Zum Umgang mit Gewalt in der Schule

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1
Zum Umgang mit Gewalt in der Schule- Möglichkeiten und
Grenzen pädagogischer Maßnahmen
Schriftliche Abschlußarbeit im Rahmen
des Magisterstudiengangs (Magisterarbeit),
angefertigt im Hauptfach Erziehungswissenschaft,
Teilgebiet Schulpädagogik
an der FernUniversität Hagen
Vorgelegt von Inge Seiler
April 1998
Gliederung
Seite
1
Einleitung
1
2
Theoretischer Hintergrund und Begriffsbestimmmungen
1
2.1
2.1.1
2.1.2
2.1.3
Zur Definition und Dimensionen von Gewalt
Enger und weiter Gewaltbegriff
Abgrenzung zum Begriff Aggressivität
Zwischenergebnis ad 2.1
1
1
3
5
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
Der Begriff "Schule" im thematischen Kontext
Grundlegende Definition von Schule als Sozialisationsinstanz
Gesellschaftliche Funktion von Schule
Der heimliche Lehrplan- eine Variante struktureller Gewalt
Zwischenergebnis ad 2.2
6
6
7
8
10
2.3
Pädagogische Maßnahmen im thematischen Kontext
10
3
Erscheinungsformen von Gewalt und Aggression in der Schule
11
3.1
Schulspezifische Definition von Gewalt
11
3.2
3.2.1
Empirsche Befunde über das Ausmaß von Gewalt in der Schule
Untersuchung von Schwind et. al
13
14
2
3.2.2
3.2.3
3.2.4
Studie von Dettenborn und Lautsch
Studie von Niebel et al
Studie von Greszik et al
15
16
17
3.3
3.3.1
Zwischenfazit ad 3
Exkurs: Rassistische und rechtsextreme Gewalt in der Schule
18
19
4
Ursachen, Analysekonzepte und Erklärungsmodelle für Gewalt in der
Schule
20
4.1
Ursachenzuschreibung für Gewalt aus Sicht unterschiedlicher Gruppen 21
4.2
Unterschiedliche Bedingungskonstellationen für schulische Gewalt
Erklärungsmodelle für die Genese von
Gewalt und Aggression in der Schule
4.3.1
Psychologische Sichtweisen
4.3.1.1 Trieb- und Instinkttheorie
4.3.1.2 Lerntheoretischer Erklärungsansatz
4.3.1.3 Frustrations-Aggressions-Hypothese
4.3.2
Sozialisations- und schultheoretische Perspektiven
4.3.2.1 Anomietheorie bezogen auf die Institution Schule
4.3.2.2 Gewalt als Ausdruck von Individualisierungstendenzen
und Desintegration
4.3.2.3 Weitere Betrachtungsweisen: Sozialökologischer und
interaktionstheoretischer Ansatz
22
4.3
23
23
23
24
26
29
30
31
33
4.4
Fazit zu Abschnitt 4
32
5
Der Umgang mit schulischer Gewalt: Ansätze und Modelle zu Prävention
und Intervention
33
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
Interventionsprogramm gegen Mobbing in der Schule nach Olweus
Theoretischer Hintergrund
Umsetzung und Inhalte des Interventionsprogramms
Evaluation
Einordnung
34
34
37
39
40
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
Gewaltfreier Umgang mit Konflikten anch Walker
Kurzbeschreibung des Projekts: Projektträger/Projektgeschichte
Theoretischer Hintergrund
Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept
41
41
42
43
3
5.2.4
Einordnung
44
5.3
5.3.1
5.3.2
Lebenswelt Schule in Berlin (Hensel).
Projektdarstellung und Umsetzung
Einordnung
45
46
48
5.4
5.4.1
5.4.2
5.4.3
5.4.4
5.4.5
Soziales Lernen nach Lerchenmüller
Kurzdarstellung des Projekts/Projektgeschichte
Theoretischer Hintergrund
Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept.
Evaluation
Einordnung
49
49
49
50
51
52
5.5
5.5.1
5.5.2
5.5.3
5.5.4
Trainingsprogramm/ Fortbildung für LehrerInnen: Das Konstanzer
Trainingsmodell
Theoretischer Hintergrund
Umsetzung des Programms
Evaluation
Einordnung
53
54
54
55
56
5.6
5.6.1
5.6.2
Zusammenfassener Überblick ad 5
56
Exkurs: Persönlichkeitsförderung nach Burow et al
58
Exkurs: Praxisempfehlungen zum Verhalten in gewalttätigen Situationen
6
Sozialpädagogische und rechtliche Präventions- und
Interventionsmöglichkeiten
Schulsozialarbeit
Rechtliche Maßnahmen am Beispiel des Niedersächsischen
Schulgesetzes
6.1
6.2
7
7.1
Resümee
Ausblick/ Perspektiven
Anhang: Literaturverzeichnis
61
61
62
64
67
60
4
1
Einleitung
Auf der Innenseite des Buchdeckels einer Fachpublikation mit dem Titel "Überlebenskampf im
Klassenzimmer" findet sich folgender Problemaufriß, der die von mir gewählteThematik
anschaulich machen soll:
"Prügelei, Schikane, Erpressung und kleine Seelendramen- im Klassenzimmer geben immer mehr Faustrecht
und kalte Verachtung den Ton an. Zahlreiche Eltern und Lehrer schließen die Augen vor der sich immer
weiter verschärfenden Lebenssituation von Jugendlichen, denn das Gewaltpotential scheint umfassend und
tiefgehend wie noch nie. Doch was steckt wirklich dahinter? Wie kann man damit umgehen?" (Langer,1994)
Im Rahmen dieser Literaturarbeit werde ich mich mit dem Phänomen Gewalt in der Schule und
darauf bezogene pädagogische Prävention und Intervention auseinandersetzen. Der Umgang mit
Gewalt in der Schule ist aus meiner Sicht maßgeblich bestimmt durch die jeweilige Perspektive.
Hier stellen sich Fragen wie: Wer betrachtet und beurteilt das Phänomen Gewalt, welche
Auffassung von Gewalt liegt dieser Wertung zugrunde? Ich werde mich daher in meinen
Ausführungen zunächst auf die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und theoretischer
Grundlagen im Kontext mit Gewalt in der Schule konzentrieren. Darauf aufbauend stelle ich
dann eine Auswahl von aktuellen Ansätzen und Modellen zum Umgang mit schulischer Gewalt
vor. Diese sollen im Hinblick auf ihre theoretische Fundierung und ihre pädagogische
Reichweite betrachtet werden. Am Ende der Arbeit steht ein Resümee und Ausblick.
2
Theoretischer Hintergrund und Begriffsbestimmungen
Der Gewaltbegriff im thematischen Zusammenhang, die Bedeutung von Schule als
gesellschaftliche Institution sowie die Begriffe Prävention und Intervention als pädagogische
Maßnahmen werden unter Kapitel 2 abgehandelt. Insbesondere soll dadurch das Thema der
Arbeit und ihr theoretischer Hintergrund eingegrenzt und verdeutlicht werden.
2.1
Zur Definition und zu Dimensionen von Gewalt
Eine Annäherung an eine Konzeption des Gewaltbegriffs -zunächst abstrahiert vom Kontext
Schule- erfolgt durch die exemplarische Darstellung einiger Positionen in der Literatur. Vor
diesem Hintergrund werde ich später unter 3 eine Einordnung der Definition von schulischer
Gewalt vornehmen.
2.1.1 Enger und weiter Gewaltbegriff:
"Gewalt" ist im deutschsprachigen Raum ein Begriff mit vielen verschiedenen Bedeutungen. Im
Alltaggsverständnis erfährt der Gewaltbegriff eher eine negative Nuancierung und wird nicht
5
von dem Begriff Aggression abgegrenzt. Dennoch kann Gewalt eine positive Konnotation
beinhalten. So weist Rauschenberger darauf hin, daß Gewalt historisch auf das Wort "walten"
zurückgehe (vgl. Rauschenberger, 1995, S.39). Unter "walten" wurde die Tätigkeit einer Macht
verstanden, der man eine gestaltende und ordnende Funktion zuschrieb. Reste seien insbesondere
in Formulierungen wie "Anwalt", "Verwaltung" oder dem "Walten der Natur" zu finden (vgl.
ebd.). In den folgenden Ausführungen wird jedoch insbesondere auf die negativ besetzte
Definition von Gewalt abgestellt.
Eine ebenfalls von der Wortbedeutung ausgehende Definition ist die von
Forschner(1985). Er weist auf zwei semantische Schwerpunkte des Wortes Gewalt hin:
"(...) es wird einmal nahezu bedeutungsgleich mit "Macht" verwendet: im weiten Sinn der Fähigkeit,
Wirkungen hervorzubringen (lat. potentia), der Fähigkeit , über etwas zu verfügen, im engeren (sozialen)
Sinn der Herrschaft über Menschen (lat. potestas), wobei mit Gewalt qua Herrschaft meist sowohl die
juridische Herrschaftsbefugnis wie die Fähigkeit zur Erzwingung von Verhalten gemeint ist. Der zweite
semantische Schwerpunkt leitet sich her vom lateinischen vis (physische Kraft, Stärke), (...) und violentia
(der Anwendung der physischen Kraft auf ein anderes Lebewesen oder dessen Habe gegen dessen Willen)"
(Forschner,1985, S.16).
Diese Definition verdeutlicht die Dimensionen von Gewalt als gestaltende Machtausübung bis
hin zur physischen Gewalttätigkeit. Die Dimension der Ausübung psychischer Gewalt oder
psychisch wirkendem Zwang kommt in dieser Definition explizit nicht vor, was gleichzeitig
einen Kritikpunkt an diesem Ansatz darstellt. Tendenziell geht dieser Ansatz von einem engen
Gewaltbegriff aus.
Die "Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt"
(Gewaltkommission) legte 1990 ihrem Gutachten einen Gewaltbegriff zugrunde, der Gewalt als
"zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen" definiert und
ergänzend "körperliche Angriffe auf Sachen einbezieht" (vgl. Schwind/Baumann, 1990, S.35f).
Hier wird demnach von Gewalt als vornehmlich physische Handlung gegen einen anderen
Menschen oder einen Gegenstand ausgegangen (Gewalt im Sinne von "Handanlegen"), was einer
restriktiven Konzeption des Gewaltbegriffs entspricht.
Theunert (1987) sieht Bestimmungskriterien für Gewalt nicht nur in der bewirkten Schädigung,
sondern betrachtet auch die Verknüpfung ihrer Ausübung mit den Phänomenen Macht und
Herrschaft. Dabei wird zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen differenziert:
"In situativen Machtverhältnissen ist die Ungleichverteilung von Machtmittelm primär situationspezifisch
geprägt, in generellen Machtverhältnissen dagegen langfristig und eindeutig zugunsten eines Parts geregelt
und meist gesellschaftlich sanktioniert" (Theunert, 1987, S.41).
Theunert hinterfragt die situativen gesellschaftlichen Bedingungszusammenhänge im Kontext
der auftretenden Gewalt und geht von einem dahingehend erweiterten Gewaltbegriff aus.
6
Eine Definition, die sich ebenfalls an einem weiten Gewaltbegriff orientiert, findet sich bei
Kwiatkowski, der Gewalt wie folgt definiert:
"Anwendung physischen (Zufügung körperlichen Schmerzes, Einschränkung der Bewegungsfreiheit) oder
psychischen (z.B. Drohung oder Erpressung) Zwangs im allgemeinen in der Absicht, in einem
Interessenkonflikt dem eigenen Willen gegen Widerstand Geltung zu verschaffen. Zur Kennzeichnung
institutioneller Zwänge (z.B. ungerechte Eigentumsordnung, fehlende Chancengleichheit), die die
Selbstverwirklichung bestimmter Individuen oder Gruppen innerhalb einer Gesellschaft verhindern, spricht
die kritische Gesellschaftstheorie von struktureller d.h. nicht personaler Gewalt" (Kwiatkowski 1985, S.164)
Der terminus der "strukturellen Gewalt" geht auf Galtung (1971) zurück. Danach geht Gewalt
nicht nur von Personen aus sondern auch von den Rahmenbedingungen des Lebens wie
Rechtsnormen, Kulturnormen etc. Gesellschaftliche Strukturen, die Handlungen gegen den
Willen erzwingen und dabei köperliche und/ oder seelische Verletzungen zur Folge haben, üben
"strukturelle Gewalt" aus. Zu differenzieren ist zwischen Gewalt als (inter)personales und
Gewalt als strukturelles Phänomen. Galtungs eher offene Gewaltdefinition lautet:
"Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige
Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung" (Galtung, 1971, S.119).
Diese Definition wirft - auch nach Intention ihres Autors - einige Fragen auf. Unklar ist
insbesondere, aus wessen Perspektive die "aktuelle oder potentielle Verwirklichung" der
Betroffenen definiert wird. So taucht in Galtungs Konzeption kein objektiver Dritter auf, der
diese zuätzlich auch intraindividuell zu erfassende Dimension berurteilt.
2.1.2 Abgrenzung zum Begriff Aggressivität
Im gegenwärtigen pädagogischen Alltag gibt es kaum ein Schlagwort, daß der Vieldeutigkeit des
Begriffs Aggression nahekommt. Unscharf erscheinen einige Definitionen bezüglich der
Abgrenzung von Gewalt und Aggressivität bzw. Aggression.
Fromm beschreibt menschliche Aggressivtität differenziert:
"Wir müssen beim Menschen zwei völlig verschiedene Arten der Aggression unterscheiden. Die erste Art,
die er mit allen Tieren gemeinsam hat, ist ein phylogenetisch programmierter Impuls, anzugreifen (oder zu
fliehen) sobald lebenswichtige Interessen bedroht sind. Diese defensive "gutartige" Aggression dient dem
Überleben des Individuums und der Art; sie ist biologisch angepaßt und erlischt, sobald die Bedrohung nicht
mehr vorhanden ist. Die andere Art, die "bösartige" Aggression, das heißt die Destruktivität und
Grausamkeit, ist spezifisch für den Menschen und fehlt praktisch bei den meisten Säugetieren; sie ist nicht
phylogenetisch vorporgrammiert und nicht biologisch angepaßt; sie dient keinem Zweck und ihre
Befriedigung ist lustvoll" (Fromm 1994, S.20).
Deutlich wird aus dieser Definition, daß Aggression beim Menschen, die sich im negativen Sinn
als Destruktivität äußert, erworben und daher gelernt sein muß, sofern sie nicht originär der
instinktiven Verteidigung dient.
7
Ferstl, Niebel und Hanewinkel(1993) definieren Aggression synonym mit Gewalt:
"Insgesamt werden unter Gewalt/Aggression gerichtete oder intentionale Verhaltensweisen gefaßt, die andere
schädigen bzw. destruktiv oder aversiv sind. Die Zuschreibung von Gewalt hängt dabei im Alltag von
Bezugssystemen der Beurteiler ab bzw. auch von situativen und normativen Kriterien der Angemessenheit
(...) Für Gewalt wie für aggressives Verhalten gelten: Ihr interaktiver Charakter ist zu berücksichtigen
gegenüber einem ausschließlichen Verständnis der Gewalt als Eigenschaft. (...) Auf Grund ihrer
Modellwirkungen, aber vor allem auch auf Grund ihres evozierenden Charakters müssen verbale und
nonverbale Androhung, aber auch der umgangssprachliche Gebrauch von Gewaltausdrücken als
Gewalttendenzen unterstützende Verhaltensweisen mitberücksichtigt werden (...) Unsere Defintion nimmt
also den im Vorfeld von Gewalt und aggressiven Handlungen stehenden verbalen und nonverbalen
Gewaltausdruck mit auf, der häufig mit psychischem Zwang verbunden ist" (Ferstl u.a.1993, S. 6f).
Dieser Definition liegt ein weites Gewaltverständnis zugrunde. Hervorzuheben ist der Hinweis
auf situativen Kontext und Bezugssystem der BeurteilerInnen. Jedoch fehlt es in dieser
Definition an einer klaren Abgrenzung von Gewalt und Aggression, so daß die Ausführungen
diesbezüglich nicht der Begriffsklärung dienen.
Eine anschauliche Definition von Aggression findet sich bei Ortner und Ortner (1991):
"Damit kann man Aggressivität im übergreifenden Sinn als ein Verhalten verstehen, das unter dem
dranghaften Antrieb steht, Personen oder Objekte in verletzender oder zerstörerischer Absicht anzugreifen
und ihnen verbal oder körperliche Schaden zuzufügen, der sich bei Personen psychisch oder physisch
auswirken kann" (dieselben, 1991, S.110).
Auch hier erfolgt innerhalb der Definition keine Abgrenzung zum Terminus Gewalt, so daß sie
für die Differenzierung nicht beitragen kann.
Auf diese Differenzierung stellen jedoch Hurrelmann und Palentien ab. Sie konstatieren, daß der
Aggressionsbegriff nicht dem Gewaltbegriff gleichgesetzt werden dürfe sondern einen
übergeordneten Status beinhalte. Der Aggressionsbegriff bezeichne eine auf Verletzung eines
anderen Menschen zielende Handlung. Dabei werde die offene Handlung als Aggression, die
Absicht zur Handlung hingegen als Aggressivität bezeichnet. Tradititionell werde unter Gewalt
die körperliche Aggression verstanden, bei der ein Mensch einem anderen Menschen schaden
mittels physischer Stärke zufüge. Daraus folge, daß körperliche Gewalt eine Teilmenge von
Aggression darstelle (vgl. dieselben, 1995, S.15).
Dieser Auffassung ist auch Forschner, wenn auch mit anderer Begründung. Er akzentuiert, daß
die Bedeutung des Wortes "aggressiv" weiter sei, als die des Wortes "Gewalt":
"Als aggressiv läßt sich jede Art aktiven und reaktiven Verhaltens von Lebewesen beschreiben, das auf
Störung, Verletzung, Verdrängung oder Vernichtung des Lebens, Strebens, Befindens und Selbstbewußtseins
anderer Lebewesen (bzw. Personen) gerichtet ist. Gewalttätigkeit bzw. Drohung mit Gewalt ist so gesehen
8
nur eine (wenngleich paradigmatische) Form von aggressivem Verhalten gegenüber Mitgliedern der eigenen
Art oder solcher anderer Arten" (Forschner, 1985, S.21).
Eine weitere Differenzierung zwischen Gewalt und Aggression findet sich bei Nolting. Er trifft
eine Abgrenzung, indem er nur schwerere Formen der Aggression als Gewalt bezeichnet,
insbesondere körperliche Formen der Aggression, nicht dagegen Schimpfen oder böse Blicke
(vgl. Nolting, 1997, S. 25). Allerdings führt er aus, daß der Begriff der strukturellen Gewalt nicht
unter den Oberbegriff Aggression zu subsumieren sei. Er begründet dies mit dem Hinweis, daß
die Schädigung durch strukturelle Gewalt nicht durch aktives zielgerichtetes Verhalten durch
sichtbare Akteure herbeigeführt werde (vgl.derselbe, a.a.O., S.26). Die folgende Abbildung soll
dieses Verhältnis verdeutlichen:
Strukturelle Gewalt
Gewalt
Personale
Gewalt
Aggression
Andere (nichtgewaltsame Aggression
( Abb.nach Nolting, 1997, S.26)
Die Definition von Hurrelmann und Palentien soll als Beispiel für eine mehr-dimensionale
Erfassung von Gewalt dienen, die Aggression und Gewalt in ihrer Konzeption nicht
differenziert. Sie definieren (in Anlehnung an Bründel/Hurrelmann 1994) sechs Kategorien von
Gewalt:
-
"- physische Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch körperliche Kraft und Stärke;
-
psychische Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch Vorenthalten von Zuwendung
und Vertrauen, durch seelisches Quälen und emotionales Erpressen;
-
verbale Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch beleidigende, erniedrigende und
entwürdigende Worte;
-
sexuelle Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch erzwungene intime
Körperkontakte oder andere sexuelle Handlungen, die dem Täter eine Befriedigung eigener Bedürfnisse
ermöglichen;
-
frauenfeindliche Gewalt als physische, psychische, verbale oder sexuelle Formen der Schädigung und
Verletzung von Frauen, die häufig unter Machtausübung und in diskriminierender und erniedrigender
Absicht vorgenommen werden;
-
fremdenfeindliche und rassistische Gewalt als physische, psychische und verbale Formen der
Schädigung und Verletzung eines anderen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit.
Von diesen zwischenmenschlichen Formen der Gewalt sind zwei weitere Ausprägungen zu unterscheiden:
-
strukturelle Gewalt als physische, psychische und verbale
9
-
Form der Verletzung und Schädigung eines anderen unter Ausnutzung von Macht, Hierarchie und
Abhängigkeit sowie in Ausübung hoheitsrechtlicher Funktionen;
-
-»vandalistische« Gewalt als Form der physischen Beschädigung und Zerstörung von Gegenständen
(Hurrelmann u.a.1995, S.16/17)".
Deutlich wird bei diesem anschaulichen Definitionsbeispiel, daß sich Gewalt an bestimmten
Handlungen festmachen läßt. Die Vorzüge dieses Gewaltkonzeptes sind offensichtlich: Es liefert
ein grobes Orientierungsraster, in das entsprechendes Verhalten als (interpersonale) oder
strukturelle Gewalt eingeordnet werden kann.
2.1.3 Zwischenergebnis ad 2.1:
Gewalt in seiner negativen Wortbedeutung kann sich durch physisch, psychisch und strukturell
wirkenden Zwang gegenüber Gruppen und Individuen sowie Gegenständen äußern. Der
Aggressionsbegriff ist seiner Funktion nach dem Gewaltbegriff grundsätzlich übergeordnet, läßt
sich jedoch aufgrund der Fülle von überschneidenden Definitionen nicht trennscharf vom
Gewaltbegriff abgrenzen.
Trotz begrifflicher Abrenzungskriterien scheint ein Trend dahingehend zu bestehen, durch
Begriffs-Kombinationen wie "sexuelle Gewalt", "psychische Gewalt", "verbale Gewalt" den
Aggressionsbegriff zugunsten des Gewaltbegriffs in den Hintergrund treten zu lassen. Mit der
Folge eines zum Teil als "inflationär" zu bezeichnenden Verwendung des Gewaltbegriffs.
2.2
Der Begriff "Schule" im thematischen Kontext
Die schulische Gewaltproblematik sowie der Umgang damit werden im Rahmen dieser Arbeit
nicht explizit schulform- oder schulstufenspezifisch thematisiert. Schule wird von mir
schwerpunktmäßig als eine auf alle Beteiligten einfluß-nehmende Sozialisationsinstanz
verstanden.
Dabei gehe ich von der weit angelegten und umfassenden Sozialisationsdefinition in Anlehnung
an Geulen und Hurrelmann aus, die besagt, daß " (...) Sozialisation der Prozeß der Entstehung
und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich
vermittelten sozialen und materiellen Umwelt (...) " (Geulen/Hurrelmann,1980, S.51) ist. Im
Vordergrund steht dabei "wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen
Subjekt bildet" (vgl. ebd.).
Aus der Definition folgt, daß sämtliche Umweltbedingungen wie Verhältnisse in Elternhaus,
Arbeitsplatz und somit auch und gerade die Schule auf die psycho-soziale Entwicklung des
Subjekts Einfluß nehmen. Der Passus "gesellschaftlich vermittelte soziale und materielle
Umwelt" impliziert, daß Umweltbedingungen gesellschaftlich determiniert sind. Im folgenden
10
Abschnitt soll Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz und in ihrer gesellschaftlichen
Funktion problematisiert werden.
2.2.1 Grundlegende Definition von Schule als Sozialisationsinstanz
Eine SchülerIn verbringt einen Großteil ihrer Lebenszeit im Kindheits- und Jugendalter in der
Schule. Als Institution stellt Schule eine Einrichtung dar, "die nach bestimmten Regeln des
Arbeitsablaufes und der Verteilung von Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter im Rahmen
eines größeren Organisationssystems eine bestimmte Aufgabe erfüllt" (Hartfiel, 1972, S. 105).
Sie verfügt dabei über einen materiellen Apparat (Gebäude/ Instrument/ Techniken) und wird
von Personen getragen, die zueinander in Rollenbeziehungen stehen (vgl. Fend 1969). Schule als
gesellschaftlich determinierte Institution dient gezielter Beeinflussung der Sozialisanden.
Gesellschaftlich erwünschte Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen sollen vermittelt
werden, wodurch Schule für die Sozialisation des gesellschaftliche Nachwuchses sorgt (vgl.
Tillmann 1994, S.109). Dies erfolgt durch ein geplantes System und kontinuierlichen Unterricht,
inhaltlich und methodisch orientiert am staatlichen Lehrplan. Traditionell besteht daher zwischen
LehrerIn und SchülerIn ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis- institutionell bedingt- wobei
die Teilnahme am Unterricht für beide Parteien nicht freiwillig ist: SchülerInnen unterliegen der
gesetzlichen Schulpflicht, LehrerInnen sind als öffentlich Bedienstete, zumeist verbeamtet,
integraler Teil der Schule und zum Unterricht dienstverpflichtet. Damit haftet Schule ein
"Zwangscharakter" an (vgl. dazu Schirp, 1989, S.125).
Ulich (1991) systematisiert die schulischen Sozialisationsbedingungen, indem er sie in "Strukturund Prozeßdimensionsionen" unterteilt. Als Strukturdimensionen führt er folgende auf: Schule
als Institution, Schulsystem (Organisation und Differenzierung von Schule und Unterricht),
Schulklasse als organisatorische Grundeinheit, Struktur der Lehrer-Schülerinteraktion. Als
Prozeßdimensionen benennt Ulich: Normierung und Kontrolle des Schülerverhaltens, Leistung,
Leistungsbewertung, Selektion, Unterricht als Vermittlung von Inhalten durch
Kommunikationsprozesse (vgl. derselbe, 1991, S.381). An dieser systematisierenden Aufzählung
wird die Mehrdimensionalität des Sozialisationsfeldes Schule deutlich.
2.2.2 Gesellschaftliche Funktion von Schule
Die Problematisierung der Funktion von Schule als Institution im gesellschafltichen und
politischen Kontext entstand vor dem Hintergrund der strukturell-funktionalen Theorie des
Amerikaners Talcott Parsons (1902-1979), die hier kurz skizziert werden soll. Danach wird
Schule als ein Subsystem innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems begriffen. Der Begriff
Struktur beschreibt den statischen, Funktion den prozeßhaft- dynamischen Aspekt eines Systems
(vgl. Tillmann, 1994, S. 114). Als Subsystem soll Schule zur Stabilisierung des Gesamtsystems
11
Gesellschaft beitragen. Diese Stabilität erfolgt nach der Systemtheorie auf der Makroebene,
wenn in der Mikroebene dahingehende Integrationsprozesse erfolgen. Die
Integration des Nachwuchses erfolgt -vereinfacht ausgedrückt- durch
allgemeiner gesellschaftlicher Rollenerwartungen, vermittelt über
LehrerIninteraktion. Insbesondere über diese Interaktion werden auch
zugewiesenen Aufgaben und Funktionen "abgewickelt".
gesellschaftliche
Verinnerlichung
die SchülerIndie der Schule
Die "Qualifikationsfunktion" von Schule beinhaltet die Aufgabe, den SchülerInnen Kenntnisse
zu vermitteln, die für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (z.B. Behörden, Schrift- und
Zahlungsverkehr) sowie innerhalb des Beschäftigungssystems einsetzbar sind. Sogenannte
"funktionale Qualifikationen" sind dabei Rechnen, Lesen, Schreiben als Kulturtechniken bis hin
zu naturwissenschaftlichen Kenntnissen. Unter "extrafunktionalen Funktionen" sind
Arbeitstugenden wie Leistungsbereitschaft, Ordnung, Pünktlichkeit und Ausdauer zu verstehen,
die von Schule beeinflußt werden (zum Ganzen vgl. Fend 1980 zit. nach Gudjons, 1995, S. 242).
Neben der "Qualifikationsfunktion" wird Schule in der Literatur noch "Selektions- und
Allokationsfunktion" zugwiesen. Die Selektion von SchülerInnen impliziert die Sortierung von
Schülern in Schullaufbahnen nach Leistung(z.B. Orientierungsstufe). Die Allokation von
SchülerInnen erfolgt je nach Qualität des erreichtes Schulabschlusses und umfaßt die Zuweisung
zu bestimmten beruflichen Positionen (vgl.ebd.). Dadurch erfolgt auch die Zuweisung eines
sozialen Status.
Eine weitere Aufgabe von Schule ist deren "Integrations- und Legitimationsfunktion". Zum
einen umfaßt diese die gesellschaftliche Integration von SchülerInnen über die Vermittlung von
Verfassungsnormen, die sowohl die Menschenrechte als auch Rechtstaatlichkeit beinhalten. Zum
anderen werden gesellschaftliche Prinzipien wie "Lohn durch Leistung", Ausübung von Macht
und Herrschaft vermittelt. Dadurch soll bei den SchülerInnen Loyalität zu dem gesellschaftlichen
und politischem Wertesystem erzeugt werden. Schule bemüht sich daher darum, im Unterricht
die Gültigkeit und Verbindlichkeit von gesellschaflichen Werte und Normen zu vermitteln, sie
legitimiert damit diese.
Aber auch über den Unterricht hinaus hat Schule Legitimationsfunktion (vgl. Fend 1980 zit.nach
Gudjons 1995 S.242). Durch den "heimlichen Lehrplan" werden gesellschaftlich
bedeutungsvolle Einstellungen wie Konkurrenzprinzip, Über-Unterordnungsprinzip, Gewöhnung
an Fremdbestimmung vermittelt. Dies soll im folgenden Abschnitt ausgeführt werden.
2.2.3 Der heimliche Lehrplan- eine Variante struktureller Gewalt
Der Begriff des heimlichen Lehrplans geht zurück auf Bernfeld. Grundgedanke Bernfelds ist,
daß Schule als Institution erziehe.(vgl.Bernfeld, 1925/1967, S.28). Folgendes Zitat soll seine
Einstellung zusammenfassen:
12
"Die Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unterrichts gedacht und nicht als Verwirklichung solcher
Gedanken entstanden, sondern sie ist da, vor der Didaktik und gegen sie. Sie entsteht aus dem
wirtschaftlichen-ökonomischen
und
finanziellem-Zustand,
aus
den
politischen
Tendenzen
der
Gesellschaft"(Bernfeld 1925/1967 S.27).
Der "heimliche Lehrplan" oder auch der "nichtamtliche, versteckte" Lehrplan stellt auf die
Interaktionsbeziehungen der am Unterricht Beteiligten innerhalb der Institution Schule ab.
"Sozialisationseffekte" wie Konkurrenzverhalten, Ausrichtung auf Belohnung, konformes
Verhalten etc. sind Ergebnis mehrjährig erfolgter Einübung in schulischen
Kommunikationsprozessen. So betont Tillmann, daß SchülerInnen vom ersten Schultag an das
Einordnen in eine institutionell festgesetzte Beziehungsstruktur (SchülerIn/LehrerInbeziehung)
lernten, die das Unterordnen unter den LehrerInnenwillen zur Grundlage habe (vgl.Tillmann
1994, S.170). Die hierarchische Kommunikationsweise führe dabei zu einer generellen
Konformitätsorientierung. SchülerInnen lernten, sich in ein angelegtes Machtsystem von ÜberUnterordnung einzufügen (vgl.ebd.).
Einige der wichtigsten schulischen Erziehungseffekte der Schule durch den "Heimlichen
Lehrplan" hat Kandzora (1996) zusammengefaßt. Insbesondere halte ich folgende der von ihr
katalogartig angeführten Aspekte des "heimlichen Lehrplans" für relevant:
- -Pflichtcharakter schulischen Lernens,
- -Hierarchie der Schule als Organisation
- -Reduktion der Persönlichkeit im Bereich der Emotionen und des Handelns
- -Objektstatus gegenüber dem Lernprozeß
-
-Ausrichtung des Lernens an äußeren Vorgaben
-Orientierung des Lernens auf Bewertung und formale Leistungskriterien
Einüben von Konkurrenzverhalten,
-Anpassung an Lehrererwartungen
-Standardisierung von Lernformen und damit der Lernenden gemäß Lehrerintentionen
-Atomisierung und Parzellierung von Lernen
-Disziplinierung
-bürokratisierter Ablauf
-institutionelle Vorgabe räumlicher und zeitlicher Strukturen
-Rituale und Interaktionsformen, die dem demokratischen und selbstbestimmten Handeln
von SchülerInnen entgegenstehen.
(vgl. Darstellung bei Kandzora a.a.O., S.71)
Aus dieser Aufstellung folgt, daß sich eine kritische Betrachtung der sozialisatorischen
Auswirkungen von Schule auf die Sozialisanden keinesfalls nur auf die Gestaltung von
Unterricht reduzieren darf. Es bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, um Schule in ihren
13
Sozialisationseffekten zu erfassen. Struck (1994) betont, daß Schule selbst auch gewalttätig sei.
Er begründet seine Auffassung damit, daß sich Schule nicht auf eine veränderte Schülerschaft
einstelle. Das Fachlehrer- und Kurssystem mit seinem wissenschaftsorientiertem Unterricht finde
in übergroßen Systemen statt. Ohne Klassenlehrerpädagogik, ohne Präventionspädagogik und
ohne sozialpädagogische Kompensation würden die veränderten Familien- und
Gesellschaftsstrukturen vernachlässigt (vgl. derselbe, a.a.O., S. 43/44). Schule übt Struck
folgend dadurch strukturelle Gewalt aus.
2.2.4 Zwischenergebnis ad 2.2
Insgesamt läßt sich feststellen, daß Schule neben dem familialen Einfluß eine Schlüsselfunktion
für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen einnimmt. Als Strukturelement des
gesellschaftlichen Systems vermittelt Schule durch den "Lehrplan hinter dem Lehrplan"
gesellschaftlich relevante Verhaltensweisen wie Über-Unterordnung durch asymmetrische
Kommunikationsstrukturen und Gewöhnung des Individuums an Fremdbestimmung.
Konkurrenz- und Leistungsdruck werden über das System von Leistungsforderung und beurteilung vermittelt. Der Aspekt der Konformitätsorientierung, der Vermittlung einer
Werteordnung durch Lerninhalte, die das System Gesellschaft nicht gefährden sondern
stabilisieren, erscheinen dabei vordergründig. Als Institution mit all ihren organisatorischen
Abläufen, die weitgehend nicht von SchülerInnen partizipatorisch beeinflußbar sind (vgl.
Stichwort"Heimlicher Lehrplan"), übt Schule strukturelle Gewalt aus.
2.3
Pädagogische Maßnahmen im thematischen Kontext
Pädagogische Maßnahmen als Formen des Umgangs mit schulischer Gewalt sollen im Rahmen
dieser Arbeit insbesondere als professionelle Handlungsmöglichkeiten verstanden werden, wie
sie auch in der Definition von Intervention und Prävention zum Ausdruck kommen. Es werden
insbesondere komplexe Konzepte/Modelle berücksichtigt, keine isolierten Maßnahmen. Die
Begriffe Intervention und Prävention entstammen nicht originär der Erziehungswissenschaft, sie
werden daher aus Sicht einer "Nebenwissenschaft", der Sozialpädagogogik, definiert.
Der Terminus Intervention wurde im Bereich der Sozialpädagogik von Geißler und Hege (1985)
etabliert. Danach sind alle systematischen Handlungsweisen in pädagogischen/
sozialarbeiterischen Arbeitssituationen Intervention, sofern sie auf Grundlage theoriegeleiteter
Konzepte, Methoden und Verfahren erfolgen. Dennoch haftet dem Interventionsbegriff eine
gewisse Unkonkretheit und Allgemeinheit an, so daß er sich innerhalb der
Sozialarbeitswissenschaft noch nicht in der Fachsprache durchsetzen konnte. Unter Intervention
im reduzierten Sinn kann auch "Eingriff" verstanden werden, der nach Müllensiefen "(...) ein
Expertenhandeln mit Erfolgsaussicht im Rahmen eines Über-Unterordnungsverhältnisses
14
impliziert (...)" (derselbe, 1993, S. 510). Für den Erfolg einer Intervention ist nach Müllensiefen
jedoch zu beachten,
"(...) daß auch jede fachlich noch so gut gemeinte Interventionen unwirksam bleiben oder sogar gegenteilige
Effekte erzeugen können, wenn sie nicht in die Eigensinnigkeit oder Eigenlogik von Klientsystemen zum
richtigen Zeitpunkt und mit subjektiv angemessenen Einmischungsschritten einfädeln können." (siehe ebd.)
Demnach bedarf es seitens ExpertInnen wohldosierter, situationsbezogener Abwägung, bevor es
zum Einsatz von pädagogischen Maßnahmen kommt.
Der Begriff Prävention ist kein explizit pädagogischer. In der Sozialarbeit werden damit
Anstrengungen erfaßt, die darauf gerichtetet sind, Notlagen zu prognostizieren und deren
Entstehung durch die Entwicklung systematischer und gradueller Strategien zu verhindern.
Prävention setzt das frühzeitige Erkennen von Problemlagen und die Intervention durch
systematisch und graduell aufeinander abgestimmte umfassende Maßnahmen voraus, damit das
Eintreten von Problemlagen verhindert wird. Faltermeier (1993) differenziert zwischen
personen- und strukturbezogenen Präventionsstrategien. Personenbezogene Strategien
konzentrieren sich eher auf die Verhaltenauffälligkeiten einzelner durch kontrollierende,
beraterische oder gar therapeutische Eingriffe. Strukturbezogene Strategien zielen auf die den
Einzelnen oder Gruppen in den Entwicklungs-möglichkeiten hemmenden Lebensbedingungen ab
(vgl. Faltermeier, 1993 S. 730).
3
Erscheinungsformen von Gewalt und Aggression in der Schule
Im Kapitel 3 soll Gewalt "schulspezifisch" problematisiert werden, außerdem soll die
Darstellung ausgewählter empirische Befunde die Dimensionen von schulischer Gewalt und
Aggression verdeutlichen.
3.1
Schulspezifische Definition von Gewalt
Um Gewalt und gewaltförmiges Verhalten in der Schule zu "entlarven" sind Definitionen
erforderlich, die auftretende Phänome und Verhaltensweisen konkretisieren oder für eine
empirische Überprüfung Ansätze für Operationalisierung liefern. Wie bereits oben gezeigt
wurde, besteht für die Begriffe Gewalt und Aggression keine einheitliche Definition oder eine
konsensfähige Differenzierung. Daher man kann man im Kontext Schule von einer Pluralität des
Gewaltverständnisses ausgehen. Anstelle anderer sollen hier zwei schulspezifische
Definitionsansätze dargestellt werden, die eine Klassifizierung von Handlungen und Äußerungen
als gewaltvoll oder aggressiv liefern.
15
Ein praxisorientiertes Definitionsbeispiel findet sich bei Korte (1992). Aggression/Gewalt gegen
andere Personen können sich sowohl verbal als auch tätlich äußern, was folgende Aufzählung
deutlich macht:
"(...) Diebstahl, Erpressung, Schlägerei, Drohung und Beleidigung. Aber auch absichtliches Stoßen,
Rempeln, Schubsen, Ärgern, Grimmassieren, zotige und abfällige Bemerkungen sind gemeint. Auch
absichtliche Fouls im Sport, obszöne Bewegungen, Einsperren oder soziale Isolierung zähle ich zu
aggressivem Fehlverhalten. Nicht gemeint sind einmalige Entleisungen, nicht gewollte Zusammenstöße,
nicht zielgerichtete Clownerien im Unterricht Schwänzen oder Leistungsverweigerung(...)" (Korte, 1992,
S.14)
Korte benennt somit Verhaltensweisen als Konkretisierung aggressiven Verhaltens. Wenn sich
benannntes Verhalten zeigt, soll demnach aggressives Fehlverhalten vorliegen. Zu dieser
Definition kommt Korte indem er Praxisphänomene beschreibt und dann einer Terminologie
zuordnet.
Eine weitere, schulspezifische Darstellung von Gewalt und Aggression findet sich bei Balser
(1997). Nachfolgende soll Übersicht dazu dienen, Dimensionen von Gewalt und Aggression in
der Schule weiter zu spezifizieren:
Gewalt/Aggres sivität in Schulen
Definition - Qualität - Erscheinungsformen
Aggress ives Handeln ist abs ichtsvoll darauf gerichtet,
einen anderen Mens chen phys is ch oder ps ychisch zu verletzen.
A Aggres sion
Kleine/vers teckte Gewalt
B Gewalt
Große/manifes te Gewalt
gegen Mits chüler
quälen, erpress en, s chlagen,
mit Waffen angreifen, berauben...
ängs tigen, bedohen,
anrempeln...
gegen Lehrer
provozieren, Kleidung beschädigen,
Unterricht sabotieren
s chlagen, verletzen, mit Mess er bedrohen,
auflauern,Telefonterror, Drohbriefe...
gegen Sachen
s prayen, bekritzeln, Flaschen werfen,
beschädigen...
zers tören, Vandalis mus, Feuer legen, Autos
beschädigen...
s exuelle Gewalt
anmachen, pöbeln, verbale und
handgreifliche Belästigung...
Rufmord, Vergewaltigung...
Autoaggress ivität
Sich Haare ausreißen,
Gesicht zerkratzen...
s ich verstümmeln, Suizid
16
(Abbildung nach Balser 1997, S.27)
Erläuterung: Ebene A und Ebene B stellen unterschiedliche Aggressionsebenen dar. Balser
differenziert zwischen den Alltagsaggressionen (A= Kleine versteckte Gewalt) und manifester
Gewalt mit Gesetzesverstoßcharakter (B=Große manifeste Gewalt). Beide Ebenen zusammen
sollen die Bandbreite von Gewalt in der Schule aufzeigen. Balser verweist darauf, daß
Alltagsaggressionen (Ebene A) zugenommen hätten, was zu entsprechendem Gruppendruck und
sogenannter "Mobbiisierung"1 in der Schule führe. Dies habe zur Folge, daß sich auf Ebene (B)
das manifeste Gewaltverhalten früher und auch brutaler äußern könne (vgl. derselbe, 1997,
S.27). Allerdings kann der Autor diese Arbeitshypothese anhand aktueller Studien weder
qualitativ noch quantitativ empirsch belegen. Es stellt sich die Frage, an welcher Bezugsgröße
sich die Behauptung der Zunahme schulischer Gewalt orientiert. Dennoch ermöglicht das obige
Modell eine Differenzierung von Gewalthandlungen in der Schule in unterschiedliche Stadien
bzw. Ebenen. Ebene B ist quasi die Steigerung von Ebene A. Die Aufteilung erfolgt jedoch eher
alltags-theoretisch und praxisorientiert. In Balsers Ausführungen findet sich keine theoretische
Fundierung für sein Modell.
Der/ die Gewaltausübende richtet der obigen Abbildung folgend die als gewaltvoll zu
klassifizierende Handlung gegen MitschülerInnen, LehrerInnen, gegen Sachen oder sich selbst.
Damit sind alle potentiell unmittelbar Beteiligten sowie die jeweiligen Ziele einer "Attacke"
benannt. Das Begriffsdual Täter -Opfer wird in dieser Definition vermieden. Sexuelle Gewalt hat
in Balsers Darstellung eine eigene Kategorie. Dies halte ich insbesondere vor dem Hintergrund,
daß es sich hier vorwiegend um ein mädchen-/ frauenspezifisches Problem bzw. um eine
gesondert zu betrachtende Problematik, für eine sachgerechte Unterteilung
Innerhalb der Konzeption Balsers fehlt die Entsprechung für die Dimension der strukturellen
Gewalt, die von der Schule als Institution ausgeht (vgl. unter 2.3).
Auf diese Problematik hat Opper (1992) hingewiesen und betont, daß Gewalt in der Schule kein
ausschließlich interpersonales Phänomen darstelle. Strukturelle Elemente wie Architektur ,
Hierarchien, Vorurteile, Notengebung, Sprache, Umgangsformen, Schulpflicht, ökonomische,
politische und mediale Macht spielten eine ebenso zentrale Rolle. Indem man zentrale,
gewaltförmige Strukturen ausblende, enhistorisiere und tabuisiere man Gewalt und verkenne,
daß auch die Täter Opfer seien (vgl. Opper 1992, S.9). Die Aussparung der Dimension
"strukturelle Gewalt" stellt aus meiner Sicht einen besonderen Kritikpunkt an Balsers
Auffassung dar.
1Mobbiisierung
leitet sich ab von engl. to mob=jemanden drängen, anpöbeln, über jemanden herfallen, sich
zusammenrotten.
17
3.2
Empirische Befunde über das Ausmaß von Gewalt in der Schule
Bründel weist daraufhin, daß es nicht leicht sei, die Zunahme an Gewalt an Schulen objektiv zu
ermitteln. Vieles, was in der Schule an Gewalt und Aggression passiere, dringe nicht an die
außerschulische Öffentlichkeit, werde nicht als krimineller Akt registriert. Daher sei man zur
Einschätzung schulischer Gewalt auf Befragungen von Schülern und Lehrern angewiesen (vgl.
dieselbe, 1995, S. 42). Nahezu alle Erhebungen basieren daher auf Fragebogenaktionen in der
Schule. Gewalt in der Schule läßt sich daher nur erfassen, wenn man die Perspektiven von denen
an Schule unmittelbar Beteiligten untersucht.
Schwind, Roitsch und Gielen (1997) konstatieren, daß seit Beginn der der 90er Jahre eine stark
emotionalisierte Medienberichterstattung im Kontext Gewalt in der Schule stattgefunden habe
und eine Fülle von empirischen Befunden zu Erscheinungsformen Häufigkeiten und
Entwicklungstendenzen vorlägen(vgl. dieselben, 1997, S.82). Dabei ist zu beachten, daß den
Studien jeweils unterschiedliche Definitionen, Operationaliserungen und Methoden
zugrundeliegen sowie Stichproben, Fragebögen und Rücklaufquoten völlig unterschiedlich
gewählt wurden. Es zeigt sich ein völlig differierendes Forschungsdesign und Vorgehen (vgl.
dazu auch Methodenkritik von Krumm 1997). Somit lassen sich viele Studien weder sinnvoll
vergleichen noch sind studienübergreifende Generalisierungen zulässig. Teilweise werden in
Untersuchungen auch nur einzelne Probandengruppen befragt (Gewalt aus SchülerInnensicht,
Gewalt aus LehrerInnensicht, Gewalt aus Sicht von SchulleiterInnen), so daß sehr
unterschiedliche Perspektiven auf das Phänomen Gewalt untersucht werden.
Trotz ihrer kritisch zu betrachtenden Aussagekraft sollen zur Veranschaulichung die Ergebnisse
einiger aktuellerer Untersuchungen skizziert werden:
3.2.1 Untersuchung von Schwind et al.
Schwind, Roitsch und Gielen (1997) untersuchen Gewalt aus der Perspektive unterschiedlicher
Gruppe (zum genauen Vorgehen vgl. dieselben 1997, S.83). Neben den SchülerInnen (Klasse 713) wurden SchulleiterInnen, LehrerInnen, HausmeisterInnen, SekretärInnen und Eltern befragt.
Unter anderem wurden die unterschiedlichen Gruppen befragt, welches Verhalten sie als Gewalt
ansehen würden. Die Ergebnisse der Einschätzungen werden in folgender Tabelle ausschnitthaft
dargestellt (Häufigkeiten der Ja- Antworten in %):
Einschätzung von Verhalten als Gewalt aus Sicht unterschiedlicher Gruppen
Verhaltens-
Schul-
LehrerInne
Hausmeiste
SekretärIn-
SchülerIn-
weisen
leiterInnen
n
rInnen
nen
nen,
Kl.
7-13
Eltern
18
Bedrohung
mit
97,3 %
100 %
66, 7%
100%
86,4 %
99,0 %
94,6 %
97,5 %
76,2 %
95,7 %
78,6 %
97,9 %
15,3 %
13,0 %
38,1 %
4,3 %
30,6 %
12,4 %
63,1 %
62,7 %
57,1 %
30,4 %
30,3 %
32,0 %
55,9 %
52,2 %
33,3 %
21,7 %
22,3 %
38,1 %
64,0 %
62,1 %
38,1 %
43,5 %
39,5 %
50,5 %
einer
Waffe
Vandalismus
am
Schulinventar
"Spaßkloppe"
verbale
Aggression:
Beleidigun
g
unter
SchülerInnen
verbale
Aggression:
SchülerIn
gegen
LehrerIn
verbale
Aggression
LehrerIn
versus
SchülerIn
(Darstellung in Anlehnung an Daten und Tabelle bei Schwind et al., 1997, S.86)
Die Darstellung zeigt, daß unterschiedliche Gruppen einzelne Verhaltensweisen eher und andere
eher weniger als Gewalthandlungen klassifizieren.
Dies läßt sich am Beispiel "Spaßkloppe" zeigen: Die Einschätzung als Gewalt beträgt bei den
LehrerInnen 13, 0 %, die befragten SekretärInnen gehen sogar nur zu 4,3 % von Gewalt aus. Die
befragten SchülerInnen hingegen erleben diese Verhaltensweise immerhin zu 30, 6 % als
gewaltvoll. Die Ergebnissse differieren deutlich. Es wird ersichtlich: Gewalt hängt von der
Einschätzung und subjektiven Betroffenheit der BetrachterIn ab.
3.2.2 Studie von Dettenborn und Lautsch:
In ihrer Studie "Aggression in der Schule aus Schülerperspektive" haben Dettenborn und
Lautsch (1993) 2553 SchülerInnen hinsichtlich ihrer Sichtweise auf schulische Aggression sowie
auf ihre darauf bezogenen Eigenbeteiligung hin befragt. Die AutorInnen gehen davon aus, daß
die Kenntnis von Alltagstheorien der Schü-lerInnen das Selbstverständnis und die pädagogische
19
Handlungskomepetenz von LehrerInnen fördern können. Untersucht werden Ursachendenken
der SchülerInnen bezogen auf Gewalt und Aggression in der Schule, Intensität von Schutzdenken, Arten von Schutzstrategien und Schutzhandeln sowie Kommunikations-bereitschaft, mit
LehrerInnen über Aggression zu reden.
Unter anderem werden folgende Ergebnisse angeführt: 56% der Befragten beobachten eine
Zunahme von Gewaltanwendung in der Schule allgemein. Einen Anstieg von Drohung mit
Gewalt bejahen 43%, 67% vermuten eine Zunahme von Schulvandalismus. 32 % meinen tätliche
Gewalt habe zugenommen. 55 % bejahen einen Anstieg von Gruppengewalt, bezogen auf die
Zunahme feindseliger Stimmung meinen 52 % diese zu beobachten (vgl. dieselben,1993, S.
749).
Problematisch erscheint die Erfassung der "Zunahme von Gewalt". Die AutorInnen weisen
darauf hin, daß innerhalb geschlossener Fragen zum Teil das gegenwärtige Handeln, Denken und
Tun erfaßt werden soll, einige Fragen aber auch speziell auf den Vergleich der Untersuchung
(Winter 1991/1992) und die Zeit von vor zwei bis drei Jahren abzielten (vgl.dieselben, a.a.O, S.
747). Allerdings liegt aus dieser Zeit keine valide Vergleichserhebung vor, sondern die
SchülerInnen nehmen lediglich eine subjektive Einschätzung vor. Interessant wäre eine auf die
Zunahme von Gewalt ausgerichtete Längsschnittuntersuchung.
Bei der Auswertung ihrer Daten kommen die AutorInnen auch zu dem Ergebnis, daß Befragte,
die sich entweder als Täter und/ oder als Opfer einer Gewaltanwendung in der Schule
bezeichnen, eine generelle Zunahme der Gewalt bejahen, während von Nicht-beteiligten generell
die Zunahme von Gewalt in der Schule verneint wird. Dies läßt nach Auffassung der AutorInnen
den Schluß zu, daß aggressive Handlunssequenzen durch das Einbezogensein intensiver erlebt
würden und es zu selektiven Wahrnehmungsprozessen komme (vgl. dieselben, a.a.O.,S.752).
Befragt auf Gegenwehrstrategien (Mehrfachnennungen möglich), rangiert die Abwehrstrategie
"mit Worten" mit 55 % auf Rang 1, gefolgt von "Ausweichen/ Weglaufen" mit 47 %. Rang 3
erhält "Schlagen ohne Waffen" mit einem Wert von 37%, gefolgt von (Schlagen mit Waffen
16%).
Obwohl gewaltfreie Reaktionen dominieren, halten die AutorInnen den Anteil der
gewaltorienierten Vorsätze für beunruhigend. Für Jungen seien gewaltorientierte und für
Mädchen gewaltfreie Abwehrstrategien typisch (vgl. a.a.O., S.760). Im übrigen präferieren nach
der Untersuchung Opfer und TäterInnen gewaltorientierteVerteidigungsstrategien.
Bezüglich einzelner Motivkategorien für Gewalt bzw. im Kontext von Ursachenannahmen für
Gewalt aus SchülerInnensicht benennt die Studie von Dettenborn und Lautsch folgende
Ergebnisse: Frustrationsmotive (39 %), Geltungsstreben (32%), Freude an der Gewalt (12 %),
Langeweile und politische Intoleranz jeweils (9 %), materielle Gründe (5 %) (vgl. dieselben,
a.a.O.S.756).
20
Der Stellenwert der Motivgruppe Frustrationsmotive wird als eine Bestätigung für das erhebliche
Frustrationspotential innerhalb der Lebensbeziehungen der SchülerInnen gewertet. Darin wird
eine Aufforderung gesehen, nach Wegen der Frustrationsminderung und Kompensation in der
Schule zu suchen (vgl. dieselben a.a.O., S.757).
3.2.3 Studie von Niebel et al.
Niebel, Hanewinkel und Ferstl (1993) haben im Rahmen ihrer Fragebogenstudie das
Datenmaterial von insgesamt 1186 SchülerInnen, 559 LehrerInnen und 637 Eltern untersucht.
Somit sind drei verschiedene Perspektiven in der Studie berücksichtigt. Niebel et al. zielen zum
einen auf die quantitative Erfassung von Gewalt zwischen SchülerInnen, Vandalismus (Gewalt
gegen Sachen) und Gewalt gegen LehrerInnen ab. Zum anderen versuchen sie, weitere
schulische Parameter zu erheben und sie in Beziehung zu den Ergebnissen zum Gewaltausmaß
zu setzen. Sie kommen u.a. zu folgenden Ergebnissen:
Der Schulhof ist der häufigste Ort von Auseinandersetzungen unter SchülerInnen. Danach folgen
-in gleicher Häufigkeit genannt- Klassenzimmer, Schulkorridore, und der Schulweg als Orte von
Gewalt (vgl. a.a.O., S.785). Im Zusammenhang mit Gewalt gegen LehrerInnen beschreiben 13,5
% der Befragten tätliche Gewalt gegen LehrerInnen. 51,6 % benennen auch verbale Provokation
bzw. das verbale "Fertigmachen" von LehrerInnen , davon 13 % mit einer Frequenz von oft bis
sehr oft (vgl. a.a.O,S.789). Hinsichtlich der Auftrittshäufigkeit von Gewalt rangiert Niebel et al.
folgend verbale und nonverbale Aggression vor tätlicher Gewalt unter SchülerInnen, gefolgt von
Gewalt gegen Sachen(Vandalismus). Gewalt gegen LehrerInnen folgt an letzter Stelle.
Interessant erscheint mir die Erhebung weiterer Parameter:
16,3 % der SchülerInnen geben an, sich im Unterricht zu langweilen. 40,5 % beklagen Lärm
während des Unterrichts. 43 % der befragten SchülerInnen haben keine Lust zur Schule- Alle
drei Werte korrelieren nach Angabe der AutorInnen signifikant mit dem Wert für das Ausmaß
von Vandalismus, so daß Niebel et al. von einem Zusammenhang ausgehen (vgl. dieselben,
a.a.O., 792).
Insgesamt ziehen die Autoren folgende Bilanz:
"(...)Die Formen der Gewalt sind überwiegend psychologischer Natur im Sinne einer Verrohung der sozialen
Verhaltensformen. Das Ausmaß der Gewalt unter Schülern ist nicht gravierend , es zeigt aber einen hohen
Zusammenhang mit dem Verhalten in Sprache und Ausdruck. Schulunlust, Langeweile, Unterforderung und
Lärm im Unterricht sind Risikofaktoren für Vandalismus und tendenziell auch für Gewalt. Ein geringer
Leistungsstand der Kinder bzw. Leistungsversagen ist ein Risikofaktior für die eigene Beteiligung an
Gewalttaten(...) Insgesamt stehen dem nicht ausreichend ausgewiesenen- sozioökonomischen Hintergrund
interaktive
Aspekte
und
innerschulische
Faktoren
im
Vordergrund
der
Gewalt-
und
Vandalismusbeobachtungen. Die außerschulische Sozialisation verliert dadurch nicht an Bedeutung, ist aber
im Rahmen schulischer Untersuchung nicht zu erfassen"(dieselben, 1993, S.797).
21
3.2.4 Studie von Greszik et al.
Greszik, Hering und Euler (1995) werten Ergebnisse aus, die aus einer Befragung von 1077
SchülerInnen und 223 LehrerInnen über verschiedenen Formen von SchülerInnengewalt
resultieren. In ihrer Erhebung geben die Autoren die ermittelten Häufigkeiten bezogen auf vorab
festgelegte Gewalthandlungen (als Operationalisierung von Gewalt) aus Täter- und Opfersicht
wieder. Dabei versuchen sie zusätzlich, die ermittelten Daten nach Geschlechteranteil
gegenüberzustellen. Diskussionswürdig ist das Vorgehen, vorab Gewaltkategorien festzulegen.
Dennoch erscheint die Untersuchung von Greszik et al. gut geeignet, um Aussagen über die
Geschlechtsspezifik schulischer Gewalt zu treffen.
(Darstellung nach Greszik u.a.1995, S.271)
Deutlich wird, daß verbal-aggressive Verhaltenweisen dominieren (vgl oben). Außerdem sind
bei allen anderen Gewaltformen außer der sexuellen die Prozentwerte der Jungen gegenüber den
Mädchen höher. Jungen erleiden nach Abb. 1 deutlich häufiger Verletzungen. Mädchen und
Jungen sind nach der Untersuchung von Greszik et al. insgesamt ähnlich häufig Opfer von
Gewalttaten, die Differenz beträgt im Schnitt 2-5 %, zu denen Jungen häufiger betroffen sind.
Abbildung 2 soll den weiblichen und männlichen Anteil beim Tätergeschlecht bei bestimmten
Gewaltformen verdeutlichen:
22
Täterges chlecht bei Formen von Gewalt (Anzahl
in Prozent)
90
weiblich
80
männlich
70
60
50
40
30
20
10
Eigentum
beschädigt
sexuell
belästigt
sexuell
genötigt
m. Gegenstand
bedroht
m. Gegenstand
verletzt
verletzt, Arzt
nötig
Geld od. ähnl.
erpreßt
geschubst
ausgelacht,
verspottet
beschimpft,
beleidigt
verbale
Bedrohung
0
Geschlecht der TäterInnen in Prozent, nach Angaben der Opfer (fehlende
Angaben an hundert: Täter s owohl weiblich als auch männlich)
(Abb. 2 in Anlehnung an Greszik u.a., 1995, S.271)
In Abbildung 2 wird deutlich, daß Mädchen erheblich seltener der Täterseite angehören. Die
Autoren sprechen von einem deutlichen männlichen Übergewicht (vgl. dieselben, a.a.O., S.270).
3.3
Zwischenfazit ad 3
Eine untersuchungsübergreifende Zusammenfassung verbietet sich aus den genannten
methodischen Gründen. Aus den Darstellungen ergeben sich neben der Frage nach der
Einhaltung der sogenannten Testgütekriterien für empirische Untersuchungen weitere wichtige
Fragestellungen: Wer definiert Gewalt, von welcher Gewaltdefintition wird ausgegangen, aus
wessen Perspektive werden die Ergebnisse einer Fragebogenstudie erzielt, wer definiert die
Kategorien, wer operationalisiert nach welchen Kriterien und: Für wen oder in wessem Auftrag
wurde die Studie erstellt ?(zur weiteren Methodenkritik Wellenreuther 1997)
Kursorisch lassen sich folgende Aussagen treffen:
(1) Gewalt in der Schule wird von den an Schule Beteiligten sehr unterschiedlich gewertet und
definiert.
23
(2) Verbale Attacken dominieren über manifester körperlicher Gewalt, wobei deren
Auftretenshäufigkeit nicht zu unterschätzen ist. Insbesondere scheint die Schwelle zum
Einsatz körperlicher Gewalt niedrig. Die Verrohung in der Sprache schlägt sich im
Interaktionsverhalten der Beteiligten nieder.
(3) Auf der Opferseite sind Jungen und Mädchen scheinbar quantitativ eher gleich betroffen,
wobei Jungen öfter Opfer körperlicher Attacken sind. Bezogen auf sexuell motivierte
Aggression sind Mädchen eher Opfer.
(4) Auf der Täterseite dominiert der Jungenanteil deutlich über dem der Mädchen, so daß von
deutlichen geschlechtspezifischen Unterschieden im Umgang mit Gewalt auszugehen ist.
Hinsichtlich der eingesetzten Gewalt präfererieren Mädchen verbale Attacken (vertiefend
dazu Euler, 1997, S. 191 ff sowie Popp, 1997, S. 207 ff mit weiteren Verweisen).
(5) Gewalt in der Schule wird in unterschiedlichen Richtungen ausgeübt: Horizontal bei Gewalt
unter SchülerInnen und vertikal bei Gewalt von SchülerInnen gegen LehrerInnen und
umgekehrt.
(6) Das jeweilige Schulklima scheint einen wichtigen Einfluß auf das Ausmaß an Gewalt zu
haben.
(7) Besonders brutale und radikale Gewaltakte gehen eher von einem kleinen Anteil von
SchülerInnen aus.
(8) Orte der Auseinandersetzung sind Schulkorridore, Klassenzimmer und Schulweg sowie der
Schulhof, so daß den Zeiten außerhalb des Unterrichts (Pausenzeiten sowie Zeiten vor und
nach der Schule) Bedeutung beizumessen ist.
3.3.1 Exkurs: Rassistische und rechtsextreme Gewalt in der Schule
Phänomene rassistischer Gewalt, der sogenannten "Ausländerfeindlichkeit" sowie rechtsextremer
Gewalt unter SchülerInnen, sind in den von mir angeführten empirischen Studien explizit nicht
untersucht worden. Hier sei nur darauf verwiesen, daß für deren Erfassung umfangreiche und
differenzierende Einstellungsuntersuchungen bei der Zielgruppe erforderlich sind.
Rechtsextreme Einstellungen katalysieren entsprechende Gewalthandlungen gegen ausländische
SchülerInnen. Spezifisches Zahlenmaterial bezogen auf rechtsextrem oder ausländerfeindlich
motivierte Gewalt in der Schule ist- im Gegensatz zu theoretischen Abhandlungen über deren
Erscheinungsformen und Ursachen- in der von mir ausgewerteten Literatur rar. Exemplarisch
soll die von Stenke(1993) angeführte Untersuchung des Deutschen Jugendinstitituts von 1991
einen Einblick liefern: 14-15 jährige SchülerInnen in Leipzig wurden innerhalb der
Untersuchung dazu aufgefordert, einen Aufsatz zum Thema "Deutsche und Ausländer" zu
schreiben. Nach einer Zufallsauswahl und qualitativer Auswertung von 100 Aufsätzen betonten
immerhin 2/5 der VerfasserInnen ethnozentrische Einstellungen wie: "Wir haben genug eigene
Probleme" und die Hervorhebung der Eigengruppe zulasten der Fremdgruppe. 1/10 der Aufsätze
ist in die Kategorie "ausländer-feindliche Einstellung" einzustufen, wobei ein stereotypes Bild
24
"des Ausländers" im Vordergrund steht. AusländerInnen werden als Bedrohung des eigenen
Lebens erlebt und dargestellt, völlig losgelöst, ob dahingehend reale Erfahrungen gemacht
wurden (vgl.Stenke, 1993, S. 232 ff, weiterführend zum Ganzen Heitmeyer u.a. 1995, S. 365ff).
Interessant ist auch ein weiterer Befund: Im Kontext multikultureller Klassen wird in der
Öffentlichkeit unterstellt, daß ein hoher Anteil ausländischer SchülerInnen das Gewaltnivieau
erhöht. Dies konnte Fuchs in seiner Untersuchung widerlegen, indem er darauf hinweist, daß es
keine Wirkung einer kritischen Masse ausländischer SchülerInnen auf das Gewaltniveau in einer
Klasse gebe (Fuchs, 1997, S. 134). Vielmehr handele es sich um Alltagsstereotype, also
Überzeugungen die nicht einer aktuellen Bewertung entstammen sondern im Sinne eines
Vorurteils von vornherein festgelegt seien (vgl.derselbe, a.a.O., S.135).
4
Ursachen, Analysekonzepte und Erklärungsmodelle für Gewalt
in der Schule
Um Gewalt in der Schule vorzubeugen, sie abzubauen und zu begrenzen, bedarf es detaillierter
Kenntnisse über Zustandekommen, Funktion und unterschiedlicher Blickrichtungen auf das
Phänomen schulische Gewalt. Seit sich die Erziehungswissenschaft zunehmend auf ihre
sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu bewegt, werden Tendenzen deutlich,
verschiedene Theorien zur Genese gewaltvollen und aggressiven Verhaltens ungefragt zu
übernehmen (vgl. Ertle, 1993, S. 21). Tillmann bemerkt, daß sich Untersuchungen im Konetxt
mit Gewalttätigkeit in der Schule in einem interdisziplinären Feld mit zum Teil konkurrierender,
zum Teil sich ergänzender Theoriekonzepte bewegen würden (vgl. Tillmann, 1997, S. 17). Diese
Aussage läßt bereits ahnen, daß es vielfältige und mehrdimensionale Theorieansätze im
Zusammenhang mit der Analyse von Gewalt in der Schule gibt.
In Kapitel 4 werden einige empirische Befunde zu Ursachen von schulischer Gewalt genannt.
Dann werden unterschiedliche Analyseebenen von Gewalt in der Schule skizziert. Abschließend
folgt eine Auswahl psychologischer und soziologischer Theorien zur Entstehung von Gewalt, die
hier nur kursorisch erfolgt, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen (eine erweiterte und
übersichtliche Darstellung findet sich bei Schirp, 1996, S. 28 ff).
4. 1
Ursachenzuschreibungen für Gewalt aus Sicht verschiedener Gruppen
Einen ersten Eindruck bezogen auf Ursachenzuschreibung für gewalttätiges
SchülerInnenverhalten soll die nachfolgende Tabelle mit Befragungergebnissen der Studie von
Schwind et. al. (1997) vermitteln. Die unterschiedlichen Befragten-gruppen(Erwachsene) sollten
vorgegebene Gründe als kausal für gewalttätiges SchülerInnenverhalten bewerten, es zeigten
sich folgende Häufigkeiten (Ja- Antworten in Prozent) :
25
Maßgebende Gründe für gewaltvolles Verhalten in der Schule aus der Perspektive Erwachsener nach Schwind et al.
1997
Gründe
Gewaltdarstellung
in
LehrerIn
HausmeisterIn
Eltern
96,5 %
81,0 %
86,0 %
30,7 %
23,8 %
38,8 %
92,9 %
95,3 %
68,8 %
49,4 %
47,6 %
45,6 %
43,8 %
47,6 %
45,6 %
69,9 %
52,4 %
57,5 %
66,4 %
42,8 %
58,5 %
Medien
Nationalitätenkonflikt
Ungünstige
Familienverhälntisse
Abkehr
der
Schule
vom
Erziehungsauftrag
Verzicht
auf
Erziehungs-
und
Ordnungsmaßnahmen
Unangemessene
Lehrerausbildung
Fehlende
Identifikation
der
SchülerInnen
mit
Schule
(modifizierte Darstellung, zu den Daten vgl. Schwind et al. 1997, S.95)
Schwind et al. kommen zu der Einschätzung , daß aus Sicht der befragten Erwachsenen Schule
durch familiale und gesellschaftliche Faktoren belastet und die Aggression in der Schule eher
extern bedingt ist.
Innerhalb der Bochumer Studie befragte SchülerInnen erklären sich die Genese von Gewalt
anders: 82,6 % bewerten die Suche nach Anerkennung als Grund für gewalttätiges Verhalten.
Freude an der Gewalt halten 72, 5 % für ein potentielles Motiv. Ärger und Streit in der Schule
(71,4 %) und Leistungsdruck (62, 8 %) kommen nachfolgend als Ursachen für gewaltförmiges
Verhalten aus SchülerInnensicht in Betracht. Langeweile (51,9 %) und mangelnde Strenge der
LehrerInnen (33,3 %) werden hingegen als weniger ausschlaggebend eingestuft.
Ein Vergleich zeigt, daß die Erwachsenen dem Phänomen Gewalt in der Schule eine andere
Kausalattribution zugrundelegen als die unmittelbar betroffenen SchülerInnen (vgl. ebd.). Dies
ist ein ernstzunehmendes Ergebnis, was aus meiner Sicht zu folgender Konsequenz führen sollte:
Wenn man mit den Kindern und Jugendlichen "an einem Strang ziehen möchte", muß man ihre
Sichtweise einnehmen bzw. sich "in deren Schuhe stellen" können.
26
4.2
Unterschiedliche Bedingungskonstellationen für schulische Gewalt
Sofern Gewalt im schulischen Kontext betrachtet wird, schlägt Tillmann (1995) vor, von drei
unterschiedlichen Analyseebenen von Gewalt in der Schule auszugehen:
(1)Individualbiographischer Hintergrund
Auf dieser Ebene stellt sich die Frage, inwiefern sich gewaltörmige Einstellungen und
Verhaltensmuster individualbiographisch entwickelt haben und aktuell vorliegen. Relevant wird
hier auch die subjektive Sichtweise des oder der Gewaltausübenden. Erhoben werden
insbesondere die Indiviualdaten aus dem Sozialisationszusammenhang der SchülerInnen wie die
lebensweltliche Einbindung, Alter, Geschlecht, soziale Gruppenzugehörigkeite etc.
(2)Interaktioneller Hintergrund/ Schule als Interaktionsfeld
In diesem Zusammenhang werden situative und interaktive Handlungsbedingungen im
Gruppenkontext sowie Interaktionsmuster in Konfliktsituatioen untersucht. Schulische
Interaktionserfahrungen wie Schulversagen, Etikettierungsprozesse etc. werden in ihrer Relevanz
für gewaltörmiges Verhalten betrachtet. Aber auch spezifische Kommunikationsformen der
SchülerInnen untereinander sowie die Kommunikation mit den Lehrkräften wird auf dieser
Ebene analysiert.
(3)Sozialökologischer Kontext der Schule(Schulumwelt)
Schulische Umwelten wie Schulform, Schulklima, Lernkultur werden in ihrem Effekt auf
gewaltförmige Handlungs- und Einstellungsmuster von SchülerInenn hinterfragt. Weiterhin wird
auch die soziale Dimension des Schulkontextes wie Zusammensetzung der SchülerInnenschaft
und Standort der Schule sowie das Lernarrangement untersucht. So wird beispielsweise
analysiert, welche Kontexte sich eher fördernd und welche sich eher kompensatorisch bezüglich
des Auftretens von Gewalt auswirken. Hier stellt sich auch die Frage nach der "pädagogischen.
Qualität" einer Schule. So konnte Fend (1986) nachweisen, daß bei hoher Anteilnahme von
LehrerInnen an Problemen der SchülerInnen, gute Kooperation der Lehrkräfte und integrativen
Führungsstil der SchulleiterIn aggressives Verhalten und Vandalismus seltender auftraten (zum
Ganzen vgl.Tillmann, 1995, S. 69f).
Während sich die individualbiographische Sichtweise auf das Individuum bezieht, konzentrieren
sich die Ebenen 2 und 3 eher auf institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, so
daß auch hier wieder die oben beschriebenen Konstrukte der strukurellen Gewalt und des
heimlichen Lehrplans thematisch hineinragen. Die Einteilung in unterschiedliche Ebenen
bedeutet jedoch nicht, daß eine eindimensionale Sicht favorisiert wird. Vielmehr ist eine
Gesamtschau aller Ebenen erforderlich. Je nach konkretem Situationsbezug in der Praxis kann
aber die eine oder andere Sichtweise in den Vordergrund treten, um schulische Gewalt vorort zu
erklären oder eine Maßnahme sinnvoll zu plazieren.
27
4.3
Erklärungsmodelle für die Genese von Gewalt und Aggression in der
Schule
Die Kenntnis theoretischer Modelle im Kontext mit Gewalt und Aggression ermöglicht
PädagogInnen, das Aggressionverhalten von SchülerInnen und auch ihr eigenes Verhalten in der
LehrerIn- SchülerIn- Interaktion zu erklären und zu reflektieren. Dennoch sei auf einen
kritischen Umgang mit Erklärungsansätzen hingewiesen: Pauschalierungen sollten hinter der
Überprüfung des Einzelfalls und seiner Besonderheiten zurückstehen.
4.3.1 Psychologische Sichtweisen
Im Kontext der Genese von Gewalt und Aggression wird aus psychologischer Sicht u. a
unterschieden zwischen Triebtheorien, der Frustrations- Aggressions- Theorie sowie
lerntheoretischen Erklärungsansätzen.
4.3.1.1 Trieb- und Instinkttheorie
Die Trieb- und Instinkttheorie davon aus, daß jeder Mensch ein angeborenes
Aggressionspotential in sich trägt. So ist beispielsweise von der angeborenen Neigung des
Menschen zum Bösen, zur Aggression, Zerstörung und Grausamkeit die Rede. Von dieser
Annahme geht Freud (1920) als Vertreter der Psychoanalyse in seinem hypothetischen Konstrukt
vom "Aggressions- oder Destruktionstrieb" aus. Freud glaubte, daß der Mensch von Geburt an
zwei entgegengesetzte Triebe besitzt: Eros, den Lebenstrieb, der für Wachstum, Überleben und
Energie sorgt und Thanatos, den Todestrieb, der nach Selbstzerstörung strebt. Aggression begriff
Freud quasi als eine Entäußerung des Todestriebes. Unter Trieb wird dabei eine gerichtete
Energie oder endogene Kraft verstanden , die sich in aggressiven Handlungen entladen kann.
Das ethologische Triebkonzept nach Lorenz (1963) nimmt an, daß sich spezifische innere
Spannungszustände periodisch aufbauen und durch einen speziellen inneren Mechanismus, den
sogenannten "angeborenen auslösenden Mechanismus" auf einen genetische festegelegten
Schlüsselreiz in der Umwelt treffen. Dies soll schließlich eine Handlung zur Entladung des
Spannungszustands auslösen. Mit Hilfe dieses Modells ist es möglich, spezifisches Beute- und
Paarungsverhalten auf tierischem Niveau zu erklären (vgl. Selg, Mees, Berg 1988, S. 30). In
Analogie zum tierischen Verhalten sieht Lorenz auch im Menschen eine angeborenen triebhafte
Energie- die Aggression, die dauernd fließt und abgeleitet werden muß. Es sind demzufolge
Ersatzhandlungen erforderlich, gerade wenn eine längere Anstauung stattgefunden hat. Während
Aggression beim Tier in instinktiven Bahnen festliegt, ist die menschliche Aggression nach dem
ethologischen Triebkonzept spontan, unberechenbar und kann so gefährlich werden, daß sie
sogar zur Zerstöung der eigenen Art führen kann. Als Abhilfe schlägt Lorenz pädagogische
28
Maßnahmen wie die Vermittlung der Kenntnis wirksamer Evolutionsgesetze, Beseitigung
anonymer Strukturen und geeignete Vorbilder und Kanäle zum Abreagieren der aggressiven
Energie wie Sport vor (vgl. Darstellung bei Hojer, 1985,S. 51).
Bezug zum Schulalltag: Die Triebtheorien lassen sich hinsichtlich ihrer endgültigen empirischen
Überprüfbarkeit und ihrer Übertragbarkeit auf den Menschen hinterfragen. Dennoch sollte nicht
verkannt werden, daß Zerstören, Beschädigen sowie verbale und körperliche Aggressionsakte in
einigen Fällen Lust, Entspannung und Befriedigung verschaffen können. Ein normales
menschliches Aktivierungsniveau impliziert im übrigen auch ein gewisses Aggressionspotential
sowie dessen mototrische Entäußerung (vgl. Horstmann und Müller, 1995, S. 61). Diese Aspekte
sind für Gestaltung des Schulalltags oder von Schulumwelt von besonderer Relevanz.
4.3.1.2 Lerntheoretischer Erklärungsansatz
Verfechter der Lernkonzepte gehen hingegen davon aus, daß Aggressionsverhalten und
Gewaltbereitschaft nicht auf natürliche Instinkte zurückgehen sondern entscheidend durch
äußere Einflüsse erworben werden: Entweder weil aggressives Verhalten Erfolg einbrachte oder
weil es nachgeahmt wird.
Lernen durch Erfolg: Nach Skinners (1953) Ansatz vom operanten Konditionieren wird eine
(aggressive) Verhaltensweise dann gelernt, wenn sie zum Erfolg führt. Der Erfolg, das Erreichen
des Zieles, wirkt als positive Verstärkung oder Belohnung. Erfolgreiches Verhalten erhält dann
durch seine Belohnung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, in einer gleichen oder auch nur
ähnlichen Situation wieder probiert zu werden. Auf aggressives Verhalten übertragen: Führt
aggressives Verhalten zum Erfolg, wird die agierende Person in einer ähnlichen Situation dieses
Verhalten wieder zeigen.
Bezug auf Schulalltag: Bereits die Duldung aggressiven Verhaltens unter SchülerInnen bzw. das
Gewährenlassen kann als positiver Verstärker wirken. Kommt die ausführende Person mit ihrer
Aktion zum Erfolg wird sie möglicherweise zukünftig ihre Interessen mit aggressivgewalttätigen Handeln versuchen durchzusetzen. Führt gezeigtes Verhalten beispielsweise durch
Intervention zu Mißerfolgen, wird nach der oben genannten Annahme das Verhalten zukünftig
weniger gezeigt und in diesem Sinne negativ verstärkt. Das Ausbleiben des Erfolgs kann zur
Löschung des unerwünschten Verhaltens führen. Wichtig ist dabei die zeitliche Komponente: Je
später die Intervention erfolgt, umso weniger wird sie im kausalen Zusammenhang mit der
pädagogosichen Maßnahme erlebt (vgl. Horstmann und Müller, 1995, S.62). Im übrigen
bedeuten zeitweilige Mißerfolge noch nicht, daß die aggressive Tendenz abnehmen muß.
Schwierig wird es, wenn Mißerfolge bereits in die Erwartungshaltung eingebaut sind und die
Demonstration der Aggression und Gewalt um ihrer selbst willen geschieht.
Lernen am Modell/Soziales Lernen: Ein weiterer wichtiger Ansatz innerhalb der
lerntheoretischen Erklärung von Aggression und gewalttätigen Verhalten geht auf Bandura und
29
Walters (1959 /1963) zurück. Mit den klassischen Lerntheorien konnte das Lernen durch
Beobachtung nicht erklärt werden. Die "soziale Lerntheorie"2 geht vom Beobachtungslernen,
Imitationslernen bzw. Lernen am Modell als zentralen Lerntyp aus. Bandura und Walters
machten u. a. folgende Beobachtung:
Zeigt man Kindern aggressive Handlungen am Modell , durch direktes Vormachen oder indirekt
in öffentlichen Medien wie Fernsehen, Comic- Strips etc. tritt eine starke Vermehrung
aggressiven Verhaltens ein. Die aggressive Handlung muß dabei nicht sofort nachgeahmt
werden, sondern kann gespeichert werden und viel später -in einer spezifischen Situationdurchbrechen. Die Imitation des beob-achteten Verhaltens hängt allerdings von mehreren
Faktoren ab:
-Selektion der Beobachtungen während der Wahrnehmung
- Antizipation einer Verstärkung von außen als extrinsische Motivation.(z.B. negative Sanktion)
- von der stellvertretenden Verstärkung des Modells (Fragestellung: Hat das Modell Erfolg?)
-von der Selbstverstärkung des Beobachtenden (intrinsische Motivation bzw. Selbststeuerung)
(zum Ganzen vgl. Edelmann, 1986, S. 251 ff)
Bezug auf Schulalltag: Transferiert man diese Annahmen auf den Bereich Schule sind folgende
Aspekte relevant. Aggressive Verhaltensweisen können durch Beobachtungslernen katalysiert
werden. LehrerInnen und MitschülerInnen können als Modell oder als Verstärker (extrinsisch
motivierend) fungieren. PädagogInnen können aber bei Gewaltausübung zur bewußten
Selbststeuerung von SchülerInnen beitragen, indem sie Werte und Einstellungen vermitteln, die
als "moralischer Filter" wirken bzw. friedliche Konfliktlösung ermöglichen (vgl. Horstmann und
Müller, 1995, S.62).
4.3.1.3 Frustrations- Aggressions-Hypothese
Die Frustrations- Aggressions-Hypothese formulierten Dollard und Mitarbeiter (1939), um das
Entstehen aggressiver Vehaltensweisen zu erklären. Sie nahmen an, daß Frustrationen Folgen
von Aggressionen sind und selbst weiter zu Aggressionen führen. Unter Frustration wird in
diesem Zusammenhang jede Beeinträchtigung einer zielgerichteten aktivierten Handlung oder
Handlungsabsicht verstanden - unter Aggression jede Verhaltensfolge die auf die Verletzung
einer Person abzielt (vgl. Brinkmann, 1974, S. 23).
2
Ab 1979 als Erweiterung dieses Ansatzes auch "sozial-kognitive Lerntheorie" Annahme ist dabei, daß der Mensch
seine Umwelt beobachtet, die aufgenommenen Eindrücke interpretiert, Handlungsentwürfe generiert und ihre
Wirkungen auf die Umwelt auswertet. Unmittelbar kann nicht von einer Wirkung aggressiver Vorbilder auf das
Beobachterverhalten im Sinne direkter Imitation des gezeigten Verhaltens ausgegangen werden. Es sind vielmehr
kognitive Verarbeitungsprozesse erforderlich, die Bandura in folgende Phasen einteilt:
-Aufmerksamkeitszuwendung auf das im Modell gesehene Verhalten
-Behaltensphase, d.h. das Verhaltensschema wird gespeichert
-Reproduktionsphase, in der das Verhalten praktiziert wird
-Motivationale Phase: Auswertung des Verhaltens und dessen Effekts, Entscheidung, ob das Verhalten wiederholt
werden soll (zum Ganzen vgl. Bandura 1979).
30
Die klassische Frustrations-Aggressions-Hypothese nimmt eine Kopplung von Aggression und
Frustration an, was gleichzeitig auch einen Kritikpunkt an diesem Ansatz darstellt. So sind als
Folge von Frustration neben Aggression auch Resignation, konstruktive Bewältigung oder
andere Reaktionen möglich. Somit ist von unterschiedlichen Reaktionsarten auszugehen, von
denen aggressives Verhalten nur eine häufig auftretende Variation darstellt. Frustration und
Aggression stehen nicht notwendig in einem Kausalzusammenhang. Die von Dollard et. al.
aufgestellte Zusatzhypothese, daß durch Frustration hervorgerufene Aggression umso heftiger
auffällt, je stärker das Individuum frustriert wurde, ist so pauschal nicht haltbar. Dennoch hängt
die beobachtbare Reaktion von verfügbaren Alternativreaktionen sowie der Hemmung
aggressiver Impulse durch die Außenwelt ab, beispielsweise von einer zu befürchtenden
negativen Sanktion (vgl. Darstellung bei Brinkmann, 1974, S. 24). Im Rahmen der FrustationsAggressions-Hypothese ist die Definition des Frustrationsbegriffs recht eng. Eine erweiterte
Definition zielt neben der Störung gerichteter, aktivierter Verhaltensweisen auch auf jede andere
Beeinträchtigung einer Person ab, so z. B. Frustration durch Krankheit und, Lärm oder
ungünstige existentielle Bedingungen (vgl. derselbe, a.a.O., S.23).
Ein interessantes Phänomen ist in diesem Kontext die "verschobene Aggression" (vgl.
Darstellung bei Horstmann und Müller, 1995, S. 61). Diese läßt sich mit dem Konstrukt der
"Sündenbocktheorie" in Anlehnung an Berkowitz (1962) erklären. Berkowitz ging von den
Grundannahmen der Frustrations- Aggressions- Hypothese aus: Frustration ruft beim Frustrierten
Aggression hervor. Dieser kann die Aggression nicht am "Frustrator" auslassen. Die aggressive
Tendenz wird daher vom eigentlichen Frustrator weggeleitet, z. B. wenn der Frustrator negative
Sanktionen erwarten läßt oder zu mächtig erscheint (vgl. Mummendey, 1985, S. 186). Die
Aggression wird dann an einem in der Regel schwächeren Aggressionsobjekt, dem
"Sündenbock", ausagiert. Das Aggressionsobjekt steht mit der eigentlich erlittenen Frustration in
keinem Kausalzusammenhang (vgl. zur Sündenbocktheorie weiterführend Berkowitz, 1962).
Dieser Konzeption kann die bereits gegen die Grundannahmen der Frustrations-AggressionsHypothese formulierte Kritik entgegengehalten werden: Aggression und auch
Aggressionsverschiebung auf ein Ersatzobjekt sind eine Variante möglicher Reaktionsarten.
Sowohl durch die Variabilität von Frustration als auch der Reaktion auf die Frustration wird die
Frustrations-Aggressions- Hypothese erheblich relativiert und durch ihre reduzierte
Betrachtungsweise der Komplexität der Mensch-Umwelt-Interaktion nicht gerecht.
Bezug auf Schulalltag: Für den Umgang mit Gewalt in der Schule ergeben sich einige
"Denkanstöße": Frustration von SchülerInnen bezogen auf Lernarrangement und Bewertung von
Schulleistungen, aufgrund individualbiographischer Schwierigkeiten etc. sollte in ihrem Effekt
auf abweichendes Verhalten nicht unter-schätzt werden. Bei der Einschätzung der
Frustrationsschwelle von SchülerInnen sind neben individuellen und situativen Merkmalen auch
31
Frühwarnzeichen im Unterricht wie Unaufmerksamkeit, Lärm zu beachten.- Zu den Begriffen
Frustration und Frustrationsschwelle gehört- komplementär- auch Frustrationstoleranz, die es gilt
im schulischen Kontext gezielt zu trainieren, so daß es gar nicht erst zu aggressiven
Impulsdurchbrüchen bzw. gewalttätigem Verhalten kommen muß.
4.3.2 Sozialisations- und schultheoretische Perspektiven
Im Rahmen einer sozialisationstheoretischen Konzeption wird abweichendes Verhalten- z.B. in
Form gewalthafter Einstellungen und Handlungsmuster- als Teil der Persönlichkeitsentwicklung
begriffen. Persönlichkeit im Kontext mit Sozialisation definiert Hurrelmann (1995) als das
"(...)einem Menschen spezifische organisierte Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und
Handlungskompetenzen (...)das sich auf der Grundlage der biologischen Ausstattung als Ergebnis der
Bewältigung von Lebensaufgaben jeweils lebensgeschichtlich ergibt.(..)"(Hurrelmann, 1995, S.14)
Gewalthandeln und gewalthafte Einstellungen sind -sozialisationstheoretisch betrachtetabhängig von den jeweiligen Erfahrungen, die das Subjekt in der Interaktion mit seiner
Lebenswelt erfährt, eingebettet in den soziohistorischen Kontext.
Eine schultheoretische Betrachtung versucht, gewaltbeinhaltende Einstellungen und
Verhaltensmuster unter schulspezifischen Bedingungsfaktoren zu sehen. Hier werden Aspekte
der schulischen Sozialisation relevant (vgl. oben unter 2.2). Daher lassen sich schultheoretische
und sozialisationstheoretische Perspektive nicht klar voneinander trennen, sind eher miteinander
verschränkt. Strukturelemente der Institution Schule, vom Lernarrangement bis hin zum
Schulklima sollen in ihrem Einfluß auf SchülerInnengewalt hinterfragt werden bzw. wird
versucht, diese schulpädagogisch oder schulorganisatorisch zu erklären ist (vgl. Holtappels,
1997, S.29).
Im Folgenden werde ich einige -aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang einschlägigePerspektiven erläutern.
4.3.2.1 Anomietheorie bezogen auf die Institution Schule
Die Anomietheorie geht auf Durkheim (1973) und Merton(1957) zurück. Diese konzentrieren
sich in ihrer Konzeption auf gesellschaftliche und institutionelle Strukturen von Desorganisation,
die sich in einer Störung oder Auflösung befinden. Die Bezeichnung leitet sich ab von griechisch
" a-nomos" und bedeutet übersetzt soviel wie "ohne Gesetz". In Anlehnung an Kandil (1995)
verlieren im anomischen Zustand herrschende Werte, Normen und Orientierungen an
Verbindlichkeit. Unter anderem können dadurch bei den Individuen Krisen mit der Folge
abweichender Verarbeitungsmuster hervorgerufen werden- Gewaltförmiges Verhalten und
gewaltförmige Einstellungen im Kontext Schule gelten -interpretiert im Rahmen der
Anomietheorie- als deviante Verarbeitungsmuster, die als mögliche Folgen auftreten können. In
Anlehnung an Durkheim(1973) ist von drei Dimen-sionen von Desorganisation auszugehen: (1)
32
Soziale Desorganisation, (2) Re-striktive Konformitätszwänge, (3) Ziel-Mittel- Diskrepanzen.
Diese sollen im folgenden in Bezug auf Schule erläutert werden.
Die Moral des Kollektivs sowie die soziale Kontrolle werden im Schwebezustand der Anomie
Frage gestellt. Mangels dieser Kollektivbindung ensteht "soziale Desintegration", das heißt
interne Strukturen des sozialen Systems lösen sich auf und verhindern soziale Verortung und
Orientierung (vgl. Kandil 1995, S. 8). Soziale Bindungslosigkeit und Entsolidarisierung unter
SchülerInnen werden nach Holtappels (1997) insbesondere über leistungsbezogene und soziale
Selektions-prozesse gefördert. So bedroht Schulversagensangst die Identität und das
Selbstwertgefühl der Individuen, was zum Verlust der sozialen Identität in der Lerngruppe
führen kann. Als weitere Dimension von Desorganisation führt Durkheim "restriktive
Konformitätszwänge" an. Darunter ist zunächst der gesellschaftliche Zwang zur (individuell)
beschränkenden Anpassung zu verstehen. Der Terminus läßt sich jedoch noch differenzierter
erläutern: Als zwanghafte Konformität wird in Anlehnung an Parsons (1902-1979) der
Sachverhalt bezeichnet, daß eine Person negative Gefühle gegenüber dem Handlungspartner
hegt, gleichzeitig jedoch ein starkes Bedürfnis hat, die Beziehung zu diesem Partner nicht zu
gefährden. Als Folge dieses Ambivalenzkonflikts versucht die Person dann, in übertriebener
Weise den Erwartungen des Partners zu entsprechen (vgl. dazu Peuckert, 1995, S. 164).
Bezogen auf Schule ergibt sich daran anschließend für die SchülerInnen sozialer
Anpassungsdruck, beispielsweise durch den heimlichen Lehrplan, durch eingeübte und
praktizierte hierarchische Kommunikationsstrukturen. Die nach außen gezeigte Anpassung an
Rollenvorgaben erfolgt im Kontext der Anomietheorie seitens der SchülerInnen ambivalent.
Extern demonstrierte soziale Anpassung kann gleichzeitig intrasubjektiv zur Unterdrückung von
Individualität und zum Erleben von Ohnmacht und Fremdbestimmung führen. So weist
Holtappels (1997) darauf hin, daß die einseitige Betonung von Pflichterfüllung und Konformität
in der Schule zur Störung von Identitätsbalance führe und im restriktiven Klima die Wahrscheinlichkeit von Normübertretungen steige. Dies werde durch geringe Partizipations-chancen und
dadurch bedingter innerer Distanz zur Schule nur noch verstärkt (vgl. derselbe, a.a.O, S. 32).
Eine weitere Form von Desorganisation findet sich bei Durkheim (1973) unter dem Begriff
"Ziel- Mittel- Diskrepanz". Gesellschaftlich hochbewertete Ziele und durch Normen festgelegte,
strukturell ungleichmäßig verteilte Mittel klaffen auseinander. Anders ausgedrückt: Es besteht
ein gesellschaftliches Mißverhältnis zwischen menschlichen Bedürfnissen und den tatsächlichen
Möglichkeiten, diese Bedürfnisse in die Realität umzusetzen (vgl. Kandil, 1995, S.7/8). Dies
erzeugt eine "anomische Spannung", die sowohl den Rückgriff auf unerlaubte Mittel und
abweichendes Verhalten als auch die Aufgabe für erstrebenswert gehaltener Ziele oder die Suche
nach Alternativen zur Folge haben kann.
Bezogen auf Schule:
33
Hochbesetzte Werte wie Schulleistungen und Schulerfolg können von Teilgruppen von
SchülerInnen nicht mehr erreicht werden, was u. a. von außer- und innerschulischen
Sozialisationsbedingungen, sozialer sowie unterschiedlicher ethnischer und geschlechtlicher
Zugehörigkeit abhängig ist. Selbst wenn Leistungs- und Konformitätsanforderungen in der
Schule erfüllt werden, sind vor dem gegebenen sozialen Hintergrund damit noch keine
materiellen Erfolge oder sichere soziale Positionierung verbunden. Auch dies kann bei
SchülerInnen "anomische Spannung" erzeugen, mit der Folge von Rückzug, Einsamkeit,
Perspektivlosigkeit, Ohnmachtsgefühl, Unsicherheit und Frustration, die sich in diffusen
Aggressionen entladen können (vgl. Kandil, 1995, S.8).
4.3.2.2 Gewalt als Ausdruck von Individualisierungstendenzen und Desintegration
Der als sozialisationstheoretisch zu qualifizierende Ansatz von Heitmeyer (1995) beinhaltet das
sogenannte "Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt- Konzept". Dies soll Verunsicherungen
von Jugendlichen und damit verbundene Äußerungen von Gewalt als Folge von
Indivdualisierungsprozeß und der damit einhergehenden Desintegration erklären.
Individualisierung meint unter Rückgriff auf das Individualisierungskonzept von Beck die
Freisetzung der Individuen aus den Sozialformen der Industriegesellschaft wie Klasse, Schicht,
Familie sowie Geschlechtslagen von Männern und Frauen (vgl.Beck 1986, S. 115 ff). Das
Phänomen der Desintegration konkretisiert Heitmeyer, indem er auf Ausgrenzungs- und
Auflösungsprozesse im Kontext sozialer Zugehörigkeit und Beziehungen, faktischer Teilhabe an
gesellschaftlichen Institutionen und der Verständigung über gemeinsame Wert- und
Normvorstellungen hinweist (vgl. Heitmeyer, 1995, S. 60). Desintegration erzeugt demzufolge
bei den Individuen Verunsicherung in Form von Ratlosigkeit oder "Sackgassengefühlen" bis hin
zur "überwältigenden" Verunsicherung, die durch das Fehlen personaler und sozialer
Bewältiungskompetenz gekennzeichnet ist (vgl. derselbe, a.a.O., S.67).
Die Verarbeitung von Verunsicherung erfolgt durch unterschiedliche Muster, die sich auch in
Gewaltformen ausdrücken können. Bezogen auf Schule problematisiert Heitmeyer unter dem
Terminus "Individualisierungszwang" insbesondere den sogenannten "Positionierungs- und
Plazierungsdruck". Individuen geraten unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen
unter Präsentations- und Anpassungszwänge- dies schlägt sich in schulischem Konkurrenz- und
Leistungsdruck nieder. Heitmeyer und Ulbrich- Herrmann folgend äußere sich dieser in den
Bereichen kognitiver und sprachlicher Leistung (Bewertung durch Notensystem), körperlichästhetischer und konsumkultureller Konkurrenz und verbalsymbolischen oder körperlich
muskulöser Stärkedemonstrationen z.B. außerhalb von Schulstunden (vgl.dieselben 1997, S. 49).
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Schulabschlüssen für die
gesellschaftliche Statuszuweisung und synchronem Bedeutungsverslust dieser Abschlüsse als
Garantie einer sozialen Absicherung entsteht neue Verunsicherung. Diese wird Heitmeyers
34
Konzeption folgend von SchülerInnen u.a. auch durch gewaltbehaftete Handlungsmuster
verarbeitet. Ordnet man Gewalt und gewaltförmiges Verhalten in der Schule nach diesem Ansatz
ein, so ergibt sich für die Ursachen folgende Mehrebenenbetrachtung:
1) Gesellschaftliche Entwicklungen und soziostrukturelle, milieuspezifische Veränderungen als
Ursachen auf der Makroebene
2) Institution Schule, deren interne Abläufe und deren gesellschaftliche Funktion auf als
Verursacherin auf der Mesoebene
3) Gewalt als individuelles Einstellungs- und Handlungskonzept, beobachtbar anhand von
Interaktionen auf der Mikroebene (vgl. Heitmeyer/Ulbrich-Herrmann 1997, S.47)
Diese Ebenen sind in ihrem Einfluß auf die SchülerInnen und im Hinblick auf das Entstehen von
Gewalt zu hinterfragen. Der komplexe Ansatz Heitmeyers erlaubt eine mehrdimensionale
Betrachtung, erfordert aber auch eine differenzierte Kenntnis über Sozialisationsabläufe und
verlangt eine kritische Haltung zur Institution Schule als gesellschaftliche Institution. Deutlich
wird, daß es sich bei Gewalt in der Schule nicht um ein monokausales Bedingungsgefüge
handelt. Pädagogogische Konzeptionen müßten sich im Rahmen dieses Ansatzes insbesondere
gegen Verunsicherungen von SchülerInnen richten und auf Identitätsbildung und soziale
Verortung abzielen sowie sämtliche Aspekte des heimlichen Lehrplans (vgl. unter 2.2.3)
hinterfragen.
4.3.2.3 Weitere Betrachungsweisen: Sozialökologischer und interaktionstheoretischer
Ansatz
Der sozialökologische Ansatz problematisiert schulische Lern- und Erziehungsumwelt als
gewaltfördernden Zusammenhang. Von Bronfenbrenner (1976) entwickelt, bezieht sich diese
Theorie auf das Wechselwirkungsgefüge zwischen Bedingungen schulischer Lern- und
Sozialumwelt und individuellen Person-merkmalen sowie subjektiver Verarbeitung der
SchülerInnen. Ausgehend von einer Mensch-Umwelt- Interaktion erklärt sich Gewalt bei
SchülerInnen als Resultat dieses Interdependenzverhältnisses. Sofern Schulumwelt problemfördernde Strukturen aufweist, hat das Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und das
Handeln von SchülerInnen. Deviante oder gewalthaltige Bewältigungsformen können als
Anwort auf schulische Problemlagen gesehen werden. So konnten Fend (1977) und Mitabeiter in
einer Schulklimastudie den Einfluß von hohem Anpassungsdruck und negativen
Sozialbeziehungen auf abweichendes Verhalten nachweisen.
Auch Holtappels (1987) kommt in seiner Studie zum Ergebnis, daß SchülerInnen eher schulische
Normen übertreten, wenn sie den Lebensweltbezug von Unterricht vermissen, niedriges soziales
Lehrengagement verzeichnen oder kaum Mitbestimmungsmöglichkeiten haben. Daraus folgt,
daß sich ein pädagogisch problematisches Schulklima begünstigend auf abweichendes Verhalten
und damit auch auf gewaltbehaftetes Verhalten bei SchülerInnen auswirkt. Die Begriffe
35
Schulklima/Schulumwelt sind in diesem Zusammenhang mehrdimensionale Konstrukte, die sich
durch viele Einzelfaktoren konkretisieren lassen (vertiefend dazu Fend 1977).
Innerhalb des interaktionistischen Ansatzes wird abweichendes, gewalt-beinhaltendes Verhalten
als Ergebnis schulischer Etikettierungsprozesse diskutiert. Nach der Interaktionstheorie deuten
Menschen wechselseitig das Verhalten des anderen vorweg, um angemessen zu handeln. In der
Schule handelt es sich um organisierte Interaktion, so daß dieser Aushandlungsprozeß nicht frei
erfolgt, sondern der sozialen Kontrolle der Institution Schule unterliegt. Die Definitionsmacht in
einer konfliktbehafteten Situation zwischen SchülerIn/ LehrerIn liegt im Zweifel bei der
LehrerIn als VertreterIn der Institution. Der Interpretationsspielraum von SchülerInnen ist daher
geringer (Gudjons, 1995, S.246).
Für die Erklärung des Gewaltphänomens in der Schule als deviantes Verhalten ist insbesondere
der Labeling-Approach -Ansatz von Goffman (1967) sowie die Weiterführung des
Etikettierungsansatzes von Brusten /Hurrelmann (1973. S. 31ff) von Bedeutung. Danach könnte
eine abweichende Identität einer gewalttätigen SchlägerIn wie folgt entstehen:
Rollenerwartungen werden in Interaktionen stetig und rigide von der Umgebung
(MitschülerInnen und LehrerInnen) geäußert, so daß SchülerInnen sich schließlich zu einer
Übernahme einer solchen Identität gedrängt fühlen. Seitens der Umwelt und der
InteraktionspartnerInnen wird ihnen keine andere als die angesonnene Gewalttäterrolle
zugestanden. Hargreaves (1981) bezeichnet diesen Vorgang als "Devianzzuweisung". Bei
entsprechender Häufigkeit enstehen Negativetikettierungen, die nach Brusten/Hurrelmann
(1973) für die Betroffenen mit einem neuen sozialen Status und neuen Rollenerwartungen
seitens der InteraktionspartnerInnen verbunden sind. Dies hat Folgen für das Selbstkonzept des/
der Etiketttierten bis hin zur Erfüllung der abweichenden Rolle (im Sinne einer self-fulfilling
prophecy3).
Selektivität und Subjektivität von LehrerInnenwahrnehmung und -verhalten kann zu sehr
unterschiedlicher Bewertung von SchülerInnenverhalten führen. Teilweise entstehen
Devianzzuweisungen, teilweise wird umgedeutet oder ignoriert. Dies wird auch von
intersubjektiver Sympathie abhängen. Für die Etikettierung "deviant" problematisiert die
interaktionistische Betrachtungsweise insbesondere die asymmetrische LehrerIn/SchülerInInteraktion. Es wird deutlich, daß dauerhaft deviantes und damit auch gewaltbehaftetes
Verhalten Ergebnis eines schulischen Etikettierungsprozesses sein können. Die Reflektion der
eigenen Rolle als LehrerIn ist Voraussetzung, solchen Etikettierungsprozessen entgegenzuwirken
bzw. sie nicht voranzutreiben oder in Gang zu setzen.
3
deutsch: sich selbst erfüllende Prophezeihung. Bezeichnung für die Beobachtung, daß ein Verhalten eines
Menschen mit um so größerer Wahrscheinlichkeit auftritt, je mehr dieses Verhalten erwartet wird.
36
4.4
Fazit zu Abschnitt 4
Die dargestellten Theorien setzen unterschiedliche Akzente. Die Dimensionen Person/
Persönlichkeit, Situation, gesellschaftlicher Kontext und Person-Umwelt- Interaktion werden
dabei in fast allen genannten theoretischen Betrachtungen einbezogen- entweder in ihrer Summe
oder in Teilen. Von "richtiger" oder "falscher" Betrachtung kann nicht die Rede sein. Vielmehr
erscheint es sinnvoll, eine Art "Gesamtschau" zu entwickeln.
Je nach situativem Kontext kann die eine oder andere Erklärungsebene mit der jeweils am
ehesten einschlägigen Perspektive zutreffen. Bei der Analyse gewaltbehafteter Handlungen kann
nicht von einem monokausalen Bedingungsgefüge ausgegangen werden. Bezogen auf ein
"gewalttätiges Klassenzimmer" kann es sinnvoll sein, einige besonders "gewalttätige
Protagonist-Innen" in der SchülerInnenschaft bezogen auf ihre individualbiographische
Problematik zu betrachten, gleichzeitig aber auch die Kommunikationsstrukturen in der Klasse
zu untersuchen. Dazu ist der Klassenverband als Gruppe zu analysieren und zu hinterfragen, ob
das Lernklima stimmig ist. - Die Qualität von Intervention ist daher auch abhängig von der
adaequaten Erfassung einer Problemstellung. Gezielter pädagogischer Umgang mit Gewalt muß
den Ist-Zustand erfassen können und eine Vorstellung eines Sollzustands vor Augen haben. Die
Kenntnis eines multifaktoriellen Ursachenmodells ermöglicht
eine umfassende
Herangehensweise. Die dargestellten theoretischen Konstrukte erlauben unterschiedliche
Perspektiven bis hin zur Erfassung gesellschaftlicher Grenzen und Problemlagen, wie an den
Ausführungen zur Anomietheorie und zur Konzeption Heitmeyers verdeutlicht wurde.
5
Der Umgang mit schulischer Gewalt: Ansätze und Modelle zu
Prävention und Intervention4
Bei den Beiträgen zu Gewalt in der Schule finden sich eine Vielzahl von Konzepten, Ansätzen
und Programmen. Zum Teil handelt es sich um programmatische Texte, die eine umfangreiche
Erläuterung von Zielvorstellungen für Erziehung und Bildung, die den Umgang mit Gewalt in
der Schule zum Thema haben, beinhalten (vgl. z.B. Struck, 1994). Daneben sind Arbeiten
entstanden, in denen ein Konzept vorgestellt, begründet
und in seinen
Realisierungsmöglichkeiten überprüft wird. Oft sind diese im Rahmen von Modellversuchen
oder speziellen Unterrichtsprojekten entstanden, die von einem pädagogischen Ansatz wie
soziales Lernen 5oder Erziehung zu Toleranz, Kooperation und Solidarität ausgehen.
4
Zu den Begriffen Prävention/Intervention vgl. unter 2.3
:"Soziales Lernen" wird in unterschiedlicher Weise definiert: Als unvermeidliche, ungeplante
Begleiterscheinung menschlichen Umgangs (funktionale Betrachungsweise), als intentional betriebenes und nach
Lernorten, Zielen und Vorgehensweisen zu differenzierendes Lernarrangement sowie im Kontext vom Erwerb
sozialer Kompetenzen/ Kenntnisse/ Einstellungen und Verhaltensweisen. Zum Lernprozeß vgl. oben 4.1.3.2.
Als übergeordnete Lernziele werden Emanzipation, Solidarität und soziale Kompetenz benannt(vgl. zum Ganzen
Wegener-Spöhring, 1993, S. 869)
5Anmerkung
37
Unter Bezug auf die unter 4. 2 dargestellten Bedingungskonstellationen von Gewalt läßt sich
vorab eine Orientierung für die Einschätzung von Maßnahmen vornehmen. Auf der Ebene von
Persönlicheit (individualbiographischer Kontext) lassen sich sämtliche Maßnahmen einordnen,
die auf Stärkung von Ich-Identität, Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein abzielen. Auf der
Ebene Interaktion (interaktioneller Kontext) setzen Konzepte an, die der Verbesserung
interpersoneller Kommunikation dienen. Darunter fallen insbesondere die Vermittlung von
angemessener Bearbeitung und Austragung von Konflikten als Bestandteil sozialen Lernens.
Maßnahmen auf der sozialökologischen Ebene haben insbesondere die Verbesserung von
Schulklima und Lernkultur zum Inhalt. Vorab sei darauf hingewiesen, daß Konzepte durchaus
auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen können.
Bei den Maßnahmen ist grundsätzlich zwischen korrektiven und präventiven Maßnahmen zu
differenzieren. Korrektive Maßnahmen setzen unmittelbar in der Situation an und stellen eine
Reaktion auf gewalttätiges Verhalten dar. Präventive Maßnahmen hingegen sind längerfristig
konzipiert und auf die Verminderung von Gewalt und Gewaltbereitschaft im Kontext der
jeweiligen Schule gerichtet.
Je nachdem, wann die Maßnahme ansetzt, ist zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
zu unterscheiden. Als primärpräventiv werden Maßnahmen eingeordnet, die bereits vor
jeglichem Auftreten gewaltbehafteten Verhaltens beginnen. Sekundärprävention setzt an, sofern
Aggressions- und Gewaltprobleme in der Schule bereits eingetreten sind. Dabei soll eine
Ausweitung und Verfestigung der Problematik vermieden werden. Tertiärprävention beinhaltet
die Intervention bei massiven Problemen, Rückfallprophylaxe und Resozialisierung ehemals
gewalttätiger SchülerInnen (vgl. dazu Dann, 1997, S. 355).
Im Rahmen dieses Abschnitts sollen nun unterschiedliche komplexe Modelle und Konzeptionen
zum Umgang mit Gewalt vorgestellt werden. Am Ende jeder einzelnen Darstellung werde ich
eine kurze Einordnung und Bewertung vornehmen.
5.1
Interventionsprogramm gegen Mobbing in der Schule nach Olweus
1993 gab die Landesregierung Schleswig-Holstein eine gutachterliche Stellungnahme zum
Thema Gewalt und Aggressivität an Schulen in Schleswig-Holstein in Auftrag (vgl. Niebel,
Hanewinkel, Ferstl, 1993). Auf Grundlage der Befragungsergebnisse und der
Gutachterergebnisse wurden 1994 seitens der Ministerin für Bildung, Wissenschaft , Forschung
und Kultur besondere Mittel zur Verfügung gestellt, um ein Programm zur Gewaltprävention an
schleswig-holsteinischen Schulen zu entwickeln und anzubieten. Dazu wurde Kontakt zu Dan
38
Olweus aufgenommen, der bereits in Skandinavien Gewaltpräventionsprogramme entwickelt,
durchgeführt und evaluiert hat. Grundlage des Programmes, das an schleswig-holsteinischen
Schulen durchgeführt wird, ist die Übersetzung eines Handbuchs von Olweus aus dem
Norwegischen (vgl. Olweus, 1994).
5.1.1 Theoretischer Hintergrund
Hauptziel seines Interventionsprogramms ist nach Olweus
"(...) soweit wie möglich bestehende Gewalttäter/ Gewaltopfer- Probleme innerhalb und außerhalb der
Schulumgebung zu vermindern und die Entwicklung neuer Probleme zu verhindern- idealerweise vollständig
zu beseitigen-"(Olweus, 1994, S. 28).
Das
Interventionsprogramm
besteht
aus
zwei
Teilen,
Teil
1
befaßt
sich
mit
Hintergrundinformationen zu Gewalt in der Schule, in denen sich Olweus (1994) auf empirische
Untersuchungen in Schweden und Norwegen bezieht und sich mit der Typologie möglicher
GewalttäterInnen und Gewaltopfern befaßt. Außerdem analysiert Olweus, welche
Erziehungsbedingungen dazu beitragen, daß Kinder aggressiv werden. Teil 2 enthält die
inhaltliche Darstellung der Maßnahmen.
Die Analyse und das Interventionsprogramm stützt sich auf lerntheoretische Ansätze:
Gewalttaten stellen im wesentlichen ein gelerntes aggressives Verhaltens-muster dar. Dies wird
positiv verstärkt , indem die TäterIn ihr Ziel erreicht und/ oder Aufmerksamkeit von den
Bezugspersonen erfährt. Aggressive Verhaltens-muster besitzen nach Olweus Modellcharakter
für MitschülerInnen und werden durch sozialpsychologische Phänomene wie "soziale
Ansteckung" und "Verlust individueller Verantwortung" verstärkt (vgl. Olweus, 1994, S. 23).
Es werden aber auch detaillierte Überlegungen zu den Interaktionsbeziehungen von TäterInnen,
Opfern, Lehrern und Eltern angeführt und auf folgende außerschulische Faktoren als
Bedingungsfaktoren für schulische Gewalt verwiesen: Ungünstige familiäre Erziehungsmuster,
Persönlichkeitsdispositionen, sozioökonomische Faktoren etc. (vgl. derselbe 1994, S. 24).
In seiner Konzeption erweitert Olweus den "engen Gewaltbegriff der Gewaltkommission" (vgl.
dazu unter 2.1.1) um psychische und verbale Formen von Gewalt. Vandalismus bleibt innerhalb
seiner Definition unberücksichtigt (vgl. Hanewinkel/Knaack, 1997, S.3). Zentrale Begriffe im
Kontext des Interventionsprogramms von Olweus sind "Mobbing"6 und "Bullying"7. Der Begriff
"Mobbing" stammt aus Skandinavien und steht synonym für Gewalttätigkeit oder Probleme mit
GewalttäterInnen und Opfern.Olweus definiert gewalttätiges "Mobben" in der Schule wie folgt:
6Anmerkung:
vgl. Fußnote 1
Ein Begriff, der Probleme von Gewaltopfern und Tätern unter der Dimension psychischer Gewalt erfaßt, existiert
nicht im Deutschen, wird aber durch den Begriff "bullying" erfaßt. (to bully= seine Kraft und Macht rücksichtslos
einsetzen, um Schwächere zu schrecken oder zu verletzen), (vgl. dazu Hanewinkel et al., 1997 S. 3) Bullying wird
hier als "Gewalttat" im Sinne der Definition von Olweus verstanden
7
39
"Ein Schüler/eine Schülerin wird gemobbt, wenn er/sie wiederholt über längere Zeit den negativen
Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler/Schülerinnen ausgesetzt ist" (vgl. derselbe, 1997, S. 282).
Negative Handlungen können nach Olweus verbal (durch drohen, spotten, hänseln und
beschimpfen), durch Körperkontakt (durch schlagen, stoßen, treten, kneifen oder festhalten) oder
auch ohne Wort- oder Körperkontakt (durch Fratzenschneiden, Ausschluß aus einer Gruppe,
etc.).begangen werden (vgl. Hanewinkel et al., 1997.S.3). Voraussetzung für das Vorliegen von
Mobbing ist immer ein Ungleichgewicht der Kräfte von TäterIn und Opfer.Olweus spricht auch
von einem "asymmetrischen Kräfteverhältnis" als Indiz für das Vorliegen von Mobbing (vgl.
derselbe, 1994, 13). "Mobbing" liegt hingegen nicht vor, wenn die Streitbeteiligten gleich stark
sind.
Wichtig für das Verständnis des Konzepts von Olweus ist seine "Täter-Opfer- Typologie", die
hier kurz skizziert werden soll:
"Das typische Opfer ist ängstlicher und unsicherer als es Schüler(innen) im allgemeinen sind. Außerdem ist
es oft vorsichtig, empfindsam und still. Wenn es von anderen Schüler(innen) angegriffen wird, reagiert es
meistens mit Weinen und Rückzug(...)Opfer leiden darüberhinaus unter mangelndem Selbstwertgeühl, sie
haben eine negative Einstellung zu sich selbst und ihrer Situation.(...) Diese Kinder haben häufig eine
negative Einstellung gegenüber Gewalt und der Anwendung von gewalttätigen Mitteln(...)"(Olweus, 1997, S.
286 mit Verweis auf empirische Belege).
Als Variation führt Olweus die Gruppe der "provozierenden Opfer" an. Diese zeichneten sich
durch eine Kombination von ängstlichen und aggressiven Verhaltensmustern aus. In der Praxis
würden die vorher beschriebenen "passiven, sich ergebenden Opfer" erheblich häufiger
vorkommen(vgl. ebd.).
Die typische GewalttäterIn ist nach Olweus aggressiv gegen Gleichaltrige, oft auch gegenüber
Erwachsenen wie LehrerInnen und Eltern. Gewalt ist aus Sicht der TäterIn hinsichtlich der
Bewertung und Anwendung positiv besetzt. Oft zeichne sich die typische GewalttäterIn durch
besondere Impulsivität und ein starkes Bedürfnis aus, über andere Macht auszuüben.
Gleichzeitig mangele es aber an Mitgefühl für die Gewaltopfer. Olweus verweist dabei auf
eigene Untersuchungen, die gezeigt hätten, daß GewalttäterInnen in der Schule im Durchschnitt
ungewöhnlich selten unsicher waren und eher ein stabiles -zumindest aber ein
durchschnittliches- Selbstwertgefühl aufweisen würden (vgl. derselbe 1997, S. 288 mit weiteren
Verweisen).
Als Mitläufer oder "passive Gewalttäter" bezeichnet Olweus diejenigen, die GewalttäterInnen
unterstützen.
Insgesamt ist die Darstellung "typischer" TäterInnen und Opfer modellhaft zu verstehen, Olweus
ist sich durchaus der Varitionen in der Praxis bewußt. Seine Ausführungen dienen der
Orientierung, sind in der Anwendung im konkreten Einzelfall jedoch zu überprüfen.
40
Das theoretische Modell von Olweus "bullying at school" ist von Hanewinkel und Knaack
(1997) vereinfacht zusammengefaßt worden. Der Bully (Gewalttäter) bietet folgendes Täterbild:
Er zeigt gelernte aggressive Reaktionsmuster, erscheint in seiner Aktion gegen das Opfer
überlegen, durchsetzungsfähig und grenzenlos (vgl. Ausführungen im vorigen Absatz). Das
Opfer reagiert ängstlich-verunsichert und schließlich mit Passivität, Rückzug und Schweigen auf
die Gewalttat. Die zuschauenden MitschülerInnen reagieren ambivalent, ängstlich und zum Teil
auch fasziniert, was teilweise zu passivem Voyeurismus und Mitläufertum führt. LehrerInnen
reagieren nach Olweus in der Situation häufig unentschlossen und ohnmächtig-hilflos. Sie
reagieren auf die Gewaltaktion entweder schwach, inkonsistent oder gar nicht. Die Elterngruppe
erfährt von dem Vorgang entweder nichts oder wenig und ist von daher von jeglicher
Intervention ausgeschlossen. Bei unzulänglicher Reaktion auf den Gewaltakt kann ein Kreislauf
(vicious circle) entstehen: Der Täter (Bully) wird bei Erfolg in seinem Verhaltenmuster verstärkt,
durch das erfolgreiche Modellverhalten können MitschülerInnen zur Imitation bewegt werden.Um diesen Kreislauf an möglichst vielen Stellen zu unterbrechen, sollen potentielle TäterInnen
und ihre Opfer lernen, angemessen miteinander auszukommen. Priorität hat dabei aus Olweus
Sicht die Steigerung der sozialen Kompetenz (vgl. zum Ganzen Hanewinkel et al. 1997, S. 4f).
5.1.2 Umsetzung und Inhalte des Interventionsprogramms
Als übergeordnetes Ziel benennt Olweus die Verminderung bestehender und potentieller
Gewalttäter/ Gewaltopfer-Probleme innerhalb und außerhalb der Schulumgebung, die
Verhinderung neuer Problem- idealerweise deren vollständige Beseitigung (vgl. derselbe, 1994,
S. 25). Darüber hinaus nennt er vier Unterziele:
1) Das Bewußtsein für das Täter-Opfer- Problem zu schaffen und neue Erkennt-nisse darüber
zu gewinnen
2) Die aktive Beteiligung von Eltern und LehrerInnen
3) Klare Regeln gegen Gewalt zu entwickeln
4) Den Opfern Unterstützung und Schutz gewähren (vgl. dazu Olweus 1997, S. 296)
Als Grundprinzipien (Schlüsselprinzipien) für die Umsetzung seines Interventions-programms
fordert Olweus eine schulische Umgebung und ein elterliches Zuhause, wo folgende
Anforderungen erfüllt sind:
- Wärme und positive Anteilnahme seitens der Erwachsenen
-feste Grenzen gegenüber inakzeptablen Verhaltensweisen
-konsequente Anwendung nichtfeindlicher, nichtkörperlicher Strafen bei Grenzüberschreitungen
und Regelverletzungen, was auch einen gewissen Grad an Kontrolle der SchülerInnen erfordert
41
-Autoritative Erwachsenen- Kind- Interaktion: Erwachsene sollen über die Lernsituation der
SchülerInnen hinaus (Gesamtsituation inklusive der sozialen Beziehungen)Verantwortung
übernehmen (vgl. Olweus 1997, S. 294)
Nachfolgend soll nun das Interventionsprogramm von Olweus überblicksartig dargestellt
werden, wobei die kursiv gedruckten Maßnahmen zu den sieben Kernmaßnahmen gehören, die
als Basisvoraussetzungen für die Umsetzung des Programms betrachtet werden8:
1)
Maßnahmen auf der Schulebene
- Fragebogenerhebung bei den SchülerInnen zur Abschätzung des Ausmaßes von Gewalt
und Mobbing an der eigenen Schule
- Gestaltung eines pädagogischen Tages, wo die Fragebogenergebnisse diskutiert werden.
-
-
2)
-
3)
Einrichtung eines Kontakttelefons für Betroffene sowie Durchführung von schulinternen
Lehrerfortbildungen, die auf die Verbesserung des sozialen Milieus an der Schule abzielen
sollen
Themenbezogene Kooperation von Eltern und Lehrkräften, Bildung von Arbeitsgruppen
von Klassen- und Schulelternrat
Maßnahmen auf der Klassenebene:
Einführung von Klassenregeln gegen
Gewalt
inklusive
der
Einführung
von
Konsequenzregeln
Durchführung von regelmäßigen Klassengesprächen über die Bewährung und Einhaltung
der Regeln
Kooperatives Lernen, bei denen die SchülerInnen in kleinen Gruppen gemeinsam an einer
Aufgabe arbeiten
Gemeinsame positive Aktivitäten
Handlungsorientierte Behandlung des Themas im Unterricht z.B. durch Herausarbeitung
einschlägiger Konfliktsituationen in Rollenspielen
Maßnahmen auf der persönlichen Ebene
8
Durchführung einer Schulkonferenz, bei der ein schulspezifisches Programm zur
Gewaltprävention verabschiedet wird
Verbesserung der Pausenaufsicht und Umgestaltung des Schulhofs
Ernsthafte Gespräche mit den gewalttätigen Kindern und Opfern
Gespräche der LehrerInnen mit den Eltern der beteiligten Kinder
Hilfen für den familiären Bereich
Die nichtkursiv gedruckten Einzelmaßnahmen dienen der individuellen Ausgestaltung und Ergänzung der
Kernmaßnahmen (vgl. dazu Hanewinkel et al., 1997, S. 9).
42
-
Diskussionsgruppen für Eltern von Tätern und Opfern
-
Klassen- und Schulwechsel betroffener SchülerInnen (vgl. zum Ganzen Hanewinkel et al.,
1997, S.6 ff; Olweus, 1997, 295 sowie derselbe, 1994, S. 28 ff mit ausführlichen
Erläuterungen)
Aus der Darstellung wird ersichtlich, daß sich eine Schulen sinnvollerweise nur als
organisatorische Einheit an dem Interventionsprogramm beteiligen kann und damit
schulorganisatorische Umstrukturierungen erforderlich werden. Somit wird mit der
Entscheidung, das Interventionsprogramm umzusetzen, gravierend in die bestehende
Mikropolitik der jeweiligen Schule eingegriffen. Eine Orientierung nach dem
Interventionsprogramm nach Olweus erfordert die Kooperation sämtlicher an Schule beteiligten
Gremien sowie eine angemessene Instruktion der ausführenden Lehrkräfte. Diese müssen ihren
Handlungsspielraum über den eigentlichen Unterricht hinaus erweitern können.
Für die Umsetzung des Programms ist eine schulinterne Projektsteuerung und Koordination
erforderlich. Die Verantwortung hierfür soll von einer "Koordinierungsgruppe", die sich aus dem
Kollegium und der Schulleitung zusammensetzt, getragen werden (vgl. Hanewinkel/Knaack
1997, S. 36). Regionale und zentrale Unterstützung wird von einer zentralen Koordinationsstelle
angeboten, die auch den gegenseitigen Austausch der an dem Programm teilnehmenden Schulen
ermöglicht. Die regionale Unterstützung kann von der Unterstützung bei Analyse und
Interpretation von Fragebögen bis hin zur Begleitung und Durchführung pädagogischer Tage,
Schulkonferenzen und übergreifender Fortbildungsangebote reichen. Als externe BeraterInnen
kamen insbesondere die SchulpsychologInnen des Landes Schleswig Holstein in Betracht (vgl.
Hanewinkel/Knaack 1997, S. 42).
5.1.3 Evaluation
1983 - 1985 haben sich in der norwegischen Stadt Bergen 42 Schulen, davon 28 Grundschulen
und 14 Eingangsklassen mit insgesamt 2500 SchülerInnen an dem Interventionsprogramm und
dessen Evaluation beteiligt. Daten wurden vor Einsatz des Interventionsporgramms sowie 8-20
Monate nach erster Vorstellung des Programms via Fragebögen erhoben (zum Vorgehen
Olweus, 1994, S. 41).
Aus seinen Befunden ermittelt Olweus folgende Hauptergebnisse :
-
In den 2 Jahren nach Einführung des Programms ist eine Abnahme bei allen
Gewaltformen unter den SchülerInnen zu verzeichnen.
-
Nach zwei Jahren sind die Wirkungen des Interventionsprogramms deutlicher als nach
einem Jahr.
Die Gewalt verlagert sich nicht auf den Schulweg.
-
43
-
Auch
anderes
deviantes
Verhalten
wie
Vandalismus,
Trunkenheit
und
-
Schuleschwänzen haben abgenommen.
Das Sozialklima der Klassen hat sich verbessert.
Die Zahl neuer Gewaltopfer ist gesunken
Die Schulzufriedenheit der SchülerInnen ist angestiegen (vgl. Darstellung bei Olweus,
1994, S. 41)
Hanewinkel und Knaack haben innerhalb des Landesprojekts "Gewaltprävention in Schulen
(Olweus- Programm)" in Schleswig-Holstein eine Stichprobe von insgesamt 15.000
SchülerInnen (verteilt auf 47 Schulen) erhoben. Die Teilnahme am Projekt war für die Schulen
freiwillig, Grundbedingung war Interesse an der Projektteilnahme. Abgesehen von dem
Kriterium "Interesse" handelte es sich bei den Schulen um eine "unausgelesene" Stichprobe, so
daß die Ergebnisse als recht aussagekräftig bewertet werden können (zum weiteren Vorgehen
Hanewinkel/ Knaack 1997 S. 63 ff sowie dieselben 1997 a, S. 305 ff).
Mit einigen Differenzierungen werden die oben genannten Ergebnisse von Olweus in ihrer
Grundtendenz auch für die Evaluation in Schleswig Holstein bestätigt. Als positive Nebeneffekte
der Umsetzung des Programms werden darüber hinaus intensive Diskussionsprozesse und
Verbesserung der Kooperation im Kollegium benannt. Außerdem wird über
Klimaverbesserungen auf Schul- und Klassenebene, konkrete Veränderung schulischer
Organisationsstrukturen und äußerer Bedingungen wie Pausengestaltung und umgestaltete
Pausenhöfe positiv berichtet (vgl. dieselben 1997, S. 66 f).
Interessant erscheint mir folgendes Ergebnis: Während sich auf der konkreten Verhaltensebene
deutliche Veränderungen zeigen, scheinen sich die Einstellungen der SchülerInnen zum
"Mobben" kaum zu verändern. "Schwächere zu triezen, zu unterdrücken oder zu quälen ist
offenbar für manche Kinder von erheblichem Lustgewinn"(Hanewinkel/Knaack 1997, S. 67).
5.1.4 Einordnung
Das vorgestellte Programm kann auf eine fundierte Evaluation zurückblicken und gilt daher als
etabliert. Der Ansatz von Olweus ist interventionsorientiert, reagiert auf manifeste Gewalt unter
SchülerInnen. Als Prozeß gewertet kann dies aber auch der Prävention von Gewalt dienen, zumal
auf eine Umorientierung, ein Umlernen aller Beteiligten abgezielt wird.
Die theoretische Fundierung ist breit angelegt, insbesondere wird aus lern-theoretischer Sicht
argumentiert, ein Modell von Mobbing in der Schule entworfen sowie auf eine Täter-Opfer
Typologie zurückgegriffen. Durch das Kernprogramm erhält das Programm eine eindeutige
Struktur, gleichzeitig beinhaltet es durch Ergänzungen Gestaltungsfreiheit. Fragebögen bieten
die Möglichkeit der prozeßbegleitenden Evaluation, was für die Erfolgskontrolle wichtig sein
kann. Die Umsetzung des Programms ist jedoch ein aufwendiges Verfahren.
44
Hanewinkel und Knaack diskutieren die Umsetzung des "Olweusprogramms" nicht nur im
Rahmen von Intervention sondern auch im Kontext von Organisationsentwicklung. Sie
verweisen
auf
die
Standardschritte
von
Organisationsentwicklungsprozessen
(Bestandsaufnahme, Maßnahme, Planung, Durchführung und gegebenenfalls Änderung), die in
der Umsetzung der sieben Kernschritte des Olweusprogramms enthalten sind (vgl. dieselben,
1997, S. 11). Das Programm kann daher, abgesehen von der Notwendigkeit einer externen
Beratung, als Beitrag zu Schulentwicklung und Eigenständigkeit von Schule gesehen werden.Die jeweilige Schule kann die notwendigen Schritte selbst steuern und initiieren (vgl. dieselben,
a.a.O., S. 63).
Vorausgesetzt wird eine hohe pädagogische Kompetenz und Motivation von LehrerInnen sowie
die interessierte Partizipation von Eltern. Davon kann in der Praxis nicht immer ausgegangen
werden.
Bezogen auf den Umgang mit Kindern ist der Ansatz wenig partnerschaftlich orientiert. Olweus
bezeichnet ihn selbst als "autoritativ" und geht damit von einer erwachsenen Überlegenheit aus.
Dabei stellt sich die Frage nach parteilicher Kinderarbeit in der Schule und nach Partizipation an
Entscheidungsprozessen, die sie selbst betreffen..
Problematisiert wird Gewalt als Gewalt von SchülerInnen untereinander, nicht aber die Gewalt
Erwachsener gegen Kinder oder Gewalt der Institution Schule durch den heimlichen Lehrplan.
Daher werden nicht alle Dimensionen von Gewalt in der Schule erfaßt.
5.2
Gewaltfreier Umgang mit Konflikten nach Walker
Im folgenden Abschnitt soll ein Konzept veranschaulicht werden, das Gewalt und Aggression in
der Schule als sozialen Konflikt versteht und sich mit dem gewaltfreien Umgang mit Konflikten
in der Schule befaßt.
5.2.1 Kurzbeschreibung des Projekts:Projektträger/Projektgeschichte
Im Zeitraum von Oktober 1988 bis Januar 1991 führte Walker das Forschungsprojekt: "Gewalt
und Konfliktlösung unter Kindern: Entwicklung eines pädagogischen Konzepts zur
Überwindung gewaltförmiger Konfliktaustragung in der Grundschule" an der Heinrich- Zille
Grundschule in Berlin- Kreuzberg durch. Unterstützt wurde das Forschungsprojekt durch das
Förderprogramm Frauenforschung der Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie in
Berlin. Im Anschluß an das Projekt sind mehrere Publikationen entstanden (vgl. Walker 1991
und 1995). Die Zille - Grundschule befindet sich direkt in dem dicht besiedelten Bezirk BerlinKreuzberg, der nach Aussage Walkers (1995) bestimmt sei von sozialen Problemen, gleichzeitig
aber auch "von einem bunten Durcheinander und innovativem Geist" (Walker 1995, S. 10). Ein
Drittel der SchülerInnen sind AusländerInnen, die meisten davon gehören der türkischen
45
Minderheit an. Die Berliner Zille Schule ist sechsjährig konzipiert, so daß die Klassenstufen 1-6
vertreten sind.
Zum Vorgehen: Die Teilnahme am Projekt war auf Seiten der Lehrkräfte freiwillig. Nach der
Vorstellung des Projekts an der Schule befragte Walker interessierte LehrerInnen hinsichtlich
ihres "Konfliktalltags". Insgesamt beteiligten sich 9 Klassen der Stufen 1-6 an diesem
Programm. Innerhalb einer kurzen Phase der Observation (teilnehmender Beobachtung) wurden
die jeweiligen Aussagen dann überprüft. Die eigentliche Arbeit am Konzept schloß sich dann in
den folgenden durchschnittlich sieben Monaten an. Ein bis zweimal wöchentlich führte Walker
in Kooperation mit der jeweiligen Lehrkraft "Konfliktstunden" (Spielstunden) durch, die
gemeinsam vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet wurden. In der letzten Phase des Projekts
erfolgte eine Gesamtauswertung der Unterrichtsergebnisse und eine daran orientierte Erstellung
praktischer Unterrichtsmaterialien.
5.2.2 Theoretischer Hintergrund:
Walker bezieht sich in ihrer Konzeption auf einen weiten Gewaltbegriff unter explizitem
Hinweis auf die Bedeutung struktureller Gewalt (vgl. dazu unter 2.1.1 und 2.1.3 sowie Walker,
1995, S.19). Der ihrer Konzeption zugrundeliegende Konfliktbegriff stützt sich auf eine
Definition aus dem Konfliktmanagement, nämlich auf die Defintion des sozialen Konflikts von
Glasl (1990). Danach erfordert eine sozialer Konflikt eine Interaktion zwischen mindestens zwei
oder mehreren Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, bei der mindestens eine Seite
Unvereinbarkeiten in Gedanken, Gefühls- oder Willensleben erlebt. Aus-schlaggebend für das
Vorliegen eines Konflikts ist, daß sich mindestens eine Seite durch die andere Seite daran
gehindert sieht, ihre Vorstellungen , Gefühle und Absichten durchzusetzen (vgl. Glasl, 1990 S.14
ff).
Grundannahme Walkers Konzepts ist, daß Kinder ein positives Selbstbild entwickeln müssen,
bevor sie in der Lage sind, Argumente und Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen. Erst dann
können sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen einsetzen. Dazu führt Walker Folgendes aus:
"Die Methode der gewaltfreien Konfliktlösung geht davon aus, daß in jedem Menschen etwas Positives
steckt, das ans Licht gebracht werden soll. Ein Kind mit einem negativen Selbstbild bzw. eines, das die
erforderliche positive Zuwendung zu Hause und/oder in der Schule nicht bekommt, verhält sich im
Schulalltag häufig auffällig"(vgl. Walker, 1993, S. 221).
Walker folgend reicht die kognitive Vermittlung gewaltfreier Prinzipien nicht aus, um
Verhaltensänderungen herbeizuführen. Es sollen daher affektive Elemente in den Lernprozeß
miteinbezogen werden. Dabei basieren ihre Übungen auf bestimmten Anforderungen an
Unterricht und LehrerIn, die ich hier in Anlehnung an ihre Ausführungen katalogartig aufführe:
-
Gewaltfreiheit als Prinzip lehnt Gewalt in jeglicher Form (persönlich, sozial oder
politisch) ab. Bei der Austragung und Lösung von Konflikten sollen nicht- gewaltsame
46
Handlungsweisen entwickelt werden. Außerdem zielen diese Strategien gleichzeitig
-
-
-
darauf ab, gewaltfördernde oder gewaltbeinhaltende Strukturen zu verändern.
Der Erziehungsauftrag von Schule beinhaltet auch, daß neue Verhaltensweisen zum
Umgang mit Gewalt vermittelt werden müssen. Diese werden nur durch eigene
(affektive) Erfahrungen gelernt.
SchülerInnen sollen zu selbständigem Entscheidungen und selbständigen Handeln
motiviert werden, damit sie langfristig in der Lage sind, ihre Konflikte eigenständig
gewaltfrei zu regeln.
Das Programm soll motivieren und sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen Spaß
machen. Ernste Übungen sollen durch Auflockerungsspiele "entschärft" werden.
LehrerInnen müssen glaubwürdige Vorbilder sein für das Konfliktverhalten, das von
den Kindern und Jugendlichen verlangt wird.
Die Aneignung gewaltfreien Konfliktverhaltens kann nur freiwillig erfolgen und ist ein
Prozeß der Flexibilität verlangt, zumal ein Konflikt immer mit unterschiedlichsten
Strategien und von unterschiedlichen Standpunkten gelöst werden kann. Es kann
erforderlich werden, die LehrerInnenautorität in den Hintergrund treten zu lassen, um
die Selbständigkeit und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen im
Klassenverband zu fördern (vgl. zum Ganzen Walker 1995, S. 25).
Walker selbst weist darauf hin, daß es sich bei ihrem Konzept nicht um ein grundlegend neues
handele (vgl. Walker 1995, S.10). Sie bezieht sich nach eigenen Angaben auf Konzepte von
Mediation (Methode zur Vermittlung in Konflikten) sowie das "Children's Creative Response to
Conflict"- Programm, das Mitte der 70er Jahre von Quäkerinnen in New York gegründet wurde.
Weiter benennt sie Ansätze von Sozialem Lernen, Friedenserziehung und Interaktionsspiel, die
Ähnlichkeiten zu ihrer Konzeption aufweisen. Allerdings werden diese Ansätze bezogen auf ihr
Konzept nicht weiter spezifiziert (vgl.ebd.). Die inhaltlichen Überschneidungen mit anderen,
bereits bekannten Konzepten verwundern daher nicht. Walker begreift ihr Konzept nicht als
"Patentrezept" sondern als konkrete Anregung für den pädagogischen Alltag, die eine
Verminderung der Aggression im Klassenzimmer zum Ziel haben soll (vgl. ebd.).
5.2.3 Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept
Am Anfang wird durch die Beantwortung einen speziell konzipierten Fragebogens das
Konfliktpotentials innerhalb der Klasse ermittelt. Dieser Fragebogen ist von der Lehrkraft zu
beantworten (zur Konzeption des Fragebogens (vgl. Walker 1995, S. 15ff). Innerhalb des
Teilbereichs "Konflikte unter Jugendlichen" wird nach der Grundstimmung der Klasse, nach
geschlechtspezifischem Konfliktverhalten etc. gefragt. Außerdem wird mittels Fragekatalogen zu
den Rubriken "Konflikte zwischen Jugendlichen und Lehrpersonen", "Konflikte der Lehrperson
mit sich selbst", sowie "Konflikte im Kollegium und mit der Schulleitung" eine relativ
47
umfassende Analyse des Konfliktpotentials ermöglicht, die schließlich als Grundlage für die
Stundengestaltung dienen soll.
Die Konfliktarbeit erfolgt in separaten Unterrichtstunden, die ein- bis zweimal wöchentlich
stattfinden. Zielgruppe sind zum einen die Primarstufe, mit gewissen Veränderungen der
Unterrichtsmaterialien auch die Sekundarstufe 1.
Als Lernziele kommen folgende Voraussetzungen für eine kooperative Konfliktbewältigung in
der Schule in Betracht:
Achtung vor sich selbst und anderen, Bereitschaft zum Zuhören und zum Verständnis,
Einfühlungsvermögen, Selbstbehauptung, Zusammenarbeit in der Gruppe, Aufgeschlossenheit
und kritisches Denken, Phantasie, Kreativität und Spaß (vgl. Walker 1995, S. 20 ff).
Entsprechend der genannten Lernziele entwickelt Walker ein sechstufiges Lernmodell, das auf
das Training für die Konfliktarbeit wichtiger Kompetenzen abzielt:
1. Kennenlernen und Auflockern
2. Förderung des Selbstwertgefühls
3. Kommunikation
4. Kooperation
5. Geschlechtsbezogene Interaktion
6. Gewaltfreie Konfliktaustragung.
Je nach Ergebnis der oben beschriebenen Befragung können einzelne Schwerpunkte aus dem
Programm ausgewählt werden, so daß ein individueller Zuschnitt auf die jeweilige Problematik
im Kontext der Klasse möglich ist. Inhaltlich systematisch bauen die Themenbreiche aufeinander
auf, so daß es sinnvoll ist, alle Themenbereiche chronologisch "abzuarbeiten". Auf jeder Stufe
entwickelt Walker Interaktions- und Rollenspiele, die ein Angebot darstellen, Themen des Lernmodells zu vertiefen (vgl. dieselbe, 1995, S. 26).
Als Beispiel soll das Rollenspiel "Streit in der Schule dienen", ein über zwei Spielstunden
dauerndes Konzept, daß dem Themenkomplex "Gewaltfreie Konfliktaustragung" zugeordnet ist:
Die Spielidee ist, Alltagskonflikte in der Schule zu bearbeiten. Dafür sollen alle entweder allein
oder in Kleingruppen Konfliktsituationen aufschreiben, die sie erlebt oder mitbekommen haben.
Die Ideen werden auf Kärtchen übertragen. In der nächsten Spielstunde werden die Karten an
Kleingruppen verteilt, die dann der Klasse einen Konflikt vorspielen. Ziel ist dabei, der Gruppe
eine konstruktive Lösung vorzuspielen, die im nachhinein unter der Fragestellung "War die
Lösung fair, war sie realistisch?" von der Gruppe bewertet wird (vgl. Walker, 1995, S. 147).
5.2.4 Einordnung
Walker geht davon aus, daß die Vernachlässigung der emotionalen Bedürfnisse von
SchülerInnen zu einem höheren Gewaltpotential in der Schule beitrage, deshalb sei es
erforderlich, den affektiven Aspekten von Bildung und Erziehung erhöhte Aufmerksamkeit zu
48
schenken (vgl. Walker 1993, S. 250). Die Konzeption Walkers stellt einen "eklektischen" Ansatz
dar, der sehr unterschiedliche Ansätze in ihre Konzeption einfließen läßt. Hervorzuheben ist ihre
Offenheit für interdisziplinär entwickelte Methoden, wie sie auch in der Sozialpädagogik
Anwendung finden (z. B. Konfliktmanagement, Kommunikationstraining). Ihr Ansatz zielt
sowohl auf die Verbesserung des Selbstwertgefühls als auch auf die Verbesserung
interpersoneller Kommunikation ab. Damit setzen ihre pädagogischen Maßnahmen vorrangig auf
interaktioneller Ebene an, wobei die individualbiographische Ebene durch die
Selbsterfahrungsanteile in den Übungen und Rollenspielen durchaus auch angesprochen ist.
Auf eine klare methodische Fundierung hat die AutorIn weniger Wert gelegt, auch bleibt die
theoretische Begründung vorrangig praxisbezogen. Grundsätzlich versteht die AutorIn ihr
Konzept als präventiv- durch Vermittlung sozialer Kompetenzen sollen Jugendliche lernen,
Konflikte konstruktiv und gewaltfrei auszutragen (Walker 1995, S.11). Dennoch enthält ihr
Konzept auch interventive Elemente, so sind neben Handlungsvorschlägen für LehrerInnen für
Verhalten in Gewalt- und Bedrohungssituationen auch Strukturierungsvorschläge zur Führung
von Konfliktgesprächen enthalten. Der Umgang mit schwerwiegenden Aggres-sionsproblemen
mit SchülerInnen bleibt nach Auffassung der AutorIn nach wie vor sozialpädagogischer und
schulpsychologischer Einzelintervention vorbehalten, sofern nicht gar weitergehende
Maßnahmen erforderlich sind (vgl. Walker 1995, S. 11). Somit ist ihr Konzept auf Primär- und
mit Abstrichen auch auf Sekundärprävention ausgerichtet.
Zur Evaluation enthält die hier ausgewertete Literatur keine Angaben, so daß sich das Konzept
empirisch anzweifeln läßt. Da das Konzept Walkers aus einem konkreten Praxiskontext
entstanden ist, erscheint ein Transfer auf andere Schulen nicht unproblematisch, denn dort
herrschen andere Bedingungen und auf ausführliche empirische Befunde kann zur Orientierung
nicht zurückgegriffen werden. Dennoch ist das Programm Walkers für die direkte Umsetzung in
den alltäglichen Unterrichtskontext gedacht, ohne Anleitung.
Für kritikwürdig halte ich es, bei der umfassenden Konfliktanalyse vor Beginn der Maßnahmen
die Schüler nicht in die Befragung miteinzubeziehen, da die Perspektive der LehrerIn nur eine
einseitige Einschätzung ermöglicht.
5.3
Lebenswelt Schule in Berlin (Hensel)
Das Projekt Lebenswelt Schule hat einen Schwerpunkt in Schulentwicklung. Hensel ist bei der
Senatsverwaltung für Schule und Sport tätig, von dort aus wurde das Projekt auch in der Zeit von
1993- 1996 koordiniert. Hensel selbst konkretisiert seinen Ansatz wie folgt:
"Durch eine Vielfalt von Anlässen, Einrichtungen und Projekten in einer relativ autonom gestalteten,
lebendigen und erweiterten Schule werden soziale Kompetenz und Konfliktfähigkeit, Schulprofil und
Schulidentifikation entwickelt"(vgl. Hensel, 1997, S 39).
49
Theoretischer Hintergrund für Hensels Konzeption ist insbesondere die Reformpädagogik (vgl.
Dann, 1997, S. 356).
Grundannahmen reformpädagogischer Unterrichtspraxis werden integriert:
-
-SchülerInnen werden als produktive Kinder erkannt, die Ideen haben
-LehrerInnen dürfen unterrichtsorganisatorisch kreativ tätig werden
Lernen wird als vielgestaltiger, lebendiger und selbstätiger Prozeß verstanden, dessen Ziel
die Auseinandersetzung mit der Umwelt und dem eigenen Selbst ist
Schule wird als Lebensort begriffen, der eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft beinhaltet
(vgl. dazu Schonig, 1993, S. 1305 f).
Die in Hensels Konzept enthaltene Ansatz der "Lebenswelt" erklärt sich beispielsweise unter
Rückgriff auf Habermas (1981):
Dieser begreift Gesellschaft als System und Lebenswelt, in dem sich soziale Integration
vollzieht. Lebenswelt enthalte danach kulturelle Wert- und Deutungsmuster als gemeinsame
Wissensbasis zur Bewältiging von Alltagspraxis, sie stifte und regele durch einen Grundbstand
anerkannter Normen (als soziales Apriori) soziale Ordnung und interpersonale Beziehungen.
Außerdem bilde "Lebenswelt" den Hintergrund von Sozialisationsprozessen, die den einzelnen
für eine realitäts-gerechte Teilnahme an Interaktionen befähigten und stifte insofern personale
Identität (vgl. Habermas 1981 zitiert nach Frank, 1993, S. 615; vertiefend dazu Rolshausen,
1991, S. 160)
Lebensweltliche Strukturen werden z.B. durch Verrechtlichung sozialer Beziehungen und
Bevormundung durch ExpertInnen ausgehöhlt. Daher zielt Lebensweltorientierung als
"Gegenmaßnahme" auf die Förderung alltäglicher Handlungskompetenz, Förderung von
Lebenspraxis, Aktivierung der Betroffenen und Selbstorganisation ab (vgl. Frank, 1993, S. 615).
Für die Orientierung von Schule bedeutet dies, die Gegenwartsbedeutung von Unterricht, die
Ausgangslage der Lernenden unter Einbeziehung ihrer sozialen Lebenslage bis hin zur
Subjektorientierung bezogen auf die Bedürfnisse von SchülerInnen bei der Gestaltung von
Schule zu berücksichtigen (vgl. dazu Meyer-Drawe, 1993, S. 927). Diesen Anforderungen
versucht Hensel in seiner Konzeption gerecht zu werden.
5.3.1 Projektdarstellung und Umsetzung
Ziel des Projektes ist es, Konzepte zur Schulentwicklung und Gewaltprävention für belastete
Grund- und Hauptschulen in Berlin zu entwerfen. Schulen sollen dabei durch Beratung und
Unterstützung von PraktikerInnen, Arbeit mit SchülerInnen und Sachinvestitionen so
ausgestattet werden, daß die Arbeit mit gewaltmotivierten Kindern und Jugendlichen erleichtert
wird. Das Konzept soll SchülerInnen ganzheitlich und familienergänzend ansprechen (vgl.
Hensel, 1997, S. 39). Der Weg zu weniger Gewalt soll durch das Leben in der Schule
maßgeblich unterstützt werden.
50
Zunächst werden zwei Grundschulen und zwei Hauptschulen mit"schwierigen pädagogischen
Aufgaben" in das Projekt mit einbezogen. Weitere Schulen schließen sich mit der Zeit an.
Als "konstitutive Elemente" benennt Hensel (1997) die gestaltete(1), die lebendige(2), die
erweiterte(3) und die integrative(4) Schule:
1) Die gestaltete Schule: Die räumliche und sozial gestaltete Schule soll sich an selbstgewählten
Bedingungen der SchülerInnen orientieren. Unter dem Stichwort gestaltete Schule thematisiert
Hensel die Begriffe Organisation, Unterricht, Erzie-hung, Kommunikation und
Lebensraum/Wohnlichkeit. Kinder und Jugendliche sollten an der Organisation von Schule
durch Mitverantwortung teilhaben. Unterricht soll sich an den Bedürfnissen der Kinder und
Jugendlichen orientieren: Durch Projektunterricht, Lernen mit allen Sinnen, Behandlung der
Gewaltproblematik im Lernstoff, alternative Lernorte und Lernwerkstatt. Innerhalb der
Erziehung fordert Hensel die Festlegung von Regeln und deren Beachtung. Der Umgang mit
Konflikten soll durch spezielle Übungen sowie zusätzliche Betreuung der SchülerInnen durch
SozialpädagogInnen verbessert werden. Kommunkation soll durch Mediation im Konfliktfall,
Klassengespäche zur Veränderung und Verbesserung der Schule und Eltenmitwirkung verändert
werden.
Zu dem Bereich Lebensraum und Wohnlichkeit schlägt Hensel Maßnahmen wie
Eigenrenovierung durch Teams aus SchülerInnnen, Eltern und LehrerInnen vor. Bei der
gesamten Gestaltung von Schulhaus und Schulhof sollen die SchülerInnen mitentscheiden und
Verantwortung für den Erhalt ihrer selbst gestalteten Schulumwelt übernehmen.
(2)Lebendige Schule: Lebendige Schule setzt nach Hensel voraus, daß viele Projekte und
Aktivitäten angeboten werden. Eine Schule wo "viel los ist "soll dazu dienen, daß sich
SchülerInnen mit "ihrer" Schule identifizieren. Highlights wie Feste und Feiern sowie
Arbeitsgemeischaften mit Spezialthemen sollen die SchülerInnen thematisch an Gruppen binden
und ihnen die Möglichkeit geben, ihr Selbstwertgefühl über diese Projekte auzubauen (Beispiele:
Video Gruppe, Schulband, Graffitigruppe, Fitness- Studio, Theatergruppen).
(3.) Die erweiterte Schulee: Über den Unterricht hinaus sollen Erfahrungsräume angeboten
werden, die im Kontext mit der Nachbarschaft der jeweiligen Schule stehen. Die
Umgebungskultur kann z.B. durch Spaziergänge und Besuch von Institutionen einbezogen
werden. "Fürsorge" für die SchülerInnen soll durch familienergänzende Angebote wie
gemeinsames Frühstück geleistet werden. Durch Einrichtung spezieller "Schulstationen" können
SchülerInnen einen Raum erhalten, wohin sie sich in Konfliktsituationen und bei Überlastung
zurückziehen können. Durch Nachmittags- und Übergangsangebote soll der "Lebensraum
Schule" über die eigentliche Zeit hinaus geöffnet sein.
51
(4) Die integrative Schule: Nach Hensels Konzept sollen möglichst alle SchülerInnen aus einem
Wohnumfeld in einer Schule unterrichtet werden, damit sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede
lernen und erfahren können. Als Voraus-setzung muß eine integrative Schule sich an den
unterschiedlichen Bedürfnissen von Jungen und Mädchen orientieren können. Schule muß daher
die Integration von Minderheiten ermöglichen und förderpädagogische, integrative Maßnahmen
für SchülerInnen mit Mißerfolgen und Benachteiligungen anbieten können etc.(vgl zum Ganzen
Hensel 1997, S. 41 ff).
Eine Evaluation des Konzepts Lebenswelt Schule ist bislang noch nicht erfolgt, so daß hier
lediglich Hensels eigene Erfahrungen mit der Umsetzung angedeutet werden können:
Insbesondere innovationsfreudige PraktikerInnen schienen sich danach mit der Umsetzung
"lebensweltlicher Bausteinen" in der Schule anzufreunden. Nach Angaben Hensels trage die
Umsetzung des Projekts zu einer deutlichen Verbesserung der Schulkultur bei, Gewaltverhalten
werde in Einzelfällen als signifikant reduziert betrachtet (vgl.Hensel, 1997, S. 45).
5.3.2 Einordnung
Das Konzept von Hensel ist, bezogen auf den Umgang mit Gewalt in der Schule
primärpräventiv, setzt also im Vorfeld von Gewalt an. Dahingehend erweist sich der Ansatz als
wenig spezifisch. Konkrete Maßnahmen sind nicht ableitbar.
Es handelt sich um ein ganzheitliches Konzept, daß auf allen drei Ebenen
(individualbiographischer, interaktioneller und sozialökologischem Kontext von Schule) ansetzt.
Insbesondere die Wechselwirkung von individuell gestalteter Schulumwelt und deren
Auswirkung auf Kommunikation, Identifikation mit Schule und Entwicklung von Persönlichkeit
wird deutlich. Neben dem reformpädago-gischen Bezug kann aus dem Konzepts Hensels auch
eine sozialökologische Fundierung abgeleitet werden. Der sozialökologische Ansatz
problematisiert schulische Lern- und Erziehungsumwelt als gewaltfördernden Zusammenhang.
Hensel fordert eine auf die Bedürfnisse von SchülerInnen abgestimmte Lernumwelt und ein
entsprechendes Schulklima.
Im übrigen korrespondiert das Konzept Lebenswelt Schule mit neuen reformorientierten
Ansätzen von Schulentwicklung und appelliert an die Selbst-gestaltungs-und
Einzelverantwortung von Schule. Deutliche Parallelen bestehen beispielsweise zur Leitidee "
Haus des Lernens" der Bildungskommission NRW
(vgl. dieselbe 1995, S. 86 mit weiteren Ausführungen).
Die Umsetzung des Konszepts ist mit erheblichen Umstrukturierungsmaßnahmen und
materiellem Aufwand verbunden. Außerdem sind hochmotivierte Lehrkräfte erforderlich, die
bereit sind, diese Umstrukturierungen auch gegen den Widerstand reformpessimistischer
KollegInnen umzusetzen. Dennoch kann bereits die schritt-weise Etablierung einzelner
"Bausteine" des Konzepts mit einem gewaltpräventiven Effekt bei SchülerInnen verbunden
52
sein.Insgesamt hat Hensels Konzept den Charakter eines offenen Programms, konkrete
Lösungen werden nicht angeboten, lassen sich aber "in praxi "ausprobieren.
5.4
Soziales Lernen nach Lerchenmüller
Eine weiterer Ansatz im Kontext präventiven Umgangs mit Gewalt stellt das Projekt von
Lerchenmüller dar. Da dieses Beispiel theoretisch sehr ausgiebig begründet ist, werde ich den
theoretischen Hintergrund der Maßnahme ausführlicher darstellen.
5.4.1 Kurzdarstellung des Projekts/Projektgeschichte
Das
Konzept
Lerchenmüllers
entstand
im
Rahmen
eines
Forschungsprojekts
am
Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.(KFN). Lerchenmüller (1982) befaßte
sich mit dem Thema" Soziales Lernen in der Schule unter kriminalpräventiver Zielsetzung".
Ursprüngliche Zielgruppe des Programms sind Jugendliche des achten Schuljahres. Das Projekt
wurde 1981/1982 in fünf Hauptschul- und zwei Realschulklassen in Hildesheim eingesetzt und
begleitend evaluiert. Um die Ergebnisse kontrollieren zu können, wurden neben den
Trainingsklassen auch die achten Klassen einer weiteren Hildesheimer Haupt- und Realschule
als Kontrollgruppe untersucht.
Das Programm umfaßt zwei Programmteile: Eine projektbegleitende LehrerInnen-beratung und
ein SchülerInnentraining.
5.4.2 Theoretischer Hintergrund:
Schule stellt für Lerchenmüller die nach der Famile wichtigste Sozialisationsinstanz dar. Neben
der Vermittlung intellektueller und kognitiver Lernprozesse weist sie Schule die Aufgabe der
Vermittlung sozialer Handlungskompetenz zu, die sie wiederum als Grundlage angemessener
Problem- und Konfliktlösungen bewertet (vgl. Lerchenmüller 1986, S. 13). Als theoretischer
Bezugsrahmen werden die interaktionistische Theorie des sozialen Lernens bzw.
sozialisationstheoretische Aspekte angeführt (vgl. dazu unter 4.3.2 und 4.3.2.3).
Schlüsselbegriffe wie Ich-Identität und Handlungskompetenz werden benannt:
"Ziel der Sozialisation bzw. sozialen Lernens im Sinne der interaktionistischen Theorie ist die Entwicklung
sozialer Fähigkeiten, die Gewinnung von Ich- Identität9 oder Identitätsbalance in sozialen Situation durch
9Anmerkung
zur Ich-Identität: Rollendistanz umfaßt nach Krappmann (1978) die Fähigkeit, verinnerlichte
Rollennormen in Frage zu stellen und unter Berücksichtigung der aktuellen Situation sinnvoll interpretieren zu
können. Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, in einer Interaktionssituation sich widersprechende Erwartungen
aushalten zu können und sich dennoch an der Interaktion zu beteiligen. Empathie meint die Einfühlung in die Person
des jeweiligen Interaktionspartners wie auch die intellektuelle Erfassung seiner Situation, Probleme, Normen und
Ansichten unter Einbeziehung seiner möglichen Reaktionen in die eigene Vorgehensweise (Antizipation).
Kommunikative Kompetenz ist abhängig von Sprachkompetenz und bezeichntet die Fähigkeit, die eigene Identität,
das persönliche Erleben im Medium einer allgemeinen Sprache darzustellen. Die einzelnen Qualifikationen der Ich-
53
kompetentes Interagieren. Ich- Identität wird hier verstanden als Prozeß des Zusammenspiels von personaler
und sozialer Identität" (Lerchenmüller 1986, S.13 unter Verweis auf Goffman 1967, Krappmann 1978 und
Erikson 1981).
Dieses "kompetente Interagieren", vor allem in Problem- und Konfliktsituationen, ist nach
Lerchenmüller zentrales Ziel sozialen Lernens (vgl. dieselbe 1982, S. 105). Soziale
Handlungskompetenz beinhaltet als Oberbegriff -unter Bezugnahme auf die angeführten
theoretischen Befunde- folgenden Entwicklungs- bzw. Lernzielkatalog:
-
Moralische Urteilsfähigkeit, Normbewußtsein
Empathie, Fähigkeit zum Perspektivwechsel
Integrations- und Beziehungsfähigkeit
Ich- Stärke und Ich-Darstellung
-
Positive und realistische Selbsteinschätzung/Selbstsicherheit
Konstruktive versus aggressive Konfliktlösung
Fähigkeit zur Situations- bzw. Problemanalyse
Kritische Urteilsfähigkeit (gegenüber dem eigenen Freizeitverhalten, Einfluß von Medien
etc.)
Antizipationsfähigkeit von Handlungskonsequenzen
Adäquate Risikoeinschätzung und Kenntnis der Folgen delinquenter Handlungen (vgl.
Lerchenmüller 1986, S. 70)
Auf der Ebene des Lernklimas werden durch das soziale Training die Verbesserung von
LehrerIn-SchülerInbeziehung, des Klassenklimas sowie der Abbau von Außenseitertum und
Stigmatisierung erwartet (vgl. ebd.). Die benannten Ziele sozialen Lernens (Förderung von
Handlungskompetenz sowie Verbesserung des Lernklimas) stellen gleichzeitig Trainingsziele im
Rahmen des von Lerchenmüller entworfenen Konzepts dar.
5.4.3 Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept
Für die didaktische Umsetzung des sozialen Trainings ist Lerchenmüllers Auffassung folgend
ein veränderter Unterrichtsstil erforderlich. Sie führt aus, daß sich soziales Lernen in
Interaktionen vollziehe und nur dann effektiv sei, wenn sich die Interaktionspartner in annähernd
gleichberechtigten Positionen befänden. Frontalunterricht sei daher als "Antimethode" des
sozialen Lernens abzulehnen (vgl. dieselbe 1986, S. 64). Methoden des Trainings sind daher
Kreisgespräch, Rollenspiel, Gruppenarbeit, Gruppen- und Partnerspiele, wobei ein
schülerInnenzentrierter, partnerschaftlicher Unterrichtstil vorausgesetzt wird (vgl. dieselbe,
1986, S. 115). Unbedingt beachten sollten die LehrerInnen folgende Verhaltenvariablen:
Zulassen von Spontanäußerungen, Ernstnehmen und Akzeptieren jeder SchülerIn, Verzicht auf
eigene inhaltliche Beiträge und Bewertungen, Ermutigung zurückhaltender SchülerInnen,
Identitä sind einerseits Vorauussetzung für, andererseits auch Folge der Entwicklung von Ichidentität(vgl. dazu
Lerchenmüller 1986, S. 14f sowie Krappmann 1978).
54
Anleitung zu einer Ergebniszusammenfassung und gemeinsamen Bewertung am Ende jeder
Trainingsstunde etc. (vgl. a.a.O.,S. 116).
Das SchülerInnentraining enthält 26 Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe 1, die insgesamt
40 Schulstunden umfassen.Da sich das Lernprogramm nicht auf eine bestimmtes Unterrichtsfach
bezieht, können die Unterrichtsbausteine in den Fächern Deutsch, Sozialkunde, Religion oder als
Spielstunden etc. eingesetzt werden. In der Regel soll zweimal wöchentlich eine
Unterrichtseinheit stattfinden.
Die Unterrichtseinheiten gliedern sich in sechs Themenbereiche(Sequenzen), zu denen einzelne
Stundenentwürfe konzipiert sind, die als flexible Bausteine didaktisch variabel gehandhabt
werden können (vgl. Lechmüller, 1982, S. 127 ff):
-
Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Minderheiten und Randgruppen
Klischees, Leitbilder und Vorbilder und die Wirkung der Massenmedien
Selbstbestimmung und Konflikte mit der Erwachsenenwelt
Konflikte in der Gleichtaltrigengruppe
Normenkonflikte
Folgen einer Straftat
Zu jedem Unterrichtsbaustein wurde eine Stundenkonzeption erarbeitet, die kurze Konflikt- und
Problemdarstellungen, aber keine Lösungen enthält. Hinweise zu Arbeitsaufträgen,
Medieneinsatz, Lernzielen und Problemvertiefung sind als Hilfestellung/ Angebot in den
jeweiligen Unterrichtsmaterialien enthalten.
Nach jeder Sequenz sollen sogenannte "Meckerstunden" (offene Gesprächstunden) eingesetzt
werden, was auf die Verbesserung der klasseninternen Interaktion abzielt (vgl. Lechmüller,
1986, S.124).
Das SchülerInnentraining wird von KlassenlehrerInnen durchgeführt. Diese werden von einem
speziell geschulten Beratungslehrer beraten und begleitet. Die Beratung umfaßt neben
Einführung in das SchülerInnentraining die Vor- und Nachbereitung der Trainingsstunden sowie
Feeedback und Erarbeitung von Handlungsalternativen (vgl. dieselbe, 1986, S. 126). Außerdem
sollen Gruppensitzungen mit anderen am Programm beteiligten LehrerInnen dem Erfahrungsaustausch dienen.
5.4.4 Evaluation
Das Projekt wurde sowohl qualitativ als auch quantitativ nach einem multi-methodialen Konzept
ausgewertet. Vor Beginn und nach Abschluß des Trainingsprogramms wurde in den Klassen der
Projekt- und Kontrollgruppe eine Unterrichtsbeobachtung und eine schriftliche Befragung
durchgeführt. Außerdem wurde in beiden Gruppen ein offener Fragebogen zur
Problemlösungskompetenz der SchülerInnen eingesetzt. Ein halbes Jahr nach Trainingsende
wurde die Problemlösungskompetenz erneut untersucht. Darüber hinaus wurden in der
55
Projektgruppe parallel zum Training Stundenprotokolle und Stundenbewertungsprotokolle
angefertigt. Zusätzlich wurden am Ende des Programms die Erfahrungen aller TeilnehmerInnen
durch Interviews, Aufsätze und Gruppengespräche erfaßt.
Folgende Ergebnisse lassen sich zusammenfassen:
Die SchülerInnen bewerten den Projektunterricht im Vergleich zum sonstigen Unterricht als
positiver, schätzen das Lernklima entspannter ein und fühlen sich nicht unter Leistungsdruck,
zumal es keine Noten gab. Soziales Lernen als Methode wird von den SchülerInnen positiv
bewertet. Die Auswertung der Beobachtung ergibt aber auch, daß sie mit der veränderten
eigenverantwortlichen, Selbständigkeit erfordernden Lernsituation nur schwer umgehen können.
Besonders in der Hauptschule hat das SchülerInnentraining nach Einschätzung der Betroffenen
in Bezug auf Klassenklima, Zusammenhalt als Lerngruppe und kommunikativer Kompetenz
positive Effekte erzielt.
Positive Unterschied konnten bei den Trainingsgruppen im Verhältnis zu den Kontrollgruppen
auch bezüglich der Problemlösungskompetenz festgestellt werden. Außerdem zeigten die
trainierten SchülerInnen deutlich weniger störende und aggressive Verhaltenweisen (vgl. zum
Ganzen Lerchenmüller, 1982, S. 141 ff).
5.4.5 Einordnung:
Lerchenmüller problematisiert abweichendes Verhalten und damit auch das Auftreten
aggressiven Verhaltens in der Schule auf der Ebene von Interaktion und Lernklima. Außerdem
wird innerhalb des sozialen Trainings die individual-biographische Ebene berührt, indem
SchülerInnen Gelegenheit zur Entwicklung von Ich-Identität in der unterrichtlichen
Auseinandersetzung erhalten.
Das Lernprogramm bezieht sich nicht spezifisch auf die Gewalttätigkeit von SchülerInnen,
sondern zielt auf die Prävention kriminellen und abweichenden Verhaltens generell ab. Laut
Lerchenmüller handelt es sich dabei explizit um einen primärpräventiven Ansatz. Bezugsgruppe
des Programms sind daher SchülerInnengruppen, bei denen noch kein abweichendes Verhalten
manifest geworden ist. Sie begründet den primärpräventiven Charakter ihres Konzepts:
"Wir sind der Überzeugung, daß die bereits aufgrund abweichender Verhaltensweisen bzw. der Zuschreibung
normwidrigen
Verhaltens
aus
der
Gesamtgruppe
der
Schüler
selektierten
Personen
durch
Stigmatisierungseffekte so stark in die Abweichung gedrängt sein können, daß ein soziales
Erziehungsprogramm nur noch wenig Erfolgsaussichten hat. Hinzu kommt, daß die aus den Klassen
ausgegliederten Personen zumeist eine spezifisch, am Symptom orientierte Behandlung erfahren, die vielfach
zu kurz greift. Die Ausgliederung aus der Normalgruppe, der Klasse und der Einführung in einen
therapeutischen Prozeß voran geht die Klassifizierung als auffällig, störend, deviant oder delinquent. Diese
Klassifikation beschränkt sich jedoch meistens nicht auf das gezeigte Verhalten sondern betrifft die
Gesamtperson(...)" (Lerchenmüller, 1982, S. 96, siehe dazu auch Ausführungen unter 4.3.2.3)
56
Lerchenmüller argumentiert hier insbesondere aus interaktionstheoretischer Sicht mit dem
Hinweis auf den "Labeling- approach" Ansatz:
"(...)Um diese Negativeffekte zu vermeiden, haben wir unser Präventionsprogramm weder als therapeutische
Intervention noch als kriminalpräventives Konzept implementiert, sondern als soziales Lernprogramm, das
die Inhalte der obligatorischen Lehrpläne aufgreift und methodisch didaktisch zu einem systematischen
Programm aufbereitet." (Lerchenmüller, 1982, S. 96/97)
Hervorzuheben ist die breite theoretische Fundierung des Ansatzes, aus dem schließlich die
Trainingsziele des Konzepts abgeleitet werden sowie der sorgfältige empirische Nachweis der
Effektivität des sozialen Trainings. Konzeption, Empirie und Evaluation werden dabei strikt
getrennt.
Die praktische Umsetzung des Programms stellt jedoch erhöhte Anforderungen an die
pädagogische Kompetenz von LehrerInnen, die offensichtlich gesondert trainiert werden muß:
"Um verstärkt soziales Lernen in den Unterricht integrieren zu können, erscheinen
Lehrertrainingsprogramme erforderlich(...)" (Lerchenmüller, 1986, S. 27). Andererseits läßt sich
das Konzept ohne größeren schulorganisatorischen Aufwand in den Lehrplan einer Klasse der
Sekundarstufe I integrieren, wobei auch eine individuelle Anpassung des Trainingsprogramms
auf die jeweilige Zielgruppe erforderlich ist.
5.5
Trainingsprogramm/ Fortbildung für LehrerInnen: Das Konstanzer
Trainingsmodell
Das Konstanzer Trainingsmodell (im Folgenden abgekürzt KTM) ist ein Selbsthilfeprogramm
zum besseren Umgang mit konflikthaltigen Situationen für alle Lehrkräfte, unabhängig von
Schulart und Schulstufe (vgl. Humpert, 1993, S. 129). Aggressive Interaktionen werden als eine
Form konfliktträchtiger Situationen in der Schule bewertet. Zielgruppe waren ursprünglich
HauptschullehrerInnen, dennoch ist das Programm nach Angabe der Autoren durch
Modifikationen auch in Grund- und Sonderschulen sowie in der Jugendarbeit anwendbar. Nach
Angaben Danns (1997) wurde das Modell nach entsprechender Adaption bereits in der
Praxissupervision von PflegeschülerInnen in Krankenhäusern und bei der Fortbildung von
Stationsleitungskräften eingesetzt, insofern ist die Zielgruppe nicht eng auf Lehrkräfte einer
Schulstufe beschränkt. Grundlage des Trainings ist ein Trainingshandbuch für LehrerInnen, das
auf der Analyse von Ergebnissen einer empirischen Untersuchung, die von 1978-1987 an badenwürtembergischen Schulen durchgeführt wurde, aufbaut (vgl. Tennstädt/Krause/Humpert/Dann
1990). Seit 1987 wird das KTM als Fortbildungsangebot für die Hauptschulen in der regionalen
Lehrerfortbildung in Baden Württenberg angeboten. KTM- Lehrgänge werden in
Zusammenhang mit schulinterner LehrerInnenfortbildung durchgeführt.
Abgestellt wird auf eine Verbesserung im Sozialverhalten von SchülerInnen und LehrerInnen,
die über eine Erweiterung der pädagogischen Kompetenz der Lehrkräfte im Umgang mit
57
Konflikten
erreicht
werden
soll.
Dies
soll
eine
Erweiterung
des
methodischen
Handlungsrepertoires von LehrerInnen bewirken. Weitere Ziele: Störungen und Aggressionen in
der Klasse sollen zugunsten kooperativer und konstruktiver Umgangsformen abgebaut werden.
Zwischenmenschliche Belastungen sollen vermindert und schulisches Wohlbefinden von
LehrerInnen und SchülerInnen gesteigert werden (vgl. Dann 1997, S. 359).
5.5.1 Theoretischer Hintergrund
Dem KTM liegt eine übergreifende Auffassung von Konflikten in der Schule zugrunde, die
Aggression aus verschiedenen Perspektiven problematisiert. LehrerInnen sollen ihre eigene
Wahrnehmung von Aggression, Ursachen-zuschreibungen und Handlungsmöglichkeiten lernen
zu überprüfen, bevor sie handeln (vgl. Humpert, 1993, S. 132 ff). Dabei bezieht sich das KTM
nicht auf eine spezielle Theorierichtung sondern orientiert sich an einem "integrativen
Selbsthilfeansatz", d. h. es werden Anregungen unterschiedlicher Theorieansätze wie
Lerntheorie, Kommunikationstheorie sowie Ansätze von Verhaltensmodifikation in die
Konzeption miteinbezogen (vgl. Humpert, 1993, S.142 f). Außerdem soll an subjektiven
Wissensbestände der LehrerInnen aus der Praxis angeknüpft werden, und zwar nicht nur an
bewußten Überlegungen sondern auch an Gefühlen, pädagogischen Grundhaltungen und
Routinen. Diese sollen wiederum innerhalb des Trainings systematisch überprüft und mit neuen
Anregungen positiv weiterentwickelt werden.
5.5.2 Umsetzung des Programms
Rahmenbedingung ist für die Umsetzung des KTM zunächst die Zustimmung der Schulleitung
sowie die Abstimmung im Kollegium. Die Dauer des Programms kann je nach
Ausgangssituation von zwei Wochen bis zu einem Schuljahr variieren. Außerdem werden
regionale KTM- Arbeitsgruppen für sinnvoll erachtet. Das Training erfolgt vor Ort, an der
eigenen Schule mit der eigenen Klasse. Daher kann KTM auch im Kontext mit schulinterner
LehrerInnenfortbildung (SCHILF) gesehen werden (vgl. Dann, 1997, S. 359).
Grundlage des Trainings ist ein separates Trainingshandbuch, das neben einzelnen
Trainingsschritten verschiedene SchülerInnenfragebögen und eine Spielesammlung enthält (vgl.
dazu Tennstädt/ Krause/ Humpert/ Dann 1990).
Zur Unterrichtsbeobachtung wird ein speziell konzipiertes Beobachtungssystem (BAVIS)10
eingesetzt, außerdem werden während des Trainingsprozesses Fragebögen an die SchülerInnen
verteilt und ausgewertet (vgl. Humpert und Dann, 1988). Die Trainingselemente sind an
folgendem handlungstheoretischen Modell orientiert:
10BAVIS=
Schulalltag
Beobachtungssystem Bavis: Beobachtungsverfahren zur Analyse aggressiver Interaktionen im
58
-
Situationserfassung
-
Handlungsentwurf
Ausführung der Handlung
Erfolgskontrolle (Handlungsergebnisauffassung) (vgl. Humpert, 1993, S. 147)
Diesen Phasen werden zehn Trainingselemente zugeordnet:
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Erkennen der Störung oder Aggression
Erklärung
Unterscheidung von Störungs- oder Aggressionsarten
Formulierung von Zielen
Zuordnung von Störungs- und Aggressionsarten zu Zielen
(6) Maßnahmen
(7) Sofortige Reaktion
(8) Entscheidungsstrategien- Entscheidungstraining
(9) Konkrete Ausführung einer Handlung
(10) Einschätzung des Handlungserfolges (vgl. Tennstädt et. al. 1990)
Grob verkürzt läßt sich das Training wie folgt skizzieren:
In 1-3 tägigen Veranstaltungen werden die TrainingsteilnehmerInnen in dem Umgang mit dem
Trainingshandbuch eingeführt. Sie werden dabei auf den individualisierten Umgang mit dem
Handbuch vorbereitet. Dann werden Trainings-tandems gebildet, die sich wechselseitig im
Unterricht besuchen. Aus dem Unterricht werden konflikthafte Elemente isoliert, analysiert und
dazu praktische Übungen durchgeführt. Handlungsalternativen werden entworfen und im
Rollenspiel inklusive ihrer Alternativen eingeübt. Schließlich werden sie im Unterricht bei
gleichzeitiger Beobachtung erprobt und im Anschluß daran zusammen mit der
TrainingspartnerIn bewertet. Diese Schritte werden an anderen Beispielen mehrfach wiederholt.
Im Abstand von 6-8 Wochen treffen sich die Trainierenden zum Austausch mit anderen
Tandems unter der Anleitung einer KTM- erfahrenen GruppenleiterIn, um sich auszutauschen.
Dabei erfolgen weitere gemeinsame Trainingsübungen (vgl. dazu Humpert, 1993, S.144).
5.5.3 Evaluation
Zu der Wirkung des KTM Programms finden sich in der Literatur ausführliche empirische
Evaluationsstudien:
Die erste Untersuchung (vgl. Tennstädt 1987) umfaßte mehrwöchige Fallstudien, bei denen ein
Mitarbeiter der Forschungsgruppe die Rolle eines Tandempartners übernahm. Parallel dazu
wurden LehrerInnen und SchülerInnen mit unterschied-lichen Fragebögen befragt. Die zweite
Untersuchung vergleicht die Angaben, die Trainingstandems vor Beginn ihrer Arbeit und am
59
Ende ihrer Arbeit mit KTM machten (vgl.Tennstädt und Dann 1987). Aus Sicht der LehrerInnen
lassen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse nennen:
-
-
Nach der Ausbildung in KTM sehen sich die LehrerInnen eher befähigt, mit aggressiven
oder störenden SchülerInnen adäquat umzugehen. Sie geben an, mehr Zutrauen in die
eigene Bewältigungskompetenz zu haben.
Integrative Maßnahmen werden im Trainingsverlauf zunehmend für sinnvoller erachtet
und werden daher vermehrt eingesetzt. Strafende oder neutrale Maßnahmen nehmen ab.
Aus Sicht der LehrerInnen hat sich nach der Arbeit mit dem KTM das Klassenklima
verbessert.
5.5.4 Einordnung
Das KTM kann auf eine ausführliche Evaluation zurückblicken und scheint sich in einigen
Bereichen als Konzept etabliert zu haben. Bei der Realisierung tauchen aus meiner Sicht jedoch
Probleme auf: Das Programm ist auf unterstützende Rahmenbedingungen in der Schule
angewiesen, die Zusammenarbeit mit anderen Lehrern und Schulleitung ist empfohlen. Von
Vorteil ist die Umsetzung des KTM als schulinterne Fortbildung (SCHILF). Da das Training
sehr umfangreich ist, ist eine hohe Motivation erforderlich, Bereitschaft zur Mitarbeit und
kritischer Auseinandersetzung sind Bedingung für die Umsetzung des Programms. Die Arbeit in
Tandems erfordert neben gegenseitiger Sympathie auch einen erhöhten organisatorischen
Aufwand.
Ziel der Maßnahme ist die Erweiterung des Handlungsrepertoires von LehrerInnen,
praxisbezogen und berufsbegleitend. Konzeptionell einseitig wird bei einer Veränderung des
Interaktionsverhaltens von LehrerInnen angesetzt, was sich erst indirekt bei den SchülerInnen
bemerkbar macht. SchülerInnen erscheinen in der Darstellung des Konzepts eher als
Handlungsobjekt. Dennoch kann das KTM als Maßnahme, die insbesondere auf der
interaktionellen Ebene ansetzt, eingeordnet werden. Dabei werden sowohl präventive als auch
interventive Ziele verfolgt: Störungen und Aggressionen sollen abgebaut werden, andererseits
sollen kooperative und konstruktive Umgangsformen sowie schulisches Wohlbefinden erreicht
werden, was wiederum der Prävention von Störungen und Aggression dient.
In diesem Zusammenhang trifft Humpert folgende Einschätzung, die gleichzeitig auch als
Aussage über die Reichweite der Maßnahme gewertet werden kann:
"Die Reduktion der Aggression innerhalb und außerhalb der Schule ist jedoch nicht nur mit einem
Trainingsprogramm zu erreichen. Solange in der Erwachsenenwelt die Gewalt eine so große Rolle spielt, ist
nicht zu erwarten, daß unsere Kinder einfach darauf verzichten. Grundsätzliche Fragen der Normen und
Werte und der Sinngebung in unserer Kultur stellen sich immer mehr in letzter Zeit: Aber darauf gibt KTM
keine Antwort."(Humpert, 1993, S. 153)
60
5.6
Zusammenfassender Überblick ad 5
Insgesamt lassen sich aus den dargestellten Konzepten keine Patentrezepte und
allgemeingültigen Regeln für den Umgang mit Gewalt in der Schule ableiten.
Vorwiegend problematisieren sie die unterrichtlichen Interaktion, die Qualität der SchülerInLehrerInbeziehung, die Gestaltung von Unterricht bezogen auf soziales Lernen sowie
Persönlichkeitsenwicklung und Entwicklung von Ichstärke als wichtige Progammziele. Der
sozialökologsiche Kontext von Schule (Schulklima und Schulraumgestaltung) wird insbesondere
durch die Ansätze von Olweus und Hensel angesprochen. Hensels Konstrukt zielt dabei auf eine
"kleine Schulreform" ab, die Primärprävention von Gewalt und Aggression als Nebeneffekt hat.
Olweus bezieht sich gezielt auf Pausen- und Schulhofumgestaltung.
Mit Ausnahme des Programms von Olweus wird vorrangig auf Primärprävention von Gewalt
und Aggression in der Schule abgestellt. Olweus benennt als Interventionen insbesondere
intensive Gespräche mit TäterInnen, Opfern und Eltern Klassenverweis oder Schulverweis sowie
die Anwendung nichtfeindlicher, nichtkörperlicher Strafen bei Grenzüberschreitungen und
Regelverletzungen. Diese sind aber nicht so konkretisiert, daß sich daraus- für einen Akutfall in
der Alltagspraxis- unmittelbar Handlungsorientierungen ergeben können.
Im Hinblick auf die Entwicklung ihrer Grundaussagen weisen die dargestellen Konzepte ein sehr
unterschiedliches Vorgehen auf. Eher deduktiv gehen Lerchenmüller und Olweus vor:
Lerchenmüller leitet die Lernziele ihres Konzepts aus der intensiven Auseinandersetzung mit der
sozialen Lerntheorie ab. Olweus entwirft unter Einbeziehung lerntheoretischer Erkenntnisse ein
theoretisches Modell von "bullying", durch das er Gewalt in der Schule konkretisiert. Außerdem
leitet er aus empirischen Beobachtungen eine Täter- Opfer- Typologie her, die eine wichtige
theoretische Grundlage für sein Interventionsmodell darstellt. Beide Modelle stellen in sich
geschlossene Programme dar, wobei bei Lerchenmüller die Unterrichts-inhalte vorgeschrieben
sind.
Das Konstanzer Trainingsmodell stellt einen integrierten Theorie-Praxisansatz vor, AnwenderIn
und Modell stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis bzw. das Programm ist in seiner
Umsetzung von den Bedürfnissen und dem Vorwissen der AnwenderIn abhängig. Walker
orientiert sich hingegen sehr eng an eigenen Praxiserfahrungen und leitet daraus (induktiv) ihre
Präventionsprinzipien ab. Hensel bietet ein offenes, an Reformpädagogik und
Lebensweltkonzept orientieren Programm an, das sich in der Praxis nicht vollständig umzusetzen
läßt und im übrigen im Hinblick auf die alltagspraktische Umsetzung noch zu konkretisieren
wäre.
Während Olweus in seiner Konzeption von einer "autoritativen Eltern-Kind Interaktion" ausgeht,
also die Überlegenheit von Erwachsenen als ExpertInnen annimmt, stellt Hensel insbesondere
61
die Perspektive von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt. Er geht im Verhältnis zu den
anderen Ansätzen von einer konträren, subjektorientierten Perspektive aus. Walker, Humpert und
Lerchen-müller konzentrieren sich in ihren Konzeption vorrangig auf die Kompetenzerweiterungen bei den Lehrkräften. Kinder und Jugendlichen sollen durch die fort- und
weiterbildungsbedingte "Horizonterweiterung" ihrer Lehrkräfte im Unterricht soziales Lernen
vermittelt bekommen. Diese Ansätze machen Kinder und Jugendliche eher zu
Handlungsobjekten, denen Autonomie abgesprochen wird.
Hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Ansätze läßt sich feststellen, daß die Programme von Olweus
und Hensel eher aufwendig bzw. nur teilweise umzusetzen sind. Da beide auf der Ebene
Schulentwicklung und Schulgestaltung ansetzen, können Schulen diese besser nur als
organisatorische Einheit realisieren. Der Vorteil beider Programme im Verhältnis zu den anderen
drei Ansätzen liegt in ihrer umfassenden Reichweite, da mehrere Ebenen (Individuum,
Interaktion und Schulumwelt) von Veränderungen tangiert sind.
Humperts, Lerchenmüllers und Walkers Konzeptionen lassen sich auch als klassenbezogene
"Einzelaktionen" realisieren. Sie sind in der Umsetzung weniger aufwendig, da sie sich
insbesondere auf die Verbesserung der Interaktionsbeziehungen und persönlichkeitsfördernde
Maßnahmen innerhalb des Klassenverbandes erstrecken.
5.6.1 Exkurs: Persönlichkeitsförderung nach Burow et al.
Als Ergänzung zu den bislang dargestellen Konzepten soll der nun folgende Ansatz verstanden
werden: Unter dem Titel "Fit und stark fürs Leben" befassen sich Burow, Aßhauer und
Hanewinkel (1998) mit Persönlichkeitsförderung zur Prävention von Aggression, Rauchen und
Sucht. Das Unterrichtsprogramm für die Klassenstufe 1-8 , eigentlich zur Suchtprotektion
entworfen, zielt auf die Vermittlung sozialer Kompetenzen, Selbstwertgefühl, Umgang mit
negativen Emotionen, Problemlösefertigkeiten etc. ab. Damit sind Bereiche, die auch im
Zusammenhang mit einem konstruktiven Umgang mit schulischer Gewalt und Aggression
stehen, angesprochen. Das Konzept baut auf dem Life-Skills-Ansatz (life skills approach) auf:
"Es wird vielmehr angestrebt, effektive Fähigkeiten zur Bewältigung schwieriger Situationen
und Belastungen im sozialen und persönlichen Bereich aufzubauen "(dieselben, 1998,S. 7).
Nach der WHO sind "life skills" (Lebenskompetenzen) diejenigen Fähigkeiten,
"(...)die einen angemessenen Umgang sowohl mit unseren Mitmenschen als auch mit Problemen und
Streßsituationen im alltäglichen Leben ermöglichen. Solche Fähigkeiten sind bedeutsam für die Stärkung der
psychosozialen Kompetenz" (WHO 1994, S. 1)
Als Basisbereiche werden benannt:
-
Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen
Umgang mit Streß und negativen Emotionen
62
-
Kommunikation
-
Kritisches kreatives Denken
Problemlösen
Information und Wissen(vgl. Burow et al. 1998, S. 9)
Auf der Ebene der Selbstwahrnehmung und des Einfühlungsvermögens geht es darum, ein
möglichst differenziertes und reflektiertes Bild von der eigenen Person zu bekommen. Lernziel
ist dabei, die Einzigartigkeit einer jeden Person zu erkennen. Durch Führung eines "Ich-Buches"
können Kinder bezüglich ihrer persönlichen Eigenschaften (Größe, Gewicht, Augenfarbe), ihrer
Vorlieben und Schwächen zum Nachdenken angeregt werden. Dadurch lernen sie, über ihre
eigenen Person zu reflektieren. Durch die Arbeit mit dem Ich-Buch in Kleingruppen wird auch
der gegenseitige persönliche Austausch angeregt (vgl. dieselben, 1998, S.9).
Der Umgang mit Streß und Frustrationen soll durch das Kennenlernen von Streß-modellen,
Erproben und Bewerten neuer Bewältigungsstrategien und Erlernen einer Entspannungstechnik
trainiert werden. Dabei werden Atemübungen und Fantasie-reisen eingesetzt (vgl. dieselben,
a.a.O, S.12).
Zur Förderung der Kommunikation werden im Unterricht verbale und nonverbale
Kommunikationsmöglichkeiten geschult. Die Kinder sollen möglichst ein vielfältiges Repertoire
an Ausdrucksmöglichkeiten einüben. Im Rollenspiel können diese erprobt und ausdifferenziert
werden. Außerdem sollen die Kinder lernen, sich (empathisch) in die Situation ihrer
InteraktionspartnerInnen zu versetzen.
Kreatives und kritisches Denken ist eine wichtige Voraussetzung für Problemlösen und muß
ebenfalls im Unterricht trainiert werden. Zum Problemlösen gehört auch Streßmanagement und
Umgang mit Mißerfolgen und mit Entscheidungsalternativen.
Für impulsive Kinder wird auf ein Selbstinstruktionstraining zurückgegriffen, das folgende
Schritte beinhaltet, die im Unterricht gelernt werden können:
-
Kontrolle des verbalen und nonverbalen Ausdrucks
Unterdrückung von impulsiven Reaktionen
Aufmerksamkeitskontrolle gegenüber relevanten Inhalten
Erinnerung an die eigentliche Aufgabenstellung
Umgang mit Mißerfolg (vgl. dieselben, 1998, S. 14).
Durch dieses "Innehalten" kann unter anderem auch ein (auto)aggressiver Impulsdurchbruch
vermieden werden.
Auf dem dargestellten Selbstinstruktionstraining baut schließlich das Problemlösen auf, dabei
sollen folgende Ziele erreicht werden:
63
-
Alternativlösungen finden
-
Handlungskonsequenzen erkennen
Denken in Wenn- Dann Beziehungen/ Welche Lösungen führen zu welchen Folgen? (vgl.
dieselben 1998, S. 14)
Im Kontext mit Gewaltprävention könnte bezogen auf das Problemlösen diskutiert werden, ob
der Einsatz von Gewalt eine akzeptable Lösung darstellt und ob es Alternativen dazu gibt.
Innerhalb der Dimension Information und Wissen sollen die Kinder ein Körperbewußtsein
aufbauen. Damit verbunden ist die Wahrnehmung und Bewußtwerdung eigener Grenzen, dies ist
vorteilhaft für die Entwicklung einer personalen Identität
Auf den dargestellten Grundsätzen der"life skills" aufbauend haben Burow et al. ein
Unterrichtsprogramm entwickelt, das "zweckentfremdet" ebensogut für die Prävention von
Aggression und Gewalt eingesetzt werden könnte. Im Zentrum steht der Aufbau von IchIdentität bzw. eines Selbstwertgefühls, was in den vorher benannten Modellen zum Teil ein
wichtiges Präventionsprinzip gegen die Anwendung von Gewalt darstellt. Suchtprävention
gleichzeitig mit der Gewaltprävention zu verknüpfen, erscheint sowohl machbar als auch
naheliegend. Es geht jeweils um die Vermittlung von Wertvorstellungung und um das Aufzeigen
und Entwickeln akzeptabler Alternativen- zu Drogen und zu Gewalt. Positiv erscheint mir die
Verzahnung von Persönlichkeitstraining und darauf aufbauend die Entwicklung konstruktiver
Konfliktlösungen und soziales Lernen zu trainieren. Dies kann die Auftretenswahrscheinlichkeit
aggressiver Verhaltensweisen zumindest reduzieren (zum konkreten Unterrichtsprogramm vgl.
dieselben 1998, S.26ff).
5.6.2 Exkurs: Praxisempfehlungen zum Verhalten in gewalttätigen Situationen
Abgesehen von der konsequenten Sanktionierung von Regelverstößen und intensiven
Gesprächen mit TäterIn und Opfer ließen sich bislang kaum allgemeine Prinzipien für den
Umgang mit manifester Gewalt in der Schule ableiten. Walker (1995) macht für das Verhalten in
gewalttätigen Situationen einige Vorschläge, wie man sich als LehrerIn oder SchülerIn in der
Bedrohungssituation verhalten soll. Als Optionen bieten sich in der Bedrohungssituation
grundsätzlich folgende Reaktionsmöglichkeiten an: Flucht, Nichtstun, Nachgeben, sich aggressiv
verbal oder körperlich wehren, sich gewaltfrei wehren. Walker macht unter Verweis auf Gugel
(1994) den Vorschlag, mit SchülerInnen folgenden Katalog gewaltfreier Reaktion im Unterricht
zu behandeln und anhand von Rollenspielen zu üben:
-
Vorbereiten: Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor.
Bleibe ruhig und vermeide Hektik und Panik.
Gehe aus der Dir zugewiesenen Opferrolle.
64
-
Halte Kontakt zum Gegner/Angreifer (Blickkontakt und Aufbau von Kommunikation).
-
Rede und höre zu.
Drohe nicht und beleidige nicht
Hole Dir Hilfe, sprich dabei direkt Personen an
Tue das Unerwartete
Vermeide möglichst Körperkontakt,dieser ist in der Regel eine Grenzüber-schreitung, die
zu mehr Aggression führt (vgl. Walker , 1995, S. 162 unter Verweis auf Gugel, 1994).
Das Training von alltagsorientierten, konkret umsetzbaren Strategien (Wie behaupte ich mich in
bedrohlichen Konflikten?) kann für SchülerInnen und LehrerInnen eine sinnvolle Ergänzung im
Rahmen von schulischer Gewaltprävention sein. Ein selbstbewußter Umgang mit aggressiver
Bedrohung ist für SchülerInnen eine wichtige Kompetenz, die im Hinblick auf die Vermittlung
von Strategien gegen Gewalt und Aggression nicht außer Acht gelassen werden darf.
6
Sozialpädagogische und rechtliche Präventions- und
Interventionsmöglichkeiten
Im folgenden Abschnitt sollen, als Ergänzung zu Kapitel 5 Perspektiven sozialpädagogischer
und schulrechtlicher Sicht bezogen auf schulische Gewalt skizziert werden.
6.1
Schulsozialarbeit
Nach § 13 I KJHG sollen jungen Menschen zum Ausgleich sozialer Benach-teiligungen oder zur
Überwindung individueller Beeinträchtigungen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische
Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die
Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern. Dennoch ist Sozialarbeit keine Regeleinrichtung
in Schulen, sondern eher die Ausnahme bei Schulen in besonders sozial benachteiligten
Brennpunktgebieten
(vgl. Wulfers, 1997, S. 65). Auf den Diskurs um die Institutionalisierung von Schulsozialarbeit
in Schulen einzugehen oder das dialektische Verhältnis von Schule und Sozialarbeit kann hier
nicht eingegangen werden (dazu vgl. Homfeldt/ Schulze-Krüdener 1997, S. 34 ff). Die
Perspektiven und Möglichkeiten von Schulsozialarbeit im Kontext von Prävention und
Intervention von Gewalt lassen sich meines Erachtens durch Darstellung des Arbeitsfeldes
skizzieren.
Wichtige Funktionsbereiche der Schulsozialarbeit sind Angebot und Vermittlung sozialer
Dienste, schulbezogene Freizeit- und Jugendarbeit in der Schule oder in schulnahen Räumen,
Elternarbeit, Familentreffs und Elterntraining sowie Erziehungsberatung bis hin zu kollegialer
Praxisberatung und Supervision von LehrerInnen (vgl. dazu Prüß, 1997, S. 52). Wichtig ist die
65
Vernetzung von Schule und Jugendhilfe durch Schulsozialarbeit, da Schule in ihrem Einfluß
begrenzt ist und vorrangig keinen sozialpädagogischen
Erziehungsauftrag hat (vgl dazu unter 2.2. 2 und 2.2.4).
und
kompentsatorischen
Interventionsgründe für Schulsozarbeit sind vielfältig: Probleme mit Drogen und Tendenzen zum
gewalttätigen
Austragen
von
Konflikten,
Delinquenz,
Schul-verweigerung,
Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen, Lernschwierigkeiten, Schulversagen
und Schulschwänzen. Professionelle Kinder- und Jugendlichenbetreuung über den Unterricht
hinaus kann eine soziale Grundorientierung bewirken. Durch Gruppenaktivitäten können
Bindungen an Gruppen erzeugt und durch spezifische, identitäts- und identifikationsfördernde
Freizeitangebote die unterrichtliche Prävention von Gewalt und Aggression sinnvoll ergänzt
werden. Voraussetzung dafür: Der Aufgabenbereich Schulzsozialarbeit wird nicht durch das
Aufrechterhalten des schulischen Betriebs absorbiert. Dies kann durch einen eigenständigen und
akzeptierten Aufgabenbereich gewährleistet werden (vgl. dazu Stickelmann 1993, S. 806 ff).
Im Rahmen des Berliner Gewaltpräventionsprogramms "Jugend mit Zukunft wurden seit 1994
sozialpädagogisch geleitete Schülerclubs initiiert, die Sörensen (1997) als "kleine
Unterstützungssysteme von Schule" bezeichnet. Neben körperlicher Grundversorgung
(Mahlzeiten) werden Pausenaktivitäten, Bewegung, Freizeitgestaltung und Arbeitsgruppen/
Projekte angeboten. Schülerclubs sind besondere, neue Angebotsformen zur Tagesbetreuung von
GrundschülerInnen. Ihre Angebote sind i.d.R. weder verpflichtend noch kostenpflichtig, weder
einzelfallorientiert noch therapeutisch:
"Das Konzept Schülerclub verbindet in vielfältiger Weise Bedürfnisse des einzelnen Kindes mit jenen
Erfordernissen, die sich aus den Besonderheiten des Sozialraums der Einzelschule ergeben. Somit existiert
kein einheitliches übertragbares curriculum(...)" (Sörensen, 1997, S.237)
Aus der Darstellung wird deutlich, daß hier vor allem Primärpräveniton geleistet wird.
SchülerInnen soll eine Identifikaiton mit Schule und darüber eine persönliche Verortung mit der
damit zusammenhängenden Wertevermittlung ermöglicht werden. In den Fällen manifester
Gewalt sind in der Schulsozialarbeit vorrangig Einzelmaßnahmen möglich wie Einzel- und
Elternberatung, Vermittlung zum Jugendamt und in Therapie, Mediation , Vermittlung an TäterOpfer-Ausgleich, Beratung bei Delinquenz etc.
6.2
Rechtliche Maßnahmen
Schulgesetzes
am
Beispiel
des
Niedersächsischen
Möglichkeiten direkter Intervention bei manifester Gewalt einzelner SchülerInnen bieten die
Schulgesetze der Länder. Blumenhagen, Galas und Habermalz (1996) verweisen in ihrem
Aufsatz: "Ist die Schule hilfos gegenüber Gewalt?" darauf,
66
"(...) daß mit den derzeitig geltenden Rechts- und Verwaltungvorschriften den Schulen ein durchaus
wirksames Instrumentarium zur Verfügung steht, um auch in schwerwiegenden Konfliktfällen zügig und
angemessen zu reagieren" (dieselben, 1996, S. 126).
Ob ein restriktives Schulgesetz allein eine sinnvolle Lösung ist, muß bezweifelt werden (vgl.
dazu unter 5). Wünschenswert ist grundsätzlich, daß es erst gar nicht zur Anwendung kommt. Im
akuten Konfliktfall entsteht jedoch Handlungsbedarf, für den das geltende Recht
Reglementierungen getroffen hat.
Die schulischen Ordnungsmaßnahmen in Niedersachsen richten sich nach
§ 61 NSchG (Niedersächsisches Schulgesetz). Bei einer Verletzung von SchülerInnenpflichten
wird in der Regel die Schulleitung durch Lehrkräfte oder SchülerInnen in Kenntnis gesetzt.
Sofern nach Überzeugung der Schulleitung eine grobe Pflichtverletzung vorliegt, wird mit der
KlassenlehrerIn eine Klassen-konferenz organisiert, die den Bericht der der Lehrkraft über den
Sachverhalt sowie die Äußerung der SchülerIn und der Erziehungsberechtigten zum Inhalt hat.
Daran anschließend soll eine Beratung und Beschlußfassung über die Festsetzung einer
Ordnungsmaßnhame erfolgen (vgl. dieselben 1996, S. 126).
Zu der Klassenkonferenz können auch MitarbeiterInnen des Jugendamts beratend hinzugezogen
werden, insbesondere wenn das Jugendamt bereits mit eigenen Maßnhmen reagiert hat,
beispielsweise wenn über die Schule hinaus Gewalt-tätigkeiten manifest geworden sind. Kommt
die Klassenkonferenz zum Ergebnis, daß eine grobe Pflichtverletzung seitens der SchülerIn
vorliegt, z. B. wenn durch eine gewaltbehaftete Aktion die Sicherheit von Menschen ernstlich
gefährdet wurde, kann eine Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 2 NSchG beschlossen werden.
Stimmberechtigt sind innerhalb der Klassenkonferenz alle in der Klasse tätigen Lehrkräfte sowie
die SchülerInnen- und Elternvertreter. Nach § 36 Abs. 5 NSchG dürfen sich nur die
SchülerInnen und ElternvertreterInnen von der Entscheidung über eine Ordnungsmaßnahme
enthalten: Als Ordnungsmaßnahme kommen nach
§ 62 Abs. 2 NSchG folgende in Betracht:
1. Überweisung in eine Parrallelklasse
2. Überweisung an eine anderer Schule derselben Schulform
3. Androhung des Ausschlusses vom Unterricht bis zu drei Monaten
4. Ausschluß vom Unterricht bis zu drei Monaten
5. Androhung der Verweisung von allen Schulen
6. Verweisung von allen Schulen
(vgl. dieselben 1996, S. 127 f mit weiteren Ausführungen).
Nr. 3-6 des § 62 Abs.2 NSchG dürfen nur beschlossen werden, wenn durch das
SchülerInnenfehlverhalten die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet, also ihre körperliche
67
Unversehrtheit bedroht ist oder wenn der Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt wird
(vgl. Wortlaut § 61Abs.3 1 NSchG). Bei der Verhängung der Ordnungsmaßnahme handelt es
sich um einen Verwaltungsakt, wobei die Konferenz sowohl Entschließungermessen (ob
Einschreiten erforderlich ist?) und Auswahlermessen (welche Maßnahme?) zu treffen hat. Nach
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dabei abzuwägen, ob nicht auch einen mildere
Maßnahme angemessen ist. Die Entscheidungsbegründung wird schriflich festgehalten. Nach §
61 Abs. 7 NSchG ist für die Genehmigung der Ordnungs-maßnahme die Schulbehörde
zuständig.
Gegen die Ordnungsmaßnahme kann innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegt werden. Im
übrigen stehen der SchülerIn die Rechtsbehelfe der Verwaltungsgerichtsordnung zur Seite.
Sofern die Schulleitung akuten und berechtigten Handlungsbedarf sieht, kann sie nach § 43
Abs.2 Nr. 3 NSchG Eilmaßnahmen anordnen, zum Beispiel den sofortigen Ausschluß vom
Unterricht für einige Tage. Sofern auch der Verdacht auf das Vorliegen einer Straftat entsteht, ist
die Schulleitung im Interesse der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Schule
verpflichtet, die Polizei einzuschalten -z. B. in Fällen von Körperverletzung und Drogenhandel(vgl. dazu dieselben, 1996,. S. 129).
Wenn es erst zur Sanktionierung kommen muß, ist es für Prävention zu spät. Jedoch sollten sich
die involvierten PädagogInnen im Nachhinein Gedanken darüber machen, wie künftig bereits auf
Frühwarnzeichen reagiert werden kann, damit es in Zukunft zu schulrechtlichen Maßnahmen
nicht kommen muß (vgl. Ausführungen unter 5).
7
Resümee
Gewalt und Aggression können begrifflich nicht trennscharf abgegrenzt werden. In der Schule
kann sich Gewalt vielfältig äußern - durch körperliche, psychische oder verbale Attacken oder
strukturelle (nichtpersonale) Gewalt. Strukturelle Gewalt kann von Schule durch Elemente des
heimlichen Lehrplans, durch Fremdbestimmung von SchülerInnen in asymmetrischen
Kommunikationssituationen mit LehrerInnen verursacht werden.
Bezüglich der Ursachen von Gewalt und Aggression ist von einem "multikausalen
Bedingungsgefüge" auszugehen. Ursachen für Gewalt und Aggression in der Schule sind dabei
auch auf sozioökonomische und familiale Faktoren zurückzuführen. Die sich im schulischen
Zusammenhang äußernde Gewalt entsteht überwiegend außerhalb von Schule, ragt aber in
Schule hinein.
Für den Umgang mit Gewalt in der Schule gibt es keine Patentrezepte, wie sich aus der
Darstellung obiger Modelle ergeben hat. Es bedarf daher auch weiterhin intensiver Forschung
zur Entwicklung von Präventions- und Interventionskriterien.
68
Die Orientierung der vorgestellen Modelle ist im wesentlichen präventiv. Im Kontext von
(Primär)Prävention werden dabei folgende Bereiche angesprochen, die in der Schule trainiert
werden können: Soziales Lernen, Verbesserung der LehrerIn/SchülerInteraktion, Schaffung
verbindlicher Werte und Normen für alle Beteiligten, Vermittlung eines positiven Selbstkonzepts
bis hin zur Vermittlung sozialer Identität. Als erfolgversprechend erscheint dabei insbesondere
das auf dem "Life-Skills Konzept der WHO" basierende Unterrichtsmodell zur
Persönlichkeitsförderung (vgl. dazu unter 5.6.1).
Ohne weiteres lassen sich die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht auf Schule übertragen. Es
bedarf einer spezifischen und situationsangemessenen Auswahl und Anpassung von Präventionsund Interventionsmodellen in der Praxis.
Die Reichweite schulischer Maßnahmen ist allerdings begrenzt. Beschränkungen ergeben sich
daraus, daß Schule Bestandteil des gesellschaftlichen System ist. Sie ist damit selbst den
erheblichen Veränderungen wie Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelt
unterworfen. Gleichzeitig verursachen gesellschaftliche Umbrüche Veränderungen in Bezug auf
Chancengleichheit und Verwirklichung von Lebensplänen. Der Konkurrenz- und
Plazierungsdruck wächst bei gleichzeitigem Verlust von traditioneller Orientierung (vgl. dazu
unter 4.3.2.2). Schule kann nicht die Auswirkungen des gesellschaftlichen Leistungsdrucks bei
ihren SchülerInnen kompensieren, zumal sie diesen selbst weitergibt (Selektions-, Allokations
und Legitimationsfunktion von Schule). Innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Kontextes ist
Schule institutionalisiert und vertritt keine gesellschaftliche Gegenposition. Anders ausgedrückt:
"Schule spiegelt gesellschaftliche Struktur- und Chancenbedingungen wider, die sie als
Institution selbst nicht beeinflussen kann"(Hurrelmann 1995 a, S. 76).
Innerhalb ihres pädagogischen Handlungsspielraums hat Schule dennoch Möglichkeiten, Gewalt
und aggressivem Verhalten etwas entgegenzusetzen:
-
-
Schule kann sich den individuellen Lebensproblemen von SchülerInnen stellen, indem sie
sich der Lebenswelt von SchülerInnen öffnet (Subjektorientierung).
Schule kann gezielt Persönlichkeitsförderung betreiben und dadurch persönliche Verortung
ermöglichen,
z.B.
durch
Stärkung
individueller
Bewältigungsund
Verarbeitungskompetenzen.
Schule kann gezielt soziales Lernen im Unterricht fördern.
Schule kann kann mit SchülerInnen Regeln ür den friedlichen Umgang miteinander
vereinbaren und Grenzen gegen Gewalt in der Schule setzen- sowie zusammen mit den
SchülerInnen auf die Einhaltung der vereinbarten Regeln achten.
69
Dies alles setzt eine hohe pädagogische Kompetenz der Lehrkräfte voraus, die gezieltes
LehrerInnentraining als "SCHILF" (schulinterne LehrerInnenfortbildung) oder bereits in der
pädagogischen Ausbildung erfordert. Dennoch hat der pädagogische Einsatz seine Grenzen:
LehrerInnen darf nicht die pädagogische Gesamtverantwortung für soziales Lernen als Gewaltund Aggressionsprophylaxe für SchülerInnen aufgebürdet werden, zumal sich soziale Lernorte
auch und gerade in außerschulischen Sozialisationsagenturen wie Familie und peer-groups
(Gleichaltrigengruppen) befinden.
Interdisziplinäres Arbeiten, die Einbeziehung anderer ExpertInnen sowie die Institutionalisierung
von Schulsozialarbeit können LehrerInnen bei der Prävention und Intervention im Hinblick auf
schulische Gewalt erheblich entlasten. Was den Einsatz progressiver Programme im Umgang mit
Gewalt angeht, erscheint deren Umsetzung vor dem Hintergrund der "relativen Autonomie von
Schule" durchaus realisierbar (vgl. dazu Bildungskommission NRW, 1995, S.61 ff).
7. 1
Ausblick/Perspektiven
Gewalt und der Umgang damit stellt für die Schule eine pädagogische Herausforderung dar,
deren Perspektive Rauschenberger wie folgt beschreibt:
"Unsere historischen wie lebensgeschichtlichen Erfahrungen legen die Annahme nahe, daß die Erfahrung der
Gewalt im menschlichen Leben unausweichlich ist. Jeder Mensch begegnet ihr, sie mag schwächer oder
stärker ausgeprägt sein, sie mag demütigend sein oder nicht. Jeder erfährt überdies, daß er selber Gewalttäter
sein kann oder zumindest Mittäter. Aus diesem Sachverhalt gibt es kein Entrinnen. Jemand, der dies nicht
weiß oder nicht wissen will, kann auch keine Kinder erziehen. Freilich ist nicht jede Gewalt von der
destruktiven Art, die auf die Vernichtung des Daseins aus ist. (...) Für die Erziehung bedeutet dies, daß
gerade die Gewalt nicht im Wege der Verleugnung zum Verschwinden gebracht werden kann; sie wird nur
verändert durch die zunehmende Fähigkeit des Menschen, sich zu sich selber zu verhalten, und dies heißt: sie
ist kultivierbar"(Rauschenberger 1995, S.41 f).
Wenn Gewalt durch Erziehung kultivierbar ist, dann setzt das für die Erziehenden voraus, daß
sie selbst eine Position dazu entwickelt haben und diese auch im Unterricht äußern. Klare
Konturen zu entwickeln, setzt auch eine eigene reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema
"Wie gehe ich als LehrerIn selbst mit Gewalt um und ist dieser Umgang innerhalb eines sozialen
Gefüges (z.B. innerhalb des Klassenverbandes) konsensfähig?" voraus.
Hier stellt sich für mich die Frage nach einer unterrichtsübergreifenden Werte-erziehung, die die
Entwicklung von Persönlichkeit und soziales Lernen ermöglicht. Schirp (1996) thematisiert dies
unter der Überschrift "Erziehung zur Verantwortung" und entwickelt dazu, orientiert am
Kohlbergschen Konzept der Moralstufen, ein Entwicklungsmodell, das moralisches Lernen von
SchülerInnen zum Inhalt hat: "Moralisches Lernen geschieht dabei durch die
Auseinandersetzung mit Wertedilemmata. Ziel ist eine Urteilskompetenz, die auf einer möglichst
70
differenzierten Begründungsstruktur basiert "(derselbe 1996, S. 55). Vereinfacht ausgedrückt:
Erst nachdenken und abwägen, dann (reflektiert) handeln.
Speck benennt im Kontext moralischer Erziehung die pädagogischen Prinzipien "Förderung der
Autnonomiebildung und Achtung des Anderen" (vgl. 1996, S.140). Er befürwortet einen
praktisch- pädagogischen Ansatz, der sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen dazu befähigen
solle, den eigenen Verstand zu gebrauchen, um lebensweltliche Werte selbst zu prüfen und zu
beurteilen- Dies sowohl auf der Ebene materieller und vitaler eigener Interessen als auch unter
dem Aspekt eines überindividuellen und überdauerenden Sinn menschlichen Lebens und
Zusammenlebens (vgl. Speck, 1996, 140 f). Ersichtlich wird eine inhaltliche Parallele dieser
Ausführungen zum Kantschen Kategorischen Imperativ11. Allerdings stellt sich die Frage nach
der inhaltlichen Bedeutung überindividueller Werte, da sie sich historisch verändern.
Auf die Dialektik von Erziehung zu Individualität versus Erziehung zur Anpassung hat bereits
Adorno 1970 in seinem Text "Erziehung zur Mündigkeit" hingewiesen:
"Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie die Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber
immer wesentlich auch Realtitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment von Anpassung.
Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen
nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei
stehenbleibt(...)Aber dann muß die Erziehung auch auf diesen Bruch hinarbeiten und diesen Bruch selber
bewußt machen, anstatt ihn zuzuschmieren und irgenwelche Ganheitsideale oder ähnlichen Zinnober zu
vertreten(...) (Adorno 1970,S. 114)
Werteerziehung als prophylaktische Erziehung gegen Gewalt bewegt sich daher in einem
Spannungsfeld zwischen Erziehung zur Individualität und Erziehung zur gesellschaftlich
erwünschten Anpassung.
Bei der Diskussion um moralische Erziehung als Gewaltprophylaxe ist allerdings zu beachten,
daß sich eine Werteerziehung auch an der Akzeptanz der SchülerInnen zu orientieren hat.
Welche Werte sind aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen auch verstehbar und lebbar?Werte werden nur gelebt und umgesetzt, wenn sie nicht als aufgezwungen, sondern als subjektiv
verbindlich betrachtet werden. Bei der Vermittlung von Werten setzt dies eine enge Orientierung
an der Lebenswelt und den subjektiven Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen voraus. Eine
Grundhaltung, die SchülerInnen als eigenständige Handlungssubjekte betrachtet, kann in dieser
Hinsicht nur förderlich sein.
11Anmerkung:
Der kategorische Imperativ ist die oberste und allgemeinste Handlungsanweisung der praktischen
Philosophie Kants: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne" (vgl. Kwiatkowski, 1985, S. 217)
71
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