Die Bedeutung der Wahrnehmung Wahrnehmung dient dazu, uns über die Eigenschaften der Umwelt zu informieren, die für unser Leben wichtig ist Wahrnehmungssystem stellt die dazu erforderlichen Repräsentationen bereit Wahrnehmen hilft uns, in der Umwelt angemessen zu agieren Wahrnehmung erzeugt nötiges subjektives Erleben der Umwelt, so dass wir in ihr handeln können Warum Wahrnehmung untersuchen? a) intellektuelle Neugier b) Verständnis der Wahrnehmung schafft die Möglichkeit, Ausfälle zu mildern c) Entwicklung von Trainingsprogrammen für komplexe Steueraufgaben d) Meistern der alltäglichen, einfach erscheinenden Tätigkeiten Der Prozess der Wahrnehmung 1. Funktionale Aufgeben der Wahrnehmung a) Aufbau eines Basisbezugssystems Wie ist unsere Lage im Raum? Bezugssystem mit drei rechtwinkligen Koordinaten Basisbezugssystem an die Richtung der Schwerkraft orientiert Bedeutung des vestibulären Systems Basisbezugssystem wirkt im Hintergrund als Einordnungsraster für unsere Wahrnehmung b) Raumwahrnehmung und räumliche Orientierung einschließlich des Aufbaus kognitiver Landkarten Beispiele: - Wahrnehmung der Entfernung und Richtung - Wahrnehmung, ob Oberflächen aufgrund ihrer Eigenschaften einen festen Stand bieten - Aufbau von inneren Landkarten zur geographischen Orientierung Beteiligung von Hören, Sehen und Tasten c) Erkennen von Gegenständen, Orten, Ereignissen, Oberflächen, Substanzen und Nahrungsmitteln in ihrer Bedeutung für das Handeln Objekte der Umwelt können nach ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung in Klassen geordnet werden Information, die wir aufnehmen, erhält eine Ordnung und einen Bezug zu unserer Motivation und unserem Handeln Erkennen von einzelnen Objekten und Objekten als Instanzen von Klasen d) Steuerung und Kontrolle der ausführenden Motorik Einwirken auf die Umwelt durch Motorik Einbindung der Wahrnehmung in einen Kreisprozess: Wahrnehmung leitet Bewegung Bewegung erzeugt neue Wahrnehmung diese führt zu neuen Bewegungen 1 e) Wahrnehmung von Zeitdauer und zeitlichen Abfolgen Lebewesen haben eigene zeitliche Auflösung der Informationsverarbeitung Wahrnehmung der Zeitdauer und der Geschwindigkeit zeitlicher Abfolgen auf „mittleren“ Bereich gestellt Wahrnehmung von Aspekten, die für das Verhalten relevant sind und richtige Bandbreite zwischen Unter- und Überforderung Wichtige Rolle für den Aufbau des biographischen Gedächtnisses f) Wahrnehmung in der sozialen Kommunikation, einschließlich der Sprache Interaktion mit anderen Personen Erkennen einzelner Personen Wahrnehmungsvorgänge beim Sprechen und Zuhören Erfassen der nonverbalen Kommunikation durch Mimik, Gestik und Bewegung Umfasst alle Leistungen der Wahrnehmung, die am Verstehen, emotionalen Erleben und der Regulation von sozialen Interaktionen beteiligt sind Erwerb und Gebrauch der Muttersprache g) Wahrnehmung bei fakultativen sozialen und arbeitsbezogenen Fertigkeiten Fakultative Fertigkeiten können erworben werden Gehören nicht unbedingt zur menschlichen Grundausstattung Sehr komplex Erfordern bei Erwerb und Durchführung sehr spezifische Wahrnehmungsleistungen Wahrnehmung eng mit kognitiven Leistungen und mit dem Agieren und Handeln verschränkt Wahrnehmung = Teil der umfassenden menschlichen Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung 2. Komponenten der Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung und ihr Bezug zur Wahrnehmung a) Wahrnehmung ist in einen größeren Kreisprozess eingebettet Informationsaufnahme aus der Umwelt Kognitive Verarbeitung Zielbildung für das Handeln aufgrund emotionaler und motivationaler Bedingungen Agieren und Handeln in der Umwelt b) Sensumotorik für Wahrnehmung besonders wichtig Sensumotorik wirkt auf - Handlungsfeld und den Bereich der wahrnehmbaren Umgebung - operative Steuerung der Wahrnehmung Sensumotorik = Schlüsselkomponente für die Umsetzung der eigenen Aktivität Sensumotorik umfasst ausführende Motorik (= direkte Einwirkung auf die Umwelt) und kommunikative Motorik (= Umgang mit anderen 2 Personen durch Mimik, Gestik...) sowie die explorative Motorik (= motorische Bewegung der Sinnesorgane Informationsaufnahme wir breiter und flexibler) c) Mittels reflexiver Prozesse können wir in einen Teil unserer Verarbeitungsprozesse eingreifen Personen sind in der Lage, mit bewussten Überlegungen in die eigenen Verarbeitungsprozesse einzugreifen Kein Einfluss auf basale Auswertungsvorgänge Kognitive Metaebene = subjektives Wissen über die eigene Wahrnehmung kognitive Einwirkung auf Wahrnehmung Metaebene von großer Bedeutung für das Selbstbild einer Person Im Laufe der Evolutionsgeschichte haben sich die Wahrnehmungsleistungen an einen Mesokosmos angepasst = Welt mit mittelgroßen Dimensionierungen, die auf unsere Aktionsmöglichkeiten abgestimmt sind Erfassen der Handlungsangebote aus den Umweltreizen = wichtiges Teilziel der Umweltbeschreibung Verschränkung der Wahrnehmung mit der Motorik 3. Wichtige Begriffe und Teilaspekte des Wahrnehmungsprozesses a) Verfügbare, durch Eigenbewegung erzeugte und beachtete Umweltinformation Umwelt muss in der richtigen Auflösung beschrieben werden Welche Angebote stellen die Umweltmerkmale für das Agieren und Handeln bereit? Notwendigkeit einer „ökologischen Physik“, die in ihren Messgrößen und Dimensionen auf den Mesokosmos abgestimmt ist, in dem wir wahrnehmen und handeln Ökologische Physik = Untersuchung der Geometrie, Physik und Chemie einer spezifischen biologischen Umwelt Untersuchung der Wahrnehmungsprozesse muss sowohl mit einfachen als auch mit komplexen Reizinformationen durchgeführt werden grundlegenderes Verständnis durch Verbindung verschiedener Ebenen Beobachter sind aktiv und nehmen nicht nur passiv Informationen auf Reizinformationen, die der Beobachter beim Erkunden der Umwelt selbst erzeugt, sind eine wichtige Kategorie Wahrnehmung immer mit spezifischen Aufmerksamkeitsprozessen verbunden b) Physikalische Trägerprozesse als Mittler zwischen Umwelt und Sinnesorgan Sinnesorgane nur für ein schmales Fenster physikalischer Prozesse empfindlich Mithilfe der Sinnesorgane werden handlungsrelevante komplexe Merkmale aus der Umwelt aufgenommen Informationsübertragung ohne einen materiellen oder energetischen Tröger nicht möglich 3 Objektmerkmale, Quelle, physikalischer Trägerprozess und Reizinformation müssen bei der Analyse der Informationsaufnahme auseinandergehalten werden c) Reizmuster an den Rezeptoren Von verfügbaren und erzeugten Reizinformationen wird nur ein Teil aufgenommen Beim Sehen geht es nicht um eine Bildübertragung, sondern um die Übermittlung einer Extraktion jener Information, die für das Handeln ausschlaggebend ist Reizmuster: a) proximale Reize = Nahreize Information über die Objekte b) distale Reize = Fernreize Erfassung der Gegenstandsmerkmalen d) Transduktion Reizmuster werden aufgenommen und in bioelektrische Signale umgewandelt Transduktion = Signalumwandlung, Selektion und Verarbeitung in einem An Umwandlung sind vier Rezeptortypen beteiligt, die unterschiedliche Sensitivitätscharakteristika haben e) Neuronale Verarbeitung, multimodale und sensumotorische Interaktion Bioelektrische Signale Nervenimpulse, Spikes = einheitliche Sprache des Gehirns Neuronale Signale erreichen nach mehreren Verarbeitungsstufen die primären sensorischen Areale des visuellen Cortex Große Zahl an Neuronen auf mehreren Ebenen aktiv Information wird neu aufgenommen verarbeitet verglichen verbunden f) Wahrnehmen, Erkennen und Handeln Kennzeichen der Wahrnehmung = bewusstes Erleben und direkte Verbindung von Wahrnehmen, Erkennen und Handeln Wahrnehmen ohne Erkennen findet nicht statt Mithilfe der Aufmerksamkeit kann der Beobachter bestimmen, in welcher Auflösung er die Umwelt analysieren möchte g) Kognitive Einflüsse auf die Wahrnehmung, Bottom-up- und Top-downVerarbeitung Beim Erkennen wirken Gedächtnis und kognitive Prozesse auf die Wahrnehmung ein Gegenstände könne leichter erkannt werden, wenn der Kontext verfügbar ist Top-down-Prozesse = kognitive Einflüsse auf die Wahrnehmung, Informationen höherer Verarbeitungsebenen werden benutzt Bottom-up-Prozesse = Prozesse, die nur Reizmerkmale analysieren und verarbeiten 4 h) Wahrnehmungslernen Differenzierungslernen = Extraktion von Information aus dem Reizstrom wird fortlaufend verfeinert und dadurch effizienter, verändert die Wahrnehmungssysteme selbst Differenzierungslernen ist implizit und findet dauernd statt Wahrnehmung muss die Auswertung der Reizinformationen intern nachjustieren Bei Nachjustierungsvorgängen spielt die aktive Motorik eine große Rolle Lernen auch bei der Koordination und Interaktion zwischen den verschiedenen Wahrnehmungssystemen involviert Untersuchungsmethoden 1. Psychophysik: Die Untersuchung der Beziehung zwischen Reizmuster und Wahrnehmung Ziel der Untersuchung = Beziehung zwischen den physikalischen Reizstrukturen und den Wahrnehmungsresultaten Untersuchung mit folgenden Aufgaben: - Beschreibung - Vergleichen - Erkennen - Entdecken von Schwellen - Größenschätzungen - Suchaufgaben a) Beschreibung der Phänomene 1. Schritt: genaue Beschreibung dessen, was wir wahrnehmen Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Phänomen richten 2. Schritt: Phänomen unter möglichst breiter Variation beobachten b) Die psychophysischen Methoden der Schwellenmessung Messung von absoluten Schwellen und Unterschiedsschwellen Klassische Schwellentheorie: An der absoluten schwelle geschieht ein absolutes Umschlagen von einem Zustand, in dem der Beobachter den reiz noch nicht entdecken kann, in einen Zustand, in dem dies dem Beobachter gelingt Der Übergang zwischen dem Nichtentdecken und dem Entdecken eines Reizes erfolgt gewöhnlich graduell und nicht abrupt Drei Methoden der Schwellenmessung = klassische psychophysische Methoden Grenzmethode Methode der eben merklichen Unterschiede Darbietung verschiedener Reize in aufsteigender oder in absteigender Form (wirkt der Perseverationstendenz entgegen) Übergangspunkt = Schwellenwert Herstellungsmethode Methode der mittleren Fehler Reiz wird langsam verändert 5 Punkt des subjektiven Erscheinens oder Verschwindens = absolute Schwelle Konstanzmethode Methode der richtigen und falschen Fälle Reize werden in zufälliger Reihenfolge dargeboten Schwelle = Intensität, die bei der Hälfte der Versuche zum Entdecken führt Konstanzmethode = sehr genau, aber braucht viel Zeit Herstellungsmethode = sehr ungenau, braucht wenig Zeit Unterschiedsschwelle = eben merklicher Reizunterschied (S = Si – Sj) Größe des Reizes wächst Größe des eben merklichen Unterschieds wächst ebenfalls Weber’sches Gesetz: S/S = K K = Weber’sche Konstante S = Wert des Standardreizes All diese Untersuchungen zeigen, dass eine quantitative Erfassung des Psychischen möglich ist Es geht also um die Beziehung zwischen der Intensität eines Reizes und unserer Wahrnehmung der Intensität dieses Reizes c) Die Messung überschwelliger Reizintensitäten Größenschätzung für Helligkeit Verdichtung der Antwortdimensionen Größenschätzung für Stromstärke Spreizung der Antwortdimensionen Größenschätzung einer Länge Schätzung sehr genau Stevens’sches Potenzgesetz: W = KS hoch n Wahrgenommene Stärke W ist gleich einer Konstante K, multipliziert mit der n-fach potenzierten Reizintensität Die Beziehung zwischen Reaktions- und Reizstärke lässt sich also für alle Sinne durch eine Potenzfunktion beschreiben, und der Exponent dieser Funktion gibt an, ob die Verdopplung der Reizintensität mehr oder weniger als eine Verdopplung der Antwort bewirkt d) Methoden des Erkennens und Wiedererkennens Wichtigste Aufgaben, mit denen dies untersucht wird: - Gleich – Verschieden-Urteile - Zuordnung zu einer Klasse - Alt – Neu-Urteile - Objektbenennung - Beurteilung der Natürlichkeit der Objekte - Bekann – Nichtbekannt-Urteile e) Suchaufgaben Mit solchen Aufgaben kann Wesentliches über die Formwahrnehmung und die Aufmerksamkeit herausgefunden werden 6 f) Analyse von Reizinformationen für Merkmale der Umwelt Erläuterung anhand der Wahrnehmung räumliche Tiefe Reizinformation für räumliche Tiefe = Verdecken = relative Größe der Gegenstände = Schattenbildung = Stereosehen mit den beiden Augen = Bewegungen, die der Beobachter erzeugt 2. Neurophysiologie: Beziehung zwischen Reizmustern und neuronalen Prozessen a) Historischer Hintergrund der Neurophysiologie der Wahrnehmung Aristoteles: Herz, nicht Gehirn = Sitz des Geistes und der Seele Galen: Gesundheit, Denken und Gefühle hängen von den vier Körpersäften ab Descartes: menschliche Körper wie eine Maschine Kepler: Auge funktioniert wie gewöhnliches optisches Instrument Müller: Theorie der spezifischen Sinnesenergien: - Wahrnehmungen gehen auf Sinnesenergien zurück, welche auf das Gehirn einwirken - Wahrnehmungsqualität hängt davon ab, welche Nerven stimuliert Werden Ende des 19. Jahrhunderts: - Neuronen bestehen aus einem Zellkörper, den Dendriten und einem Axon - Manche Neurone empfangen mittels Rezeptoren Signale aus der Umwelt - Rezeptoren wandeln Reizsignale in bioelektrische Signale um b) Die Aufzeichnung elektrischer Signale von Neuronen Neuronen sind in eine Lösung eingebettet, die reich an Ionen sind Negative Ladung im Inneren des Neurons = Ruhepotential Nervenimpuls wird durch den Einstrom von Natrium in die Faser und dem Ausstrom von Kalium aus der Faser verursacht Permeabilität der Membran für Natrium und Kalium gering Nervenimpuls setzt ein, wenn die Membran schlagartig für Natrium durchlässig wird Ionen strömen ein Schnelle Ladungsänderung wandert die Faser entlang und erzeugt so ein elektrisches Signal Natrium-Kalium-Pumpe sorgt dafür, dass Ruhepotential wieder hergestellt wird c) Grundlegende Eigenschaften von Nervenimpulsen Nervenimpuls = fortgeleitete Reaktion Nervenimpuls folgt dem Alles-oder-Nichts-Gesetz, d.h. einmal ausgelöst, behält er seine Stärke unabhängig von der Intensität des Reizes Eine Veränderung der Reizintensität beeinflusst nicht die Amplitude der Nervenimpulse, sondern die Rate 7 Refraktärphase nur eine bestimmte Anzahl von Nervenimpulsen pro Sekunde möglich Spontanaktivität = Nervenfasern feuern ohne Reize aus der Umwelt Synapsen dienen dazu, Nervenimpulse eines Neurons an andere zu übertragen, dies geschieht durch einen chemischen Prozess d) Chemische und elektrische Vorgänge an der Synapse Um Nervenimpulse weiterzutransportieren, muss die Information des ersten Neurons ein Signal im zweiten hervorrufen Dies geschieht durch die Ausschüttung einer chemischen Substanz, so genannten Neurotransmittern, aus den synaptischen Vesikeln Neurotransmitter übertragen neuronale Information, sie funktionieren wie ein Schlüssel für ein bestimmtes Schloss, da sie an Rezeptoren anlagern können Die im postsynaptischen Neuron bewirkte elektrische Reaktion kann entweder erregend oder hemmend sein, je nach Transmitter- oder Zellmembrantyp Eine Erregung steigert die Rate, mit der das Neuron feuert, während eine Hemmung die Rate senkt e) Struktur des Gehirns Lokalisation von Funktionen Bestimmte Regionen dienen bestimmten Funktionen = Lokalisation von Funktionen Jede Sinnesmodalität besitzt ein bestimmtes Zielgebiet im cerebralen Cortex (=Rinde) Die primären sensorischen Areale empfangen die vorverarbeiteten Signale aus den Sinnesorganen Sehen: Hinterhauptlappen Hören: Schläfenlappen Hautsinne: Scheitellappen Grundlegendes Prinzip des corticalen Aufbaus ist die modulare Organisation, d.h. spezifische Areale des Cortex haben spezifische Funktionen Lange Zeit Studium von Hirnläsionen, jetzt: Messung der Hirnaktivität wacher Personen Untersuchung der Hirnaktivität beim Menschen Ableitung der evozierten Potentiale Heute vermehrt Anwendung bildgebender Verfahren Bsp.: Positronenemissions-Tomographie (PET) Funktionale Magnetresonanz-Tomographie (MRT) Neuronale Aktivität induziert eine vermehrte lokale Durchblutung von Hirnbereichen 8 9