1 Zum Umgang mit Gewalt in der Schule- Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Maßnahmen Schriftliche Abschlußarbeit im Rahmen des Magisterstudiengangs (Magisterarbeit), angefertigt im Hauptfach Erziehungswissenschaft, Teilgebiet Schulpädagogik an der FernUniversität Hagen Vorgelegt von Inge Seiler April 1998 Gliederung Seite 1 Einleitung 1 2 Theoretischer Hintergrund und Begriffsbestimmmungen 1 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 Zur Definition und Dimensionen von Gewalt Enger und weiter Gewaltbegriff Abgrenzung zum Begriff Aggressivität Zwischenergebnis ad 2.1 1 1 3 5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 Der Begriff "Schule" im thematischen Kontext Grundlegende Definition von Schule als Sozialisationsinstanz Gesellschaftliche Funktion von Schule Der heimliche Lehrplan- eine Variante struktureller Gewalt Zwischenergebnis ad 2.2 6 6 7 8 10 2.3 Pädagogische Maßnahmen im thematischen Kontext 10 3 Erscheinungsformen von Gewalt und Aggression in der Schule 11 3.1 Schulspezifische Definition von Gewalt 11 3.2 3.2.1 Empirsche Befunde über das Ausmaß von Gewalt in der Schule Untersuchung von Schwind et. al 13 14 2 3.2.2 3.2.3 3.2.4 Studie von Dettenborn und Lautsch Studie von Niebel et al Studie von Greszik et al 15 16 17 3.3 3.3.1 Zwischenfazit ad 3 Exkurs: Rassistische und rechtsextreme Gewalt in der Schule 18 19 4 Ursachen, Analysekonzepte und Erklärungsmodelle für Gewalt in der Schule 20 4.1 Ursachenzuschreibung für Gewalt aus Sicht unterschiedlicher Gruppen 21 4.2 Unterschiedliche Bedingungskonstellationen für schulische Gewalt Erklärungsmodelle für die Genese von Gewalt und Aggression in der Schule 4.3.1 Psychologische Sichtweisen 4.3.1.1 Trieb- und Instinkttheorie 4.3.1.2 Lerntheoretischer Erklärungsansatz 4.3.1.3 Frustrations-Aggressions-Hypothese 4.3.2 Sozialisations- und schultheoretische Perspektiven 4.3.2.1 Anomietheorie bezogen auf die Institution Schule 4.3.2.2 Gewalt als Ausdruck von Individualisierungstendenzen und Desintegration 4.3.2.3 Weitere Betrachtungsweisen: Sozialökologischer und interaktionstheoretischer Ansatz 22 4.3 23 23 23 24 26 29 30 31 33 4.4 Fazit zu Abschnitt 4 32 5 Der Umgang mit schulischer Gewalt: Ansätze und Modelle zu Prävention und Intervention 33 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 Interventionsprogramm gegen Mobbing in der Schule nach Olweus Theoretischer Hintergrund Umsetzung und Inhalte des Interventionsprogramms Evaluation Einordnung 34 34 37 39 40 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 Gewaltfreier Umgang mit Konflikten anch Walker Kurzbeschreibung des Projekts: Projektträger/Projektgeschichte Theoretischer Hintergrund Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept 41 41 42 43 3 5.2.4 Einordnung 44 5.3 5.3.1 5.3.2 Lebenswelt Schule in Berlin (Hensel). Projektdarstellung und Umsetzung Einordnung 45 46 48 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 Soziales Lernen nach Lerchenmüller Kurzdarstellung des Projekts/Projektgeschichte Theoretischer Hintergrund Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept. Evaluation Einordnung 49 49 49 50 51 52 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 Trainingsprogramm/ Fortbildung für LehrerInnen: Das Konstanzer Trainingsmodell Theoretischer Hintergrund Umsetzung des Programms Evaluation Einordnung 53 54 54 55 56 5.6 5.6.1 5.6.2 Zusammenfassener Überblick ad 5 56 Exkurs: Persönlichkeitsförderung nach Burow et al 58 Exkurs: Praxisempfehlungen zum Verhalten in gewalttätigen Situationen 6 Sozialpädagogische und rechtliche Präventions- und Interventionsmöglichkeiten Schulsozialarbeit Rechtliche Maßnahmen am Beispiel des Niedersächsischen Schulgesetzes 6.1 6.2 7 7.1 Resümee Ausblick/ Perspektiven Anhang: Literaturverzeichnis 61 61 62 64 67 60 4 1 Einleitung Auf der Innenseite des Buchdeckels einer Fachpublikation mit dem Titel "Überlebenskampf im Klassenzimmer" findet sich folgender Problemaufriß, der die von mir gewählteThematik anschaulich machen soll: "Prügelei, Schikane, Erpressung und kleine Seelendramen- im Klassenzimmer geben immer mehr Faustrecht und kalte Verachtung den Ton an. Zahlreiche Eltern und Lehrer schließen die Augen vor der sich immer weiter verschärfenden Lebenssituation von Jugendlichen, denn das Gewaltpotential scheint umfassend und tiefgehend wie noch nie. Doch was steckt wirklich dahinter? Wie kann man damit umgehen?" (Langer,1994) Im Rahmen dieser Literaturarbeit werde ich mich mit dem Phänomen Gewalt in der Schule und darauf bezogene pädagogische Prävention und Intervention auseinandersetzen. Der Umgang mit Gewalt in der Schule ist aus meiner Sicht maßgeblich bestimmt durch die jeweilige Perspektive. Hier stellen sich Fragen wie: Wer betrachtet und beurteilt das Phänomen Gewalt, welche Auffassung von Gewalt liegt dieser Wertung zugrunde? Ich werde mich daher in meinen Ausführungen zunächst auf die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und theoretischer Grundlagen im Kontext mit Gewalt in der Schule konzentrieren. Darauf aufbauend stelle ich dann eine Auswahl von aktuellen Ansätzen und Modellen zum Umgang mit schulischer Gewalt vor. Diese sollen im Hinblick auf ihre theoretische Fundierung und ihre pädagogische Reichweite betrachtet werden. Am Ende der Arbeit steht ein Resümee und Ausblick. 2 Theoretischer Hintergrund und Begriffsbestimmungen Der Gewaltbegriff im thematischen Zusammenhang, die Bedeutung von Schule als gesellschaftliche Institution sowie die Begriffe Prävention und Intervention als pädagogische Maßnahmen werden unter Kapitel 2 abgehandelt. Insbesondere soll dadurch das Thema der Arbeit und ihr theoretischer Hintergrund eingegrenzt und verdeutlicht werden. 2.1 Zur Definition und zu Dimensionen von Gewalt Eine Annäherung an eine Konzeption des Gewaltbegriffs -zunächst abstrahiert vom Kontext Schule- erfolgt durch die exemplarische Darstellung einiger Positionen in der Literatur. Vor diesem Hintergrund werde ich später unter 3 eine Einordnung der Definition von schulischer Gewalt vornehmen. 2.1.1 Enger und weiter Gewaltbegriff: "Gewalt" ist im deutschsprachigen Raum ein Begriff mit vielen verschiedenen Bedeutungen. Im Alltaggsverständnis erfährt der Gewaltbegriff eher eine negative Nuancierung und wird nicht 5 von dem Begriff Aggression abgegrenzt. Dennoch kann Gewalt eine positive Konnotation beinhalten. So weist Rauschenberger darauf hin, daß Gewalt historisch auf das Wort "walten" zurückgehe (vgl. Rauschenberger, 1995, S.39). Unter "walten" wurde die Tätigkeit einer Macht verstanden, der man eine gestaltende und ordnende Funktion zuschrieb. Reste seien insbesondere in Formulierungen wie "Anwalt", "Verwaltung" oder dem "Walten der Natur" zu finden (vgl. ebd.). In den folgenden Ausführungen wird jedoch insbesondere auf die negativ besetzte Definition von Gewalt abgestellt. Eine ebenfalls von der Wortbedeutung ausgehende Definition ist die von Forschner(1985). Er weist auf zwei semantische Schwerpunkte des Wortes Gewalt hin: "(...) es wird einmal nahezu bedeutungsgleich mit "Macht" verwendet: im weiten Sinn der Fähigkeit, Wirkungen hervorzubringen (lat. potentia), der Fähigkeit , über etwas zu verfügen, im engeren (sozialen) Sinn der Herrschaft über Menschen (lat. potestas), wobei mit Gewalt qua Herrschaft meist sowohl die juridische Herrschaftsbefugnis wie die Fähigkeit zur Erzwingung von Verhalten gemeint ist. Der zweite semantische Schwerpunkt leitet sich her vom lateinischen vis (physische Kraft, Stärke), (...) und violentia (der Anwendung der physischen Kraft auf ein anderes Lebewesen oder dessen Habe gegen dessen Willen)" (Forschner,1985, S.16). Diese Definition verdeutlicht die Dimensionen von Gewalt als gestaltende Machtausübung bis hin zur physischen Gewalttätigkeit. Die Dimension der Ausübung psychischer Gewalt oder psychisch wirkendem Zwang kommt in dieser Definition explizit nicht vor, was gleichzeitig einen Kritikpunkt an diesem Ansatz darstellt. Tendenziell geht dieser Ansatz von einem engen Gewaltbegriff aus. Die "Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt" (Gewaltkommission) legte 1990 ihrem Gutachten einen Gewaltbegriff zugrunde, der Gewalt als "zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen" definiert und ergänzend "körperliche Angriffe auf Sachen einbezieht" (vgl. Schwind/Baumann, 1990, S.35f). Hier wird demnach von Gewalt als vornehmlich physische Handlung gegen einen anderen Menschen oder einen Gegenstand ausgegangen (Gewalt im Sinne von "Handanlegen"), was einer restriktiven Konzeption des Gewaltbegriffs entspricht. Theunert (1987) sieht Bestimmungskriterien für Gewalt nicht nur in der bewirkten Schädigung, sondern betrachtet auch die Verknüpfung ihrer Ausübung mit den Phänomenen Macht und Herrschaft. Dabei wird zwischen situativen und generellen Machtverhältnissen differenziert: "In situativen Machtverhältnissen ist die Ungleichverteilung von Machtmittelm primär situationspezifisch geprägt, in generellen Machtverhältnissen dagegen langfristig und eindeutig zugunsten eines Parts geregelt und meist gesellschaftlich sanktioniert" (Theunert, 1987, S.41). Theunert hinterfragt die situativen gesellschaftlichen Bedingungszusammenhänge im Kontext der auftretenden Gewalt und geht von einem dahingehend erweiterten Gewaltbegriff aus. 6 Eine Definition, die sich ebenfalls an einem weiten Gewaltbegriff orientiert, findet sich bei Kwiatkowski, der Gewalt wie folgt definiert: "Anwendung physischen (Zufügung körperlichen Schmerzes, Einschränkung der Bewegungsfreiheit) oder psychischen (z.B. Drohung oder Erpressung) Zwangs im allgemeinen in der Absicht, in einem Interessenkonflikt dem eigenen Willen gegen Widerstand Geltung zu verschaffen. Zur Kennzeichnung institutioneller Zwänge (z.B. ungerechte Eigentumsordnung, fehlende Chancengleichheit), die die Selbstverwirklichung bestimmter Individuen oder Gruppen innerhalb einer Gesellschaft verhindern, spricht die kritische Gesellschaftstheorie von struktureller d.h. nicht personaler Gewalt" (Kwiatkowski 1985, S.164) Der terminus der "strukturellen Gewalt" geht auf Galtung (1971) zurück. Danach geht Gewalt nicht nur von Personen aus sondern auch von den Rahmenbedingungen des Lebens wie Rechtsnormen, Kulturnormen etc. Gesellschaftliche Strukturen, die Handlungen gegen den Willen erzwingen und dabei köperliche und/ oder seelische Verletzungen zur Folge haben, üben "strukturelle Gewalt" aus. Zu differenzieren ist zwischen Gewalt als (inter)personales und Gewalt als strukturelles Phänomen. Galtungs eher offene Gewaltdefinition lautet: "Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung" (Galtung, 1971, S.119). Diese Definition wirft - auch nach Intention ihres Autors - einige Fragen auf. Unklar ist insbesondere, aus wessen Perspektive die "aktuelle oder potentielle Verwirklichung" der Betroffenen definiert wird. So taucht in Galtungs Konzeption kein objektiver Dritter auf, der diese zuätzlich auch intraindividuell zu erfassende Dimension berurteilt. 2.1.2 Abgrenzung zum Begriff Aggressivität Im gegenwärtigen pädagogischen Alltag gibt es kaum ein Schlagwort, daß der Vieldeutigkeit des Begriffs Aggression nahekommt. Unscharf erscheinen einige Definitionen bezüglich der Abgrenzung von Gewalt und Aggressivität bzw. Aggression. Fromm beschreibt menschliche Aggressivtität differenziert: "Wir müssen beim Menschen zwei völlig verschiedene Arten der Aggression unterscheiden. Die erste Art, die er mit allen Tieren gemeinsam hat, ist ein phylogenetisch programmierter Impuls, anzugreifen (oder zu fliehen) sobald lebenswichtige Interessen bedroht sind. Diese defensive "gutartige" Aggression dient dem Überleben des Individuums und der Art; sie ist biologisch angepaßt und erlischt, sobald die Bedrohung nicht mehr vorhanden ist. Die andere Art, die "bösartige" Aggression, das heißt die Destruktivität und Grausamkeit, ist spezifisch für den Menschen und fehlt praktisch bei den meisten Säugetieren; sie ist nicht phylogenetisch vorporgrammiert und nicht biologisch angepaßt; sie dient keinem Zweck und ihre Befriedigung ist lustvoll" (Fromm 1994, S.20). Deutlich wird aus dieser Definition, daß Aggression beim Menschen, die sich im negativen Sinn als Destruktivität äußert, erworben und daher gelernt sein muß, sofern sie nicht originär der instinktiven Verteidigung dient. 7 Ferstl, Niebel und Hanewinkel(1993) definieren Aggression synonym mit Gewalt: "Insgesamt werden unter Gewalt/Aggression gerichtete oder intentionale Verhaltensweisen gefaßt, die andere schädigen bzw. destruktiv oder aversiv sind. Die Zuschreibung von Gewalt hängt dabei im Alltag von Bezugssystemen der Beurteiler ab bzw. auch von situativen und normativen Kriterien der Angemessenheit (...) Für Gewalt wie für aggressives Verhalten gelten: Ihr interaktiver Charakter ist zu berücksichtigen gegenüber einem ausschließlichen Verständnis der Gewalt als Eigenschaft. (...) Auf Grund ihrer Modellwirkungen, aber vor allem auch auf Grund ihres evozierenden Charakters müssen verbale und nonverbale Androhung, aber auch der umgangssprachliche Gebrauch von Gewaltausdrücken als Gewalttendenzen unterstützende Verhaltensweisen mitberücksichtigt werden (...) Unsere Defintion nimmt also den im Vorfeld von Gewalt und aggressiven Handlungen stehenden verbalen und nonverbalen Gewaltausdruck mit auf, der häufig mit psychischem Zwang verbunden ist" (Ferstl u.a.1993, S. 6f). Dieser Definition liegt ein weites Gewaltverständnis zugrunde. Hervorzuheben ist der Hinweis auf situativen Kontext und Bezugssystem der BeurteilerInnen. Jedoch fehlt es in dieser Definition an einer klaren Abgrenzung von Gewalt und Aggression, so daß die Ausführungen diesbezüglich nicht der Begriffsklärung dienen. Eine anschauliche Definition von Aggression findet sich bei Ortner und Ortner (1991): "Damit kann man Aggressivität im übergreifenden Sinn als ein Verhalten verstehen, das unter dem dranghaften Antrieb steht, Personen oder Objekte in verletzender oder zerstörerischer Absicht anzugreifen und ihnen verbal oder körperliche Schaden zuzufügen, der sich bei Personen psychisch oder physisch auswirken kann" (dieselben, 1991, S.110). Auch hier erfolgt innerhalb der Definition keine Abgrenzung zum Terminus Gewalt, so daß sie für die Differenzierung nicht beitragen kann. Auf diese Differenzierung stellen jedoch Hurrelmann und Palentien ab. Sie konstatieren, daß der Aggressionsbegriff nicht dem Gewaltbegriff gleichgesetzt werden dürfe sondern einen übergeordneten Status beinhalte. Der Aggressionsbegriff bezeichne eine auf Verletzung eines anderen Menschen zielende Handlung. Dabei werde die offene Handlung als Aggression, die Absicht zur Handlung hingegen als Aggressivität bezeichnet. Tradititionell werde unter Gewalt die körperliche Aggression verstanden, bei der ein Mensch einem anderen Menschen schaden mittels physischer Stärke zufüge. Daraus folge, daß körperliche Gewalt eine Teilmenge von Aggression darstelle (vgl. dieselben, 1995, S.15). Dieser Auffassung ist auch Forschner, wenn auch mit anderer Begründung. Er akzentuiert, daß die Bedeutung des Wortes "aggressiv" weiter sei, als die des Wortes "Gewalt": "Als aggressiv läßt sich jede Art aktiven und reaktiven Verhaltens von Lebewesen beschreiben, das auf Störung, Verletzung, Verdrängung oder Vernichtung des Lebens, Strebens, Befindens und Selbstbewußtseins anderer Lebewesen (bzw. Personen) gerichtet ist. Gewalttätigkeit bzw. Drohung mit Gewalt ist so gesehen 8 nur eine (wenngleich paradigmatische) Form von aggressivem Verhalten gegenüber Mitgliedern der eigenen Art oder solcher anderer Arten" (Forschner, 1985, S.21). Eine weitere Differenzierung zwischen Gewalt und Aggression findet sich bei Nolting. Er trifft eine Abgrenzung, indem er nur schwerere Formen der Aggression als Gewalt bezeichnet, insbesondere körperliche Formen der Aggression, nicht dagegen Schimpfen oder böse Blicke (vgl. Nolting, 1997, S. 25). Allerdings führt er aus, daß der Begriff der strukturellen Gewalt nicht unter den Oberbegriff Aggression zu subsumieren sei. Er begründet dies mit dem Hinweis, daß die Schädigung durch strukturelle Gewalt nicht durch aktives zielgerichtetes Verhalten durch sichtbare Akteure herbeigeführt werde (vgl.derselbe, a.a.O., S.26). Die folgende Abbildung soll dieses Verhältnis verdeutlichen: Strukturelle Gewalt Gewalt Personale Gewalt Aggression Andere (nichtgewaltsame Aggression ( Abb.nach Nolting, 1997, S.26) Die Definition von Hurrelmann und Palentien soll als Beispiel für eine mehr-dimensionale Erfassung von Gewalt dienen, die Aggression und Gewalt in ihrer Konzeption nicht differenziert. Sie definieren (in Anlehnung an Bründel/Hurrelmann 1994) sechs Kategorien von Gewalt: - "- physische Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch körperliche Kraft und Stärke; - psychische Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch Vorenthalten von Zuwendung und Vertrauen, durch seelisches Quälen und emotionales Erpressen; - verbale Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch beleidigende, erniedrigende und entwürdigende Worte; - sexuelle Gewalt, die Schädigung und Verletzung eines anderen durch erzwungene intime Körperkontakte oder andere sexuelle Handlungen, die dem Täter eine Befriedigung eigener Bedürfnisse ermöglichen; - frauenfeindliche Gewalt als physische, psychische, verbale oder sexuelle Formen der Schädigung und Verletzung von Frauen, die häufig unter Machtausübung und in diskriminierender und erniedrigender Absicht vorgenommen werden; - fremdenfeindliche und rassistische Gewalt als physische, psychische und verbale Formen der Schädigung und Verletzung eines anderen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit. Von diesen zwischenmenschlichen Formen der Gewalt sind zwei weitere Ausprägungen zu unterscheiden: - strukturelle Gewalt als physische, psychische und verbale 9 - Form der Verletzung und Schädigung eines anderen unter Ausnutzung von Macht, Hierarchie und Abhängigkeit sowie in Ausübung hoheitsrechtlicher Funktionen; - -»vandalistische« Gewalt als Form der physischen Beschädigung und Zerstörung von Gegenständen (Hurrelmann u.a.1995, S.16/17)". Deutlich wird bei diesem anschaulichen Definitionsbeispiel, daß sich Gewalt an bestimmten Handlungen festmachen läßt. Die Vorzüge dieses Gewaltkonzeptes sind offensichtlich: Es liefert ein grobes Orientierungsraster, in das entsprechendes Verhalten als (interpersonale) oder strukturelle Gewalt eingeordnet werden kann. 2.1.3 Zwischenergebnis ad 2.1: Gewalt in seiner negativen Wortbedeutung kann sich durch physisch, psychisch und strukturell wirkenden Zwang gegenüber Gruppen und Individuen sowie Gegenständen äußern. Der Aggressionsbegriff ist seiner Funktion nach dem Gewaltbegriff grundsätzlich übergeordnet, läßt sich jedoch aufgrund der Fülle von überschneidenden Definitionen nicht trennscharf vom Gewaltbegriff abgrenzen. Trotz begrifflicher Abrenzungskriterien scheint ein Trend dahingehend zu bestehen, durch Begriffs-Kombinationen wie "sexuelle Gewalt", "psychische Gewalt", "verbale Gewalt" den Aggressionsbegriff zugunsten des Gewaltbegriffs in den Hintergrund treten zu lassen. Mit der Folge eines zum Teil als "inflationär" zu bezeichnenden Verwendung des Gewaltbegriffs. 2.2 Der Begriff "Schule" im thematischen Kontext Die schulische Gewaltproblematik sowie der Umgang damit werden im Rahmen dieser Arbeit nicht explizit schulform- oder schulstufenspezifisch thematisiert. Schule wird von mir schwerpunktmäßig als eine auf alle Beteiligten einfluß-nehmende Sozialisationsinstanz verstanden. Dabei gehe ich von der weit angelegten und umfassenden Sozialisationsdefinition in Anlehnung an Geulen und Hurrelmann aus, die besagt, daß " (...) Sozialisation der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt (...) " (Geulen/Hurrelmann,1980, S.51) ist. Im Vordergrund steht dabei "wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet" (vgl. ebd.). Aus der Definition folgt, daß sämtliche Umweltbedingungen wie Verhältnisse in Elternhaus, Arbeitsplatz und somit auch und gerade die Schule auf die psycho-soziale Entwicklung des Subjekts Einfluß nehmen. Der Passus "gesellschaftlich vermittelte soziale und materielle Umwelt" impliziert, daß Umweltbedingungen gesellschaftlich determiniert sind. Im folgenden 10 Abschnitt soll Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz und in ihrer gesellschaftlichen Funktion problematisiert werden. 2.2.1 Grundlegende Definition von Schule als Sozialisationsinstanz Eine SchülerIn verbringt einen Großteil ihrer Lebenszeit im Kindheits- und Jugendalter in der Schule. Als Institution stellt Schule eine Einrichtung dar, "die nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Verteilung von Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter im Rahmen eines größeren Organisationssystems eine bestimmte Aufgabe erfüllt" (Hartfiel, 1972, S. 105). Sie verfügt dabei über einen materiellen Apparat (Gebäude/ Instrument/ Techniken) und wird von Personen getragen, die zueinander in Rollenbeziehungen stehen (vgl. Fend 1969). Schule als gesellschaftlich determinierte Institution dient gezielter Beeinflussung der Sozialisanden. Gesellschaftlich erwünschte Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen sollen vermittelt werden, wodurch Schule für die Sozialisation des gesellschaftliche Nachwuchses sorgt (vgl. Tillmann 1994, S.109). Dies erfolgt durch ein geplantes System und kontinuierlichen Unterricht, inhaltlich und methodisch orientiert am staatlichen Lehrplan. Traditionell besteht daher zwischen LehrerIn und SchülerIn ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis- institutionell bedingt- wobei die Teilnahme am Unterricht für beide Parteien nicht freiwillig ist: SchülerInnen unterliegen der gesetzlichen Schulpflicht, LehrerInnen sind als öffentlich Bedienstete, zumeist verbeamtet, integraler Teil der Schule und zum Unterricht dienstverpflichtet. Damit haftet Schule ein "Zwangscharakter" an (vgl. dazu Schirp, 1989, S.125). Ulich (1991) systematisiert die schulischen Sozialisationsbedingungen, indem er sie in "Strukturund Prozeßdimensionsionen" unterteilt. Als Strukturdimensionen führt er folgende auf: Schule als Institution, Schulsystem (Organisation und Differenzierung von Schule und Unterricht), Schulklasse als organisatorische Grundeinheit, Struktur der Lehrer-Schülerinteraktion. Als Prozeßdimensionen benennt Ulich: Normierung und Kontrolle des Schülerverhaltens, Leistung, Leistungsbewertung, Selektion, Unterricht als Vermittlung von Inhalten durch Kommunikationsprozesse (vgl. derselbe, 1991, S.381). An dieser systematisierenden Aufzählung wird die Mehrdimensionalität des Sozialisationsfeldes Schule deutlich. 2.2.2 Gesellschaftliche Funktion von Schule Die Problematisierung der Funktion von Schule als Institution im gesellschafltichen und politischen Kontext entstand vor dem Hintergrund der strukturell-funktionalen Theorie des Amerikaners Talcott Parsons (1902-1979), die hier kurz skizziert werden soll. Danach wird Schule als ein Subsystem innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems begriffen. Der Begriff Struktur beschreibt den statischen, Funktion den prozeßhaft- dynamischen Aspekt eines Systems (vgl. Tillmann, 1994, S. 114). Als Subsystem soll Schule zur Stabilisierung des Gesamtsystems 11 Gesellschaft beitragen. Diese Stabilität erfolgt nach der Systemtheorie auf der Makroebene, wenn in der Mikroebene dahingehende Integrationsprozesse erfolgen. Die Integration des Nachwuchses erfolgt -vereinfacht ausgedrückt- durch allgemeiner gesellschaftlicher Rollenerwartungen, vermittelt über LehrerIninteraktion. Insbesondere über diese Interaktion werden auch zugewiesenen Aufgaben und Funktionen "abgewickelt". gesellschaftliche Verinnerlichung die SchülerIndie der Schule Die "Qualifikationsfunktion" von Schule beinhaltet die Aufgabe, den SchülerInnen Kenntnisse zu vermitteln, die für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (z.B. Behörden, Schrift- und Zahlungsverkehr) sowie innerhalb des Beschäftigungssystems einsetzbar sind. Sogenannte "funktionale Qualifikationen" sind dabei Rechnen, Lesen, Schreiben als Kulturtechniken bis hin zu naturwissenschaftlichen Kenntnissen. Unter "extrafunktionalen Funktionen" sind Arbeitstugenden wie Leistungsbereitschaft, Ordnung, Pünktlichkeit und Ausdauer zu verstehen, die von Schule beeinflußt werden (zum Ganzen vgl. Fend 1980 zit. nach Gudjons, 1995, S. 242). Neben der "Qualifikationsfunktion" wird Schule in der Literatur noch "Selektions- und Allokationsfunktion" zugwiesen. Die Selektion von SchülerInnen impliziert die Sortierung von Schülern in Schullaufbahnen nach Leistung(z.B. Orientierungsstufe). Die Allokation von SchülerInnen erfolgt je nach Qualität des erreichtes Schulabschlusses und umfaßt die Zuweisung zu bestimmten beruflichen Positionen (vgl.ebd.). Dadurch erfolgt auch die Zuweisung eines sozialen Status. Eine weitere Aufgabe von Schule ist deren "Integrations- und Legitimationsfunktion". Zum einen umfaßt diese die gesellschaftliche Integration von SchülerInnen über die Vermittlung von Verfassungsnormen, die sowohl die Menschenrechte als auch Rechtstaatlichkeit beinhalten. Zum anderen werden gesellschaftliche Prinzipien wie "Lohn durch Leistung", Ausübung von Macht und Herrschaft vermittelt. Dadurch soll bei den SchülerInnen Loyalität zu dem gesellschaftlichen und politischem Wertesystem erzeugt werden. Schule bemüht sich daher darum, im Unterricht die Gültigkeit und Verbindlichkeit von gesellschaflichen Werte und Normen zu vermitteln, sie legitimiert damit diese. Aber auch über den Unterricht hinaus hat Schule Legitimationsfunktion (vgl. Fend 1980 zit.nach Gudjons 1995 S.242). Durch den "heimlichen Lehrplan" werden gesellschaftlich bedeutungsvolle Einstellungen wie Konkurrenzprinzip, Über-Unterordnungsprinzip, Gewöhnung an Fremdbestimmung vermittelt. Dies soll im folgenden Abschnitt ausgeführt werden. 2.2.3 Der heimliche Lehrplan- eine Variante struktureller Gewalt Der Begriff des heimlichen Lehrplans geht zurück auf Bernfeld. Grundgedanke Bernfelds ist, daß Schule als Institution erziehe.(vgl.Bernfeld, 1925/1967, S.28). Folgendes Zitat soll seine Einstellung zusammenfassen: 12 "Die Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unterrichts gedacht und nicht als Verwirklichung solcher Gedanken entstanden, sondern sie ist da, vor der Didaktik und gegen sie. Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen-ökonomischen und finanziellem-Zustand, aus den politischen Tendenzen der Gesellschaft"(Bernfeld 1925/1967 S.27). Der "heimliche Lehrplan" oder auch der "nichtamtliche, versteckte" Lehrplan stellt auf die Interaktionsbeziehungen der am Unterricht Beteiligten innerhalb der Institution Schule ab. "Sozialisationseffekte" wie Konkurrenzverhalten, Ausrichtung auf Belohnung, konformes Verhalten etc. sind Ergebnis mehrjährig erfolgter Einübung in schulischen Kommunikationsprozessen. So betont Tillmann, daß SchülerInnen vom ersten Schultag an das Einordnen in eine institutionell festgesetzte Beziehungsstruktur (SchülerIn/LehrerInbeziehung) lernten, die das Unterordnen unter den LehrerInnenwillen zur Grundlage habe (vgl.Tillmann 1994, S.170). Die hierarchische Kommunikationsweise führe dabei zu einer generellen Konformitätsorientierung. SchülerInnen lernten, sich in ein angelegtes Machtsystem von ÜberUnterordnung einzufügen (vgl.ebd.). Einige der wichtigsten schulischen Erziehungseffekte der Schule durch den "Heimlichen Lehrplan" hat Kandzora (1996) zusammengefaßt. Insbesondere halte ich folgende der von ihr katalogartig angeführten Aspekte des "heimlichen Lehrplans" für relevant: - -Pflichtcharakter schulischen Lernens, - -Hierarchie der Schule als Organisation - -Reduktion der Persönlichkeit im Bereich der Emotionen und des Handelns - -Objektstatus gegenüber dem Lernprozeß - -Ausrichtung des Lernens an äußeren Vorgaben -Orientierung des Lernens auf Bewertung und formale Leistungskriterien Einüben von Konkurrenzverhalten, -Anpassung an Lehrererwartungen -Standardisierung von Lernformen und damit der Lernenden gemäß Lehrerintentionen -Atomisierung und Parzellierung von Lernen -Disziplinierung -bürokratisierter Ablauf -institutionelle Vorgabe räumlicher und zeitlicher Strukturen -Rituale und Interaktionsformen, die dem demokratischen und selbstbestimmten Handeln von SchülerInnen entgegenstehen. (vgl. Darstellung bei Kandzora a.a.O., S.71) Aus dieser Aufstellung folgt, daß sich eine kritische Betrachtung der sozialisatorischen Auswirkungen von Schule auf die Sozialisanden keinesfalls nur auf die Gestaltung von Unterricht reduzieren darf. Es bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, um Schule in ihren 13 Sozialisationseffekten zu erfassen. Struck (1994) betont, daß Schule selbst auch gewalttätig sei. Er begründet seine Auffassung damit, daß sich Schule nicht auf eine veränderte Schülerschaft einstelle. Das Fachlehrer- und Kurssystem mit seinem wissenschaftsorientiertem Unterricht finde in übergroßen Systemen statt. Ohne Klassenlehrerpädagogik, ohne Präventionspädagogik und ohne sozialpädagogische Kompensation würden die veränderten Familien- und Gesellschaftsstrukturen vernachlässigt (vgl. derselbe, a.a.O., S. 43/44). Schule übt Struck folgend dadurch strukturelle Gewalt aus. 2.2.4 Zwischenergebnis ad 2.2 Insgesamt läßt sich feststellen, daß Schule neben dem familialen Einfluß eine Schlüsselfunktion für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen einnimmt. Als Strukturelement des gesellschaftlichen Systems vermittelt Schule durch den "Lehrplan hinter dem Lehrplan" gesellschaftlich relevante Verhaltensweisen wie Über-Unterordnung durch asymmetrische Kommunikationsstrukturen und Gewöhnung des Individuums an Fremdbestimmung. Konkurrenz- und Leistungsdruck werden über das System von Leistungsforderung und beurteilung vermittelt. Der Aspekt der Konformitätsorientierung, der Vermittlung einer Werteordnung durch Lerninhalte, die das System Gesellschaft nicht gefährden sondern stabilisieren, erscheinen dabei vordergründig. Als Institution mit all ihren organisatorischen Abläufen, die weitgehend nicht von SchülerInnen partizipatorisch beeinflußbar sind (vgl. Stichwort"Heimlicher Lehrplan"), übt Schule strukturelle Gewalt aus. 2.3 Pädagogische Maßnahmen im thematischen Kontext Pädagogische Maßnahmen als Formen des Umgangs mit schulischer Gewalt sollen im Rahmen dieser Arbeit insbesondere als professionelle Handlungsmöglichkeiten verstanden werden, wie sie auch in der Definition von Intervention und Prävention zum Ausdruck kommen. Es werden insbesondere komplexe Konzepte/Modelle berücksichtigt, keine isolierten Maßnahmen. Die Begriffe Intervention und Prävention entstammen nicht originär der Erziehungswissenschaft, sie werden daher aus Sicht einer "Nebenwissenschaft", der Sozialpädagogogik, definiert. Der Terminus Intervention wurde im Bereich der Sozialpädagogik von Geißler und Hege (1985) etabliert. Danach sind alle systematischen Handlungsweisen in pädagogischen/ sozialarbeiterischen Arbeitssituationen Intervention, sofern sie auf Grundlage theoriegeleiteter Konzepte, Methoden und Verfahren erfolgen. Dennoch haftet dem Interventionsbegriff eine gewisse Unkonkretheit und Allgemeinheit an, so daß er sich innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft noch nicht in der Fachsprache durchsetzen konnte. Unter Intervention im reduzierten Sinn kann auch "Eingriff" verstanden werden, der nach Müllensiefen "(...) ein Expertenhandeln mit Erfolgsaussicht im Rahmen eines Über-Unterordnungsverhältnisses 14 impliziert (...)" (derselbe, 1993, S. 510). Für den Erfolg einer Intervention ist nach Müllensiefen jedoch zu beachten, "(...) daß auch jede fachlich noch so gut gemeinte Interventionen unwirksam bleiben oder sogar gegenteilige Effekte erzeugen können, wenn sie nicht in die Eigensinnigkeit oder Eigenlogik von Klientsystemen zum richtigen Zeitpunkt und mit subjektiv angemessenen Einmischungsschritten einfädeln können." (siehe ebd.) Demnach bedarf es seitens ExpertInnen wohldosierter, situationsbezogener Abwägung, bevor es zum Einsatz von pädagogischen Maßnahmen kommt. Der Begriff Prävention ist kein explizit pädagogischer. In der Sozialarbeit werden damit Anstrengungen erfaßt, die darauf gerichtetet sind, Notlagen zu prognostizieren und deren Entstehung durch die Entwicklung systematischer und gradueller Strategien zu verhindern. Prävention setzt das frühzeitige Erkennen von Problemlagen und die Intervention durch systematisch und graduell aufeinander abgestimmte umfassende Maßnahmen voraus, damit das Eintreten von Problemlagen verhindert wird. Faltermeier (1993) differenziert zwischen personen- und strukturbezogenen Präventionsstrategien. Personenbezogene Strategien konzentrieren sich eher auf die Verhaltenauffälligkeiten einzelner durch kontrollierende, beraterische oder gar therapeutische Eingriffe. Strukturbezogene Strategien zielen auf die den Einzelnen oder Gruppen in den Entwicklungs-möglichkeiten hemmenden Lebensbedingungen ab (vgl. Faltermeier, 1993 S. 730). 3 Erscheinungsformen von Gewalt und Aggression in der Schule Im Kapitel 3 soll Gewalt "schulspezifisch" problematisiert werden, außerdem soll die Darstellung ausgewählter empirische Befunde die Dimensionen von schulischer Gewalt und Aggression verdeutlichen. 3.1 Schulspezifische Definition von Gewalt Um Gewalt und gewaltförmiges Verhalten in der Schule zu "entlarven" sind Definitionen erforderlich, die auftretende Phänome und Verhaltensweisen konkretisieren oder für eine empirische Überprüfung Ansätze für Operationalisierung liefern. Wie bereits oben gezeigt wurde, besteht für die Begriffe Gewalt und Aggression keine einheitliche Definition oder eine konsensfähige Differenzierung. Daher man kann man im Kontext Schule von einer Pluralität des Gewaltverständnisses ausgehen. Anstelle anderer sollen hier zwei schulspezifische Definitionsansätze dargestellt werden, die eine Klassifizierung von Handlungen und Äußerungen als gewaltvoll oder aggressiv liefern. 15 Ein praxisorientiertes Definitionsbeispiel findet sich bei Korte (1992). Aggression/Gewalt gegen andere Personen können sich sowohl verbal als auch tätlich äußern, was folgende Aufzählung deutlich macht: "(...) Diebstahl, Erpressung, Schlägerei, Drohung und Beleidigung. Aber auch absichtliches Stoßen, Rempeln, Schubsen, Ärgern, Grimmassieren, zotige und abfällige Bemerkungen sind gemeint. Auch absichtliche Fouls im Sport, obszöne Bewegungen, Einsperren oder soziale Isolierung zähle ich zu aggressivem Fehlverhalten. Nicht gemeint sind einmalige Entleisungen, nicht gewollte Zusammenstöße, nicht zielgerichtete Clownerien im Unterricht Schwänzen oder Leistungsverweigerung(...)" (Korte, 1992, S.14) Korte benennt somit Verhaltensweisen als Konkretisierung aggressiven Verhaltens. Wenn sich benannntes Verhalten zeigt, soll demnach aggressives Fehlverhalten vorliegen. Zu dieser Definition kommt Korte indem er Praxisphänomene beschreibt und dann einer Terminologie zuordnet. Eine weitere, schulspezifische Darstellung von Gewalt und Aggression findet sich bei Balser (1997). Nachfolgende soll Übersicht dazu dienen, Dimensionen von Gewalt und Aggression in der Schule weiter zu spezifizieren: Gewalt/Aggres sivität in Schulen Definition - Qualität - Erscheinungsformen Aggress ives Handeln ist abs ichtsvoll darauf gerichtet, einen anderen Mens chen phys is ch oder ps ychisch zu verletzen. A Aggres sion Kleine/vers teckte Gewalt B Gewalt Große/manifes te Gewalt gegen Mits chüler quälen, erpress en, s chlagen, mit Waffen angreifen, berauben... ängs tigen, bedohen, anrempeln... gegen Lehrer provozieren, Kleidung beschädigen, Unterricht sabotieren s chlagen, verletzen, mit Mess er bedrohen, auflauern,Telefonterror, Drohbriefe... gegen Sachen s prayen, bekritzeln, Flaschen werfen, beschädigen... zers tören, Vandalis mus, Feuer legen, Autos beschädigen... s exuelle Gewalt anmachen, pöbeln, verbale und handgreifliche Belästigung... Rufmord, Vergewaltigung... Autoaggress ivität Sich Haare ausreißen, Gesicht zerkratzen... s ich verstümmeln, Suizid 16 (Abbildung nach Balser 1997, S.27) Erläuterung: Ebene A und Ebene B stellen unterschiedliche Aggressionsebenen dar. Balser differenziert zwischen den Alltagsaggressionen (A= Kleine versteckte Gewalt) und manifester Gewalt mit Gesetzesverstoßcharakter (B=Große manifeste Gewalt). Beide Ebenen zusammen sollen die Bandbreite von Gewalt in der Schule aufzeigen. Balser verweist darauf, daß Alltagsaggressionen (Ebene A) zugenommen hätten, was zu entsprechendem Gruppendruck und sogenannter "Mobbiisierung"1 in der Schule führe. Dies habe zur Folge, daß sich auf Ebene (B) das manifeste Gewaltverhalten früher und auch brutaler äußern könne (vgl. derselbe, 1997, S.27). Allerdings kann der Autor diese Arbeitshypothese anhand aktueller Studien weder qualitativ noch quantitativ empirsch belegen. Es stellt sich die Frage, an welcher Bezugsgröße sich die Behauptung der Zunahme schulischer Gewalt orientiert. Dennoch ermöglicht das obige Modell eine Differenzierung von Gewalthandlungen in der Schule in unterschiedliche Stadien bzw. Ebenen. Ebene B ist quasi die Steigerung von Ebene A. Die Aufteilung erfolgt jedoch eher alltags-theoretisch und praxisorientiert. In Balsers Ausführungen findet sich keine theoretische Fundierung für sein Modell. Der/ die Gewaltausübende richtet der obigen Abbildung folgend die als gewaltvoll zu klassifizierende Handlung gegen MitschülerInnen, LehrerInnen, gegen Sachen oder sich selbst. Damit sind alle potentiell unmittelbar Beteiligten sowie die jeweiligen Ziele einer "Attacke" benannt. Das Begriffsdual Täter -Opfer wird in dieser Definition vermieden. Sexuelle Gewalt hat in Balsers Darstellung eine eigene Kategorie. Dies halte ich insbesondere vor dem Hintergrund, daß es sich hier vorwiegend um ein mädchen-/ frauenspezifisches Problem bzw. um eine gesondert zu betrachtende Problematik, für eine sachgerechte Unterteilung Innerhalb der Konzeption Balsers fehlt die Entsprechung für die Dimension der strukturellen Gewalt, die von der Schule als Institution ausgeht (vgl. unter 2.3). Auf diese Problematik hat Opper (1992) hingewiesen und betont, daß Gewalt in der Schule kein ausschließlich interpersonales Phänomen darstelle. Strukturelle Elemente wie Architektur , Hierarchien, Vorurteile, Notengebung, Sprache, Umgangsformen, Schulpflicht, ökonomische, politische und mediale Macht spielten eine ebenso zentrale Rolle. Indem man zentrale, gewaltförmige Strukturen ausblende, enhistorisiere und tabuisiere man Gewalt und verkenne, daß auch die Täter Opfer seien (vgl. Opper 1992, S.9). Die Aussparung der Dimension "strukturelle Gewalt" stellt aus meiner Sicht einen besonderen Kritikpunkt an Balsers Auffassung dar. 1Mobbiisierung leitet sich ab von engl. to mob=jemanden drängen, anpöbeln, über jemanden herfallen, sich zusammenrotten. 17 3.2 Empirische Befunde über das Ausmaß von Gewalt in der Schule Bründel weist daraufhin, daß es nicht leicht sei, die Zunahme an Gewalt an Schulen objektiv zu ermitteln. Vieles, was in der Schule an Gewalt und Aggression passiere, dringe nicht an die außerschulische Öffentlichkeit, werde nicht als krimineller Akt registriert. Daher sei man zur Einschätzung schulischer Gewalt auf Befragungen von Schülern und Lehrern angewiesen (vgl. dieselbe, 1995, S. 42). Nahezu alle Erhebungen basieren daher auf Fragebogenaktionen in der Schule. Gewalt in der Schule läßt sich daher nur erfassen, wenn man die Perspektiven von denen an Schule unmittelbar Beteiligten untersucht. Schwind, Roitsch und Gielen (1997) konstatieren, daß seit Beginn der der 90er Jahre eine stark emotionalisierte Medienberichterstattung im Kontext Gewalt in der Schule stattgefunden habe und eine Fülle von empirischen Befunden zu Erscheinungsformen Häufigkeiten und Entwicklungstendenzen vorlägen(vgl. dieselben, 1997, S.82). Dabei ist zu beachten, daß den Studien jeweils unterschiedliche Definitionen, Operationaliserungen und Methoden zugrundeliegen sowie Stichproben, Fragebögen und Rücklaufquoten völlig unterschiedlich gewählt wurden. Es zeigt sich ein völlig differierendes Forschungsdesign und Vorgehen (vgl. dazu auch Methodenkritik von Krumm 1997). Somit lassen sich viele Studien weder sinnvoll vergleichen noch sind studienübergreifende Generalisierungen zulässig. Teilweise werden in Untersuchungen auch nur einzelne Probandengruppen befragt (Gewalt aus SchülerInnensicht, Gewalt aus LehrerInnensicht, Gewalt aus Sicht von SchulleiterInnen), so daß sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Phänomen Gewalt untersucht werden. Trotz ihrer kritisch zu betrachtenden Aussagekraft sollen zur Veranschaulichung die Ergebnisse einiger aktuellerer Untersuchungen skizziert werden: 3.2.1 Untersuchung von Schwind et al. Schwind, Roitsch und Gielen (1997) untersuchen Gewalt aus der Perspektive unterschiedlicher Gruppe (zum genauen Vorgehen vgl. dieselben 1997, S.83). Neben den SchülerInnen (Klasse 713) wurden SchulleiterInnen, LehrerInnen, HausmeisterInnen, SekretärInnen und Eltern befragt. Unter anderem wurden die unterschiedlichen Gruppen befragt, welches Verhalten sie als Gewalt ansehen würden. Die Ergebnisse der Einschätzungen werden in folgender Tabelle ausschnitthaft dargestellt (Häufigkeiten der Ja- Antworten in %): Einschätzung von Verhalten als Gewalt aus Sicht unterschiedlicher Gruppen Verhaltens- Schul- LehrerInne Hausmeiste SekretärIn- SchülerIn- weisen leiterInnen n rInnen nen nen, Kl. 7-13 Eltern 18 Bedrohung mit 97,3 % 100 % 66, 7% 100% 86,4 % 99,0 % 94,6 % 97,5 % 76,2 % 95,7 % 78,6 % 97,9 % 15,3 % 13,0 % 38,1 % 4,3 % 30,6 % 12,4 % 63,1 % 62,7 % 57,1 % 30,4 % 30,3 % 32,0 % 55,9 % 52,2 % 33,3 % 21,7 % 22,3 % 38,1 % 64,0 % 62,1 % 38,1 % 43,5 % 39,5 % 50,5 % einer Waffe Vandalismus am Schulinventar "Spaßkloppe" verbale Aggression: Beleidigun g unter SchülerInnen verbale Aggression: SchülerIn gegen LehrerIn verbale Aggression LehrerIn versus SchülerIn (Darstellung in Anlehnung an Daten und Tabelle bei Schwind et al., 1997, S.86) Die Darstellung zeigt, daß unterschiedliche Gruppen einzelne Verhaltensweisen eher und andere eher weniger als Gewalthandlungen klassifizieren. Dies läßt sich am Beispiel "Spaßkloppe" zeigen: Die Einschätzung als Gewalt beträgt bei den LehrerInnen 13, 0 %, die befragten SekretärInnen gehen sogar nur zu 4,3 % von Gewalt aus. Die befragten SchülerInnen hingegen erleben diese Verhaltensweise immerhin zu 30, 6 % als gewaltvoll. Die Ergebnissse differieren deutlich. Es wird ersichtlich: Gewalt hängt von der Einschätzung und subjektiven Betroffenheit der BetrachterIn ab. 3.2.2 Studie von Dettenborn und Lautsch: In ihrer Studie "Aggression in der Schule aus Schülerperspektive" haben Dettenborn und Lautsch (1993) 2553 SchülerInnen hinsichtlich ihrer Sichtweise auf schulische Aggression sowie auf ihre darauf bezogenen Eigenbeteiligung hin befragt. Die AutorInnen gehen davon aus, daß die Kenntnis von Alltagstheorien der Schü-lerInnen das Selbstverständnis und die pädagogische 19 Handlungskomepetenz von LehrerInnen fördern können. Untersucht werden Ursachendenken der SchülerInnen bezogen auf Gewalt und Aggression in der Schule, Intensität von Schutzdenken, Arten von Schutzstrategien und Schutzhandeln sowie Kommunikations-bereitschaft, mit LehrerInnen über Aggression zu reden. Unter anderem werden folgende Ergebnisse angeführt: 56% der Befragten beobachten eine Zunahme von Gewaltanwendung in der Schule allgemein. Einen Anstieg von Drohung mit Gewalt bejahen 43%, 67% vermuten eine Zunahme von Schulvandalismus. 32 % meinen tätliche Gewalt habe zugenommen. 55 % bejahen einen Anstieg von Gruppengewalt, bezogen auf die Zunahme feindseliger Stimmung meinen 52 % diese zu beobachten (vgl. dieselben,1993, S. 749). Problematisch erscheint die Erfassung der "Zunahme von Gewalt". Die AutorInnen weisen darauf hin, daß innerhalb geschlossener Fragen zum Teil das gegenwärtige Handeln, Denken und Tun erfaßt werden soll, einige Fragen aber auch speziell auf den Vergleich der Untersuchung (Winter 1991/1992) und die Zeit von vor zwei bis drei Jahren abzielten (vgl.dieselben, a.a.O, S. 747). Allerdings liegt aus dieser Zeit keine valide Vergleichserhebung vor, sondern die SchülerInnen nehmen lediglich eine subjektive Einschätzung vor. Interessant wäre eine auf die Zunahme von Gewalt ausgerichtete Längsschnittuntersuchung. Bei der Auswertung ihrer Daten kommen die AutorInnen auch zu dem Ergebnis, daß Befragte, die sich entweder als Täter und/ oder als Opfer einer Gewaltanwendung in der Schule bezeichnen, eine generelle Zunahme der Gewalt bejahen, während von Nicht-beteiligten generell die Zunahme von Gewalt in der Schule verneint wird. Dies läßt nach Auffassung der AutorInnen den Schluß zu, daß aggressive Handlunssequenzen durch das Einbezogensein intensiver erlebt würden und es zu selektiven Wahrnehmungsprozessen komme (vgl. dieselben, a.a.O.,S.752). Befragt auf Gegenwehrstrategien (Mehrfachnennungen möglich), rangiert die Abwehrstrategie "mit Worten" mit 55 % auf Rang 1, gefolgt von "Ausweichen/ Weglaufen" mit 47 %. Rang 3 erhält "Schlagen ohne Waffen" mit einem Wert von 37%, gefolgt von (Schlagen mit Waffen 16%). Obwohl gewaltfreie Reaktionen dominieren, halten die AutorInnen den Anteil der gewaltorienierten Vorsätze für beunruhigend. Für Jungen seien gewaltorientierte und für Mädchen gewaltfreie Abwehrstrategien typisch (vgl. a.a.O., S.760). Im übrigen präferieren nach der Untersuchung Opfer und TäterInnen gewaltorientierteVerteidigungsstrategien. Bezüglich einzelner Motivkategorien für Gewalt bzw. im Kontext von Ursachenannahmen für Gewalt aus SchülerInnensicht benennt die Studie von Dettenborn und Lautsch folgende Ergebnisse: Frustrationsmotive (39 %), Geltungsstreben (32%), Freude an der Gewalt (12 %), Langeweile und politische Intoleranz jeweils (9 %), materielle Gründe (5 %) (vgl. dieselben, a.a.O.S.756). 20 Der Stellenwert der Motivgruppe Frustrationsmotive wird als eine Bestätigung für das erhebliche Frustrationspotential innerhalb der Lebensbeziehungen der SchülerInnen gewertet. Darin wird eine Aufforderung gesehen, nach Wegen der Frustrationsminderung und Kompensation in der Schule zu suchen (vgl. dieselben a.a.O., S.757). 3.2.3 Studie von Niebel et al. Niebel, Hanewinkel und Ferstl (1993) haben im Rahmen ihrer Fragebogenstudie das Datenmaterial von insgesamt 1186 SchülerInnen, 559 LehrerInnen und 637 Eltern untersucht. Somit sind drei verschiedene Perspektiven in der Studie berücksichtigt. Niebel et al. zielen zum einen auf die quantitative Erfassung von Gewalt zwischen SchülerInnen, Vandalismus (Gewalt gegen Sachen) und Gewalt gegen LehrerInnen ab. Zum anderen versuchen sie, weitere schulische Parameter zu erheben und sie in Beziehung zu den Ergebnissen zum Gewaltausmaß zu setzen. Sie kommen u.a. zu folgenden Ergebnissen: Der Schulhof ist der häufigste Ort von Auseinandersetzungen unter SchülerInnen. Danach folgen -in gleicher Häufigkeit genannt- Klassenzimmer, Schulkorridore, und der Schulweg als Orte von Gewalt (vgl. a.a.O., S.785). Im Zusammenhang mit Gewalt gegen LehrerInnen beschreiben 13,5 % der Befragten tätliche Gewalt gegen LehrerInnen. 51,6 % benennen auch verbale Provokation bzw. das verbale "Fertigmachen" von LehrerInnen , davon 13 % mit einer Frequenz von oft bis sehr oft (vgl. a.a.O,S.789). Hinsichtlich der Auftrittshäufigkeit von Gewalt rangiert Niebel et al. folgend verbale und nonverbale Aggression vor tätlicher Gewalt unter SchülerInnen, gefolgt von Gewalt gegen Sachen(Vandalismus). Gewalt gegen LehrerInnen folgt an letzter Stelle. Interessant erscheint mir die Erhebung weiterer Parameter: 16,3 % der SchülerInnen geben an, sich im Unterricht zu langweilen. 40,5 % beklagen Lärm während des Unterrichts. 43 % der befragten SchülerInnen haben keine Lust zur Schule- Alle drei Werte korrelieren nach Angabe der AutorInnen signifikant mit dem Wert für das Ausmaß von Vandalismus, so daß Niebel et al. von einem Zusammenhang ausgehen (vgl. dieselben, a.a.O., 792). Insgesamt ziehen die Autoren folgende Bilanz: "(...)Die Formen der Gewalt sind überwiegend psychologischer Natur im Sinne einer Verrohung der sozialen Verhaltensformen. Das Ausmaß der Gewalt unter Schülern ist nicht gravierend , es zeigt aber einen hohen Zusammenhang mit dem Verhalten in Sprache und Ausdruck. Schulunlust, Langeweile, Unterforderung und Lärm im Unterricht sind Risikofaktoren für Vandalismus und tendenziell auch für Gewalt. Ein geringer Leistungsstand der Kinder bzw. Leistungsversagen ist ein Risikofaktior für die eigene Beteiligung an Gewalttaten(...) Insgesamt stehen dem nicht ausreichend ausgewiesenen- sozioökonomischen Hintergrund interaktive Aspekte und innerschulische Faktoren im Vordergrund der Gewalt- und Vandalismusbeobachtungen. Die außerschulische Sozialisation verliert dadurch nicht an Bedeutung, ist aber im Rahmen schulischer Untersuchung nicht zu erfassen"(dieselben, 1993, S.797). 21 3.2.4 Studie von Greszik et al. Greszik, Hering und Euler (1995) werten Ergebnisse aus, die aus einer Befragung von 1077 SchülerInnen und 223 LehrerInnen über verschiedenen Formen von SchülerInnengewalt resultieren. In ihrer Erhebung geben die Autoren die ermittelten Häufigkeiten bezogen auf vorab festgelegte Gewalthandlungen (als Operationalisierung von Gewalt) aus Täter- und Opfersicht wieder. Dabei versuchen sie zusätzlich, die ermittelten Daten nach Geschlechteranteil gegenüberzustellen. Diskussionswürdig ist das Vorgehen, vorab Gewaltkategorien festzulegen. Dennoch erscheint die Untersuchung von Greszik et al. gut geeignet, um Aussagen über die Geschlechtsspezifik schulischer Gewalt zu treffen. (Darstellung nach Greszik u.a.1995, S.271) Deutlich wird, daß verbal-aggressive Verhaltenweisen dominieren (vgl oben). Außerdem sind bei allen anderen Gewaltformen außer der sexuellen die Prozentwerte der Jungen gegenüber den Mädchen höher. Jungen erleiden nach Abb. 1 deutlich häufiger Verletzungen. Mädchen und Jungen sind nach der Untersuchung von Greszik et al. insgesamt ähnlich häufig Opfer von Gewalttaten, die Differenz beträgt im Schnitt 2-5 %, zu denen Jungen häufiger betroffen sind. Abbildung 2 soll den weiblichen und männlichen Anteil beim Tätergeschlecht bei bestimmten Gewaltformen verdeutlichen: 22 Täterges chlecht bei Formen von Gewalt (Anzahl in Prozent) 90 weiblich 80 männlich 70 60 50 40 30 20 10 Eigentum beschädigt sexuell belästigt sexuell genötigt m. Gegenstand bedroht m. Gegenstand verletzt verletzt, Arzt nötig Geld od. ähnl. erpreßt geschubst ausgelacht, verspottet beschimpft, beleidigt verbale Bedrohung 0 Geschlecht der TäterInnen in Prozent, nach Angaben der Opfer (fehlende Angaben an hundert: Täter s owohl weiblich als auch männlich) (Abb. 2 in Anlehnung an Greszik u.a., 1995, S.271) In Abbildung 2 wird deutlich, daß Mädchen erheblich seltener der Täterseite angehören. Die Autoren sprechen von einem deutlichen männlichen Übergewicht (vgl. dieselben, a.a.O., S.270). 3.3 Zwischenfazit ad 3 Eine untersuchungsübergreifende Zusammenfassung verbietet sich aus den genannten methodischen Gründen. Aus den Darstellungen ergeben sich neben der Frage nach der Einhaltung der sogenannten Testgütekriterien für empirische Untersuchungen weitere wichtige Fragestellungen: Wer definiert Gewalt, von welcher Gewaltdefintition wird ausgegangen, aus wessen Perspektive werden die Ergebnisse einer Fragebogenstudie erzielt, wer definiert die Kategorien, wer operationalisiert nach welchen Kriterien und: Für wen oder in wessem Auftrag wurde die Studie erstellt ?(zur weiteren Methodenkritik Wellenreuther 1997) Kursorisch lassen sich folgende Aussagen treffen: (1) Gewalt in der Schule wird von den an Schule Beteiligten sehr unterschiedlich gewertet und definiert. 23 (2) Verbale Attacken dominieren über manifester körperlicher Gewalt, wobei deren Auftretenshäufigkeit nicht zu unterschätzen ist. Insbesondere scheint die Schwelle zum Einsatz körperlicher Gewalt niedrig. Die Verrohung in der Sprache schlägt sich im Interaktionsverhalten der Beteiligten nieder. (3) Auf der Opferseite sind Jungen und Mädchen scheinbar quantitativ eher gleich betroffen, wobei Jungen öfter Opfer körperlicher Attacken sind. Bezogen auf sexuell motivierte Aggression sind Mädchen eher Opfer. (4) Auf der Täterseite dominiert der Jungenanteil deutlich über dem der Mädchen, so daß von deutlichen geschlechtspezifischen Unterschieden im Umgang mit Gewalt auszugehen ist. Hinsichtlich der eingesetzten Gewalt präfererieren Mädchen verbale Attacken (vertiefend dazu Euler, 1997, S. 191 ff sowie Popp, 1997, S. 207 ff mit weiteren Verweisen). (5) Gewalt in der Schule wird in unterschiedlichen Richtungen ausgeübt: Horizontal bei Gewalt unter SchülerInnen und vertikal bei Gewalt von SchülerInnen gegen LehrerInnen und umgekehrt. (6) Das jeweilige Schulklima scheint einen wichtigen Einfluß auf das Ausmaß an Gewalt zu haben. (7) Besonders brutale und radikale Gewaltakte gehen eher von einem kleinen Anteil von SchülerInnen aus. (8) Orte der Auseinandersetzung sind Schulkorridore, Klassenzimmer und Schulweg sowie der Schulhof, so daß den Zeiten außerhalb des Unterrichts (Pausenzeiten sowie Zeiten vor und nach der Schule) Bedeutung beizumessen ist. 3.3.1 Exkurs: Rassistische und rechtsextreme Gewalt in der Schule Phänomene rassistischer Gewalt, der sogenannten "Ausländerfeindlichkeit" sowie rechtsextremer Gewalt unter SchülerInnen, sind in den von mir angeführten empirischen Studien explizit nicht untersucht worden. Hier sei nur darauf verwiesen, daß für deren Erfassung umfangreiche und differenzierende Einstellungsuntersuchungen bei der Zielgruppe erforderlich sind. Rechtsextreme Einstellungen katalysieren entsprechende Gewalthandlungen gegen ausländische SchülerInnen. Spezifisches Zahlenmaterial bezogen auf rechtsextrem oder ausländerfeindlich motivierte Gewalt in der Schule ist- im Gegensatz zu theoretischen Abhandlungen über deren Erscheinungsformen und Ursachen- in der von mir ausgewerteten Literatur rar. Exemplarisch soll die von Stenke(1993) angeführte Untersuchung des Deutschen Jugendinstitituts von 1991 einen Einblick liefern: 14-15 jährige SchülerInnen in Leipzig wurden innerhalb der Untersuchung dazu aufgefordert, einen Aufsatz zum Thema "Deutsche und Ausländer" zu schreiben. Nach einer Zufallsauswahl und qualitativer Auswertung von 100 Aufsätzen betonten immerhin 2/5 der VerfasserInnen ethnozentrische Einstellungen wie: "Wir haben genug eigene Probleme" und die Hervorhebung der Eigengruppe zulasten der Fremdgruppe. 1/10 der Aufsätze ist in die Kategorie "ausländer-feindliche Einstellung" einzustufen, wobei ein stereotypes Bild 24 "des Ausländers" im Vordergrund steht. AusländerInnen werden als Bedrohung des eigenen Lebens erlebt und dargestellt, völlig losgelöst, ob dahingehend reale Erfahrungen gemacht wurden (vgl.Stenke, 1993, S. 232 ff, weiterführend zum Ganzen Heitmeyer u.a. 1995, S. 365ff). Interessant ist auch ein weiterer Befund: Im Kontext multikultureller Klassen wird in der Öffentlichkeit unterstellt, daß ein hoher Anteil ausländischer SchülerInnen das Gewaltnivieau erhöht. Dies konnte Fuchs in seiner Untersuchung widerlegen, indem er darauf hinweist, daß es keine Wirkung einer kritischen Masse ausländischer SchülerInnen auf das Gewaltniveau in einer Klasse gebe (Fuchs, 1997, S. 134). Vielmehr handele es sich um Alltagsstereotype, also Überzeugungen die nicht einer aktuellen Bewertung entstammen sondern im Sinne eines Vorurteils von vornherein festgelegt seien (vgl.derselbe, a.a.O., S.135). 4 Ursachen, Analysekonzepte und Erklärungsmodelle für Gewalt in der Schule Um Gewalt in der Schule vorzubeugen, sie abzubauen und zu begrenzen, bedarf es detaillierter Kenntnisse über Zustandekommen, Funktion und unterschiedlicher Blickrichtungen auf das Phänomen schulische Gewalt. Seit sich die Erziehungswissenschaft zunehmend auf ihre sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu bewegt, werden Tendenzen deutlich, verschiedene Theorien zur Genese gewaltvollen und aggressiven Verhaltens ungefragt zu übernehmen (vgl. Ertle, 1993, S. 21). Tillmann bemerkt, daß sich Untersuchungen im Konetxt mit Gewalttätigkeit in der Schule in einem interdisziplinären Feld mit zum Teil konkurrierender, zum Teil sich ergänzender Theoriekonzepte bewegen würden (vgl. Tillmann, 1997, S. 17). Diese Aussage läßt bereits ahnen, daß es vielfältige und mehrdimensionale Theorieansätze im Zusammenhang mit der Analyse von Gewalt in der Schule gibt. In Kapitel 4 werden einige empirische Befunde zu Ursachen von schulischer Gewalt genannt. Dann werden unterschiedliche Analyseebenen von Gewalt in der Schule skizziert. Abschließend folgt eine Auswahl psychologischer und soziologischer Theorien zur Entstehung von Gewalt, die hier nur kursorisch erfolgt, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen (eine erweiterte und übersichtliche Darstellung findet sich bei Schirp, 1996, S. 28 ff). 4. 1 Ursachenzuschreibungen für Gewalt aus Sicht verschiedener Gruppen Einen ersten Eindruck bezogen auf Ursachenzuschreibung für gewalttätiges SchülerInnenverhalten soll die nachfolgende Tabelle mit Befragungergebnissen der Studie von Schwind et. al. (1997) vermitteln. Die unterschiedlichen Befragten-gruppen(Erwachsene) sollten vorgegebene Gründe als kausal für gewalttätiges SchülerInnenverhalten bewerten, es zeigten sich folgende Häufigkeiten (Ja- Antworten in Prozent) : 25 Maßgebende Gründe für gewaltvolles Verhalten in der Schule aus der Perspektive Erwachsener nach Schwind et al. 1997 Gründe Gewaltdarstellung in LehrerIn HausmeisterIn Eltern 96,5 % 81,0 % 86,0 % 30,7 % 23,8 % 38,8 % 92,9 % 95,3 % 68,8 % 49,4 % 47,6 % 45,6 % 43,8 % 47,6 % 45,6 % 69,9 % 52,4 % 57,5 % 66,4 % 42,8 % 58,5 % Medien Nationalitätenkonflikt Ungünstige Familienverhälntisse Abkehr der Schule vom Erziehungsauftrag Verzicht auf Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen Unangemessene Lehrerausbildung Fehlende Identifikation der SchülerInnen mit Schule (modifizierte Darstellung, zu den Daten vgl. Schwind et al. 1997, S.95) Schwind et al. kommen zu der Einschätzung , daß aus Sicht der befragten Erwachsenen Schule durch familiale und gesellschaftliche Faktoren belastet und die Aggression in der Schule eher extern bedingt ist. Innerhalb der Bochumer Studie befragte SchülerInnen erklären sich die Genese von Gewalt anders: 82,6 % bewerten die Suche nach Anerkennung als Grund für gewalttätiges Verhalten. Freude an der Gewalt halten 72, 5 % für ein potentielles Motiv. Ärger und Streit in der Schule (71,4 %) und Leistungsdruck (62, 8 %) kommen nachfolgend als Ursachen für gewaltförmiges Verhalten aus SchülerInnensicht in Betracht. Langeweile (51,9 %) und mangelnde Strenge der LehrerInnen (33,3 %) werden hingegen als weniger ausschlaggebend eingestuft. Ein Vergleich zeigt, daß die Erwachsenen dem Phänomen Gewalt in der Schule eine andere Kausalattribution zugrundelegen als die unmittelbar betroffenen SchülerInnen (vgl. ebd.). Dies ist ein ernstzunehmendes Ergebnis, was aus meiner Sicht zu folgender Konsequenz führen sollte: Wenn man mit den Kindern und Jugendlichen "an einem Strang ziehen möchte", muß man ihre Sichtweise einnehmen bzw. sich "in deren Schuhe stellen" können. 26 4.2 Unterschiedliche Bedingungskonstellationen für schulische Gewalt Sofern Gewalt im schulischen Kontext betrachtet wird, schlägt Tillmann (1995) vor, von drei unterschiedlichen Analyseebenen von Gewalt in der Schule auszugehen: (1)Individualbiographischer Hintergrund Auf dieser Ebene stellt sich die Frage, inwiefern sich gewaltörmige Einstellungen und Verhaltensmuster individualbiographisch entwickelt haben und aktuell vorliegen. Relevant wird hier auch die subjektive Sichtweise des oder der Gewaltausübenden. Erhoben werden insbesondere die Indiviualdaten aus dem Sozialisationszusammenhang der SchülerInnen wie die lebensweltliche Einbindung, Alter, Geschlecht, soziale Gruppenzugehörigkeite etc. (2)Interaktioneller Hintergrund/ Schule als Interaktionsfeld In diesem Zusammenhang werden situative und interaktive Handlungsbedingungen im Gruppenkontext sowie Interaktionsmuster in Konfliktsituatioen untersucht. Schulische Interaktionserfahrungen wie Schulversagen, Etikettierungsprozesse etc. werden in ihrer Relevanz für gewaltörmiges Verhalten betrachtet. Aber auch spezifische Kommunikationsformen der SchülerInnen untereinander sowie die Kommunikation mit den Lehrkräften wird auf dieser Ebene analysiert. (3)Sozialökologischer Kontext der Schule(Schulumwelt) Schulische Umwelten wie Schulform, Schulklima, Lernkultur werden in ihrem Effekt auf gewaltförmige Handlungs- und Einstellungsmuster von SchülerInenn hinterfragt. Weiterhin wird auch die soziale Dimension des Schulkontextes wie Zusammensetzung der SchülerInnenschaft und Standort der Schule sowie das Lernarrangement untersucht. So wird beispielsweise analysiert, welche Kontexte sich eher fördernd und welche sich eher kompensatorisch bezüglich des Auftretens von Gewalt auswirken. Hier stellt sich auch die Frage nach der "pädagogischen. Qualität" einer Schule. So konnte Fend (1986) nachweisen, daß bei hoher Anteilnahme von LehrerInnen an Problemen der SchülerInnen, gute Kooperation der Lehrkräfte und integrativen Führungsstil der SchulleiterIn aggressives Verhalten und Vandalismus seltender auftraten (zum Ganzen vgl.Tillmann, 1995, S. 69f). Während sich die individualbiographische Sichtweise auf das Individuum bezieht, konzentrieren sich die Ebenen 2 und 3 eher auf institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, so daß auch hier wieder die oben beschriebenen Konstrukte der strukurellen Gewalt und des heimlichen Lehrplans thematisch hineinragen. Die Einteilung in unterschiedliche Ebenen bedeutet jedoch nicht, daß eine eindimensionale Sicht favorisiert wird. Vielmehr ist eine Gesamtschau aller Ebenen erforderlich. Je nach konkretem Situationsbezug in der Praxis kann aber die eine oder andere Sichtweise in den Vordergrund treten, um schulische Gewalt vorort zu erklären oder eine Maßnahme sinnvoll zu plazieren. 27 4.3 Erklärungsmodelle für die Genese von Gewalt und Aggression in der Schule Die Kenntnis theoretischer Modelle im Kontext mit Gewalt und Aggression ermöglicht PädagogInnen, das Aggressionverhalten von SchülerInnen und auch ihr eigenes Verhalten in der LehrerIn- SchülerIn- Interaktion zu erklären und zu reflektieren. Dennoch sei auf einen kritischen Umgang mit Erklärungsansätzen hingewiesen: Pauschalierungen sollten hinter der Überprüfung des Einzelfalls und seiner Besonderheiten zurückstehen. 4.3.1 Psychologische Sichtweisen Im Kontext der Genese von Gewalt und Aggression wird aus psychologischer Sicht u. a unterschieden zwischen Triebtheorien, der Frustrations- Aggressions- Theorie sowie lerntheoretischen Erklärungsansätzen. 4.3.1.1 Trieb- und Instinkttheorie Die Trieb- und Instinkttheorie davon aus, daß jeder Mensch ein angeborenes Aggressionspotential in sich trägt. So ist beispielsweise von der angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zur Aggression, Zerstörung und Grausamkeit die Rede. Von dieser Annahme geht Freud (1920) als Vertreter der Psychoanalyse in seinem hypothetischen Konstrukt vom "Aggressions- oder Destruktionstrieb" aus. Freud glaubte, daß der Mensch von Geburt an zwei entgegengesetzte Triebe besitzt: Eros, den Lebenstrieb, der für Wachstum, Überleben und Energie sorgt und Thanatos, den Todestrieb, der nach Selbstzerstörung strebt. Aggression begriff Freud quasi als eine Entäußerung des Todestriebes. Unter Trieb wird dabei eine gerichtete Energie oder endogene Kraft verstanden , die sich in aggressiven Handlungen entladen kann. Das ethologische Triebkonzept nach Lorenz (1963) nimmt an, daß sich spezifische innere Spannungszustände periodisch aufbauen und durch einen speziellen inneren Mechanismus, den sogenannten "angeborenen auslösenden Mechanismus" auf einen genetische festegelegten Schlüsselreiz in der Umwelt treffen. Dies soll schließlich eine Handlung zur Entladung des Spannungszustands auslösen. Mit Hilfe dieses Modells ist es möglich, spezifisches Beute- und Paarungsverhalten auf tierischem Niveau zu erklären (vgl. Selg, Mees, Berg 1988, S. 30). In Analogie zum tierischen Verhalten sieht Lorenz auch im Menschen eine angeborenen triebhafte Energie- die Aggression, die dauernd fließt und abgeleitet werden muß. Es sind demzufolge Ersatzhandlungen erforderlich, gerade wenn eine längere Anstauung stattgefunden hat. Während Aggression beim Tier in instinktiven Bahnen festliegt, ist die menschliche Aggression nach dem ethologischen Triebkonzept spontan, unberechenbar und kann so gefährlich werden, daß sie sogar zur Zerstöung der eigenen Art führen kann. Als Abhilfe schlägt Lorenz pädagogische 28 Maßnahmen wie die Vermittlung der Kenntnis wirksamer Evolutionsgesetze, Beseitigung anonymer Strukturen und geeignete Vorbilder und Kanäle zum Abreagieren der aggressiven Energie wie Sport vor (vgl. Darstellung bei Hojer, 1985,S. 51). Bezug zum Schulalltag: Die Triebtheorien lassen sich hinsichtlich ihrer endgültigen empirischen Überprüfbarkeit und ihrer Übertragbarkeit auf den Menschen hinterfragen. Dennoch sollte nicht verkannt werden, daß Zerstören, Beschädigen sowie verbale und körperliche Aggressionsakte in einigen Fällen Lust, Entspannung und Befriedigung verschaffen können. Ein normales menschliches Aktivierungsniveau impliziert im übrigen auch ein gewisses Aggressionspotential sowie dessen mototrische Entäußerung (vgl. Horstmann und Müller, 1995, S. 61). Diese Aspekte sind für Gestaltung des Schulalltags oder von Schulumwelt von besonderer Relevanz. 4.3.1.2 Lerntheoretischer Erklärungsansatz Verfechter der Lernkonzepte gehen hingegen davon aus, daß Aggressionsverhalten und Gewaltbereitschaft nicht auf natürliche Instinkte zurückgehen sondern entscheidend durch äußere Einflüsse erworben werden: Entweder weil aggressives Verhalten Erfolg einbrachte oder weil es nachgeahmt wird. Lernen durch Erfolg: Nach Skinners (1953) Ansatz vom operanten Konditionieren wird eine (aggressive) Verhaltensweise dann gelernt, wenn sie zum Erfolg führt. Der Erfolg, das Erreichen des Zieles, wirkt als positive Verstärkung oder Belohnung. Erfolgreiches Verhalten erhält dann durch seine Belohnung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, in einer gleichen oder auch nur ähnlichen Situation wieder probiert zu werden. Auf aggressives Verhalten übertragen: Führt aggressives Verhalten zum Erfolg, wird die agierende Person in einer ähnlichen Situation dieses Verhalten wieder zeigen. Bezug auf Schulalltag: Bereits die Duldung aggressiven Verhaltens unter SchülerInnen bzw. das Gewährenlassen kann als positiver Verstärker wirken. Kommt die ausführende Person mit ihrer Aktion zum Erfolg wird sie möglicherweise zukünftig ihre Interessen mit aggressivgewalttätigen Handeln versuchen durchzusetzen. Führt gezeigtes Verhalten beispielsweise durch Intervention zu Mißerfolgen, wird nach der oben genannten Annahme das Verhalten zukünftig weniger gezeigt und in diesem Sinne negativ verstärkt. Das Ausbleiben des Erfolgs kann zur Löschung des unerwünschten Verhaltens führen. Wichtig ist dabei die zeitliche Komponente: Je später die Intervention erfolgt, umso weniger wird sie im kausalen Zusammenhang mit der pädagogosichen Maßnahme erlebt (vgl. Horstmann und Müller, 1995, S.62). Im übrigen bedeuten zeitweilige Mißerfolge noch nicht, daß die aggressive Tendenz abnehmen muß. Schwierig wird es, wenn Mißerfolge bereits in die Erwartungshaltung eingebaut sind und die Demonstration der Aggression und Gewalt um ihrer selbst willen geschieht. Lernen am Modell/Soziales Lernen: Ein weiterer wichtiger Ansatz innerhalb der lerntheoretischen Erklärung von Aggression und gewalttätigen Verhalten geht auf Bandura und 29 Walters (1959 /1963) zurück. Mit den klassischen Lerntheorien konnte das Lernen durch Beobachtung nicht erklärt werden. Die "soziale Lerntheorie"2 geht vom Beobachtungslernen, Imitationslernen bzw. Lernen am Modell als zentralen Lerntyp aus. Bandura und Walters machten u. a. folgende Beobachtung: Zeigt man Kindern aggressive Handlungen am Modell , durch direktes Vormachen oder indirekt in öffentlichen Medien wie Fernsehen, Comic- Strips etc. tritt eine starke Vermehrung aggressiven Verhaltens ein. Die aggressive Handlung muß dabei nicht sofort nachgeahmt werden, sondern kann gespeichert werden und viel später -in einer spezifischen Situationdurchbrechen. Die Imitation des beob-achteten Verhaltens hängt allerdings von mehreren Faktoren ab: -Selektion der Beobachtungen während der Wahrnehmung - Antizipation einer Verstärkung von außen als extrinsische Motivation.(z.B. negative Sanktion) - von der stellvertretenden Verstärkung des Modells (Fragestellung: Hat das Modell Erfolg?) -von der Selbstverstärkung des Beobachtenden (intrinsische Motivation bzw. Selbststeuerung) (zum Ganzen vgl. Edelmann, 1986, S. 251 ff) Bezug auf Schulalltag: Transferiert man diese Annahmen auf den Bereich Schule sind folgende Aspekte relevant. Aggressive Verhaltensweisen können durch Beobachtungslernen katalysiert werden. LehrerInnen und MitschülerInnen können als Modell oder als Verstärker (extrinsisch motivierend) fungieren. PädagogInnen können aber bei Gewaltausübung zur bewußten Selbststeuerung von SchülerInnen beitragen, indem sie Werte und Einstellungen vermitteln, die als "moralischer Filter" wirken bzw. friedliche Konfliktlösung ermöglichen (vgl. Horstmann und Müller, 1995, S.62). 4.3.1.3 Frustrations- Aggressions-Hypothese Die Frustrations- Aggressions-Hypothese formulierten Dollard und Mitarbeiter (1939), um das Entstehen aggressiver Vehaltensweisen zu erklären. Sie nahmen an, daß Frustrationen Folgen von Aggressionen sind und selbst weiter zu Aggressionen führen. Unter Frustration wird in diesem Zusammenhang jede Beeinträchtigung einer zielgerichteten aktivierten Handlung oder Handlungsabsicht verstanden - unter Aggression jede Verhaltensfolge die auf die Verletzung einer Person abzielt (vgl. Brinkmann, 1974, S. 23). 2 Ab 1979 als Erweiterung dieses Ansatzes auch "sozial-kognitive Lerntheorie" Annahme ist dabei, daß der Mensch seine Umwelt beobachtet, die aufgenommenen Eindrücke interpretiert, Handlungsentwürfe generiert und ihre Wirkungen auf die Umwelt auswertet. Unmittelbar kann nicht von einer Wirkung aggressiver Vorbilder auf das Beobachterverhalten im Sinne direkter Imitation des gezeigten Verhaltens ausgegangen werden. Es sind vielmehr kognitive Verarbeitungsprozesse erforderlich, die Bandura in folgende Phasen einteilt: -Aufmerksamkeitszuwendung auf das im Modell gesehene Verhalten -Behaltensphase, d.h. das Verhaltensschema wird gespeichert -Reproduktionsphase, in der das Verhalten praktiziert wird -Motivationale Phase: Auswertung des Verhaltens und dessen Effekts, Entscheidung, ob das Verhalten wiederholt werden soll (zum Ganzen vgl. Bandura 1979). 30 Die klassische Frustrations-Aggressions-Hypothese nimmt eine Kopplung von Aggression und Frustration an, was gleichzeitig auch einen Kritikpunkt an diesem Ansatz darstellt. So sind als Folge von Frustration neben Aggression auch Resignation, konstruktive Bewältigung oder andere Reaktionen möglich. Somit ist von unterschiedlichen Reaktionsarten auszugehen, von denen aggressives Verhalten nur eine häufig auftretende Variation darstellt. Frustration und Aggression stehen nicht notwendig in einem Kausalzusammenhang. Die von Dollard et. al. aufgestellte Zusatzhypothese, daß durch Frustration hervorgerufene Aggression umso heftiger auffällt, je stärker das Individuum frustriert wurde, ist so pauschal nicht haltbar. Dennoch hängt die beobachtbare Reaktion von verfügbaren Alternativreaktionen sowie der Hemmung aggressiver Impulse durch die Außenwelt ab, beispielsweise von einer zu befürchtenden negativen Sanktion (vgl. Darstellung bei Brinkmann, 1974, S. 24). Im Rahmen der FrustationsAggressions-Hypothese ist die Definition des Frustrationsbegriffs recht eng. Eine erweiterte Definition zielt neben der Störung gerichteter, aktivierter Verhaltensweisen auch auf jede andere Beeinträchtigung einer Person ab, so z. B. Frustration durch Krankheit und, Lärm oder ungünstige existentielle Bedingungen (vgl. derselbe, a.a.O., S.23). Ein interessantes Phänomen ist in diesem Kontext die "verschobene Aggression" (vgl. Darstellung bei Horstmann und Müller, 1995, S. 61). Diese läßt sich mit dem Konstrukt der "Sündenbocktheorie" in Anlehnung an Berkowitz (1962) erklären. Berkowitz ging von den Grundannahmen der Frustrations- Aggressions- Hypothese aus: Frustration ruft beim Frustrierten Aggression hervor. Dieser kann die Aggression nicht am "Frustrator" auslassen. Die aggressive Tendenz wird daher vom eigentlichen Frustrator weggeleitet, z. B. wenn der Frustrator negative Sanktionen erwarten läßt oder zu mächtig erscheint (vgl. Mummendey, 1985, S. 186). Die Aggression wird dann an einem in der Regel schwächeren Aggressionsobjekt, dem "Sündenbock", ausagiert. Das Aggressionsobjekt steht mit der eigentlich erlittenen Frustration in keinem Kausalzusammenhang (vgl. zur Sündenbocktheorie weiterführend Berkowitz, 1962). Dieser Konzeption kann die bereits gegen die Grundannahmen der Frustrations-AggressionsHypothese formulierte Kritik entgegengehalten werden: Aggression und auch Aggressionsverschiebung auf ein Ersatzobjekt sind eine Variante möglicher Reaktionsarten. Sowohl durch die Variabilität von Frustration als auch der Reaktion auf die Frustration wird die Frustrations-Aggressions- Hypothese erheblich relativiert und durch ihre reduzierte Betrachtungsweise der Komplexität der Mensch-Umwelt-Interaktion nicht gerecht. Bezug auf Schulalltag: Für den Umgang mit Gewalt in der Schule ergeben sich einige "Denkanstöße": Frustration von SchülerInnen bezogen auf Lernarrangement und Bewertung von Schulleistungen, aufgrund individualbiographischer Schwierigkeiten etc. sollte in ihrem Effekt auf abweichendes Verhalten nicht unter-schätzt werden. Bei der Einschätzung der Frustrationsschwelle von SchülerInnen sind neben individuellen und situativen Merkmalen auch 31 Frühwarnzeichen im Unterricht wie Unaufmerksamkeit, Lärm zu beachten.- Zu den Begriffen Frustration und Frustrationsschwelle gehört- komplementär- auch Frustrationstoleranz, die es gilt im schulischen Kontext gezielt zu trainieren, so daß es gar nicht erst zu aggressiven Impulsdurchbrüchen bzw. gewalttätigem Verhalten kommen muß. 4.3.2 Sozialisations- und schultheoretische Perspektiven Im Rahmen einer sozialisationstheoretischen Konzeption wird abweichendes Verhalten- z.B. in Form gewalthafter Einstellungen und Handlungsmuster- als Teil der Persönlichkeitsentwicklung begriffen. Persönlichkeit im Kontext mit Sozialisation definiert Hurrelmann (1995) als das "(...)einem Menschen spezifische organisierte Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen (...)das sich auf der Grundlage der biologischen Ausstattung als Ergebnis der Bewältigung von Lebensaufgaben jeweils lebensgeschichtlich ergibt.(..)"(Hurrelmann, 1995, S.14) Gewalthandeln und gewalthafte Einstellungen sind -sozialisationstheoretisch betrachtetabhängig von den jeweiligen Erfahrungen, die das Subjekt in der Interaktion mit seiner Lebenswelt erfährt, eingebettet in den soziohistorischen Kontext. Eine schultheoretische Betrachtung versucht, gewaltbeinhaltende Einstellungen und Verhaltensmuster unter schulspezifischen Bedingungsfaktoren zu sehen. Hier werden Aspekte der schulischen Sozialisation relevant (vgl. oben unter 2.2). Daher lassen sich schultheoretische und sozialisationstheoretische Perspektive nicht klar voneinander trennen, sind eher miteinander verschränkt. Strukturelemente der Institution Schule, vom Lernarrangement bis hin zum Schulklima sollen in ihrem Einfluß auf SchülerInnengewalt hinterfragt werden bzw. wird versucht, diese schulpädagogisch oder schulorganisatorisch zu erklären ist (vgl. Holtappels, 1997, S.29). Im Folgenden werde ich einige -aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang einschlägigePerspektiven erläutern. 4.3.2.1 Anomietheorie bezogen auf die Institution Schule Die Anomietheorie geht auf Durkheim (1973) und Merton(1957) zurück. Diese konzentrieren sich in ihrer Konzeption auf gesellschaftliche und institutionelle Strukturen von Desorganisation, die sich in einer Störung oder Auflösung befinden. Die Bezeichnung leitet sich ab von griechisch " a-nomos" und bedeutet übersetzt soviel wie "ohne Gesetz". In Anlehnung an Kandil (1995) verlieren im anomischen Zustand herrschende Werte, Normen und Orientierungen an Verbindlichkeit. Unter anderem können dadurch bei den Individuen Krisen mit der Folge abweichender Verarbeitungsmuster hervorgerufen werden- Gewaltförmiges Verhalten und gewaltförmige Einstellungen im Kontext Schule gelten -interpretiert im Rahmen der Anomietheorie- als deviante Verarbeitungsmuster, die als mögliche Folgen auftreten können. In Anlehnung an Durkheim(1973) ist von drei Dimen-sionen von Desorganisation auszugehen: (1) 32 Soziale Desorganisation, (2) Re-striktive Konformitätszwänge, (3) Ziel-Mittel- Diskrepanzen. Diese sollen im folgenden in Bezug auf Schule erläutert werden. Die Moral des Kollektivs sowie die soziale Kontrolle werden im Schwebezustand der Anomie Frage gestellt. Mangels dieser Kollektivbindung ensteht "soziale Desintegration", das heißt interne Strukturen des sozialen Systems lösen sich auf und verhindern soziale Verortung und Orientierung (vgl. Kandil 1995, S. 8). Soziale Bindungslosigkeit und Entsolidarisierung unter SchülerInnen werden nach Holtappels (1997) insbesondere über leistungsbezogene und soziale Selektions-prozesse gefördert. So bedroht Schulversagensangst die Identität und das Selbstwertgefühl der Individuen, was zum Verlust der sozialen Identität in der Lerngruppe führen kann. Als weitere Dimension von Desorganisation führt Durkheim "restriktive Konformitätszwänge" an. Darunter ist zunächst der gesellschaftliche Zwang zur (individuell) beschränkenden Anpassung zu verstehen. Der Terminus läßt sich jedoch noch differenzierter erläutern: Als zwanghafte Konformität wird in Anlehnung an Parsons (1902-1979) der Sachverhalt bezeichnet, daß eine Person negative Gefühle gegenüber dem Handlungspartner hegt, gleichzeitig jedoch ein starkes Bedürfnis hat, die Beziehung zu diesem Partner nicht zu gefährden. Als Folge dieses Ambivalenzkonflikts versucht die Person dann, in übertriebener Weise den Erwartungen des Partners zu entsprechen (vgl. dazu Peuckert, 1995, S. 164). Bezogen auf Schule ergibt sich daran anschließend für die SchülerInnen sozialer Anpassungsdruck, beispielsweise durch den heimlichen Lehrplan, durch eingeübte und praktizierte hierarchische Kommunikationsstrukturen. Die nach außen gezeigte Anpassung an Rollenvorgaben erfolgt im Kontext der Anomietheorie seitens der SchülerInnen ambivalent. Extern demonstrierte soziale Anpassung kann gleichzeitig intrasubjektiv zur Unterdrückung von Individualität und zum Erleben von Ohnmacht und Fremdbestimmung führen. So weist Holtappels (1997) darauf hin, daß die einseitige Betonung von Pflichterfüllung und Konformität in der Schule zur Störung von Identitätsbalance führe und im restriktiven Klima die Wahrscheinlichkeit von Normübertretungen steige. Dies werde durch geringe Partizipations-chancen und dadurch bedingter innerer Distanz zur Schule nur noch verstärkt (vgl. derselbe, a.a.O, S. 32). Eine weitere Form von Desorganisation findet sich bei Durkheim (1973) unter dem Begriff "Ziel- Mittel- Diskrepanz". Gesellschaftlich hochbewertete Ziele und durch Normen festgelegte, strukturell ungleichmäßig verteilte Mittel klaffen auseinander. Anders ausgedrückt: Es besteht ein gesellschaftliches Mißverhältnis zwischen menschlichen Bedürfnissen und den tatsächlichen Möglichkeiten, diese Bedürfnisse in die Realität umzusetzen (vgl. Kandil, 1995, S.7/8). Dies erzeugt eine "anomische Spannung", die sowohl den Rückgriff auf unerlaubte Mittel und abweichendes Verhalten als auch die Aufgabe für erstrebenswert gehaltener Ziele oder die Suche nach Alternativen zur Folge haben kann. Bezogen auf Schule: 33 Hochbesetzte Werte wie Schulleistungen und Schulerfolg können von Teilgruppen von SchülerInnen nicht mehr erreicht werden, was u. a. von außer- und innerschulischen Sozialisationsbedingungen, sozialer sowie unterschiedlicher ethnischer und geschlechtlicher Zugehörigkeit abhängig ist. Selbst wenn Leistungs- und Konformitätsanforderungen in der Schule erfüllt werden, sind vor dem gegebenen sozialen Hintergrund damit noch keine materiellen Erfolge oder sichere soziale Positionierung verbunden. Auch dies kann bei SchülerInnen "anomische Spannung" erzeugen, mit der Folge von Rückzug, Einsamkeit, Perspektivlosigkeit, Ohnmachtsgefühl, Unsicherheit und Frustration, die sich in diffusen Aggressionen entladen können (vgl. Kandil, 1995, S.8). 4.3.2.2 Gewalt als Ausdruck von Individualisierungstendenzen und Desintegration Der als sozialisationstheoretisch zu qualifizierende Ansatz von Heitmeyer (1995) beinhaltet das sogenannte "Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt- Konzept". Dies soll Verunsicherungen von Jugendlichen und damit verbundene Äußerungen von Gewalt als Folge von Indivdualisierungsprozeß und der damit einhergehenden Desintegration erklären. Individualisierung meint unter Rückgriff auf das Individualisierungskonzept von Beck die Freisetzung der Individuen aus den Sozialformen der Industriegesellschaft wie Klasse, Schicht, Familie sowie Geschlechtslagen von Männern und Frauen (vgl.Beck 1986, S. 115 ff). Das Phänomen der Desintegration konkretisiert Heitmeyer, indem er auf Ausgrenzungs- und Auflösungsprozesse im Kontext sozialer Zugehörigkeit und Beziehungen, faktischer Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen und der Verständigung über gemeinsame Wert- und Normvorstellungen hinweist (vgl. Heitmeyer, 1995, S. 60). Desintegration erzeugt demzufolge bei den Individuen Verunsicherung in Form von Ratlosigkeit oder "Sackgassengefühlen" bis hin zur "überwältigenden" Verunsicherung, die durch das Fehlen personaler und sozialer Bewältiungskompetenz gekennzeichnet ist (vgl. derselbe, a.a.O., S.67). Die Verarbeitung von Verunsicherung erfolgt durch unterschiedliche Muster, die sich auch in Gewaltformen ausdrücken können. Bezogen auf Schule problematisiert Heitmeyer unter dem Terminus "Individualisierungszwang" insbesondere den sogenannten "Positionierungs- und Plazierungsdruck". Individuen geraten unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen unter Präsentations- und Anpassungszwänge- dies schlägt sich in schulischem Konkurrenz- und Leistungsdruck nieder. Heitmeyer und Ulbrich- Herrmann folgend äußere sich dieser in den Bereichen kognitiver und sprachlicher Leistung (Bewertung durch Notensystem), körperlichästhetischer und konsumkultureller Konkurrenz und verbalsymbolischen oder körperlich muskulöser Stärkedemonstrationen z.B. außerhalb von Schulstunden (vgl.dieselben 1997, S. 49). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Schulabschlüssen für die gesellschaftliche Statuszuweisung und synchronem Bedeutungsverslust dieser Abschlüsse als Garantie einer sozialen Absicherung entsteht neue Verunsicherung. Diese wird Heitmeyers 34 Konzeption folgend von SchülerInnen u.a. auch durch gewaltbehaftete Handlungsmuster verarbeitet. Ordnet man Gewalt und gewaltförmiges Verhalten in der Schule nach diesem Ansatz ein, so ergibt sich für die Ursachen folgende Mehrebenenbetrachtung: 1) Gesellschaftliche Entwicklungen und soziostrukturelle, milieuspezifische Veränderungen als Ursachen auf der Makroebene 2) Institution Schule, deren interne Abläufe und deren gesellschaftliche Funktion auf als Verursacherin auf der Mesoebene 3) Gewalt als individuelles Einstellungs- und Handlungskonzept, beobachtbar anhand von Interaktionen auf der Mikroebene (vgl. Heitmeyer/Ulbrich-Herrmann 1997, S.47) Diese Ebenen sind in ihrem Einfluß auf die SchülerInnen und im Hinblick auf das Entstehen von Gewalt zu hinterfragen. Der komplexe Ansatz Heitmeyers erlaubt eine mehrdimensionale Betrachtung, erfordert aber auch eine differenzierte Kenntnis über Sozialisationsabläufe und verlangt eine kritische Haltung zur Institution Schule als gesellschaftliche Institution. Deutlich wird, daß es sich bei Gewalt in der Schule nicht um ein monokausales Bedingungsgefüge handelt. Pädagogogische Konzeptionen müßten sich im Rahmen dieses Ansatzes insbesondere gegen Verunsicherungen von SchülerInnen richten und auf Identitätsbildung und soziale Verortung abzielen sowie sämtliche Aspekte des heimlichen Lehrplans (vgl. unter 2.2.3) hinterfragen. 4.3.2.3 Weitere Betrachungsweisen: Sozialökologischer und interaktionstheoretischer Ansatz Der sozialökologische Ansatz problematisiert schulische Lern- und Erziehungsumwelt als gewaltfördernden Zusammenhang. Von Bronfenbrenner (1976) entwickelt, bezieht sich diese Theorie auf das Wechselwirkungsgefüge zwischen Bedingungen schulischer Lern- und Sozialumwelt und individuellen Person-merkmalen sowie subjektiver Verarbeitung der SchülerInnen. Ausgehend von einer Mensch-Umwelt- Interaktion erklärt sich Gewalt bei SchülerInnen als Resultat dieses Interdependenzverhältnisses. Sofern Schulumwelt problemfördernde Strukturen aufweist, hat das Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und das Handeln von SchülerInnen. Deviante oder gewalthaltige Bewältigungsformen können als Anwort auf schulische Problemlagen gesehen werden. So konnten Fend (1977) und Mitabeiter in einer Schulklimastudie den Einfluß von hohem Anpassungsdruck und negativen Sozialbeziehungen auf abweichendes Verhalten nachweisen. Auch Holtappels (1987) kommt in seiner Studie zum Ergebnis, daß SchülerInnen eher schulische Normen übertreten, wenn sie den Lebensweltbezug von Unterricht vermissen, niedriges soziales Lehrengagement verzeichnen oder kaum Mitbestimmungsmöglichkeiten haben. Daraus folgt, daß sich ein pädagogisch problematisches Schulklima begünstigend auf abweichendes Verhalten und damit auch auf gewaltbehaftetes Verhalten bei SchülerInnen auswirkt. Die Begriffe 35 Schulklima/Schulumwelt sind in diesem Zusammenhang mehrdimensionale Konstrukte, die sich durch viele Einzelfaktoren konkretisieren lassen (vertiefend dazu Fend 1977). Innerhalb des interaktionistischen Ansatzes wird abweichendes, gewalt-beinhaltendes Verhalten als Ergebnis schulischer Etikettierungsprozesse diskutiert. Nach der Interaktionstheorie deuten Menschen wechselseitig das Verhalten des anderen vorweg, um angemessen zu handeln. In der Schule handelt es sich um organisierte Interaktion, so daß dieser Aushandlungsprozeß nicht frei erfolgt, sondern der sozialen Kontrolle der Institution Schule unterliegt. Die Definitionsmacht in einer konfliktbehafteten Situation zwischen SchülerIn/ LehrerIn liegt im Zweifel bei der LehrerIn als VertreterIn der Institution. Der Interpretationsspielraum von SchülerInnen ist daher geringer (Gudjons, 1995, S.246). Für die Erklärung des Gewaltphänomens in der Schule als deviantes Verhalten ist insbesondere der Labeling-Approach -Ansatz von Goffman (1967) sowie die Weiterführung des Etikettierungsansatzes von Brusten /Hurrelmann (1973. S. 31ff) von Bedeutung. Danach könnte eine abweichende Identität einer gewalttätigen SchlägerIn wie folgt entstehen: Rollenerwartungen werden in Interaktionen stetig und rigide von der Umgebung (MitschülerInnen und LehrerInnen) geäußert, so daß SchülerInnen sich schließlich zu einer Übernahme einer solchen Identität gedrängt fühlen. Seitens der Umwelt und der InteraktionspartnerInnen wird ihnen keine andere als die angesonnene Gewalttäterrolle zugestanden. Hargreaves (1981) bezeichnet diesen Vorgang als "Devianzzuweisung". Bei entsprechender Häufigkeit enstehen Negativetikettierungen, die nach Brusten/Hurrelmann (1973) für die Betroffenen mit einem neuen sozialen Status und neuen Rollenerwartungen seitens der InteraktionspartnerInnen verbunden sind. Dies hat Folgen für das Selbstkonzept des/ der Etiketttierten bis hin zur Erfüllung der abweichenden Rolle (im Sinne einer self-fulfilling prophecy3). Selektivität und Subjektivität von LehrerInnenwahrnehmung und -verhalten kann zu sehr unterschiedlicher Bewertung von SchülerInnenverhalten führen. Teilweise entstehen Devianzzuweisungen, teilweise wird umgedeutet oder ignoriert. Dies wird auch von intersubjektiver Sympathie abhängen. Für die Etikettierung "deviant" problematisiert die interaktionistische Betrachtungsweise insbesondere die asymmetrische LehrerIn/SchülerInInteraktion. Es wird deutlich, daß dauerhaft deviantes und damit auch gewaltbehaftetes Verhalten Ergebnis eines schulischen Etikettierungsprozesses sein können. Die Reflektion der eigenen Rolle als LehrerIn ist Voraussetzung, solchen Etikettierungsprozessen entgegenzuwirken bzw. sie nicht voranzutreiben oder in Gang zu setzen. 3 deutsch: sich selbst erfüllende Prophezeihung. Bezeichnung für die Beobachtung, daß ein Verhalten eines Menschen mit um so größerer Wahrscheinlichkeit auftritt, je mehr dieses Verhalten erwartet wird. 36 4.4 Fazit zu Abschnitt 4 Die dargestellten Theorien setzen unterschiedliche Akzente. Die Dimensionen Person/ Persönlichkeit, Situation, gesellschaftlicher Kontext und Person-Umwelt- Interaktion werden dabei in fast allen genannten theoretischen Betrachtungen einbezogen- entweder in ihrer Summe oder in Teilen. Von "richtiger" oder "falscher" Betrachtung kann nicht die Rede sein. Vielmehr erscheint es sinnvoll, eine Art "Gesamtschau" zu entwickeln. Je nach situativem Kontext kann die eine oder andere Erklärungsebene mit der jeweils am ehesten einschlägigen Perspektive zutreffen. Bei der Analyse gewaltbehafteter Handlungen kann nicht von einem monokausalen Bedingungsgefüge ausgegangen werden. Bezogen auf ein "gewalttätiges Klassenzimmer" kann es sinnvoll sein, einige besonders "gewalttätige Protagonist-Innen" in der SchülerInnenschaft bezogen auf ihre individualbiographische Problematik zu betrachten, gleichzeitig aber auch die Kommunikationsstrukturen in der Klasse zu untersuchen. Dazu ist der Klassenverband als Gruppe zu analysieren und zu hinterfragen, ob das Lernklima stimmig ist. - Die Qualität von Intervention ist daher auch abhängig von der adaequaten Erfassung einer Problemstellung. Gezielter pädagogischer Umgang mit Gewalt muß den Ist-Zustand erfassen können und eine Vorstellung eines Sollzustands vor Augen haben. Die Kenntnis eines multifaktoriellen Ursachenmodells ermöglicht eine umfassende Herangehensweise. Die dargestellten theoretischen Konstrukte erlauben unterschiedliche Perspektiven bis hin zur Erfassung gesellschaftlicher Grenzen und Problemlagen, wie an den Ausführungen zur Anomietheorie und zur Konzeption Heitmeyers verdeutlicht wurde. 5 Der Umgang mit schulischer Gewalt: Ansätze und Modelle zu Prävention und Intervention4 Bei den Beiträgen zu Gewalt in der Schule finden sich eine Vielzahl von Konzepten, Ansätzen und Programmen. Zum Teil handelt es sich um programmatische Texte, die eine umfangreiche Erläuterung von Zielvorstellungen für Erziehung und Bildung, die den Umgang mit Gewalt in der Schule zum Thema haben, beinhalten (vgl. z.B. Struck, 1994). Daneben sind Arbeiten entstanden, in denen ein Konzept vorgestellt, begründet und in seinen Realisierungsmöglichkeiten überprüft wird. Oft sind diese im Rahmen von Modellversuchen oder speziellen Unterrichtsprojekten entstanden, die von einem pädagogischen Ansatz wie soziales Lernen 5oder Erziehung zu Toleranz, Kooperation und Solidarität ausgehen. 4 Zu den Begriffen Prävention/Intervention vgl. unter 2.3 :"Soziales Lernen" wird in unterschiedlicher Weise definiert: Als unvermeidliche, ungeplante Begleiterscheinung menschlichen Umgangs (funktionale Betrachungsweise), als intentional betriebenes und nach Lernorten, Zielen und Vorgehensweisen zu differenzierendes Lernarrangement sowie im Kontext vom Erwerb sozialer Kompetenzen/ Kenntnisse/ Einstellungen und Verhaltensweisen. Zum Lernprozeß vgl. oben 4.1.3.2. Als übergeordnete Lernziele werden Emanzipation, Solidarität und soziale Kompetenz benannt(vgl. zum Ganzen Wegener-Spöhring, 1993, S. 869) 5Anmerkung 37 Unter Bezug auf die unter 4. 2 dargestellten Bedingungskonstellationen von Gewalt läßt sich vorab eine Orientierung für die Einschätzung von Maßnahmen vornehmen. Auf der Ebene von Persönlicheit (individualbiographischer Kontext) lassen sich sämtliche Maßnahmen einordnen, die auf Stärkung von Ich-Identität, Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein abzielen. Auf der Ebene Interaktion (interaktioneller Kontext) setzen Konzepte an, die der Verbesserung interpersoneller Kommunikation dienen. Darunter fallen insbesondere die Vermittlung von angemessener Bearbeitung und Austragung von Konflikten als Bestandteil sozialen Lernens. Maßnahmen auf der sozialökologischen Ebene haben insbesondere die Verbesserung von Schulklima und Lernkultur zum Inhalt. Vorab sei darauf hingewiesen, daß Konzepte durchaus auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen können. Bei den Maßnahmen ist grundsätzlich zwischen korrektiven und präventiven Maßnahmen zu differenzieren. Korrektive Maßnahmen setzen unmittelbar in der Situation an und stellen eine Reaktion auf gewalttätiges Verhalten dar. Präventive Maßnahmen hingegen sind längerfristig konzipiert und auf die Verminderung von Gewalt und Gewaltbereitschaft im Kontext der jeweiligen Schule gerichtet. Je nachdem, wann die Maßnahme ansetzt, ist zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zu unterscheiden. Als primärpräventiv werden Maßnahmen eingeordnet, die bereits vor jeglichem Auftreten gewaltbehafteten Verhaltens beginnen. Sekundärprävention setzt an, sofern Aggressions- und Gewaltprobleme in der Schule bereits eingetreten sind. Dabei soll eine Ausweitung und Verfestigung der Problematik vermieden werden. Tertiärprävention beinhaltet die Intervention bei massiven Problemen, Rückfallprophylaxe und Resozialisierung ehemals gewalttätiger SchülerInnen (vgl. dazu Dann, 1997, S. 355). Im Rahmen dieses Abschnitts sollen nun unterschiedliche komplexe Modelle und Konzeptionen zum Umgang mit Gewalt vorgestellt werden. Am Ende jeder einzelnen Darstellung werde ich eine kurze Einordnung und Bewertung vornehmen. 5.1 Interventionsprogramm gegen Mobbing in der Schule nach Olweus 1993 gab die Landesregierung Schleswig-Holstein eine gutachterliche Stellungnahme zum Thema Gewalt und Aggressivität an Schulen in Schleswig-Holstein in Auftrag (vgl. Niebel, Hanewinkel, Ferstl, 1993). Auf Grundlage der Befragungsergebnisse und der Gutachterergebnisse wurden 1994 seitens der Ministerin für Bildung, Wissenschaft , Forschung und Kultur besondere Mittel zur Verfügung gestellt, um ein Programm zur Gewaltprävention an schleswig-holsteinischen Schulen zu entwickeln und anzubieten. Dazu wurde Kontakt zu Dan 38 Olweus aufgenommen, der bereits in Skandinavien Gewaltpräventionsprogramme entwickelt, durchgeführt und evaluiert hat. Grundlage des Programmes, das an schleswig-holsteinischen Schulen durchgeführt wird, ist die Übersetzung eines Handbuchs von Olweus aus dem Norwegischen (vgl. Olweus, 1994). 5.1.1 Theoretischer Hintergrund Hauptziel seines Interventionsprogramms ist nach Olweus "(...) soweit wie möglich bestehende Gewalttäter/ Gewaltopfer- Probleme innerhalb und außerhalb der Schulumgebung zu vermindern und die Entwicklung neuer Probleme zu verhindern- idealerweise vollständig zu beseitigen-"(Olweus, 1994, S. 28). Das Interventionsprogramm besteht aus zwei Teilen, Teil 1 befaßt sich mit Hintergrundinformationen zu Gewalt in der Schule, in denen sich Olweus (1994) auf empirische Untersuchungen in Schweden und Norwegen bezieht und sich mit der Typologie möglicher GewalttäterInnen und Gewaltopfern befaßt. Außerdem analysiert Olweus, welche Erziehungsbedingungen dazu beitragen, daß Kinder aggressiv werden. Teil 2 enthält die inhaltliche Darstellung der Maßnahmen. Die Analyse und das Interventionsprogramm stützt sich auf lerntheoretische Ansätze: Gewalttaten stellen im wesentlichen ein gelerntes aggressives Verhaltens-muster dar. Dies wird positiv verstärkt , indem die TäterIn ihr Ziel erreicht und/ oder Aufmerksamkeit von den Bezugspersonen erfährt. Aggressive Verhaltens-muster besitzen nach Olweus Modellcharakter für MitschülerInnen und werden durch sozialpsychologische Phänomene wie "soziale Ansteckung" und "Verlust individueller Verantwortung" verstärkt (vgl. Olweus, 1994, S. 23). Es werden aber auch detaillierte Überlegungen zu den Interaktionsbeziehungen von TäterInnen, Opfern, Lehrern und Eltern angeführt und auf folgende außerschulische Faktoren als Bedingungsfaktoren für schulische Gewalt verwiesen: Ungünstige familiäre Erziehungsmuster, Persönlichkeitsdispositionen, sozioökonomische Faktoren etc. (vgl. derselbe 1994, S. 24). In seiner Konzeption erweitert Olweus den "engen Gewaltbegriff der Gewaltkommission" (vgl. dazu unter 2.1.1) um psychische und verbale Formen von Gewalt. Vandalismus bleibt innerhalb seiner Definition unberücksichtigt (vgl. Hanewinkel/Knaack, 1997, S.3). Zentrale Begriffe im Kontext des Interventionsprogramms von Olweus sind "Mobbing"6 und "Bullying"7. Der Begriff "Mobbing" stammt aus Skandinavien und steht synonym für Gewalttätigkeit oder Probleme mit GewalttäterInnen und Opfern.Olweus definiert gewalttätiges "Mobben" in der Schule wie folgt: 6Anmerkung: vgl. Fußnote 1 Ein Begriff, der Probleme von Gewaltopfern und Tätern unter der Dimension psychischer Gewalt erfaßt, existiert nicht im Deutschen, wird aber durch den Begriff "bullying" erfaßt. (to bully= seine Kraft und Macht rücksichtslos einsetzen, um Schwächere zu schrecken oder zu verletzen), (vgl. dazu Hanewinkel et al., 1997 S. 3) Bullying wird hier als "Gewalttat" im Sinne der Definition von Olweus verstanden 7 39 "Ein Schüler/eine Schülerin wird gemobbt, wenn er/sie wiederholt über längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler/Schülerinnen ausgesetzt ist" (vgl. derselbe, 1997, S. 282). Negative Handlungen können nach Olweus verbal (durch drohen, spotten, hänseln und beschimpfen), durch Körperkontakt (durch schlagen, stoßen, treten, kneifen oder festhalten) oder auch ohne Wort- oder Körperkontakt (durch Fratzenschneiden, Ausschluß aus einer Gruppe, etc.).begangen werden (vgl. Hanewinkel et al., 1997.S.3). Voraussetzung für das Vorliegen von Mobbing ist immer ein Ungleichgewicht der Kräfte von TäterIn und Opfer.Olweus spricht auch von einem "asymmetrischen Kräfteverhältnis" als Indiz für das Vorliegen von Mobbing (vgl. derselbe, 1994, 13). "Mobbing" liegt hingegen nicht vor, wenn die Streitbeteiligten gleich stark sind. Wichtig für das Verständnis des Konzepts von Olweus ist seine "Täter-Opfer- Typologie", die hier kurz skizziert werden soll: "Das typische Opfer ist ängstlicher und unsicherer als es Schüler(innen) im allgemeinen sind. Außerdem ist es oft vorsichtig, empfindsam und still. Wenn es von anderen Schüler(innen) angegriffen wird, reagiert es meistens mit Weinen und Rückzug(...)Opfer leiden darüberhinaus unter mangelndem Selbstwertgeühl, sie haben eine negative Einstellung zu sich selbst und ihrer Situation.(...) Diese Kinder haben häufig eine negative Einstellung gegenüber Gewalt und der Anwendung von gewalttätigen Mitteln(...)"(Olweus, 1997, S. 286 mit Verweis auf empirische Belege). Als Variation führt Olweus die Gruppe der "provozierenden Opfer" an. Diese zeichneten sich durch eine Kombination von ängstlichen und aggressiven Verhaltensmustern aus. In der Praxis würden die vorher beschriebenen "passiven, sich ergebenden Opfer" erheblich häufiger vorkommen(vgl. ebd.). Die typische GewalttäterIn ist nach Olweus aggressiv gegen Gleichaltrige, oft auch gegenüber Erwachsenen wie LehrerInnen und Eltern. Gewalt ist aus Sicht der TäterIn hinsichtlich der Bewertung und Anwendung positiv besetzt. Oft zeichne sich die typische GewalttäterIn durch besondere Impulsivität und ein starkes Bedürfnis aus, über andere Macht auszuüben. Gleichzeitig mangele es aber an Mitgefühl für die Gewaltopfer. Olweus verweist dabei auf eigene Untersuchungen, die gezeigt hätten, daß GewalttäterInnen in der Schule im Durchschnitt ungewöhnlich selten unsicher waren und eher ein stabiles -zumindest aber ein durchschnittliches- Selbstwertgefühl aufweisen würden (vgl. derselbe 1997, S. 288 mit weiteren Verweisen). Als Mitläufer oder "passive Gewalttäter" bezeichnet Olweus diejenigen, die GewalttäterInnen unterstützen. Insgesamt ist die Darstellung "typischer" TäterInnen und Opfer modellhaft zu verstehen, Olweus ist sich durchaus der Varitionen in der Praxis bewußt. Seine Ausführungen dienen der Orientierung, sind in der Anwendung im konkreten Einzelfall jedoch zu überprüfen. 40 Das theoretische Modell von Olweus "bullying at school" ist von Hanewinkel und Knaack (1997) vereinfacht zusammengefaßt worden. Der Bully (Gewalttäter) bietet folgendes Täterbild: Er zeigt gelernte aggressive Reaktionsmuster, erscheint in seiner Aktion gegen das Opfer überlegen, durchsetzungsfähig und grenzenlos (vgl. Ausführungen im vorigen Absatz). Das Opfer reagiert ängstlich-verunsichert und schließlich mit Passivität, Rückzug und Schweigen auf die Gewalttat. Die zuschauenden MitschülerInnen reagieren ambivalent, ängstlich und zum Teil auch fasziniert, was teilweise zu passivem Voyeurismus und Mitläufertum führt. LehrerInnen reagieren nach Olweus in der Situation häufig unentschlossen und ohnmächtig-hilflos. Sie reagieren auf die Gewaltaktion entweder schwach, inkonsistent oder gar nicht. Die Elterngruppe erfährt von dem Vorgang entweder nichts oder wenig und ist von daher von jeglicher Intervention ausgeschlossen. Bei unzulänglicher Reaktion auf den Gewaltakt kann ein Kreislauf (vicious circle) entstehen: Der Täter (Bully) wird bei Erfolg in seinem Verhaltenmuster verstärkt, durch das erfolgreiche Modellverhalten können MitschülerInnen zur Imitation bewegt werden.Um diesen Kreislauf an möglichst vielen Stellen zu unterbrechen, sollen potentielle TäterInnen und ihre Opfer lernen, angemessen miteinander auszukommen. Priorität hat dabei aus Olweus Sicht die Steigerung der sozialen Kompetenz (vgl. zum Ganzen Hanewinkel et al. 1997, S. 4f). 5.1.2 Umsetzung und Inhalte des Interventionsprogramms Als übergeordnetes Ziel benennt Olweus die Verminderung bestehender und potentieller Gewalttäter/ Gewaltopfer-Probleme innerhalb und außerhalb der Schulumgebung, die Verhinderung neuer Problem- idealerweise deren vollständige Beseitigung (vgl. derselbe, 1994, S. 25). Darüber hinaus nennt er vier Unterziele: 1) Das Bewußtsein für das Täter-Opfer- Problem zu schaffen und neue Erkennt-nisse darüber zu gewinnen 2) Die aktive Beteiligung von Eltern und LehrerInnen 3) Klare Regeln gegen Gewalt zu entwickeln 4) Den Opfern Unterstützung und Schutz gewähren (vgl. dazu Olweus 1997, S. 296) Als Grundprinzipien (Schlüsselprinzipien) für die Umsetzung seines Interventions-programms fordert Olweus eine schulische Umgebung und ein elterliches Zuhause, wo folgende Anforderungen erfüllt sind: - Wärme und positive Anteilnahme seitens der Erwachsenen -feste Grenzen gegenüber inakzeptablen Verhaltensweisen -konsequente Anwendung nichtfeindlicher, nichtkörperlicher Strafen bei Grenzüberschreitungen und Regelverletzungen, was auch einen gewissen Grad an Kontrolle der SchülerInnen erfordert 41 -Autoritative Erwachsenen- Kind- Interaktion: Erwachsene sollen über die Lernsituation der SchülerInnen hinaus (Gesamtsituation inklusive der sozialen Beziehungen)Verantwortung übernehmen (vgl. Olweus 1997, S. 294) Nachfolgend soll nun das Interventionsprogramm von Olweus überblicksartig dargestellt werden, wobei die kursiv gedruckten Maßnahmen zu den sieben Kernmaßnahmen gehören, die als Basisvoraussetzungen für die Umsetzung des Programms betrachtet werden8: 1) Maßnahmen auf der Schulebene - Fragebogenerhebung bei den SchülerInnen zur Abschätzung des Ausmaßes von Gewalt und Mobbing an der eigenen Schule - Gestaltung eines pädagogischen Tages, wo die Fragebogenergebnisse diskutiert werden. - - 2) - 3) Einrichtung eines Kontakttelefons für Betroffene sowie Durchführung von schulinternen Lehrerfortbildungen, die auf die Verbesserung des sozialen Milieus an der Schule abzielen sollen Themenbezogene Kooperation von Eltern und Lehrkräften, Bildung von Arbeitsgruppen von Klassen- und Schulelternrat Maßnahmen auf der Klassenebene: Einführung von Klassenregeln gegen Gewalt inklusive der Einführung von Konsequenzregeln Durchführung von regelmäßigen Klassengesprächen über die Bewährung und Einhaltung der Regeln Kooperatives Lernen, bei denen die SchülerInnen in kleinen Gruppen gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten Gemeinsame positive Aktivitäten Handlungsorientierte Behandlung des Themas im Unterricht z.B. durch Herausarbeitung einschlägiger Konfliktsituationen in Rollenspielen Maßnahmen auf der persönlichen Ebene 8 Durchführung einer Schulkonferenz, bei der ein schulspezifisches Programm zur Gewaltprävention verabschiedet wird Verbesserung der Pausenaufsicht und Umgestaltung des Schulhofs Ernsthafte Gespräche mit den gewalttätigen Kindern und Opfern Gespräche der LehrerInnen mit den Eltern der beteiligten Kinder Hilfen für den familiären Bereich Die nichtkursiv gedruckten Einzelmaßnahmen dienen der individuellen Ausgestaltung und Ergänzung der Kernmaßnahmen (vgl. dazu Hanewinkel et al., 1997, S. 9). 42 - Diskussionsgruppen für Eltern von Tätern und Opfern - Klassen- und Schulwechsel betroffener SchülerInnen (vgl. zum Ganzen Hanewinkel et al., 1997, S.6 ff; Olweus, 1997, 295 sowie derselbe, 1994, S. 28 ff mit ausführlichen Erläuterungen) Aus der Darstellung wird ersichtlich, daß sich eine Schulen sinnvollerweise nur als organisatorische Einheit an dem Interventionsprogramm beteiligen kann und damit schulorganisatorische Umstrukturierungen erforderlich werden. Somit wird mit der Entscheidung, das Interventionsprogramm umzusetzen, gravierend in die bestehende Mikropolitik der jeweiligen Schule eingegriffen. Eine Orientierung nach dem Interventionsprogramm nach Olweus erfordert die Kooperation sämtlicher an Schule beteiligten Gremien sowie eine angemessene Instruktion der ausführenden Lehrkräfte. Diese müssen ihren Handlungsspielraum über den eigentlichen Unterricht hinaus erweitern können. Für die Umsetzung des Programms ist eine schulinterne Projektsteuerung und Koordination erforderlich. Die Verantwortung hierfür soll von einer "Koordinierungsgruppe", die sich aus dem Kollegium und der Schulleitung zusammensetzt, getragen werden (vgl. Hanewinkel/Knaack 1997, S. 36). Regionale und zentrale Unterstützung wird von einer zentralen Koordinationsstelle angeboten, die auch den gegenseitigen Austausch der an dem Programm teilnehmenden Schulen ermöglicht. Die regionale Unterstützung kann von der Unterstützung bei Analyse und Interpretation von Fragebögen bis hin zur Begleitung und Durchführung pädagogischer Tage, Schulkonferenzen und übergreifender Fortbildungsangebote reichen. Als externe BeraterInnen kamen insbesondere die SchulpsychologInnen des Landes Schleswig Holstein in Betracht (vgl. Hanewinkel/Knaack 1997, S. 42). 5.1.3 Evaluation 1983 - 1985 haben sich in der norwegischen Stadt Bergen 42 Schulen, davon 28 Grundschulen und 14 Eingangsklassen mit insgesamt 2500 SchülerInnen an dem Interventionsprogramm und dessen Evaluation beteiligt. Daten wurden vor Einsatz des Interventionsporgramms sowie 8-20 Monate nach erster Vorstellung des Programms via Fragebögen erhoben (zum Vorgehen Olweus, 1994, S. 41). Aus seinen Befunden ermittelt Olweus folgende Hauptergebnisse : - In den 2 Jahren nach Einführung des Programms ist eine Abnahme bei allen Gewaltformen unter den SchülerInnen zu verzeichnen. - Nach zwei Jahren sind die Wirkungen des Interventionsprogramms deutlicher als nach einem Jahr. Die Gewalt verlagert sich nicht auf den Schulweg. - 43 - Auch anderes deviantes Verhalten wie Vandalismus, Trunkenheit und - Schuleschwänzen haben abgenommen. Das Sozialklima der Klassen hat sich verbessert. Die Zahl neuer Gewaltopfer ist gesunken Die Schulzufriedenheit der SchülerInnen ist angestiegen (vgl. Darstellung bei Olweus, 1994, S. 41) Hanewinkel und Knaack haben innerhalb des Landesprojekts "Gewaltprävention in Schulen (Olweus- Programm)" in Schleswig-Holstein eine Stichprobe von insgesamt 15.000 SchülerInnen (verteilt auf 47 Schulen) erhoben. Die Teilnahme am Projekt war für die Schulen freiwillig, Grundbedingung war Interesse an der Projektteilnahme. Abgesehen von dem Kriterium "Interesse" handelte es sich bei den Schulen um eine "unausgelesene" Stichprobe, so daß die Ergebnisse als recht aussagekräftig bewertet werden können (zum weiteren Vorgehen Hanewinkel/ Knaack 1997 S. 63 ff sowie dieselben 1997 a, S. 305 ff). Mit einigen Differenzierungen werden die oben genannten Ergebnisse von Olweus in ihrer Grundtendenz auch für die Evaluation in Schleswig Holstein bestätigt. Als positive Nebeneffekte der Umsetzung des Programms werden darüber hinaus intensive Diskussionsprozesse und Verbesserung der Kooperation im Kollegium benannt. Außerdem wird über Klimaverbesserungen auf Schul- und Klassenebene, konkrete Veränderung schulischer Organisationsstrukturen und äußerer Bedingungen wie Pausengestaltung und umgestaltete Pausenhöfe positiv berichtet (vgl. dieselben 1997, S. 66 f). Interessant erscheint mir folgendes Ergebnis: Während sich auf der konkreten Verhaltensebene deutliche Veränderungen zeigen, scheinen sich die Einstellungen der SchülerInnen zum "Mobben" kaum zu verändern. "Schwächere zu triezen, zu unterdrücken oder zu quälen ist offenbar für manche Kinder von erheblichem Lustgewinn"(Hanewinkel/Knaack 1997, S. 67). 5.1.4 Einordnung Das vorgestellte Programm kann auf eine fundierte Evaluation zurückblicken und gilt daher als etabliert. Der Ansatz von Olweus ist interventionsorientiert, reagiert auf manifeste Gewalt unter SchülerInnen. Als Prozeß gewertet kann dies aber auch der Prävention von Gewalt dienen, zumal auf eine Umorientierung, ein Umlernen aller Beteiligten abgezielt wird. Die theoretische Fundierung ist breit angelegt, insbesondere wird aus lern-theoretischer Sicht argumentiert, ein Modell von Mobbing in der Schule entworfen sowie auf eine Täter-Opfer Typologie zurückgegriffen. Durch das Kernprogramm erhält das Programm eine eindeutige Struktur, gleichzeitig beinhaltet es durch Ergänzungen Gestaltungsfreiheit. Fragebögen bieten die Möglichkeit der prozeßbegleitenden Evaluation, was für die Erfolgskontrolle wichtig sein kann. Die Umsetzung des Programms ist jedoch ein aufwendiges Verfahren. 44 Hanewinkel und Knaack diskutieren die Umsetzung des "Olweusprogramms" nicht nur im Rahmen von Intervention sondern auch im Kontext von Organisationsentwicklung. Sie verweisen auf die Standardschritte von Organisationsentwicklungsprozessen (Bestandsaufnahme, Maßnahme, Planung, Durchführung und gegebenenfalls Änderung), die in der Umsetzung der sieben Kernschritte des Olweusprogramms enthalten sind (vgl. dieselben, 1997, S. 11). Das Programm kann daher, abgesehen von der Notwendigkeit einer externen Beratung, als Beitrag zu Schulentwicklung und Eigenständigkeit von Schule gesehen werden.Die jeweilige Schule kann die notwendigen Schritte selbst steuern und initiieren (vgl. dieselben, a.a.O., S. 63). Vorausgesetzt wird eine hohe pädagogische Kompetenz und Motivation von LehrerInnen sowie die interessierte Partizipation von Eltern. Davon kann in der Praxis nicht immer ausgegangen werden. Bezogen auf den Umgang mit Kindern ist der Ansatz wenig partnerschaftlich orientiert. Olweus bezeichnet ihn selbst als "autoritativ" und geht damit von einer erwachsenen Überlegenheit aus. Dabei stellt sich die Frage nach parteilicher Kinderarbeit in der Schule und nach Partizipation an Entscheidungsprozessen, die sie selbst betreffen.. Problematisiert wird Gewalt als Gewalt von SchülerInnen untereinander, nicht aber die Gewalt Erwachsener gegen Kinder oder Gewalt der Institution Schule durch den heimlichen Lehrplan. Daher werden nicht alle Dimensionen von Gewalt in der Schule erfaßt. 5.2 Gewaltfreier Umgang mit Konflikten nach Walker Im folgenden Abschnitt soll ein Konzept veranschaulicht werden, das Gewalt und Aggression in der Schule als sozialen Konflikt versteht und sich mit dem gewaltfreien Umgang mit Konflikten in der Schule befaßt. 5.2.1 Kurzbeschreibung des Projekts:Projektträger/Projektgeschichte Im Zeitraum von Oktober 1988 bis Januar 1991 führte Walker das Forschungsprojekt: "Gewalt und Konfliktlösung unter Kindern: Entwicklung eines pädagogischen Konzepts zur Überwindung gewaltförmiger Konfliktaustragung in der Grundschule" an der Heinrich- Zille Grundschule in Berlin- Kreuzberg durch. Unterstützt wurde das Forschungsprojekt durch das Förderprogramm Frauenforschung der Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie in Berlin. Im Anschluß an das Projekt sind mehrere Publikationen entstanden (vgl. Walker 1991 und 1995). Die Zille - Grundschule befindet sich direkt in dem dicht besiedelten Bezirk BerlinKreuzberg, der nach Aussage Walkers (1995) bestimmt sei von sozialen Problemen, gleichzeitig aber auch "von einem bunten Durcheinander und innovativem Geist" (Walker 1995, S. 10). Ein Drittel der SchülerInnen sind AusländerInnen, die meisten davon gehören der türkischen 45 Minderheit an. Die Berliner Zille Schule ist sechsjährig konzipiert, so daß die Klassenstufen 1-6 vertreten sind. Zum Vorgehen: Die Teilnahme am Projekt war auf Seiten der Lehrkräfte freiwillig. Nach der Vorstellung des Projekts an der Schule befragte Walker interessierte LehrerInnen hinsichtlich ihres "Konfliktalltags". Insgesamt beteiligten sich 9 Klassen der Stufen 1-6 an diesem Programm. Innerhalb einer kurzen Phase der Observation (teilnehmender Beobachtung) wurden die jeweiligen Aussagen dann überprüft. Die eigentliche Arbeit am Konzept schloß sich dann in den folgenden durchschnittlich sieben Monaten an. Ein bis zweimal wöchentlich führte Walker in Kooperation mit der jeweiligen Lehrkraft "Konfliktstunden" (Spielstunden) durch, die gemeinsam vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet wurden. In der letzten Phase des Projekts erfolgte eine Gesamtauswertung der Unterrichtsergebnisse und eine daran orientierte Erstellung praktischer Unterrichtsmaterialien. 5.2.2 Theoretischer Hintergrund: Walker bezieht sich in ihrer Konzeption auf einen weiten Gewaltbegriff unter explizitem Hinweis auf die Bedeutung struktureller Gewalt (vgl. dazu unter 2.1.1 und 2.1.3 sowie Walker, 1995, S.19). Der ihrer Konzeption zugrundeliegende Konfliktbegriff stützt sich auf eine Definition aus dem Konfliktmanagement, nämlich auf die Defintion des sozialen Konflikts von Glasl (1990). Danach erfordert eine sozialer Konflikt eine Interaktion zwischen mindestens zwei oder mehreren Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, bei der mindestens eine Seite Unvereinbarkeiten in Gedanken, Gefühls- oder Willensleben erlebt. Aus-schlaggebend für das Vorliegen eines Konflikts ist, daß sich mindestens eine Seite durch die andere Seite daran gehindert sieht, ihre Vorstellungen , Gefühle und Absichten durchzusetzen (vgl. Glasl, 1990 S.14 ff). Grundannahme Walkers Konzepts ist, daß Kinder ein positives Selbstbild entwickeln müssen, bevor sie in der Lage sind, Argumente und Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen. Erst dann können sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen einsetzen. Dazu führt Walker Folgendes aus: "Die Methode der gewaltfreien Konfliktlösung geht davon aus, daß in jedem Menschen etwas Positives steckt, das ans Licht gebracht werden soll. Ein Kind mit einem negativen Selbstbild bzw. eines, das die erforderliche positive Zuwendung zu Hause und/oder in der Schule nicht bekommt, verhält sich im Schulalltag häufig auffällig"(vgl. Walker, 1993, S. 221). Walker folgend reicht die kognitive Vermittlung gewaltfreier Prinzipien nicht aus, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Es sollen daher affektive Elemente in den Lernprozeß miteinbezogen werden. Dabei basieren ihre Übungen auf bestimmten Anforderungen an Unterricht und LehrerIn, die ich hier in Anlehnung an ihre Ausführungen katalogartig aufführe: - Gewaltfreiheit als Prinzip lehnt Gewalt in jeglicher Form (persönlich, sozial oder politisch) ab. Bei der Austragung und Lösung von Konflikten sollen nicht- gewaltsame 46 Handlungsweisen entwickelt werden. Außerdem zielen diese Strategien gleichzeitig - - - darauf ab, gewaltfördernde oder gewaltbeinhaltende Strukturen zu verändern. Der Erziehungsauftrag von Schule beinhaltet auch, daß neue Verhaltensweisen zum Umgang mit Gewalt vermittelt werden müssen. Diese werden nur durch eigene (affektive) Erfahrungen gelernt. SchülerInnen sollen zu selbständigem Entscheidungen und selbständigen Handeln motiviert werden, damit sie langfristig in der Lage sind, ihre Konflikte eigenständig gewaltfrei zu regeln. Das Programm soll motivieren und sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen Spaß machen. Ernste Übungen sollen durch Auflockerungsspiele "entschärft" werden. LehrerInnen müssen glaubwürdige Vorbilder sein für das Konfliktverhalten, das von den Kindern und Jugendlichen verlangt wird. Die Aneignung gewaltfreien Konfliktverhaltens kann nur freiwillig erfolgen und ist ein Prozeß der Flexibilität verlangt, zumal ein Konflikt immer mit unterschiedlichsten Strategien und von unterschiedlichen Standpunkten gelöst werden kann. Es kann erforderlich werden, die LehrerInnenautorität in den Hintergrund treten zu lassen, um die Selbständigkeit und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen im Klassenverband zu fördern (vgl. zum Ganzen Walker 1995, S. 25). Walker selbst weist darauf hin, daß es sich bei ihrem Konzept nicht um ein grundlegend neues handele (vgl. Walker 1995, S.10). Sie bezieht sich nach eigenen Angaben auf Konzepte von Mediation (Methode zur Vermittlung in Konflikten) sowie das "Children's Creative Response to Conflict"- Programm, das Mitte der 70er Jahre von Quäkerinnen in New York gegründet wurde. Weiter benennt sie Ansätze von Sozialem Lernen, Friedenserziehung und Interaktionsspiel, die Ähnlichkeiten zu ihrer Konzeption aufweisen. Allerdings werden diese Ansätze bezogen auf ihr Konzept nicht weiter spezifiziert (vgl.ebd.). Die inhaltlichen Überschneidungen mit anderen, bereits bekannten Konzepten verwundern daher nicht. Walker begreift ihr Konzept nicht als "Patentrezept" sondern als konkrete Anregung für den pädagogischen Alltag, die eine Verminderung der Aggression im Klassenzimmer zum Ziel haben soll (vgl. ebd.). 5.2.3 Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept Am Anfang wird durch die Beantwortung einen speziell konzipierten Fragebogens das Konfliktpotentials innerhalb der Klasse ermittelt. Dieser Fragebogen ist von der Lehrkraft zu beantworten (zur Konzeption des Fragebogens (vgl. Walker 1995, S. 15ff). Innerhalb des Teilbereichs "Konflikte unter Jugendlichen" wird nach der Grundstimmung der Klasse, nach geschlechtspezifischem Konfliktverhalten etc. gefragt. Außerdem wird mittels Fragekatalogen zu den Rubriken "Konflikte zwischen Jugendlichen und Lehrpersonen", "Konflikte der Lehrperson mit sich selbst", sowie "Konflikte im Kollegium und mit der Schulleitung" eine relativ 47 umfassende Analyse des Konfliktpotentials ermöglicht, die schließlich als Grundlage für die Stundengestaltung dienen soll. Die Konfliktarbeit erfolgt in separaten Unterrichtstunden, die ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden. Zielgruppe sind zum einen die Primarstufe, mit gewissen Veränderungen der Unterrichtsmaterialien auch die Sekundarstufe 1. Als Lernziele kommen folgende Voraussetzungen für eine kooperative Konfliktbewältigung in der Schule in Betracht: Achtung vor sich selbst und anderen, Bereitschaft zum Zuhören und zum Verständnis, Einfühlungsvermögen, Selbstbehauptung, Zusammenarbeit in der Gruppe, Aufgeschlossenheit und kritisches Denken, Phantasie, Kreativität und Spaß (vgl. Walker 1995, S. 20 ff). Entsprechend der genannten Lernziele entwickelt Walker ein sechstufiges Lernmodell, das auf das Training für die Konfliktarbeit wichtiger Kompetenzen abzielt: 1. Kennenlernen und Auflockern 2. Förderung des Selbstwertgefühls 3. Kommunikation 4. Kooperation 5. Geschlechtsbezogene Interaktion 6. Gewaltfreie Konfliktaustragung. Je nach Ergebnis der oben beschriebenen Befragung können einzelne Schwerpunkte aus dem Programm ausgewählt werden, so daß ein individueller Zuschnitt auf die jeweilige Problematik im Kontext der Klasse möglich ist. Inhaltlich systematisch bauen die Themenbreiche aufeinander auf, so daß es sinnvoll ist, alle Themenbereiche chronologisch "abzuarbeiten". Auf jeder Stufe entwickelt Walker Interaktions- und Rollenspiele, die ein Angebot darstellen, Themen des Lernmodells zu vertiefen (vgl. dieselbe, 1995, S. 26). Als Beispiel soll das Rollenspiel "Streit in der Schule dienen", ein über zwei Spielstunden dauerndes Konzept, daß dem Themenkomplex "Gewaltfreie Konfliktaustragung" zugeordnet ist: Die Spielidee ist, Alltagskonflikte in der Schule zu bearbeiten. Dafür sollen alle entweder allein oder in Kleingruppen Konfliktsituationen aufschreiben, die sie erlebt oder mitbekommen haben. Die Ideen werden auf Kärtchen übertragen. In der nächsten Spielstunde werden die Karten an Kleingruppen verteilt, die dann der Klasse einen Konflikt vorspielen. Ziel ist dabei, der Gruppe eine konstruktive Lösung vorzuspielen, die im nachhinein unter der Fragestellung "War die Lösung fair, war sie realistisch?" von der Gruppe bewertet wird (vgl. Walker, 1995, S. 147). 5.2.4 Einordnung Walker geht davon aus, daß die Vernachlässigung der emotionalen Bedürfnisse von SchülerInnen zu einem höheren Gewaltpotential in der Schule beitrage, deshalb sei es erforderlich, den affektiven Aspekten von Bildung und Erziehung erhöhte Aufmerksamkeit zu 48 schenken (vgl. Walker 1993, S. 250). Die Konzeption Walkers stellt einen "eklektischen" Ansatz dar, der sehr unterschiedliche Ansätze in ihre Konzeption einfließen läßt. Hervorzuheben ist ihre Offenheit für interdisziplinär entwickelte Methoden, wie sie auch in der Sozialpädagogik Anwendung finden (z. B. Konfliktmanagement, Kommunikationstraining). Ihr Ansatz zielt sowohl auf die Verbesserung des Selbstwertgefühls als auch auf die Verbesserung interpersoneller Kommunikation ab. Damit setzen ihre pädagogischen Maßnahmen vorrangig auf interaktioneller Ebene an, wobei die individualbiographische Ebene durch die Selbsterfahrungsanteile in den Übungen und Rollenspielen durchaus auch angesprochen ist. Auf eine klare methodische Fundierung hat die AutorIn weniger Wert gelegt, auch bleibt die theoretische Begründung vorrangig praxisbezogen. Grundsätzlich versteht die AutorIn ihr Konzept als präventiv- durch Vermittlung sozialer Kompetenzen sollen Jugendliche lernen, Konflikte konstruktiv und gewaltfrei auszutragen (Walker 1995, S.11). Dennoch enthält ihr Konzept auch interventive Elemente, so sind neben Handlungsvorschlägen für LehrerInnen für Verhalten in Gewalt- und Bedrohungssituationen auch Strukturierungsvorschläge zur Führung von Konfliktgesprächen enthalten. Der Umgang mit schwerwiegenden Aggres-sionsproblemen mit SchülerInnen bleibt nach Auffassung der AutorIn nach wie vor sozialpädagogischer und schulpsychologischer Einzelintervention vorbehalten, sofern nicht gar weitergehende Maßnahmen erforderlich sind (vgl. Walker 1995, S. 11). Somit ist ihr Konzept auf Primär- und mit Abstrichen auch auf Sekundärprävention ausgerichtet. Zur Evaluation enthält die hier ausgewertete Literatur keine Angaben, so daß sich das Konzept empirisch anzweifeln läßt. Da das Konzept Walkers aus einem konkreten Praxiskontext entstanden ist, erscheint ein Transfer auf andere Schulen nicht unproblematisch, denn dort herrschen andere Bedingungen und auf ausführliche empirische Befunde kann zur Orientierung nicht zurückgegriffen werden. Dennoch ist das Programm Walkers für die direkte Umsetzung in den alltäglichen Unterrichtskontext gedacht, ohne Anleitung. Für kritikwürdig halte ich es, bei der umfassenden Konfliktanalyse vor Beginn der Maßnahmen die Schüler nicht in die Befragung miteinzubeziehen, da die Perspektive der LehrerIn nur eine einseitige Einschätzung ermöglicht. 5.3 Lebenswelt Schule in Berlin (Hensel) Das Projekt Lebenswelt Schule hat einen Schwerpunkt in Schulentwicklung. Hensel ist bei der Senatsverwaltung für Schule und Sport tätig, von dort aus wurde das Projekt auch in der Zeit von 1993- 1996 koordiniert. Hensel selbst konkretisiert seinen Ansatz wie folgt: "Durch eine Vielfalt von Anlässen, Einrichtungen und Projekten in einer relativ autonom gestalteten, lebendigen und erweiterten Schule werden soziale Kompetenz und Konfliktfähigkeit, Schulprofil und Schulidentifikation entwickelt"(vgl. Hensel, 1997, S 39). 49 Theoretischer Hintergrund für Hensels Konzeption ist insbesondere die Reformpädagogik (vgl. Dann, 1997, S. 356). Grundannahmen reformpädagogischer Unterrichtspraxis werden integriert: - -SchülerInnen werden als produktive Kinder erkannt, die Ideen haben -LehrerInnen dürfen unterrichtsorganisatorisch kreativ tätig werden Lernen wird als vielgestaltiger, lebendiger und selbstätiger Prozeß verstanden, dessen Ziel die Auseinandersetzung mit der Umwelt und dem eigenen Selbst ist Schule wird als Lebensort begriffen, der eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft beinhaltet (vgl. dazu Schonig, 1993, S. 1305 f). Die in Hensels Konzept enthaltene Ansatz der "Lebenswelt" erklärt sich beispielsweise unter Rückgriff auf Habermas (1981): Dieser begreift Gesellschaft als System und Lebenswelt, in dem sich soziale Integration vollzieht. Lebenswelt enthalte danach kulturelle Wert- und Deutungsmuster als gemeinsame Wissensbasis zur Bewältiging von Alltagspraxis, sie stifte und regele durch einen Grundbstand anerkannter Normen (als soziales Apriori) soziale Ordnung und interpersonale Beziehungen. Außerdem bilde "Lebenswelt" den Hintergrund von Sozialisationsprozessen, die den einzelnen für eine realitäts-gerechte Teilnahme an Interaktionen befähigten und stifte insofern personale Identität (vgl. Habermas 1981 zitiert nach Frank, 1993, S. 615; vertiefend dazu Rolshausen, 1991, S. 160) Lebensweltliche Strukturen werden z.B. durch Verrechtlichung sozialer Beziehungen und Bevormundung durch ExpertInnen ausgehöhlt. Daher zielt Lebensweltorientierung als "Gegenmaßnahme" auf die Förderung alltäglicher Handlungskompetenz, Förderung von Lebenspraxis, Aktivierung der Betroffenen und Selbstorganisation ab (vgl. Frank, 1993, S. 615). Für die Orientierung von Schule bedeutet dies, die Gegenwartsbedeutung von Unterricht, die Ausgangslage der Lernenden unter Einbeziehung ihrer sozialen Lebenslage bis hin zur Subjektorientierung bezogen auf die Bedürfnisse von SchülerInnen bei der Gestaltung von Schule zu berücksichtigen (vgl. dazu Meyer-Drawe, 1993, S. 927). Diesen Anforderungen versucht Hensel in seiner Konzeption gerecht zu werden. 5.3.1 Projektdarstellung und Umsetzung Ziel des Projektes ist es, Konzepte zur Schulentwicklung und Gewaltprävention für belastete Grund- und Hauptschulen in Berlin zu entwerfen. Schulen sollen dabei durch Beratung und Unterstützung von PraktikerInnen, Arbeit mit SchülerInnen und Sachinvestitionen so ausgestattet werden, daß die Arbeit mit gewaltmotivierten Kindern und Jugendlichen erleichtert wird. Das Konzept soll SchülerInnen ganzheitlich und familienergänzend ansprechen (vgl. Hensel, 1997, S. 39). Der Weg zu weniger Gewalt soll durch das Leben in der Schule maßgeblich unterstützt werden. 50 Zunächst werden zwei Grundschulen und zwei Hauptschulen mit"schwierigen pädagogischen Aufgaben" in das Projekt mit einbezogen. Weitere Schulen schließen sich mit der Zeit an. Als "konstitutive Elemente" benennt Hensel (1997) die gestaltete(1), die lebendige(2), die erweiterte(3) und die integrative(4) Schule: 1) Die gestaltete Schule: Die räumliche und sozial gestaltete Schule soll sich an selbstgewählten Bedingungen der SchülerInnen orientieren. Unter dem Stichwort gestaltete Schule thematisiert Hensel die Begriffe Organisation, Unterricht, Erzie-hung, Kommunikation und Lebensraum/Wohnlichkeit. Kinder und Jugendliche sollten an der Organisation von Schule durch Mitverantwortung teilhaben. Unterricht soll sich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren: Durch Projektunterricht, Lernen mit allen Sinnen, Behandlung der Gewaltproblematik im Lernstoff, alternative Lernorte und Lernwerkstatt. Innerhalb der Erziehung fordert Hensel die Festlegung von Regeln und deren Beachtung. Der Umgang mit Konflikten soll durch spezielle Übungen sowie zusätzliche Betreuung der SchülerInnen durch SozialpädagogInnen verbessert werden. Kommunkation soll durch Mediation im Konfliktfall, Klassengespäche zur Veränderung und Verbesserung der Schule und Eltenmitwirkung verändert werden. Zu dem Bereich Lebensraum und Wohnlichkeit schlägt Hensel Maßnahmen wie Eigenrenovierung durch Teams aus SchülerInnnen, Eltern und LehrerInnen vor. Bei der gesamten Gestaltung von Schulhaus und Schulhof sollen die SchülerInnen mitentscheiden und Verantwortung für den Erhalt ihrer selbst gestalteten Schulumwelt übernehmen. (2)Lebendige Schule: Lebendige Schule setzt nach Hensel voraus, daß viele Projekte und Aktivitäten angeboten werden. Eine Schule wo "viel los ist "soll dazu dienen, daß sich SchülerInnen mit "ihrer" Schule identifizieren. Highlights wie Feste und Feiern sowie Arbeitsgemeischaften mit Spezialthemen sollen die SchülerInnen thematisch an Gruppen binden und ihnen die Möglichkeit geben, ihr Selbstwertgefühl über diese Projekte auzubauen (Beispiele: Video Gruppe, Schulband, Graffitigruppe, Fitness- Studio, Theatergruppen). (3.) Die erweiterte Schulee: Über den Unterricht hinaus sollen Erfahrungsräume angeboten werden, die im Kontext mit der Nachbarschaft der jeweiligen Schule stehen. Die Umgebungskultur kann z.B. durch Spaziergänge und Besuch von Institutionen einbezogen werden. "Fürsorge" für die SchülerInnen soll durch familienergänzende Angebote wie gemeinsames Frühstück geleistet werden. Durch Einrichtung spezieller "Schulstationen" können SchülerInnen einen Raum erhalten, wohin sie sich in Konfliktsituationen und bei Überlastung zurückziehen können. Durch Nachmittags- und Übergangsangebote soll der "Lebensraum Schule" über die eigentliche Zeit hinaus geöffnet sein. 51 (4) Die integrative Schule: Nach Hensels Konzept sollen möglichst alle SchülerInnen aus einem Wohnumfeld in einer Schule unterrichtet werden, damit sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede lernen und erfahren können. Als Voraus-setzung muß eine integrative Schule sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen von Jungen und Mädchen orientieren können. Schule muß daher die Integration von Minderheiten ermöglichen und förderpädagogische, integrative Maßnahmen für SchülerInnen mit Mißerfolgen und Benachteiligungen anbieten können etc.(vgl zum Ganzen Hensel 1997, S. 41 ff). Eine Evaluation des Konzepts Lebenswelt Schule ist bislang noch nicht erfolgt, so daß hier lediglich Hensels eigene Erfahrungen mit der Umsetzung angedeutet werden können: Insbesondere innovationsfreudige PraktikerInnen schienen sich danach mit der Umsetzung "lebensweltlicher Bausteinen" in der Schule anzufreunden. Nach Angaben Hensels trage die Umsetzung des Projekts zu einer deutlichen Verbesserung der Schulkultur bei, Gewaltverhalten werde in Einzelfällen als signifikant reduziert betrachtet (vgl.Hensel, 1997, S. 45). 5.3.2 Einordnung Das Konzept von Hensel ist, bezogen auf den Umgang mit Gewalt in der Schule primärpräventiv, setzt also im Vorfeld von Gewalt an. Dahingehend erweist sich der Ansatz als wenig spezifisch. Konkrete Maßnahmen sind nicht ableitbar. Es handelt sich um ein ganzheitliches Konzept, daß auf allen drei Ebenen (individualbiographischer, interaktioneller und sozialökologischem Kontext von Schule) ansetzt. Insbesondere die Wechselwirkung von individuell gestalteter Schulumwelt und deren Auswirkung auf Kommunikation, Identifikation mit Schule und Entwicklung von Persönlichkeit wird deutlich. Neben dem reformpädago-gischen Bezug kann aus dem Konzepts Hensels auch eine sozialökologische Fundierung abgeleitet werden. Der sozialökologische Ansatz problematisiert schulische Lern- und Erziehungsumwelt als gewaltfördernden Zusammenhang. Hensel fordert eine auf die Bedürfnisse von SchülerInnen abgestimmte Lernumwelt und ein entsprechendes Schulklima. Im übrigen korrespondiert das Konzept Lebenswelt Schule mit neuen reformorientierten Ansätzen von Schulentwicklung und appelliert an die Selbst-gestaltungs-und Einzelverantwortung von Schule. Deutliche Parallelen bestehen beispielsweise zur Leitidee " Haus des Lernens" der Bildungskommission NRW (vgl. dieselbe 1995, S. 86 mit weiteren Ausführungen). Die Umsetzung des Konszepts ist mit erheblichen Umstrukturierungsmaßnahmen und materiellem Aufwand verbunden. Außerdem sind hochmotivierte Lehrkräfte erforderlich, die bereit sind, diese Umstrukturierungen auch gegen den Widerstand reformpessimistischer KollegInnen umzusetzen. Dennoch kann bereits die schritt-weise Etablierung einzelner "Bausteine" des Konzepts mit einem gewaltpräventiven Effekt bei SchülerInnen verbunden 52 sein.Insgesamt hat Hensels Konzept den Charakter eines offenen Programms, konkrete Lösungen werden nicht angeboten, lassen sich aber "in praxi "ausprobieren. 5.4 Soziales Lernen nach Lerchenmüller Eine weiterer Ansatz im Kontext präventiven Umgangs mit Gewalt stellt das Projekt von Lerchenmüller dar. Da dieses Beispiel theoretisch sehr ausgiebig begründet ist, werde ich den theoretischen Hintergrund der Maßnahme ausführlicher darstellen. 5.4.1 Kurzdarstellung des Projekts/Projektgeschichte Das Konzept Lerchenmüllers entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.(KFN). Lerchenmüller (1982) befaßte sich mit dem Thema" Soziales Lernen in der Schule unter kriminalpräventiver Zielsetzung". Ursprüngliche Zielgruppe des Programms sind Jugendliche des achten Schuljahres. Das Projekt wurde 1981/1982 in fünf Hauptschul- und zwei Realschulklassen in Hildesheim eingesetzt und begleitend evaluiert. Um die Ergebnisse kontrollieren zu können, wurden neben den Trainingsklassen auch die achten Klassen einer weiteren Hildesheimer Haupt- und Realschule als Kontrollgruppe untersucht. Das Programm umfaßt zwei Programmteile: Eine projektbegleitende LehrerInnen-beratung und ein SchülerInnentraining. 5.4.2 Theoretischer Hintergrund: Schule stellt für Lerchenmüller die nach der Famile wichtigste Sozialisationsinstanz dar. Neben der Vermittlung intellektueller und kognitiver Lernprozesse weist sie Schule die Aufgabe der Vermittlung sozialer Handlungskompetenz zu, die sie wiederum als Grundlage angemessener Problem- und Konfliktlösungen bewertet (vgl. Lerchenmüller 1986, S. 13). Als theoretischer Bezugsrahmen werden die interaktionistische Theorie des sozialen Lernens bzw. sozialisationstheoretische Aspekte angeführt (vgl. dazu unter 4.3.2 und 4.3.2.3). Schlüsselbegriffe wie Ich-Identität und Handlungskompetenz werden benannt: "Ziel der Sozialisation bzw. sozialen Lernens im Sinne der interaktionistischen Theorie ist die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, die Gewinnung von Ich- Identität9 oder Identitätsbalance in sozialen Situation durch 9Anmerkung zur Ich-Identität: Rollendistanz umfaßt nach Krappmann (1978) die Fähigkeit, verinnerlichte Rollennormen in Frage zu stellen und unter Berücksichtigung der aktuellen Situation sinnvoll interpretieren zu können. Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, in einer Interaktionssituation sich widersprechende Erwartungen aushalten zu können und sich dennoch an der Interaktion zu beteiligen. Empathie meint die Einfühlung in die Person des jeweiligen Interaktionspartners wie auch die intellektuelle Erfassung seiner Situation, Probleme, Normen und Ansichten unter Einbeziehung seiner möglichen Reaktionen in die eigene Vorgehensweise (Antizipation). Kommunikative Kompetenz ist abhängig von Sprachkompetenz und bezeichntet die Fähigkeit, die eigene Identität, das persönliche Erleben im Medium einer allgemeinen Sprache darzustellen. Die einzelnen Qualifikationen der Ich- 53 kompetentes Interagieren. Ich- Identität wird hier verstanden als Prozeß des Zusammenspiels von personaler und sozialer Identität" (Lerchenmüller 1986, S.13 unter Verweis auf Goffman 1967, Krappmann 1978 und Erikson 1981). Dieses "kompetente Interagieren", vor allem in Problem- und Konfliktsituationen, ist nach Lerchenmüller zentrales Ziel sozialen Lernens (vgl. dieselbe 1982, S. 105). Soziale Handlungskompetenz beinhaltet als Oberbegriff -unter Bezugnahme auf die angeführten theoretischen Befunde- folgenden Entwicklungs- bzw. Lernzielkatalog: - Moralische Urteilsfähigkeit, Normbewußtsein Empathie, Fähigkeit zum Perspektivwechsel Integrations- und Beziehungsfähigkeit Ich- Stärke und Ich-Darstellung - Positive und realistische Selbsteinschätzung/Selbstsicherheit Konstruktive versus aggressive Konfliktlösung Fähigkeit zur Situations- bzw. Problemanalyse Kritische Urteilsfähigkeit (gegenüber dem eigenen Freizeitverhalten, Einfluß von Medien etc.) Antizipationsfähigkeit von Handlungskonsequenzen Adäquate Risikoeinschätzung und Kenntnis der Folgen delinquenter Handlungen (vgl. Lerchenmüller 1986, S. 70) Auf der Ebene des Lernklimas werden durch das soziale Training die Verbesserung von LehrerIn-SchülerInbeziehung, des Klassenklimas sowie der Abbau von Außenseitertum und Stigmatisierung erwartet (vgl. ebd.). Die benannten Ziele sozialen Lernens (Förderung von Handlungskompetenz sowie Verbesserung des Lernklimas) stellen gleichzeitig Trainingsziele im Rahmen des von Lerchenmüller entworfenen Konzepts dar. 5.4.3 Pädagogische Umsetzung und didaktisches Konzept Für die didaktische Umsetzung des sozialen Trainings ist Lerchenmüllers Auffassung folgend ein veränderter Unterrichtsstil erforderlich. Sie führt aus, daß sich soziales Lernen in Interaktionen vollziehe und nur dann effektiv sei, wenn sich die Interaktionspartner in annähernd gleichberechtigten Positionen befänden. Frontalunterricht sei daher als "Antimethode" des sozialen Lernens abzulehnen (vgl. dieselbe 1986, S. 64). Methoden des Trainings sind daher Kreisgespräch, Rollenspiel, Gruppenarbeit, Gruppen- und Partnerspiele, wobei ein schülerInnenzentrierter, partnerschaftlicher Unterrichtstil vorausgesetzt wird (vgl. dieselbe, 1986, S. 115). Unbedingt beachten sollten die LehrerInnen folgende Verhaltenvariablen: Zulassen von Spontanäußerungen, Ernstnehmen und Akzeptieren jeder SchülerIn, Verzicht auf eigene inhaltliche Beiträge und Bewertungen, Ermutigung zurückhaltender SchülerInnen, Identitä sind einerseits Vorauussetzung für, andererseits auch Folge der Entwicklung von Ichidentität(vgl. dazu Lerchenmüller 1986, S. 14f sowie Krappmann 1978). 54 Anleitung zu einer Ergebniszusammenfassung und gemeinsamen Bewertung am Ende jeder Trainingsstunde etc. (vgl. a.a.O.,S. 116). Das SchülerInnentraining enthält 26 Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe 1, die insgesamt 40 Schulstunden umfassen.Da sich das Lernprogramm nicht auf eine bestimmtes Unterrichtsfach bezieht, können die Unterrichtsbausteine in den Fächern Deutsch, Sozialkunde, Religion oder als Spielstunden etc. eingesetzt werden. In der Regel soll zweimal wöchentlich eine Unterrichtseinheit stattfinden. Die Unterrichtseinheiten gliedern sich in sechs Themenbereiche(Sequenzen), zu denen einzelne Stundenentwürfe konzipiert sind, die als flexible Bausteine didaktisch variabel gehandhabt werden können (vgl. Lechmüller, 1982, S. 127 ff): - Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Minderheiten und Randgruppen Klischees, Leitbilder und Vorbilder und die Wirkung der Massenmedien Selbstbestimmung und Konflikte mit der Erwachsenenwelt Konflikte in der Gleichtaltrigengruppe Normenkonflikte Folgen einer Straftat Zu jedem Unterrichtsbaustein wurde eine Stundenkonzeption erarbeitet, die kurze Konflikt- und Problemdarstellungen, aber keine Lösungen enthält. Hinweise zu Arbeitsaufträgen, Medieneinsatz, Lernzielen und Problemvertiefung sind als Hilfestellung/ Angebot in den jeweiligen Unterrichtsmaterialien enthalten. Nach jeder Sequenz sollen sogenannte "Meckerstunden" (offene Gesprächstunden) eingesetzt werden, was auf die Verbesserung der klasseninternen Interaktion abzielt (vgl. Lechmüller, 1986, S.124). Das SchülerInnentraining wird von KlassenlehrerInnen durchgeführt. Diese werden von einem speziell geschulten Beratungslehrer beraten und begleitet. Die Beratung umfaßt neben Einführung in das SchülerInnentraining die Vor- und Nachbereitung der Trainingsstunden sowie Feeedback und Erarbeitung von Handlungsalternativen (vgl. dieselbe, 1986, S. 126). Außerdem sollen Gruppensitzungen mit anderen am Programm beteiligten LehrerInnen dem Erfahrungsaustausch dienen. 5.4.4 Evaluation Das Projekt wurde sowohl qualitativ als auch quantitativ nach einem multi-methodialen Konzept ausgewertet. Vor Beginn und nach Abschluß des Trainingsprogramms wurde in den Klassen der Projekt- und Kontrollgruppe eine Unterrichtsbeobachtung und eine schriftliche Befragung durchgeführt. Außerdem wurde in beiden Gruppen ein offener Fragebogen zur Problemlösungskompetenz der SchülerInnen eingesetzt. Ein halbes Jahr nach Trainingsende wurde die Problemlösungskompetenz erneut untersucht. Darüber hinaus wurden in der 55 Projektgruppe parallel zum Training Stundenprotokolle und Stundenbewertungsprotokolle angefertigt. Zusätzlich wurden am Ende des Programms die Erfahrungen aller TeilnehmerInnen durch Interviews, Aufsätze und Gruppengespräche erfaßt. Folgende Ergebnisse lassen sich zusammenfassen: Die SchülerInnen bewerten den Projektunterricht im Vergleich zum sonstigen Unterricht als positiver, schätzen das Lernklima entspannter ein und fühlen sich nicht unter Leistungsdruck, zumal es keine Noten gab. Soziales Lernen als Methode wird von den SchülerInnen positiv bewertet. Die Auswertung der Beobachtung ergibt aber auch, daß sie mit der veränderten eigenverantwortlichen, Selbständigkeit erfordernden Lernsituation nur schwer umgehen können. Besonders in der Hauptschule hat das SchülerInnentraining nach Einschätzung der Betroffenen in Bezug auf Klassenklima, Zusammenhalt als Lerngruppe und kommunikativer Kompetenz positive Effekte erzielt. Positive Unterschied konnten bei den Trainingsgruppen im Verhältnis zu den Kontrollgruppen auch bezüglich der Problemlösungskompetenz festgestellt werden. Außerdem zeigten die trainierten SchülerInnen deutlich weniger störende und aggressive Verhaltenweisen (vgl. zum Ganzen Lerchenmüller, 1982, S. 141 ff). 5.4.5 Einordnung: Lerchenmüller problematisiert abweichendes Verhalten und damit auch das Auftreten aggressiven Verhaltens in der Schule auf der Ebene von Interaktion und Lernklima. Außerdem wird innerhalb des sozialen Trainings die individual-biographische Ebene berührt, indem SchülerInnen Gelegenheit zur Entwicklung von Ich-Identität in der unterrichtlichen Auseinandersetzung erhalten. Das Lernprogramm bezieht sich nicht spezifisch auf die Gewalttätigkeit von SchülerInnen, sondern zielt auf die Prävention kriminellen und abweichenden Verhaltens generell ab. Laut Lerchenmüller handelt es sich dabei explizit um einen primärpräventiven Ansatz. Bezugsgruppe des Programms sind daher SchülerInnengruppen, bei denen noch kein abweichendes Verhalten manifest geworden ist. Sie begründet den primärpräventiven Charakter ihres Konzepts: "Wir sind der Überzeugung, daß die bereits aufgrund abweichender Verhaltensweisen bzw. der Zuschreibung normwidrigen Verhaltens aus der Gesamtgruppe der Schüler selektierten Personen durch Stigmatisierungseffekte so stark in die Abweichung gedrängt sein können, daß ein soziales Erziehungsprogramm nur noch wenig Erfolgsaussichten hat. Hinzu kommt, daß die aus den Klassen ausgegliederten Personen zumeist eine spezifisch, am Symptom orientierte Behandlung erfahren, die vielfach zu kurz greift. Die Ausgliederung aus der Normalgruppe, der Klasse und der Einführung in einen therapeutischen Prozeß voran geht die Klassifizierung als auffällig, störend, deviant oder delinquent. Diese Klassifikation beschränkt sich jedoch meistens nicht auf das gezeigte Verhalten sondern betrifft die Gesamtperson(...)" (Lerchenmüller, 1982, S. 96, siehe dazu auch Ausführungen unter 4.3.2.3) 56 Lerchenmüller argumentiert hier insbesondere aus interaktionstheoretischer Sicht mit dem Hinweis auf den "Labeling- approach" Ansatz: "(...)Um diese Negativeffekte zu vermeiden, haben wir unser Präventionsprogramm weder als therapeutische Intervention noch als kriminalpräventives Konzept implementiert, sondern als soziales Lernprogramm, das die Inhalte der obligatorischen Lehrpläne aufgreift und methodisch didaktisch zu einem systematischen Programm aufbereitet." (Lerchenmüller, 1982, S. 96/97) Hervorzuheben ist die breite theoretische Fundierung des Ansatzes, aus dem schließlich die Trainingsziele des Konzepts abgeleitet werden sowie der sorgfältige empirische Nachweis der Effektivität des sozialen Trainings. Konzeption, Empirie und Evaluation werden dabei strikt getrennt. Die praktische Umsetzung des Programms stellt jedoch erhöhte Anforderungen an die pädagogische Kompetenz von LehrerInnen, die offensichtlich gesondert trainiert werden muß: "Um verstärkt soziales Lernen in den Unterricht integrieren zu können, erscheinen Lehrertrainingsprogramme erforderlich(...)" (Lerchenmüller, 1986, S. 27). Andererseits läßt sich das Konzept ohne größeren schulorganisatorischen Aufwand in den Lehrplan einer Klasse der Sekundarstufe I integrieren, wobei auch eine individuelle Anpassung des Trainingsprogramms auf die jeweilige Zielgruppe erforderlich ist. 5.5 Trainingsprogramm/ Fortbildung für LehrerInnen: Das Konstanzer Trainingsmodell Das Konstanzer Trainingsmodell (im Folgenden abgekürzt KTM) ist ein Selbsthilfeprogramm zum besseren Umgang mit konflikthaltigen Situationen für alle Lehrkräfte, unabhängig von Schulart und Schulstufe (vgl. Humpert, 1993, S. 129). Aggressive Interaktionen werden als eine Form konfliktträchtiger Situationen in der Schule bewertet. Zielgruppe waren ursprünglich HauptschullehrerInnen, dennoch ist das Programm nach Angabe der Autoren durch Modifikationen auch in Grund- und Sonderschulen sowie in der Jugendarbeit anwendbar. Nach Angaben Danns (1997) wurde das Modell nach entsprechender Adaption bereits in der Praxissupervision von PflegeschülerInnen in Krankenhäusern und bei der Fortbildung von Stationsleitungskräften eingesetzt, insofern ist die Zielgruppe nicht eng auf Lehrkräfte einer Schulstufe beschränkt. Grundlage des Trainings ist ein Trainingshandbuch für LehrerInnen, das auf der Analyse von Ergebnissen einer empirischen Untersuchung, die von 1978-1987 an badenwürtembergischen Schulen durchgeführt wurde, aufbaut (vgl. Tennstädt/Krause/Humpert/Dann 1990). Seit 1987 wird das KTM als Fortbildungsangebot für die Hauptschulen in der regionalen Lehrerfortbildung in Baden Württenberg angeboten. KTM- Lehrgänge werden in Zusammenhang mit schulinterner LehrerInnenfortbildung durchgeführt. Abgestellt wird auf eine Verbesserung im Sozialverhalten von SchülerInnen und LehrerInnen, die über eine Erweiterung der pädagogischen Kompetenz der Lehrkräfte im Umgang mit 57 Konflikten erreicht werden soll. Dies soll eine Erweiterung des methodischen Handlungsrepertoires von LehrerInnen bewirken. Weitere Ziele: Störungen und Aggressionen in der Klasse sollen zugunsten kooperativer und konstruktiver Umgangsformen abgebaut werden. Zwischenmenschliche Belastungen sollen vermindert und schulisches Wohlbefinden von LehrerInnen und SchülerInnen gesteigert werden (vgl. Dann 1997, S. 359). 5.5.1 Theoretischer Hintergrund Dem KTM liegt eine übergreifende Auffassung von Konflikten in der Schule zugrunde, die Aggression aus verschiedenen Perspektiven problematisiert. LehrerInnen sollen ihre eigene Wahrnehmung von Aggression, Ursachen-zuschreibungen und Handlungsmöglichkeiten lernen zu überprüfen, bevor sie handeln (vgl. Humpert, 1993, S. 132 ff). Dabei bezieht sich das KTM nicht auf eine spezielle Theorierichtung sondern orientiert sich an einem "integrativen Selbsthilfeansatz", d. h. es werden Anregungen unterschiedlicher Theorieansätze wie Lerntheorie, Kommunikationstheorie sowie Ansätze von Verhaltensmodifikation in die Konzeption miteinbezogen (vgl. Humpert, 1993, S.142 f). Außerdem soll an subjektiven Wissensbestände der LehrerInnen aus der Praxis angeknüpft werden, und zwar nicht nur an bewußten Überlegungen sondern auch an Gefühlen, pädagogischen Grundhaltungen und Routinen. Diese sollen wiederum innerhalb des Trainings systematisch überprüft und mit neuen Anregungen positiv weiterentwickelt werden. 5.5.2 Umsetzung des Programms Rahmenbedingung ist für die Umsetzung des KTM zunächst die Zustimmung der Schulleitung sowie die Abstimmung im Kollegium. Die Dauer des Programms kann je nach Ausgangssituation von zwei Wochen bis zu einem Schuljahr variieren. Außerdem werden regionale KTM- Arbeitsgruppen für sinnvoll erachtet. Das Training erfolgt vor Ort, an der eigenen Schule mit der eigenen Klasse. Daher kann KTM auch im Kontext mit schulinterner LehrerInnenfortbildung (SCHILF) gesehen werden (vgl. Dann, 1997, S. 359). Grundlage des Trainings ist ein separates Trainingshandbuch, das neben einzelnen Trainingsschritten verschiedene SchülerInnenfragebögen und eine Spielesammlung enthält (vgl. dazu Tennstädt/ Krause/ Humpert/ Dann 1990). Zur Unterrichtsbeobachtung wird ein speziell konzipiertes Beobachtungssystem (BAVIS)10 eingesetzt, außerdem werden während des Trainingsprozesses Fragebögen an die SchülerInnen verteilt und ausgewertet (vgl. Humpert und Dann, 1988). Die Trainingselemente sind an folgendem handlungstheoretischen Modell orientiert: 10BAVIS= Schulalltag Beobachtungssystem Bavis: Beobachtungsverfahren zur Analyse aggressiver Interaktionen im 58 - Situationserfassung - Handlungsentwurf Ausführung der Handlung Erfolgskontrolle (Handlungsergebnisauffassung) (vgl. Humpert, 1993, S. 147) Diesen Phasen werden zehn Trainingselemente zugeordnet: (1) (2) (3) (4) (5) Erkennen der Störung oder Aggression Erklärung Unterscheidung von Störungs- oder Aggressionsarten Formulierung von Zielen Zuordnung von Störungs- und Aggressionsarten zu Zielen (6) Maßnahmen (7) Sofortige Reaktion (8) Entscheidungsstrategien- Entscheidungstraining (9) Konkrete Ausführung einer Handlung (10) Einschätzung des Handlungserfolges (vgl. Tennstädt et. al. 1990) Grob verkürzt läßt sich das Training wie folgt skizzieren: In 1-3 tägigen Veranstaltungen werden die TrainingsteilnehmerInnen in dem Umgang mit dem Trainingshandbuch eingeführt. Sie werden dabei auf den individualisierten Umgang mit dem Handbuch vorbereitet. Dann werden Trainings-tandems gebildet, die sich wechselseitig im Unterricht besuchen. Aus dem Unterricht werden konflikthafte Elemente isoliert, analysiert und dazu praktische Übungen durchgeführt. Handlungsalternativen werden entworfen und im Rollenspiel inklusive ihrer Alternativen eingeübt. Schließlich werden sie im Unterricht bei gleichzeitiger Beobachtung erprobt und im Anschluß daran zusammen mit der TrainingspartnerIn bewertet. Diese Schritte werden an anderen Beispielen mehrfach wiederholt. Im Abstand von 6-8 Wochen treffen sich die Trainierenden zum Austausch mit anderen Tandems unter der Anleitung einer KTM- erfahrenen GruppenleiterIn, um sich auszutauschen. Dabei erfolgen weitere gemeinsame Trainingsübungen (vgl. dazu Humpert, 1993, S.144). 5.5.3 Evaluation Zu der Wirkung des KTM Programms finden sich in der Literatur ausführliche empirische Evaluationsstudien: Die erste Untersuchung (vgl. Tennstädt 1987) umfaßte mehrwöchige Fallstudien, bei denen ein Mitarbeiter der Forschungsgruppe die Rolle eines Tandempartners übernahm. Parallel dazu wurden LehrerInnen und SchülerInnen mit unterschied-lichen Fragebögen befragt. Die zweite Untersuchung vergleicht die Angaben, die Trainingstandems vor Beginn ihrer Arbeit und am 59 Ende ihrer Arbeit mit KTM machten (vgl.Tennstädt und Dann 1987). Aus Sicht der LehrerInnen lassen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse nennen: - - Nach der Ausbildung in KTM sehen sich die LehrerInnen eher befähigt, mit aggressiven oder störenden SchülerInnen adäquat umzugehen. Sie geben an, mehr Zutrauen in die eigene Bewältigungskompetenz zu haben. Integrative Maßnahmen werden im Trainingsverlauf zunehmend für sinnvoller erachtet und werden daher vermehrt eingesetzt. Strafende oder neutrale Maßnahmen nehmen ab. Aus Sicht der LehrerInnen hat sich nach der Arbeit mit dem KTM das Klassenklima verbessert. 5.5.4 Einordnung Das KTM kann auf eine ausführliche Evaluation zurückblicken und scheint sich in einigen Bereichen als Konzept etabliert zu haben. Bei der Realisierung tauchen aus meiner Sicht jedoch Probleme auf: Das Programm ist auf unterstützende Rahmenbedingungen in der Schule angewiesen, die Zusammenarbeit mit anderen Lehrern und Schulleitung ist empfohlen. Von Vorteil ist die Umsetzung des KTM als schulinterne Fortbildung (SCHILF). Da das Training sehr umfangreich ist, ist eine hohe Motivation erforderlich, Bereitschaft zur Mitarbeit und kritischer Auseinandersetzung sind Bedingung für die Umsetzung des Programms. Die Arbeit in Tandems erfordert neben gegenseitiger Sympathie auch einen erhöhten organisatorischen Aufwand. Ziel der Maßnahme ist die Erweiterung des Handlungsrepertoires von LehrerInnen, praxisbezogen und berufsbegleitend. Konzeptionell einseitig wird bei einer Veränderung des Interaktionsverhaltens von LehrerInnen angesetzt, was sich erst indirekt bei den SchülerInnen bemerkbar macht. SchülerInnen erscheinen in der Darstellung des Konzepts eher als Handlungsobjekt. Dennoch kann das KTM als Maßnahme, die insbesondere auf der interaktionellen Ebene ansetzt, eingeordnet werden. Dabei werden sowohl präventive als auch interventive Ziele verfolgt: Störungen und Aggressionen sollen abgebaut werden, andererseits sollen kooperative und konstruktive Umgangsformen sowie schulisches Wohlbefinden erreicht werden, was wiederum der Prävention von Störungen und Aggression dient. In diesem Zusammenhang trifft Humpert folgende Einschätzung, die gleichzeitig auch als Aussage über die Reichweite der Maßnahme gewertet werden kann: "Die Reduktion der Aggression innerhalb und außerhalb der Schule ist jedoch nicht nur mit einem Trainingsprogramm zu erreichen. Solange in der Erwachsenenwelt die Gewalt eine so große Rolle spielt, ist nicht zu erwarten, daß unsere Kinder einfach darauf verzichten. Grundsätzliche Fragen der Normen und Werte und der Sinngebung in unserer Kultur stellen sich immer mehr in letzter Zeit: Aber darauf gibt KTM keine Antwort."(Humpert, 1993, S. 153) 60 5.6 Zusammenfassender Überblick ad 5 Insgesamt lassen sich aus den dargestellten Konzepten keine Patentrezepte und allgemeingültigen Regeln für den Umgang mit Gewalt in der Schule ableiten. Vorwiegend problematisieren sie die unterrichtlichen Interaktion, die Qualität der SchülerInLehrerInbeziehung, die Gestaltung von Unterricht bezogen auf soziales Lernen sowie Persönlichkeitsenwicklung und Entwicklung von Ichstärke als wichtige Progammziele. Der sozialökologsiche Kontext von Schule (Schulklima und Schulraumgestaltung) wird insbesondere durch die Ansätze von Olweus und Hensel angesprochen. Hensels Konstrukt zielt dabei auf eine "kleine Schulreform" ab, die Primärprävention von Gewalt und Aggression als Nebeneffekt hat. Olweus bezieht sich gezielt auf Pausen- und Schulhofumgestaltung. Mit Ausnahme des Programms von Olweus wird vorrangig auf Primärprävention von Gewalt und Aggression in der Schule abgestellt. Olweus benennt als Interventionen insbesondere intensive Gespräche mit TäterInnen, Opfern und Eltern Klassenverweis oder Schulverweis sowie die Anwendung nichtfeindlicher, nichtkörperlicher Strafen bei Grenzüberschreitungen und Regelverletzungen. Diese sind aber nicht so konkretisiert, daß sich daraus- für einen Akutfall in der Alltagspraxis- unmittelbar Handlungsorientierungen ergeben können. Im Hinblick auf die Entwicklung ihrer Grundaussagen weisen die dargestellen Konzepte ein sehr unterschiedliches Vorgehen auf. Eher deduktiv gehen Lerchenmüller und Olweus vor: Lerchenmüller leitet die Lernziele ihres Konzepts aus der intensiven Auseinandersetzung mit der sozialen Lerntheorie ab. Olweus entwirft unter Einbeziehung lerntheoretischer Erkenntnisse ein theoretisches Modell von "bullying", durch das er Gewalt in der Schule konkretisiert. Außerdem leitet er aus empirischen Beobachtungen eine Täter- Opfer- Typologie her, die eine wichtige theoretische Grundlage für sein Interventionsmodell darstellt. Beide Modelle stellen in sich geschlossene Programme dar, wobei bei Lerchenmüller die Unterrichts-inhalte vorgeschrieben sind. Das Konstanzer Trainingsmodell stellt einen integrierten Theorie-Praxisansatz vor, AnwenderIn und Modell stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis bzw. das Programm ist in seiner Umsetzung von den Bedürfnissen und dem Vorwissen der AnwenderIn abhängig. Walker orientiert sich hingegen sehr eng an eigenen Praxiserfahrungen und leitet daraus (induktiv) ihre Präventionsprinzipien ab. Hensel bietet ein offenes, an Reformpädagogik und Lebensweltkonzept orientieren Programm an, das sich in der Praxis nicht vollständig umzusetzen läßt und im übrigen im Hinblick auf die alltagspraktische Umsetzung noch zu konkretisieren wäre. Während Olweus in seiner Konzeption von einer "autoritativen Eltern-Kind Interaktion" ausgeht, also die Überlegenheit von Erwachsenen als ExpertInnen annimmt, stellt Hensel insbesondere 61 die Perspektive von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt. Er geht im Verhältnis zu den anderen Ansätzen von einer konträren, subjektorientierten Perspektive aus. Walker, Humpert und Lerchen-müller konzentrieren sich in ihren Konzeption vorrangig auf die Kompetenzerweiterungen bei den Lehrkräften. Kinder und Jugendlichen sollen durch die fort- und weiterbildungsbedingte "Horizonterweiterung" ihrer Lehrkräfte im Unterricht soziales Lernen vermittelt bekommen. Diese Ansätze machen Kinder und Jugendliche eher zu Handlungsobjekten, denen Autonomie abgesprochen wird. Hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Ansätze läßt sich feststellen, daß die Programme von Olweus und Hensel eher aufwendig bzw. nur teilweise umzusetzen sind. Da beide auf der Ebene Schulentwicklung und Schulgestaltung ansetzen, können Schulen diese besser nur als organisatorische Einheit realisieren. Der Vorteil beider Programme im Verhältnis zu den anderen drei Ansätzen liegt in ihrer umfassenden Reichweite, da mehrere Ebenen (Individuum, Interaktion und Schulumwelt) von Veränderungen tangiert sind. Humperts, Lerchenmüllers und Walkers Konzeptionen lassen sich auch als klassenbezogene "Einzelaktionen" realisieren. Sie sind in der Umsetzung weniger aufwendig, da sie sich insbesondere auf die Verbesserung der Interaktionsbeziehungen und persönlichkeitsfördernde Maßnahmen innerhalb des Klassenverbandes erstrecken. 5.6.1 Exkurs: Persönlichkeitsförderung nach Burow et al. Als Ergänzung zu den bislang dargestellen Konzepten soll der nun folgende Ansatz verstanden werden: Unter dem Titel "Fit und stark fürs Leben" befassen sich Burow, Aßhauer und Hanewinkel (1998) mit Persönlichkeitsförderung zur Prävention von Aggression, Rauchen und Sucht. Das Unterrichtsprogramm für die Klassenstufe 1-8 , eigentlich zur Suchtprotektion entworfen, zielt auf die Vermittlung sozialer Kompetenzen, Selbstwertgefühl, Umgang mit negativen Emotionen, Problemlösefertigkeiten etc. ab. Damit sind Bereiche, die auch im Zusammenhang mit einem konstruktiven Umgang mit schulischer Gewalt und Aggression stehen, angesprochen. Das Konzept baut auf dem Life-Skills-Ansatz (life skills approach) auf: "Es wird vielmehr angestrebt, effektive Fähigkeiten zur Bewältigung schwieriger Situationen und Belastungen im sozialen und persönlichen Bereich aufzubauen "(dieselben, 1998,S. 7). Nach der WHO sind "life skills" (Lebenskompetenzen) diejenigen Fähigkeiten, "(...)die einen angemessenen Umgang sowohl mit unseren Mitmenschen als auch mit Problemen und Streßsituationen im alltäglichen Leben ermöglichen. Solche Fähigkeiten sind bedeutsam für die Stärkung der psychosozialen Kompetenz" (WHO 1994, S. 1) Als Basisbereiche werden benannt: - Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen Umgang mit Streß und negativen Emotionen 62 - Kommunikation - Kritisches kreatives Denken Problemlösen Information und Wissen(vgl. Burow et al. 1998, S. 9) Auf der Ebene der Selbstwahrnehmung und des Einfühlungsvermögens geht es darum, ein möglichst differenziertes und reflektiertes Bild von der eigenen Person zu bekommen. Lernziel ist dabei, die Einzigartigkeit einer jeden Person zu erkennen. Durch Führung eines "Ich-Buches" können Kinder bezüglich ihrer persönlichen Eigenschaften (Größe, Gewicht, Augenfarbe), ihrer Vorlieben und Schwächen zum Nachdenken angeregt werden. Dadurch lernen sie, über ihre eigenen Person zu reflektieren. Durch die Arbeit mit dem Ich-Buch in Kleingruppen wird auch der gegenseitige persönliche Austausch angeregt (vgl. dieselben, 1998, S.9). Der Umgang mit Streß und Frustrationen soll durch das Kennenlernen von Streß-modellen, Erproben und Bewerten neuer Bewältigungsstrategien und Erlernen einer Entspannungstechnik trainiert werden. Dabei werden Atemübungen und Fantasie-reisen eingesetzt (vgl. dieselben, a.a.O, S.12). Zur Förderung der Kommunikation werden im Unterricht verbale und nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten geschult. Die Kinder sollen möglichst ein vielfältiges Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten einüben. Im Rollenspiel können diese erprobt und ausdifferenziert werden. Außerdem sollen die Kinder lernen, sich (empathisch) in die Situation ihrer InteraktionspartnerInnen zu versetzen. Kreatives und kritisches Denken ist eine wichtige Voraussetzung für Problemlösen und muß ebenfalls im Unterricht trainiert werden. Zum Problemlösen gehört auch Streßmanagement und Umgang mit Mißerfolgen und mit Entscheidungsalternativen. Für impulsive Kinder wird auf ein Selbstinstruktionstraining zurückgegriffen, das folgende Schritte beinhaltet, die im Unterricht gelernt werden können: - Kontrolle des verbalen und nonverbalen Ausdrucks Unterdrückung von impulsiven Reaktionen Aufmerksamkeitskontrolle gegenüber relevanten Inhalten Erinnerung an die eigentliche Aufgabenstellung Umgang mit Mißerfolg (vgl. dieselben, 1998, S. 14). Durch dieses "Innehalten" kann unter anderem auch ein (auto)aggressiver Impulsdurchbruch vermieden werden. Auf dem dargestellten Selbstinstruktionstraining baut schließlich das Problemlösen auf, dabei sollen folgende Ziele erreicht werden: 63 - Alternativlösungen finden - Handlungskonsequenzen erkennen Denken in Wenn- Dann Beziehungen/ Welche Lösungen führen zu welchen Folgen? (vgl. dieselben 1998, S. 14) Im Kontext mit Gewaltprävention könnte bezogen auf das Problemlösen diskutiert werden, ob der Einsatz von Gewalt eine akzeptable Lösung darstellt und ob es Alternativen dazu gibt. Innerhalb der Dimension Information und Wissen sollen die Kinder ein Körperbewußtsein aufbauen. Damit verbunden ist die Wahrnehmung und Bewußtwerdung eigener Grenzen, dies ist vorteilhaft für die Entwicklung einer personalen Identität Auf den dargestellten Grundsätzen der"life skills" aufbauend haben Burow et al. ein Unterrichtsprogramm entwickelt, das "zweckentfremdet" ebensogut für die Prävention von Aggression und Gewalt eingesetzt werden könnte. Im Zentrum steht der Aufbau von IchIdentität bzw. eines Selbstwertgefühls, was in den vorher benannten Modellen zum Teil ein wichtiges Präventionsprinzip gegen die Anwendung von Gewalt darstellt. Suchtprävention gleichzeitig mit der Gewaltprävention zu verknüpfen, erscheint sowohl machbar als auch naheliegend. Es geht jeweils um die Vermittlung von Wertvorstellungung und um das Aufzeigen und Entwickeln akzeptabler Alternativen- zu Drogen und zu Gewalt. Positiv erscheint mir die Verzahnung von Persönlichkeitstraining und darauf aufbauend die Entwicklung konstruktiver Konfliktlösungen und soziales Lernen zu trainieren. Dies kann die Auftretenswahrscheinlichkeit aggressiver Verhaltensweisen zumindest reduzieren (zum konkreten Unterrichtsprogramm vgl. dieselben 1998, S.26ff). 5.6.2 Exkurs: Praxisempfehlungen zum Verhalten in gewalttätigen Situationen Abgesehen von der konsequenten Sanktionierung von Regelverstößen und intensiven Gesprächen mit TäterIn und Opfer ließen sich bislang kaum allgemeine Prinzipien für den Umgang mit manifester Gewalt in der Schule ableiten. Walker (1995) macht für das Verhalten in gewalttätigen Situationen einige Vorschläge, wie man sich als LehrerIn oder SchülerIn in der Bedrohungssituation verhalten soll. Als Optionen bieten sich in der Bedrohungssituation grundsätzlich folgende Reaktionsmöglichkeiten an: Flucht, Nichtstun, Nachgeben, sich aggressiv verbal oder körperlich wehren, sich gewaltfrei wehren. Walker macht unter Verweis auf Gugel (1994) den Vorschlag, mit SchülerInnen folgenden Katalog gewaltfreier Reaktion im Unterricht zu behandeln und anhand von Rollenspielen zu üben: - Vorbereiten: Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor. Bleibe ruhig und vermeide Hektik und Panik. Gehe aus der Dir zugewiesenen Opferrolle. 64 - Halte Kontakt zum Gegner/Angreifer (Blickkontakt und Aufbau von Kommunikation). - Rede und höre zu. Drohe nicht und beleidige nicht Hole Dir Hilfe, sprich dabei direkt Personen an Tue das Unerwartete Vermeide möglichst Körperkontakt,dieser ist in der Regel eine Grenzüber-schreitung, die zu mehr Aggression führt (vgl. Walker , 1995, S. 162 unter Verweis auf Gugel, 1994). Das Training von alltagsorientierten, konkret umsetzbaren Strategien (Wie behaupte ich mich in bedrohlichen Konflikten?) kann für SchülerInnen und LehrerInnen eine sinnvolle Ergänzung im Rahmen von schulischer Gewaltprävention sein. Ein selbstbewußter Umgang mit aggressiver Bedrohung ist für SchülerInnen eine wichtige Kompetenz, die im Hinblick auf die Vermittlung von Strategien gegen Gewalt und Aggression nicht außer Acht gelassen werden darf. 6 Sozialpädagogische und rechtliche Präventions- und Interventionsmöglichkeiten Im folgenden Abschnitt sollen, als Ergänzung zu Kapitel 5 Perspektiven sozialpädagogischer und schulrechtlicher Sicht bezogen auf schulische Gewalt skizziert werden. 6.1 Schulsozialarbeit Nach § 13 I KJHG sollen jungen Menschen zum Ausgleich sozialer Benach-teiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern. Dennoch ist Sozialarbeit keine Regeleinrichtung in Schulen, sondern eher die Ausnahme bei Schulen in besonders sozial benachteiligten Brennpunktgebieten (vgl. Wulfers, 1997, S. 65). Auf den Diskurs um die Institutionalisierung von Schulsozialarbeit in Schulen einzugehen oder das dialektische Verhältnis von Schule und Sozialarbeit kann hier nicht eingegangen werden (dazu vgl. Homfeldt/ Schulze-Krüdener 1997, S. 34 ff). Die Perspektiven und Möglichkeiten von Schulsozialarbeit im Kontext von Prävention und Intervention von Gewalt lassen sich meines Erachtens durch Darstellung des Arbeitsfeldes skizzieren. Wichtige Funktionsbereiche der Schulsozialarbeit sind Angebot und Vermittlung sozialer Dienste, schulbezogene Freizeit- und Jugendarbeit in der Schule oder in schulnahen Räumen, Elternarbeit, Familentreffs und Elterntraining sowie Erziehungsberatung bis hin zu kollegialer Praxisberatung und Supervision von LehrerInnen (vgl. dazu Prüß, 1997, S. 52). Wichtig ist die 65 Vernetzung von Schule und Jugendhilfe durch Schulsozialarbeit, da Schule in ihrem Einfluß begrenzt ist und vorrangig keinen sozialpädagogischen Erziehungsauftrag hat (vgl dazu unter 2.2. 2 und 2.2.4). und kompentsatorischen Interventionsgründe für Schulsozarbeit sind vielfältig: Probleme mit Drogen und Tendenzen zum gewalttätigen Austragen von Konflikten, Delinquenz, Schul-verweigerung, Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen, Lernschwierigkeiten, Schulversagen und Schulschwänzen. Professionelle Kinder- und Jugendlichenbetreuung über den Unterricht hinaus kann eine soziale Grundorientierung bewirken. Durch Gruppenaktivitäten können Bindungen an Gruppen erzeugt und durch spezifische, identitäts- und identifikationsfördernde Freizeitangebote die unterrichtliche Prävention von Gewalt und Aggression sinnvoll ergänzt werden. Voraussetzung dafür: Der Aufgabenbereich Schulzsozialarbeit wird nicht durch das Aufrechterhalten des schulischen Betriebs absorbiert. Dies kann durch einen eigenständigen und akzeptierten Aufgabenbereich gewährleistet werden (vgl. dazu Stickelmann 1993, S. 806 ff). Im Rahmen des Berliner Gewaltpräventionsprogramms "Jugend mit Zukunft wurden seit 1994 sozialpädagogisch geleitete Schülerclubs initiiert, die Sörensen (1997) als "kleine Unterstützungssysteme von Schule" bezeichnet. Neben körperlicher Grundversorgung (Mahlzeiten) werden Pausenaktivitäten, Bewegung, Freizeitgestaltung und Arbeitsgruppen/ Projekte angeboten. Schülerclubs sind besondere, neue Angebotsformen zur Tagesbetreuung von GrundschülerInnen. Ihre Angebote sind i.d.R. weder verpflichtend noch kostenpflichtig, weder einzelfallorientiert noch therapeutisch: "Das Konzept Schülerclub verbindet in vielfältiger Weise Bedürfnisse des einzelnen Kindes mit jenen Erfordernissen, die sich aus den Besonderheiten des Sozialraums der Einzelschule ergeben. Somit existiert kein einheitliches übertragbares curriculum(...)" (Sörensen, 1997, S.237) Aus der Darstellung wird deutlich, daß hier vor allem Primärpräveniton geleistet wird. SchülerInnen soll eine Identifikaiton mit Schule und darüber eine persönliche Verortung mit der damit zusammenhängenden Wertevermittlung ermöglicht werden. In den Fällen manifester Gewalt sind in der Schulsozialarbeit vorrangig Einzelmaßnahmen möglich wie Einzel- und Elternberatung, Vermittlung zum Jugendamt und in Therapie, Mediation , Vermittlung an TäterOpfer-Ausgleich, Beratung bei Delinquenz etc. 6.2 Rechtliche Maßnahmen Schulgesetzes am Beispiel des Niedersächsischen Möglichkeiten direkter Intervention bei manifester Gewalt einzelner SchülerInnen bieten die Schulgesetze der Länder. Blumenhagen, Galas und Habermalz (1996) verweisen in ihrem Aufsatz: "Ist die Schule hilfos gegenüber Gewalt?" darauf, 66 "(...) daß mit den derzeitig geltenden Rechts- und Verwaltungvorschriften den Schulen ein durchaus wirksames Instrumentarium zur Verfügung steht, um auch in schwerwiegenden Konfliktfällen zügig und angemessen zu reagieren" (dieselben, 1996, S. 126). Ob ein restriktives Schulgesetz allein eine sinnvolle Lösung ist, muß bezweifelt werden (vgl. dazu unter 5). Wünschenswert ist grundsätzlich, daß es erst gar nicht zur Anwendung kommt. Im akuten Konfliktfall entsteht jedoch Handlungsbedarf, für den das geltende Recht Reglementierungen getroffen hat. Die schulischen Ordnungsmaßnahmen in Niedersachsen richten sich nach § 61 NSchG (Niedersächsisches Schulgesetz). Bei einer Verletzung von SchülerInnenpflichten wird in der Regel die Schulleitung durch Lehrkräfte oder SchülerInnen in Kenntnis gesetzt. Sofern nach Überzeugung der Schulleitung eine grobe Pflichtverletzung vorliegt, wird mit der KlassenlehrerIn eine Klassen-konferenz organisiert, die den Bericht der der Lehrkraft über den Sachverhalt sowie die Äußerung der SchülerIn und der Erziehungsberechtigten zum Inhalt hat. Daran anschließend soll eine Beratung und Beschlußfassung über die Festsetzung einer Ordnungsmaßnhame erfolgen (vgl. dieselben 1996, S. 126). Zu der Klassenkonferenz können auch MitarbeiterInnen des Jugendamts beratend hinzugezogen werden, insbesondere wenn das Jugendamt bereits mit eigenen Maßnhmen reagiert hat, beispielsweise wenn über die Schule hinaus Gewalt-tätigkeiten manifest geworden sind. Kommt die Klassenkonferenz zum Ergebnis, daß eine grobe Pflichtverletzung seitens der SchülerIn vorliegt, z. B. wenn durch eine gewaltbehaftete Aktion die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet wurde, kann eine Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 2 NSchG beschlossen werden. Stimmberechtigt sind innerhalb der Klassenkonferenz alle in der Klasse tätigen Lehrkräfte sowie die SchülerInnen- und Elternvertreter. Nach § 36 Abs. 5 NSchG dürfen sich nur die SchülerInnen und ElternvertreterInnen von der Entscheidung über eine Ordnungsmaßnahme enthalten: Als Ordnungsmaßnahme kommen nach § 62 Abs. 2 NSchG folgende in Betracht: 1. Überweisung in eine Parrallelklasse 2. Überweisung an eine anderer Schule derselben Schulform 3. Androhung des Ausschlusses vom Unterricht bis zu drei Monaten 4. Ausschluß vom Unterricht bis zu drei Monaten 5. Androhung der Verweisung von allen Schulen 6. Verweisung von allen Schulen (vgl. dieselben 1996, S. 127 f mit weiteren Ausführungen). Nr. 3-6 des § 62 Abs.2 NSchG dürfen nur beschlossen werden, wenn durch das SchülerInnenfehlverhalten die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet, also ihre körperliche 67 Unversehrtheit bedroht ist oder wenn der Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt wird (vgl. Wortlaut § 61Abs.3 1 NSchG). Bei der Verhängung der Ordnungsmaßnahme handelt es sich um einen Verwaltungsakt, wobei die Konferenz sowohl Entschließungermessen (ob Einschreiten erforderlich ist?) und Auswahlermessen (welche Maßnahme?) zu treffen hat. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dabei abzuwägen, ob nicht auch einen mildere Maßnahme angemessen ist. Die Entscheidungsbegründung wird schriflich festgehalten. Nach § 61 Abs. 7 NSchG ist für die Genehmigung der Ordnungs-maßnahme die Schulbehörde zuständig. Gegen die Ordnungsmaßnahme kann innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegt werden. Im übrigen stehen der SchülerIn die Rechtsbehelfe der Verwaltungsgerichtsordnung zur Seite. Sofern die Schulleitung akuten und berechtigten Handlungsbedarf sieht, kann sie nach § 43 Abs.2 Nr. 3 NSchG Eilmaßnahmen anordnen, zum Beispiel den sofortigen Ausschluß vom Unterricht für einige Tage. Sofern auch der Verdacht auf das Vorliegen einer Straftat entsteht, ist die Schulleitung im Interesse der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in der Schule verpflichtet, die Polizei einzuschalten -z. B. in Fällen von Körperverletzung und Drogenhandel(vgl. dazu dieselben, 1996,. S. 129). Wenn es erst zur Sanktionierung kommen muß, ist es für Prävention zu spät. Jedoch sollten sich die involvierten PädagogInnen im Nachhinein Gedanken darüber machen, wie künftig bereits auf Frühwarnzeichen reagiert werden kann, damit es in Zukunft zu schulrechtlichen Maßnahmen nicht kommen muß (vgl. Ausführungen unter 5). 7 Resümee Gewalt und Aggression können begrifflich nicht trennscharf abgegrenzt werden. In der Schule kann sich Gewalt vielfältig äußern - durch körperliche, psychische oder verbale Attacken oder strukturelle (nichtpersonale) Gewalt. Strukturelle Gewalt kann von Schule durch Elemente des heimlichen Lehrplans, durch Fremdbestimmung von SchülerInnen in asymmetrischen Kommunikationssituationen mit LehrerInnen verursacht werden. Bezüglich der Ursachen von Gewalt und Aggression ist von einem "multikausalen Bedingungsgefüge" auszugehen. Ursachen für Gewalt und Aggression in der Schule sind dabei auch auf sozioökonomische und familiale Faktoren zurückzuführen. Die sich im schulischen Zusammenhang äußernde Gewalt entsteht überwiegend außerhalb von Schule, ragt aber in Schule hinein. Für den Umgang mit Gewalt in der Schule gibt es keine Patentrezepte, wie sich aus der Darstellung obiger Modelle ergeben hat. Es bedarf daher auch weiterhin intensiver Forschung zur Entwicklung von Präventions- und Interventionskriterien. 68 Die Orientierung der vorgestellen Modelle ist im wesentlichen präventiv. Im Kontext von (Primär)Prävention werden dabei folgende Bereiche angesprochen, die in der Schule trainiert werden können: Soziales Lernen, Verbesserung der LehrerIn/SchülerInteraktion, Schaffung verbindlicher Werte und Normen für alle Beteiligten, Vermittlung eines positiven Selbstkonzepts bis hin zur Vermittlung sozialer Identität. Als erfolgversprechend erscheint dabei insbesondere das auf dem "Life-Skills Konzept der WHO" basierende Unterrichtsmodell zur Persönlichkeitsförderung (vgl. dazu unter 5.6.1). Ohne weiteres lassen sich die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht auf Schule übertragen. Es bedarf einer spezifischen und situationsangemessenen Auswahl und Anpassung von Präventionsund Interventionsmodellen in der Praxis. Die Reichweite schulischer Maßnahmen ist allerdings begrenzt. Beschränkungen ergeben sich daraus, daß Schule Bestandteil des gesellschaftlichen System ist. Sie ist damit selbst den erheblichen Veränderungen wie Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelt unterworfen. Gleichzeitig verursachen gesellschaftliche Umbrüche Veränderungen in Bezug auf Chancengleichheit und Verwirklichung von Lebensplänen. Der Konkurrenz- und Plazierungsdruck wächst bei gleichzeitigem Verlust von traditioneller Orientierung (vgl. dazu unter 4.3.2.2). Schule kann nicht die Auswirkungen des gesellschaftlichen Leistungsdrucks bei ihren SchülerInnen kompensieren, zumal sie diesen selbst weitergibt (Selektions-, Allokations und Legitimationsfunktion von Schule). Innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Kontextes ist Schule institutionalisiert und vertritt keine gesellschaftliche Gegenposition. Anders ausgedrückt: "Schule spiegelt gesellschaftliche Struktur- und Chancenbedingungen wider, die sie als Institution selbst nicht beeinflussen kann"(Hurrelmann 1995 a, S. 76). Innerhalb ihres pädagogischen Handlungsspielraums hat Schule dennoch Möglichkeiten, Gewalt und aggressivem Verhalten etwas entgegenzusetzen: - - Schule kann sich den individuellen Lebensproblemen von SchülerInnen stellen, indem sie sich der Lebenswelt von SchülerInnen öffnet (Subjektorientierung). Schule kann gezielt Persönlichkeitsförderung betreiben und dadurch persönliche Verortung ermöglichen, z.B. durch Stärkung individueller Bewältigungsund Verarbeitungskompetenzen. Schule kann gezielt soziales Lernen im Unterricht fördern. Schule kann kann mit SchülerInnen Regeln ür den friedlichen Umgang miteinander vereinbaren und Grenzen gegen Gewalt in der Schule setzen- sowie zusammen mit den SchülerInnen auf die Einhaltung der vereinbarten Regeln achten. 69 Dies alles setzt eine hohe pädagogische Kompetenz der Lehrkräfte voraus, die gezieltes LehrerInnentraining als "SCHILF" (schulinterne LehrerInnenfortbildung) oder bereits in der pädagogischen Ausbildung erfordert. Dennoch hat der pädagogische Einsatz seine Grenzen: LehrerInnen darf nicht die pädagogische Gesamtverantwortung für soziales Lernen als Gewaltund Aggressionsprophylaxe für SchülerInnen aufgebürdet werden, zumal sich soziale Lernorte auch und gerade in außerschulischen Sozialisationsagenturen wie Familie und peer-groups (Gleichaltrigengruppen) befinden. Interdisziplinäres Arbeiten, die Einbeziehung anderer ExpertInnen sowie die Institutionalisierung von Schulsozialarbeit können LehrerInnen bei der Prävention und Intervention im Hinblick auf schulische Gewalt erheblich entlasten. Was den Einsatz progressiver Programme im Umgang mit Gewalt angeht, erscheint deren Umsetzung vor dem Hintergrund der "relativen Autonomie von Schule" durchaus realisierbar (vgl. dazu Bildungskommission NRW, 1995, S.61 ff). 7. 1 Ausblick/Perspektiven Gewalt und der Umgang damit stellt für die Schule eine pädagogische Herausforderung dar, deren Perspektive Rauschenberger wie folgt beschreibt: "Unsere historischen wie lebensgeschichtlichen Erfahrungen legen die Annahme nahe, daß die Erfahrung der Gewalt im menschlichen Leben unausweichlich ist. Jeder Mensch begegnet ihr, sie mag schwächer oder stärker ausgeprägt sein, sie mag demütigend sein oder nicht. Jeder erfährt überdies, daß er selber Gewalttäter sein kann oder zumindest Mittäter. Aus diesem Sachverhalt gibt es kein Entrinnen. Jemand, der dies nicht weiß oder nicht wissen will, kann auch keine Kinder erziehen. Freilich ist nicht jede Gewalt von der destruktiven Art, die auf die Vernichtung des Daseins aus ist. (...) Für die Erziehung bedeutet dies, daß gerade die Gewalt nicht im Wege der Verleugnung zum Verschwinden gebracht werden kann; sie wird nur verändert durch die zunehmende Fähigkeit des Menschen, sich zu sich selber zu verhalten, und dies heißt: sie ist kultivierbar"(Rauschenberger 1995, S.41 f). Wenn Gewalt durch Erziehung kultivierbar ist, dann setzt das für die Erziehenden voraus, daß sie selbst eine Position dazu entwickelt haben und diese auch im Unterricht äußern. Klare Konturen zu entwickeln, setzt auch eine eigene reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema "Wie gehe ich als LehrerIn selbst mit Gewalt um und ist dieser Umgang innerhalb eines sozialen Gefüges (z.B. innerhalb des Klassenverbandes) konsensfähig?" voraus. Hier stellt sich für mich die Frage nach einer unterrichtsübergreifenden Werte-erziehung, die die Entwicklung von Persönlichkeit und soziales Lernen ermöglicht. Schirp (1996) thematisiert dies unter der Überschrift "Erziehung zur Verantwortung" und entwickelt dazu, orientiert am Kohlbergschen Konzept der Moralstufen, ein Entwicklungsmodell, das moralisches Lernen von SchülerInnen zum Inhalt hat: "Moralisches Lernen geschieht dabei durch die Auseinandersetzung mit Wertedilemmata. Ziel ist eine Urteilskompetenz, die auf einer möglichst 70 differenzierten Begründungsstruktur basiert "(derselbe 1996, S. 55). Vereinfacht ausgedrückt: Erst nachdenken und abwägen, dann (reflektiert) handeln. Speck benennt im Kontext moralischer Erziehung die pädagogischen Prinzipien "Förderung der Autnonomiebildung und Achtung des Anderen" (vgl. 1996, S.140). Er befürwortet einen praktisch- pädagogischen Ansatz, der sowohl SchülerInnen als auch LehrerInnen dazu befähigen solle, den eigenen Verstand zu gebrauchen, um lebensweltliche Werte selbst zu prüfen und zu beurteilen- Dies sowohl auf der Ebene materieller und vitaler eigener Interessen als auch unter dem Aspekt eines überindividuellen und überdauerenden Sinn menschlichen Lebens und Zusammenlebens (vgl. Speck, 1996, 140 f). Ersichtlich wird eine inhaltliche Parallele dieser Ausführungen zum Kantschen Kategorischen Imperativ11. Allerdings stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung überindividueller Werte, da sie sich historisch verändern. Auf die Dialektik von Erziehung zu Individualität versus Erziehung zur Anpassung hat bereits Adorno 1970 in seinem Text "Erziehung zur Mündigkeit" hingewiesen: "Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie die Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realtitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment von Anpassung. Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei stehenbleibt(...)Aber dann muß die Erziehung auch auf diesen Bruch hinarbeiten und diesen Bruch selber bewußt machen, anstatt ihn zuzuschmieren und irgenwelche Ganheitsideale oder ähnlichen Zinnober zu vertreten(...) (Adorno 1970,S. 114) Werteerziehung als prophylaktische Erziehung gegen Gewalt bewegt sich daher in einem Spannungsfeld zwischen Erziehung zur Individualität und Erziehung zur gesellschaftlich erwünschten Anpassung. Bei der Diskussion um moralische Erziehung als Gewaltprophylaxe ist allerdings zu beachten, daß sich eine Werteerziehung auch an der Akzeptanz der SchülerInnen zu orientieren hat. Welche Werte sind aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen auch verstehbar und lebbar?Werte werden nur gelebt und umgesetzt, wenn sie nicht als aufgezwungen, sondern als subjektiv verbindlich betrachtet werden. Bei der Vermittlung von Werten setzt dies eine enge Orientierung an der Lebenswelt und den subjektiven Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen voraus. Eine Grundhaltung, die SchülerInnen als eigenständige Handlungssubjekte betrachtet, kann in dieser Hinsicht nur förderlich sein. 11Anmerkung: Der kategorische Imperativ ist die oberste und allgemeinste Handlungsanweisung der praktischen Philosophie Kants: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (vgl. Kwiatkowski, 1985, S. 217) 71 Literaturverzeichnis Adorno, Th. W. 1979: Erziehung- wozu? In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 110- 125 Balser, H.; Schrewe, H. Schaaf; N.(Hg.) 1997: Schulprogramm Gewaltprävention. 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