärenzbeziehung, durch welche die Akzidentien von einem Träger
abhängig sind, Gott jedoch hinsichtlich der Wirkursächlichkeit, insofern er absolute,
unverursachte Erstursache ist. Descartes korrigiert seine Substanzdefinition noch durch den
Zusatz, der den Einfluß Gottes auf die Substanz festhält, so daß es neben Gott auch endliche
Substanzen geben kann:
»Unter Substanz können wir nichts anderes verstehen als eine Sache, die so existiert,
daß sie keiner anderen Sache zu ihrer Existenz bedürfe (quae ita existit, ut nulla alia re
indigeat ad existendum). Und zwar kann als Substanz, welche überhaupt keines
anderen Dinges zu ihrer Existenz bedarf, nur eine einzige verstanden werden, nämlich
Gott. Alle anderen aber fassen wir so auf, daß sie nur durch das Mitwirken Gottes
existieren können.« 22
Bei Spinoza wird die volle Konsequenz aus der Gleichsetzung von Substanz und Gott
gezogen, so daß es nur eine einzige Substanz geben kann. Die Folge davon ist, daß alles
andere in ihr ist, alles also Gott ist - eine Form des Pantheismus (pän = griech.: alles).
22
PrincipiaPhilosophiae I, 51 (Buchenau, 17).
Der Pantheismus sieht die gesamte Wirklichkeit als Gott an, während der Theismus Gott zwar
als ermöglichenden Grund von allem ansieht, der jedoch selbst unterschieden bleibt von dem
durch ihn Begründeten.
Die nicht genügende Klärung von grundlegenden Begriffen betrifft nicht nur den
Substanzbegriff, sondern auch den der Ursächlichkeit. Die Folge davon ist, daß die
wirkursächlichen Zusammenhänge zwischen endlichen Substanzen - z. B. zwischen Leib (res
extensa) und Seele (res cogitans) bei Descartes, oder auch zwischen verschiedenen Körpern nicht genügend geklärt werden. Das führt zur Leugnung echten Wirkens der Dinge
aufeinander, deren Zustände dann nur als Gelegenheiten (occasio = lat.: Gelegenheit) für das
alleinige Wirken Gottes angesehen werden. Diese |45 Lehre des Okkasionalismus tritt im
Gefolge von Descartes auf (Geulincx, Malebranche). Für den besonderen Fall von Leib und
Seele führt dies zu den verschiedenen Theorien über die Lösung des Leib-Seele-Problems:
nach der Wechselwirkungslehre von Descartes und der okkasionalistischen Lösung die
Identitätstheorie von Spinoza und der Parallelismus von Leibniz. Vor dem Hintergrund dieser
zuwenig erfahrungsbezogen geklärten Begriffe von Substanz und Ursache und der daraus
entstehenden Schwierigkeiten mag die empiristische Kritik, die Hume an der Verwendung
dieser Begriffe übt, eher verständlich werden.
1.3.2.2 Empirismus
Der Empirismus (Locke, Berkeley, Hume) betont gegenüber einer zu rationalistischen
Verwendung der Grundbegriffe und einer Berufung auf angeborene Ideen die Rolle der
Erfahrung. Er sieht in der - allerdings meist als Sinnesempfindung oder innere Wahrnehmung
aufgefassten - Erfahrung den einzigen Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Dies kann
gegenüber der aristotelischen Auffassung insofern als empiristisch und damit einseitig
eingeschätzt werden, als die Einsichtigkeit und Geltung jener Zusammenhänge, welche die
Erfahrung ermöglichen und die in der lebensweltlichen Erfahrung bereits einschlussweise
erfasst sind, zuwenig berücksichtigt wird. Leibniz betont das auf seine Weise, indem er23 die
Lockesche These, dass nichts im Verstand sei, was nicht in den Sinnen gewesen sei (nempe
nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu), durch den Zusatz ergänzt: »außer dem
Verstande selbst« (nisi ipse intellectus). In Kants Transzendentalphilosophie wird dieses
Verstandeselement dann als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung entfaltet und in seiner
Geltung begründet - jedoch nur für den Bereich von Gegenständen möglicher Erfahrung.
Lohn Locke (1632-1704) zählt zu den Vätern der Aufklärung und gilt als Begründer der
empiristischen Erkenntnistheorie. Soll sich der Mensch - dem Anliegen der Aufklärung
gemäß - in seiner Lebensführung von der Vernunft leiten lassen, dann bedürfe es ange- |46
sichts der Erfahrung fruchtloser Diskussionen über Lebensfragen zunächst einer kritischen
Prüfung der Fähigkeit unserer Vernunft. Als Prüfstein dafür gilt ihm die Erfahrung. In seinem
Werk >Versuch über den menschlichen Verstand< (1690), in dem er diese Untersuchungen
durchführt, vertritt er24 die Auffassung, daß wir auf dieser Grundlage zu einem sicheren
Wissen von Gott als dem ewigen, allmächtigen und weisen Ursprung der Welt gelangen
können. Selbst für einen einfachen und verständlichen Kern der christlichen Offenbarung, den
er als überkonfessionell betrachtet, beansprucht er vernünftige Glaubwürdigkeit. Hier besteht
noch eine Verbindung von Bibelgläubigkeit und Tendenz zu einer Vernunftreligion. Im
weiteren Verlauf der Aufklärung wird dann die Idee der Vernunftreligion immer deutlicher
der Offenbarungsreligion mit ihren konfessionellen Ausprägungen entgegenstellt. David
Hume (1711-1776) ist in seiner empiristischen Erkenntnislehre radikaler als Locke. Er
kritisiert Begriffe wie »Ursache« und »Substanz« und damit alle Metaphysik. In
Übereinstimmung damit wird auch eine vernunftgemäße Auffassung Gottes, wie sie im
23
Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, 11,1 § 2, hrsg. von E. Cassirer, Hamburg
1915, 84.
24
Kap. 10 des 4. Buches.
3
Deismus der Aufklärungszeit vertreten wurde, kritisiert: da unsere Vorstellungen nicht weiter
reichen als unsere Erfahrung, wir aber von Gottes Eigenschaften keine Erfahrung haben,
können wir auch nicht die Natur des göttlichen Wesens erkennen. Auffallend ist, daß in dieser
Kritik der Möglichkeit der Vernunfterkenntnis ein Anliegen spürbar ist, das bereits in Formen
des alten Skeptizismus wirksam war und bei Kant wieder auftreten wird: Gegenüber den
fruchtlos erscheinenden Versuchen, in den zentralen religiös-weltanschaulichen Lebensfragen
eine Entscheidung durch Vernunftargumente zu gewinnen, wird betont, daß die persönliche
Stellungnahme zu diesen Fragen niemandem durch eine Beweisführung abgenommen werden
könne, die mit der Sicherheit einer Berufung auf direkt aufweisbare Gegebenheiten
vergleichbar wäre.. Diese Zurückhaltung hat sich nicht nur auf die Gottesfrage gerichtet,
sondern auch auf andere weltanschauliche Standpunkte, wie etwa auf den mechanistischen
Materialismus. Gerade Berkeley (1684-1753) hat die empiristische Kritik verwendet, um die
Mei- |47 nung zu kritisieren, aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis lasse sich eine
mechanistische Vorstellung der Wirklichkeit beweisen.
1.3.3 Physikotheologie
Parallel dazu wurde von Naturwissenschaftlern und Philosophen an der Wende vom 17. zum
18. Jahrhundert die Nähe Gottes, wie sie sich in den Wundern der Schöpfung, vor allem in
sinn- und zweckvollen Naturerscheinungen, zeigt, herausgestellt.25 Anliegen war, gegenüber
einem Hinausrücken Gottes aus dem Kosmos im Deismus und gegenüber einem Gefühl der
Verlorenheit des Menschen im Universum gerade - wenn auch inspiriert von christlichem
Glauben - angesichts der Sinnhaftigkeit von Naturobjekten, z. B. von Instinkthandlungen oder
dem Bau des Auges,26 zu fragen: »Zeigt sich nicht in solchen Erscheinungen, daß es da ein
unkörperliches, lebendiges, intelligentes Wesen gibt?«27 Vor diesem Hintergrund nennt Kant
den Gottesbeweis aus der Beobachtung von Zweckmäßigkeit in der Natur
»Physikotheologie«.
Literatur
Allgemein:
W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, 1: Wesen, Aufstieg und Verfall der Philosophischen Theologie, Darmstadt
1971 J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Freiburg 1 51961, II 41960
Qu. Huonder, Die Gottesbeweise, Stuttgart 1968
Artikel »Gott«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, III, Basel 1974, 721-814
speziell für die Neuzeit:
U. Neuenschwander, Gott im neuzeitlichen Denken, 2 Bde., Gütersloh 1977
H. Küng, Existiert Gott?, München 1978
W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 41969
Religionskritik:
H. Zirker, Religionskritik (Leitfaden Theologie 5), Düsseldorf 1982
K. H. Weger (Hrsg.), Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Autorenlexikon von Adorno bis
Wittgenstein, Freiburg 1979
25
S. Parker (1640-1688), Tentamina physico-theologica de Deo, London 1665; W. Derham, Physicotheology,
London 1713, deutsch 1732.
26
Vgl. I. Newton, Optics,31721.
27
Ebd. gegen Schluss.
INHALT:
Einleitung
S. 11-12
Die Gottesfrage im philosophischen Denken
S. 13-48
Das griechische Denken
Die Frage nach dem Urgrund
Philosophisches Fragen
Wissenschaft und Weltanschauung Geschichtlichkeit
Philosophie und Leben Philosophische Begriffsbildung
Theologie bei Platon und Aristoteles
Antike Lebensweisheit
Christlicher Gottesglaube und Philosophie
Anfänge christlichen Denkens Scholastik Thomas von Aquin
Einheit und Vielfalt von Ansätzen
Fragestellungen neuzeitlicher Philosophie
Das neue Ideal der Wissenschaft Das erkenntniskritische Anliegen
Rationalismus Empirismus
Physikotheologie
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