1 Wer sich selbst wandelt, wandelt die Welt Ein Essay über die Bedeutung der Arbeit von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler für unsere heutige Zeit mit einem praktischen Übungsteil gehalten am 15. Januar 2009 im Seminar ( Modul 05 ) „ Wahrnehmung und Bewegung Sensomotorik oder Motosensorik?“ bei Prof. Dr. Reinhard Burtscher von Susanne Nabi 2 Zum Inhalt 1 Schöpfen aus dem Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3-5 2 Sophie Ludwig 1901 – 1997 : die Leichtigkeit des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . 6–7 3 Schwerkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3.1 Übung: Getragen sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 – 10 4 Zur Ruhe kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 4.1 Übung: die Teetasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 5 Elsa Gindler 1885 – 1961 : wahrnehmen, was wir empfinden . . . . . . . . . . . . . . 13 6 Heinrich Jacoby 1889 – 1964 : empfinden für das Stimmende . . . . . . . . . . . . . . 15 7 Ins Wasser fällt ein Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 8 Bibliographie mit Verzeichnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 9 Anhang: Ahnengalerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 1 Schöpfen aus dem Moment So individuell jeder Mensch mit seiner Geschichte ist, so individuell ist sein Weg zur Veränderung. Dies war eines der wesentlichen Erkenntnisse in der Forschung Heinrich Jacobys und Elsa Gindlers zur Entfaltung des Menschen. Ihr Anliegen war es nicht, eine Methode für stimmendes und richtiges Verhalten zu entwickeln und daraus eine Schule zu machen, sondern ihre Schüler für einen Zustand der Achtsamkeit zu sensibilisieren, in dem sie eigenverantwortlich ihrer selbst mit all ihren äußeren und inneren Zwängen und Verspannungen gewahr wurden und offen und bereit für einen Wandel hin zur freien Selbstentfaltung. „ Bei der Jacoby/Gindler-Arbeit wie auch bei Sensory Awareness handelt es sich um eine Art meditative Körperarbeit, in der vorwiegend mit den alltäglichen Bewegungsabläufen wie Stehen, Gehen, Sitzen, Liegen experimentiert wird. In diesen Experimenten kann wahrgenommen werden, wie Abläufe sich vollziehen, wenn sie – durch vertrauensvolles Geschehenlassen – direkt vom Organismus gesteuert sind und nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt oder anderweitig gestört werden… Diese Arbeit ist im eigentlichen Sinne keine Technik, sondern ein Schöpfen aus dem Moment. Charlotte Selver nennt es angewandtes Zen. Sie ist nicht konsumierbar, sondern postuliert Selbstverantwortung und erfordert ein waches Aktivsein.1 „Konkretes individuelles Ziel ist ein achtsamer und wacher Umgang mit sich selber und in der Folge ein gelassener und zugleich leistungsfähiger Umgang mit den Anforderungen der Umwelt, d.h. mit anderen Menschen, insbesondere auch mit Kindern.“2 „ Jacoby sieht den Menschen nicht nur als Summe dessen, was er gelernt hat und geworden ist, sondern vor allem auch als das, was er noch werden kann“3 1 Vgl. Zahner, Hannes 2003: Einführung in das ganzheitliche Verständnis der Jacoby/Gindler-Arbeit. S 2, 6, 7 Online:URL: http://www.jacobcgindler.ch/seiten/jacoby/texte/einfuehrung.html [Datum der Recherche: 21.10.2008] 2 Zahner, Hannes 2008: Jacoby/ Gindler-Arbeit. Online:URL: http://www.jacobcgindler.ch/ [Datum der Recherche: 11.01.2009] 3 http://www.ruth-matter-stiftung.ch/text/nachempf.html [Datum der Recherche: 22.10.2008] 4 In diesem Sinne möchte ich mit meiner eigenen Geschichte das Anliegen von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler veranschaulichen. Meine Kindheit und Schulzeit waren geprägt von Bewertungen, Beurteilungen, festgesetzten Bildern und äußeren Festlegungen und Vorstellungen über meine Person, begleitet von einem immer mehr und mehr sich manifestierenden Selbstbildes, den Ansprüchen meiner Umwelt nicht zu genügen. Mit dem 21. Lebensjahr besuchte ich für ein Jahr eine Bewegungstheaterschule Comart in Zürich. In dieser Zeit versuchte ich, die von außen vorgegebenen Formen des Ballets, des Moderndances, der Akrobatik und den verschiedenen Theaterformen zu erreichen. Vergebens. Ich flog nach einem Jahr von der Schule. Ich wurde Geigerin im Zirkus Roncalli und lernte dort die Magie der perfekten äußeren Form kennen verbunden mit der dazugehörigen Illusion, Unlebendigkeit und Leere. In Paris lernte ich dann bei Monika Pagneux über drei Jahre die Feldenkraisarbeit kennen, sowie Theaterimprovisation bei Philippe Gaulier – beides renommierte und international anerkannte Lehrer. Ich war so sehr in dem Muster des Nichtgenügens verfangen und deshalb auch so sehr damit beschäftigt, eine gute bzw. schlechte Schülerin zu sein, dass ich nicht in dieser Ausbildung aufgehen konnte. Mit meiner Lehrerin Nicole Jaspart lernte ich zum ersten Mal über vier Jahre mit meinen Möglichkeiten im experimentellenTanz mich federleicht zu bewegen und auszudrücken. Dies war eine wichtige Zeit der Befreiung von dem Muster oder auch dem Zwang, nicht genügen zu können. So auch dann mit dem Lehrer Gilles Petit mit experimentellen Gesang. Es ging bei beiden darum, innere Impulse und Potentiale zu entdecken, ihnen Raum zu geben und sie so zu fördern. Mit 28 Jahren kam ich nach Berlin und lernte mit der Atemarbeit von Ise Middendorf, dem Atem Raum zu geben und mich innerlich zu entfalten. Dann kam ich zu Sophie Ludwig. Dieses eine Jahr mit ihr taufte ich : Schule zur Leichtigkeit des Seins. Auf unspektakuläre Art und Weise, einfach aber sehr präzise entdeckte ich, wonach ich lange Zeit gesucht hatte: I am what I am Weiter lernte ich Shiatsu, die Kunst der Berührung und Begegnung mit Achtsamkeit. Seitdem arbeite ich damit und übe mich immer wieder im achtsamen Zulassen. Eine grundlegende Erfahrung ist für mich in dieser Arbeit, wie einfach und leicht es ist, Veränderungen im Körperlichen und Seelischen zu erlangen, wenn Raum gegeben wird für das, was sich entwickeln und verändern will. Mit Zenmeditation stärke ich seit einigen Jahren diese innere Haltung. Übrigens begegnete mir wohlbekannt die Jacoby/Gindler-arbeit in Form von Vorbereitungsübungen bei meiner Zenmeisterin Sonja Moriceau in England wieder. Und doch stolpere ich auch immer wieder über eigene alte Muster und Zwänge. 5 Gerade dieses Stolpern ist ein notwendiger Appell und ein Angebot, meine bestehenden unzweckmäßigen Verhaltensweisen, wie Jacoby zu sagen pflegte, immer wieder zu erkennen und dann experimentell zu variieren, um mich dann vom Empfinden für das Stimmende leiten zu lassen und neue Schritte zu wagen. „ Falschmachen ist nicht nur keine Schande, bemerkte Heinrich Jacoby, sondern das Richtigsein von etwas kann man gar nicht als richtig erleben, bevor man nicht über das Nicht-Richtig gestolpert ist.( Jacoby 1994 ) Wie anders würden unsere Gesellschaft, unsere Beziehungen, der Schulunterricht, unsere Arbeit aussehen, wenn wir uns mehr daran gewöhnen könnten, die Entdeckung von Fehlern als Gelegenheit zu begrüßen, das Richtige deutlicher zu erkennen, und als Anlass, es beim nächsten Mal anders, besser zu versuchen.“ 4 Seit 15 Jahren arbeite ich mit Kindern musikpädagogisch und entspannungstherapeutisch. Und das, was mich immer wieder und immer mehr berührt ist zum Einen, der oft verzweifelte Versuch der Kinder, aus ihren Zwängen zu entrinnen mit Auffälligkeiten und zum anderen ihre erstaunliche und enorme Bereitschaft für Lösungen und Veränderungen. Sie sind selbst oft noch ganz dicht an der Quelle ihrer Selbstregulation, wie Jacoby es zu sagen pflegte oder anders gesagt: ihrer Selbstheilungskräfte. Wenn wir den Kindern Wertschätzung und Wohlwollen entgegen bringen, dann wird vieles Unmögliche möglich. Meine grundlegenden Erfahrungen in der Wandlungsfähigkeit meiner selbst liegen in der Übung von purer Achtsamkeit, aus der Erkennen und Wertschätzung meiner selbst erwachsen und somit auch Achtsamkeit und Wertschätzung für mein Gegenüber. Voraussetzung für jegliche schöpferische Wandlungen ist die Bereitschaft, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und es nicht äußeren Faktoren, Umständen, Krankheiten oder irgendwelchen Mächten zu überlassen. Eigentlich scheint alles so einfach und doch ist es wohl mit am schwersten, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen oder auch unserem Gegenüber zuzutrauen, selbst Verantwortung für sich zu tragen. Heinrich Jacoby und Elsa Gindler glaubten daran, dass der persönliche Wandel durch achtsamen Umgang mit sich selbst die Möglichkeit in sich birgt, den Wandel selbst der Welt zu initiieren. Eine große Chance für zumindest für uns und die Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. 4 Klinkenberg, Norbert: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindlerarbeit. S.48, Stuttgart 2007. 6 2 Sophie Ludwig 1901 – 1997 : die Leichtigkeit des Seins Als ich Sophie Ludwig kennenlernte, war sie 93 Jahre alt. Eine kleine, feine und sehr klare Erscheinung. Sie bewegte sich langsam und mit Bedacht. Und so war auch ihre Sprache: langsam, bedächtig und sehr klar. Und so war auch ihr Blick auf uns Schüler: bedächtig, ruhend, klar und manchmal auch fast streng. Alles, was sie tat und sprach, drehte sich um das Vermächtnis von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler. Sie war es, die die Arbeit von Jacoby und Gindler in Form von Tonbandaufzeichnungen, Vorträgen und Skizzen in mühseliger Arbeit für die Nachwelt in einige Bücher wie: „ Jenseits von begabt und unbegabt“ (1980), „ Jenseits von musikalisch und unmusikalisch“( 1984 ), „ Musik, GesprächeVersuche“( 1986 ) und „ Erziehen, Unterrichten, Erarbeiten“ (1989) zusammenfasste und herausgab. In ihren letzten Lebensjahren war es neben ihrer Kursarbeit ihr dringlichstes Anliegen, eine Würdigung von Leben und Wirken Elsa Gindlers zu erarbeiten. Dieses Vorhaben vollendete Marianne Haag - eine enge Schülerin Sophie Ludwigs - 2002 als Buch mit dem Titel: „ Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken. Wahrnehmen, was wir empfinden.“ Sophie Ludwigs Art war unspektakulär und einfach. Doch die Wirkung einer einzigen Stunde mit ihr war groß. Wir, eine feste Gruppe von ca. 10 Menschen kamen einmal die Woche in ihrer großen, weitläufigen, hellen Wohnung, in der sie auch mit Elsa Gindler seit 1950 gelebt und gearbeitet hatte, zusammen und lernten von ihr das wache Experimentieren mit unserem Körper, seinem Verhalten in Bewegung und Stillstand, in Beziehung mit der Schwerkraft und mit Aufgaben. „ Es ist und bleibt schwierig, diese Arbeit jemanden zu beschreiben, der sie nicht erlebt hat. Warum? Wahrscheinlich, weil sie so einfach ist. Man macht ja nichts Besonderes: In einer Gruppenstunde sind Menschen zu sehen, die auf Hockern sitzen, auf dem Boden liegen, stehen oder durch den Raum gehen. Manchmal sind Werkzeuge wie Sandsäcke, Bälle, Steine oder zwei Meter lange Bambusstäbe mit im Spiel. Bei längerer Beobachtung sieht man, dass die Leute mit ruhigen Versuchen beschäftigt sind, wie den Kopf zu drehen, einen Arm zu heben, Schritte zu machen oder ähnliches. Man spürt die konzentrierte Atmosphäre in der Gruppe und die Abwesenheit von Zeitdruck.“5 Diese Beschreibung einer Schülerin zu Charlotte Selvers Arbeit passt auch haargenau zu der von Sophie Ludwig. 5 Zeitler, Peggy: Wege der Entfaltung. Online:URL: http://www.we-ev.de/sensory-awareness/sa_intro.php [Datum der Recherche: 22.10.2008] 7 Das Konzentrieren auf eine Bewegung oder eine Aufgabe mit dem Gewahrsein des gesamten Geschehens in Körper, Geist und Seele wollte erlernt sein. Wenig taten wir in einer Stunde und doch geschah so viel. Zweckmäßiges Verhalten zu entdecken, d.h. z. B. den Arm mit dem Widerstand der Schwerkraft zu heben und dann mit Hilfe der Schwerkraft auch wieder zu senken, ohne unnötige Verspannung oder mehr Kraft als nötig dafür aufzubringen. Dieses Geschehen brachte eine enorme Entspanntheit, Gelassenheit, Erholung und ja auch Heiterkeit mit sich, so dass ich meist fast schwebend mich wieder dem Lärm und der Hektik der Stadt übergab und dann auch in dieser Umgebung noch eine Weile lang weiter übte, mich den Gegebenheiten und Anforderungen mit Leichtigkeit hinzugeben. Sophie Ludwig wirkte streng in ihrer Achtsamkeit unserer Unachtsamkeit gegenüber. Sie war durch und durch beseelt von ihrer Aufgabe, diese einzigartige und vom Aussterben bedrohte Arbeit von Jacoby/Gindler weiterzugeben. Dieses eine Jahr lehrte mich, Respekt und Achtung vor dem Alter zu haben. Sie war beweglicher als wir alle zusammen, und unermüdlich in ihrem Lehren und Sein. Sophie Ludwig, geboren 1901 in Berlin, seit ca. 1920 die Schülerin von Elsa Gindler, erlebte von Begin an die Zusammenarbeit von Jacoby und Gindler mit. Sie wurde ihre Mitarbeiterin. 1926 ermöglichte sie Jacoby durch Anmietung einer großen Wohnung den Umzug nach Berlin. An den Arbeitsgemeinschaften Jacobys nahm sie teil und sie arbeitete in den Kursen Gindlers mit. Als Jacoby 1933 emigrieren mußte, begann ein intensiver schriftlicher Austausch über Arbeitsthemen. Sie leitete Fortbildungsveranstaltungen, in welchen sie GindlerArbeit vermittelte und die vom Deutschen Gymnastikbund organisiert wurden. Ende 1947 wurde erstmals wieder eine Begegnung mit Jacoby in der Schweiz möglich. Seitdem nahm sie an seinen Ferienkursen teil. 1950 bezog sie mit Elsa Gindler eine geräumige Wohnung in Berlin Dahlem, in der sie gemeinsam lebten und arbeiteten und in der sie bis zu ihrem Lebensende lebte. 1961 starb Elsa Gindler und sie übernahm ihren Nachlass. 1964 starb Jacoby und so wurde sie auch für seinen Nachlass verantwortlich. !985, zum 100. Geburtstag Elsa Gindlers gründete sie die Heinrich Jacoby/ Elsa Gindler – Stiftung, der sie deren Nachlässe übergab. 1997 starb Sophie Ludwig Sie hinterließ eine große, wache und lebendige Schülerschaft jeden Alters und Profession, die das, was in den goldenen Zwanzigern an Achtsamkeitsarbeit durch Heinrich Jacoby und Elsa Gindler seinen Anfang nahm, immer weiterleben, weiterentwickeln und weitertragen werden. 8 3 Schwerkraft „ Wir wissen, dass die Anziehungskraft der Erde in jedem Moment auf alle Masse wirkt, auch auf uns. Bei einem kleinen Kind, das sich ungestört in ihm entsprechender Umgebung bewegen kann, können wir erleben, wie es sich damit auseinander setzt, wie es wägt, unermüdlich probiert, um auf die Füße zu kommen, wie es balancieren muss, um selbständig zu sein. Wir können spüren, wie es bei der Sache ist, wie konzentriert, wie heiter, wie still. Es ist wohltuend und schön, dies zu sehen. Und wir Erwachsenen im Alltagsstress, in der Routine, erschöpft? Was ist los? hat Elsa Gindler gefragt.“ 6 „ Wir wissen zwar, dass uns der Boden trägt. Eine andere Frage ist aber, ob wir dies empfinden und uns entsprechend verhalten können.…. Der Zustand, zu dessen Aufrechterhaltung wir nicht ständig Muskelkraft einsetzen müssen, nennt der Physiker Gleichgewicht. Im Gleichgewicht zu sein ist leicht und angenehm.… Organisiert sich unser Körper … so, dass seine Masse dorthin wirkt, wo auch Boden unter ihm ist, werden wir vom Boden getragen. Unsere Muskulatur kann sich dann darauf beschränken, die Anordnung der Körperteile zu erhalten…. Vielmehr kann sich Tragfähigkeit erst auswirken, wenn der Organismus sich derart organisiert, dass er Getragen- und Gestütztwerden auch innerlich, psychologisch zulässt und erfährt…. Es ist wesentlich, dass wir für jede Bewegung Widerstand benötigen. Wir können diesen Widerstand in uns suchen, wie es ein Astronaut im schwerelosen Raum zwangsläufig tun muss. Im Anziehungsfeld der Erde ist dieses Verhalten aber nicht sinnvoll…. Was … geschieht, wenn wir den Widerstand in uns suchen, wissen auf leidvolle Weise alle, die zur großen Gruppe der Menschen mit funktionellen Rückenschmerzen und Bandscheibenproblemen gehören. Sie haben Last zumeist gegen sich selbst gehebelt, z.B. den Kopf gegen den Rumpf oder den Rumpf gegen die unteren Lendenwirbel und das Becken… Eine häufige Verwechslung ist es, den Boden zu drücken, statt seinen Widerstand zu nutzen…. Den Widerstand zu nutzen impliziert, dass unser Körper leicht und elastisch auf diesen Widerstand reagieren kann. Im Gegensatz zum festen Boden sind wir bis in die letzte Faser unseres Körpers hinein beweglich und potentiell reagierbereit. Wir gewinnen dadurch mehr Raum in uns; weit ist angenehmer als eng….. Es gibt…kein Auf ohne Ab….Aufrichtung ist sowohl ein Sichniederlassen auf dem Boden als auch ein Abgespanntwerden durch den Boden.“7 6 Haag, Marianne: Sich von Forderungen treffen lassen. Die Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung zur Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby.DGymBInfo 6/2005 7 Klinkenberg, Norbert: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindlerarbeit. S.34 - 40, Stuttgart 2007. 9 3.1 Übung: getragen sein8 Suche dir einen Ort, der dir genehm ist und an dem Du die nächsten 30 Minuten in Ruhe sein kannst, ohne von irgendjemanden oder der irgendwas gestört zu werden. Lasse dich auf den Boden nieder – am besten auf eine dünne Matte, einem Teppich oder einer Decke. Der Boden sollte eher fest und deutlich sein. Eventuell deckst Du dich auch noch mit einer leichten Decke zu. Achte auf dich bei allen diesen Übungen und tue nichts, was dir unangenehm ist oder auch weh tut. Komme zum Liegen auf den Rücken, so dass es bequem ist. Vielleicht können die Arme seitlich neben dem Rumpf zum Liegen kommen und die Beine lang werden. Lass dir Zeit, anzukommen. Liegst Du bequem? Gibt dir der Körper Signale, die dir sagen, dass Du vielleicht da oder dort noch mehr zum Liegen kommen willst? Wenn Du Schmerzen im Kreuz hast, dann unterlagere deine Knie mit zwei Kissen oder mit einer zusammengerollten Decke. Wie ist die Qualität deiner Lage, deines Soseins? Erlaube es, wenn sich ein Bein noch mehr legen will oder wenn die Arme sich anders legen wollen. Brauchst Du vielleicht noch eine kleine Unterlage für deinen Kopf oder stört dich die, die unter deinem Kopf liegt? Sorge für dich. Wie ist die Beziehung zwischen deinem Kinn und dem Rumpf? Kannst Du frei atmen? Möchte der Hals noch mehr Raum bekommen? Komme immer mehr an und nimm dich von Kopf bis Fuß gewahr. Wie begegnet dir der Boden? Der Boden trägt uns. Empfindest Du ihn als tragend? Kannst Du dein Körpergewicht auf dem Boden ankommen lassen? Beobachte einfach. Wo hast Du Kontakt zum Boden? Was geschieht, wenn Du an einigen Körperstellen beginnst, dich mehr tragen zu lassen? Gönne dir immer wieder eine Pause, aber bleibe in der Situation. Lasse dir Zeit, bis Du wieder weiter versuchen möchtest. Nun stelle beide Füße auf, so wie es für dich bequem ist. Was hat sich dabei für die Auflage des Rückens verändert? Musst Du deine Beine halten, oder können sie unter den Füßen und unter dem Becken vom Boden gestützt werden, so dass Du die Beine nicht festhalten musst? Wie stehen die aufgestellten Beine? Möchten sie vielleicht eher nach innen oder nach außen sich neigen? Beobachte. Lasse deine Beine langsam wieder lang werden und zum Liegen kommen. Wie liegst Du jetzt auf dem Boden? Hat sich etwas verändert? Möchten deine Fersen vielleicht noch etwas länger werden und noch mehr zum Liegen kommen? 8 Vgl.Klinkenberg, Norbert: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindlerarbeit. S.57, 58, 70, Stuttgart 2007. 10 Wie lässt Du dich jetzt tragen? Wo möchte sich der Boden noch auswirken? Bleibe noch etwas liegen. Nimm Veränderungen wahr und gib diesen Raum. Dann komme über die Seite langsam zum Sitzen. Bleibe dabei noch ganz bei dir. Jede Bewegung verändert. Was will sich verändern? Zeigen sich Tendenzen, irgendwo anspannen zu wollen? Lächle sie an und lasse sie los. Dann komme wieder über eine Seite langsam zum Stehen. Bleibe ganz bei dir und bei dem Getragensein vom Boden. Wieder: beobachte deine Entspannung, deine Leichtigkeit und deinen Kontakt den Du noch zum Boden hast. Gibt es schon wieder leichte Tendenzen, dich selber tragen zu wollen? Gib dich an den Boden ab. Spüre, den Kontakt deiner Füße zum Boden. Wie stehst Du auf deinen Füssen? Ist dein Gewicht mehr auf dem ganzen Fuß, mehr auf den Fersen oder mehr auf den Außenkanten? Es ist sinnvoll, sich beim Stehen so zu organisieren, dass Dich der ganze Fuß stützen kann. Können sich die Füße auf dem Boden niederlassen und von ihm getragen werden? Können sich die Unterschenkelknochen auf den Fuß stützen und balancieren? Übertragen die Sprunggelenke die Masse des Körpers auf die Füße? Spiele ein wenig mit verschiedenen Körperteilen über den Füßen. Wo empfindest Du Anspannung? Kann sich Spannung z. B. im Gesäß oder im Schultergürtel leicht lösen? Wie wirkt sich das aus? Kann sich das Becken auf den Beinen niederlassen? Wie liegt es? Lasse zu, dass sich auch der Rumpf auf dem Becken niederlässt. Wie sieht es bei deinen Schultern aus? Hältst Du sie fest? Kannst Du sie auf dem Rumpf ablegen? Kannst Du empfinden, dass sie vom Rumpf getragen werden? Nun zu deinem Kopf: Spüre, dass auch er vom Körper darunter getragen werden kann. Nun nimm deinen getragenen Stand im Gesamten wahr. Und nimm deine Aufrichtung, die geschehen ist wahr. Gehe ein paar Schritte durch den Raum. Bleibe dabei ganz bei dir, bei deiner Aufrichtung, bei dem Gefühl des Getragenseins. Wie ist nun dein Gehen? Wie dein Kontakt dabei zum Boden? Gehe langsam und sanft aus dieser Übung heraus. 11 4 Zur Ruhe kommen „ Was bedeutet es, wenn wir etwas routiniert erledigen? Wir tun es, sind aber gleichzeitig innerlich woanders, in Gedanken etwa, vielleicht bei all dem, was noch zu tun ist. Das hat zur Folge, dass wir etwa nicht unmittelbar auf eine Last reagieren, die wir tragen. Wir packen ein Ding mit Überladung, so, wie wir vermuten, dass es nötig sei. Wen wir es dann abstellen, ist es ähnlich. Wir empfinden nicht den Moment, in dem es auf der Unterlage ankommt, reagieren nicht auf die Entlastung…Wir sind besetzt von dem, was wir müssen, wollen, meinen zu müssen. Wir sind schon beim Nächsten oder hängen noch in Gedanken bei Vergangenem…wir werden zunehmend enger ( denn wenn wir uns anstrengen, wird es eng in uns), werden müde, unser Zustand ist insgesamt entsprechend verändert. Es wirkt sich die Qualität unseres Tuns, unser Verhalten, auch auf die Gestimmtheit, auf Fühlen und Denken aus… Zur Ruhe kommen nannte Elsa Gindler unsere Fähigkeit, Anstrengung abklingen zu lassen. Abklingen bedeutet, dass sich der Organismus erholt… Erholen ist Wieder-weiter-Werden, aufgehen. Die Gewebe werden besser ernährt, der Organismus funktioniert im Ganzen ungestörter. Dieser Regenerationsprozess setzt ein, wenn wir dafür da sind, also anwesend… Es ist Erreichbarsein für das, was jetzt geschieht… Still sein, bei sich sein, das ist auch Voraussetzung, bereit zu werden dafür, sich einer neuen Aufgabe zuzuwenden… Elsa Gindler ließ in ihren Kursen erfahren, dass wir uns erholen können bei der Arbeit…, wenn wir in Beziehung sind zu dem, was wir tun… Deshalb ist die entscheidende Frage nicht: „Wie mach ich das? „Oder „ Was muss ich tun?“, sondern: “ Wie muss ich werden? Ich muss es nicht anders m a c h e n, ich muss anders w e r d e n – nämlich anwesend, kontaktbereit – um diese Aufgabe so zu erfüllen, dass mein Tun ihren spezifischen Forderungen entspricht und ich lebendig werde dabei.“9 9 Haag, Marianne: Sich von Forderungen treffen lassen. Die Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung zur Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby.DGymBInfo 6/2005 12 4.1 Übung: die Teetasse Vereinfachter Beschrieb der experimentellen Situation gemäß dem Jacoby/GindlerVerständnis zum zweckmäßigen Verhalten mit einer Tasse Tee: 1. Ich nehme den Duft des Tees und mein Bedürfnis wahr, Tee trinken zu wollen. 2. Ich nehme die volle Tasse wahr und lasse mich von ihr einstellen. Die berühmte Frage von Jacoby und Gindler lautet: Ding, was willst du von mir? 3. Ich führe meine Hand zur Tasse und halte sie. 4. In diesem nun wichtigen Moment – der Zeitspanne vom Anfassen der Tasse bis zu deren Anheben – werde ich gewahr, wie viel Kraft ich aufwenden muss bzw. im Jacoby-Terminus mir zufließt, um die Tasse anzuheben und dann zum Mund zu führen. Gewahr werden heißt hier nicht kognitiv wissen. Die Kraft bzw. das Gewicht der Tasse kann natürlich nicht mit Maßeinheiten angegeben werden, sondern Tasse, Tisch, Organismus, Boden und vielleicht sogar der Raum, in dem wir uns befinden, werden zu einem System bzw. einer Einheit. Die – in der Regel unbewusste – Handlung wird zu einem ganzheitlichen Erlebenskreislauf, in dem alle beteiligten Teile ineinandergreifen, sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind. 5. Mein Organismus baut von selbst jene Ladung bzw. Kraft auf, die benötigt wird, die Tasse zum Mund zu führen. Und insofern sich die Aufgabenstellung nicht im Grenzbereich der körperlichen Kräfte bewegt, vollziehen sich solche Abläufe in der beschriebenen Weise zweckmässig, d.h. mit der dazu nötigen minimalen Energie. Zudem: 6. Das Zurückstellen der Tasse nach dem Trinken dient gemäß Jacoby/Gindler bereits der Erholung des Organismus, indem ich einfach, beziehungsvoll, nach und nach dem Schwergewicht von Tasse und Arm nachgebe. Die Tasse schwebt sozusagen wie eine Feder bis auf die Tischplatte nieder. In der routinierten bzw. eingeschliffenen oder unbewussten Verhaltensweise hingegen hebe ich in der Regel die Tasse sozusagen mit einer Kraft bzw. Ladung auf Vorrat, die weit über die durch das Gewicht der Tasse bestimmte erforderliche Kraft hinausgeht. Desgleichen halte ich die Tasse beim Zurückstellen mit der gleichen Kraft. 10 10 Vgl. Zahner, Hannes 2003: Einführung in das ganzheitliche Verständnis der Jacoby/Gindler-Arbeit. S 2, 3 Online:URL: http://www.jacobcgindler.ch/seiten/jacoby/texte/einfuehrung.html [Datum der Recherche: 21.10.2008] 13 4 Elsa Gindler 1885 – 1961: wahrnehmen, was wir empfinden 1985 wurde Elsa Gindler in Berlin geboren Da sie aus armen Verhältnissen kam, verdiente sie sich ihre kaufmännische Ausbildung selbst. 1906 wurde sie Buchhalterin in einer Möbeltischlerei. Abends besuchte sie allgemeinbildende Kurse und engagierte sich in der Lebensreform-Bewegung. Sie verstand sich damals als eifrige Pionierin für die Körperbildung der Frau. 1911 lernte sie Hedwig Kallmeyer kennen und ging zu ihr in die Ausbildung für Harmonische Gymnastik. Schon ab 1912 arbeitete sie als selbständige Gymnastiklehrerin. Ab 1917 leitete sie ihre erste Ausbildungsgruppe. Bis 1920 bildete sie ca. 60 Gymnastiklehrerinnen aus. 1925 gründete sie mit anderen Gymnastiklehrern den Deutschen Gymnastikbund, deren stellvertretende Vorsitzende sie bis 1933 war. 1924 begegnete sie dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby, der über die Bedeutung von Verhalten und Zustand für Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Äusserungsvorgänge forschte und seine Erkenntnisse in Kursen für die Allgemeinheit lehrte. In der folgenden Zeit gaben sie gemeinsame Kurse, in denen sie sich Fragen der Entfaltung und Nachentfaltung menschlicher Möglichkeiten widmeten. 1926 hält sie einen Vortrag mit dem Titel: Gymnastik für Berufsmenschen. Darin sagt sie: Es wird uns allen immer mehr fühlbar, dass wir mit unserem Leben nicht mitkommen, dass das Gleichgewicht der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte gestört ist…Wir hören auf, unser Leben denkend und fühlend zu gestalten, werden gehetzt und lassen alle Unklarheiten um und in uns so anwachsen, dass sie immer im ungeeigneten Moment Herr über uns werden. 1933 muss Heinrich Jacoby emigrieren. Bis 1939 gaben sie gemeinsam Ferienkurse in der Schweiz und in Italien. Während des zweiten Weltkrieges war der Austausch erschwert. Elsa Gindler blieb in Deutschland. Sie lehnte den Nationalsozialismus jedoch entschieden ab. Sie half politisch und rassisch Verfogten, womit sie sich selbst in Gefahr brachte. Kurz vor Kriegsende wurden ihr Atelier und damit fast die gesamten Materialien, welche die Ergebnisse ihrer Arbeit dokumentierten, durch Bomben vernichtet. Elsa Gindler war geschwächt und gesundheitlich schwer beeinträchtigt. 14 Seit 1933 arbeitete sie zurückgezogen von der Öffentlichkeit mit ihren Kursen in Berlin weiter. Eine Schülerin schrieb über diese Zeit: „ Zu der Zeit …verbrachten wir viele dieser Kursabende in ihrem Luftschutzkeller. Es war eine harte Schule, um in dieser Arbeit weiter zu kommen: Auch wenn neben uns eine Wand einstürzte, die Ruhe behalten, nicht in Hysterie verfallen, die innere Stille zu suchen und gelassen zu bleiben… Elsa Gindler schreibt in dieser Zeit: Die wenigen Momente, in denen wir am Leben sind, haben wir doch ganz anders verfügbar… ..Ende des Krieges war ihre Lebenskraft aufs Äußerste geschwächt. Materielle Hilfe kam aus vielen Teilen Deutschlands und des Auslandes – Antwort auf Elsa Gindlers Arbeit, ihre Wärme, ihre Menschlichkeit und ihr unbeirrbares Einstehen für Menschenrechte und Menschenwürde… Anfang 1947 schreibt sie: ..bei dem Kohlenmangel sind die meisten am Ende ihrer Kräfte im Kampf mit dem Leben angelangt…Wir haben nun schon sieben Wochen strenge Kälte und ein Teil schafft es nicht mehr, bei den Überbelastungen noch zur Arbeit zu kommen…Ich bin sehr müde und es kommt nicht viel dabei heraus.“ 11 1947 trafen sich Heinrich Jacoby und Elsa Gindler in der Schweiz wieder. Elsa Gindlers Arbeiten war in den vergangenen Jahren eine noch dringlichere Auseinandersetzung mit der Forderung geworden, im Alltag Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen, wacher, funktionsbereiter, lebendiger zu werden. 1950 bezog sie zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Sophie Ludwig neue Arbeits – und Wohnräume. Sie selbst bemerkte, dass ihre Arbeit im Laufe der 50iger Jahre nun zur Reife gedeiht. 1955 schreibt sie: Wenn uns keine Arbeit zuviel wird, um mehr so zu werden, wie wir spüren, dass es sein will, dann haben wir uns verstanden. 1961 stirbt Elsa Gindler in Berlin. Ein Jahr später wurde in Israel ein Hain gepflanzt zum Ausdruck unserer Dankbarkeit und unserer Verehrung für Elsa Gindler und ihr Wirken. In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem wird auch an jene Nichtjuden erinnert, die Juden gerettet haben. 11 Haag Marianne: Elsa Gindler-von ihrem Leben und Wirken. Wahrnehmen, was wir empfinden. S.57, 58, 65, 67, Hamburg 2002 15 6 Heinrich Jacoby 1889 – 1964 : empfinden für das Stimmende 1889 wurde Heinrich Jacoby in Frankfurt geboren. Durch verschiedene Krankheiten verlief seine Entwicklung verzögert. Erst mit vier Jahren lernte er laufen. Er litt unter Rachitis und chronischer Migräne. Obwohl er schon als Jugendlicher gerne Musik studiert hätte, absolvierte er auf Wunsch der Eltern zunächst eine Lehre in einer Eisenwarenhandlung. 1907, nach Abschluss seiner Lehre, trat er sein Musikstudium bei Hans Pfitzner am Konservatorium Staßburg an. Er belegte auch Kurse in Philosophie und Psychologie. Während des Studiums war er am Straßburger Stadttheater – neben Wilhelm Furtwängler und Otto Klemperer als Kapellmeister und Regievolontär tätig. 1913 schloss er sein Studium ab und übernahm die Leitung der Lehrerbildung für Musik an der Neuen Schule für angewandten Rhythmus von Jaques-Dalcroze in Dresden-Hellerau. Er begann eine rege Vortrags – und Konzerttätigkeit (Klavierimprovisation). Während des ersten Weltkrieges diente er zeitweise in der Armee. Von 1919 bis 1922 leitete er die Musikerziehung an der Odenwaldschule von Paul Geheeb. 1924 – 1933 arbeitete Jacoby als Privatgelehrter in Dresden und Berlin und pflegte Kontakte zum Bauhaus. (Moholy – Nogy bezog sich in seiner Arbeit auf Jacoby.) 1924 begegnet er Elsa Gindler. Dazu schreibt er: „ Erst als ich nach langem Suchen in Berlin die Arbeitsweise von Elsa Gindler kennenlernte, sah ich, dass das, was ich bisher vergeblich von der Gymnastik erwartet hatte, möglich ist. Hier war der Versuch einer Erziehung von der Seite des Körpers her, bei dem die bewusste Auseinandersetzung mit den in jedem Menschen latenten, ordnenden Tendenzen des Organismus zur Grundlage aller Arbeit gemacht wurde.“12 Diese Begegnung war der Begin einer intensiven Zusammenarbeit, die auch durch die 1933 erzwungene Emigration Jacobys in die Schweiz nicht unterbrochen wurde. 12 Haag, Marianne: Sich von Forderungen treffen lassen. Die Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung zur Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich. Jacoby.DGymBInfo 6/2005 16 1933 emigriert er in die Schweiz nach Zürich. Jacoby war zu dieser Zeit 44 Jahre alt. „ Bei aufkommender Anerkennung, noch vor dem Höhepunkt seiner Forschungsarbeit und öffentlichen Karriere, folgte die Mehrheit der Menschen in Deutschland dem faschistischen Gedankengut und riss eine über 15 jährige Zäsur in das Leben und Wirken von Jacoby. Wie auch in jenes von so vielen anderen Künstlern und Wissenschaftlern, die am Aufbruch der 20iger Jahre beteiligt waren.“13 1934 hielt er sich in Palästina beim Habimah-Theater in Tel Aviv auf. Bis 1947 war sein Aufenthaltsstatus in der Schweiz unsicher. Er befasste sich zwar weiterhin mit seinen Untersuchungen und Studien, aber unter sehr erschwerten Bedingungen: offiziell durfte er weder arbeiten noch publizieren, und nur Dank Unterstützung verschiedener Persönlichkeiten ( u.a. von Heinrich Hanselmann, Professor am Heilpädagogischen Seminar in Zürich und der Industriellen Familie Matter in Kölliken) war es ihm möglich immer wieder eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten und gelegentlich Vorträge zu halten und Kurse zu geben. 1947 wurden die einschneidenden Maßnahmen aufgehoben, jedoch stand er weiterhin unter Beobachtung. 1955 konnte Jacoby die schweizerische Staatsbürgerschaft erlangen. Bis zu seinem Tod leitete er weiterhin Kurse und Arbeitsgemeinschaften. 1964 stirbt Jacoby in Zürich. Sein Grab befindet sich auf dem Zürichberg. Seine Art zu denken und zu lehren wirkt bis heute fordernd, provokant und revolutionär, wie zwei Sätze von ihm zeigen: „ Ändern müssten sich Mentalität und Verhalten der lehrenden Erwachsenen, die Einstellung zu den Möglichkeiten des jungen Menschen. Zum Erzieherberuf, zum PflegerInnenberuf, aber auch zum Arztberuf sollte ein Mensch nicht zugelassen werden, bevor er eine Ahnung von der Tragweite der Wirkung seines Zustandes und Verhaltens auf andere hat. „14 13 Zahner, Hannes 2003: Einführung in das ganzheitliche Verständnis der Jacoby/Gindler-Arbeit. S 8 Online:URL: http://www.jacobcgindler.ch/seiten/jacoby/texte/einfuehrung.html [Datum der Recherche: 21.10.2008] 14 http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Jacoby. S.2 [Datum der Recherche: 14.01.2009] 17 7 Ins Wasser fällt ein Stein Ins Wasser fällt ein Stein – ganz heimlich, still und leise, – und ist er noch so klein – er zieht doch weite Kreise…( Lied ) Bekannte SchülerInnen von Jacoby und Gindler, die diese Arbeit in ihrer Art und Weise mit eigenem Ansatz weiterentwickelten, waren und sind unter anderem: Charlotte Selver 1901 – 2003 : Every moment is a living moment. 1938 emigrierte sie nach New York. Mit dem Namen: Sensory Awareness – Erleben durch die Sinne führte sie ihre Arbeit in Amerika weiter. Sie unterrichtete u.a.am Esalen Institute in Big Sur. Viele namhafte Persönlichkeiten besuchten ihre Kurse wie z. B. der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Begründer der Gestalttherapie Fritz Perls oder den Zen-Philosoph Alan Watts. Charlotte Selver beeinflusste entscheidend das Human Potential Movement, die humanistische Psychologie, speziell die Gestalttherapie von Fritz Perls und seiner Frau Laura Posner Perls. Diese bestand bereits vor ihrer Emigration in Kontakt mit Elsa Gindler in Berlin. Aspekte ihrer Arbeit flossen auch in viele der heute verbreiteten Methoden im Bereich der Körperarbeit und Psychosomatik ein. Seit den 60iger Jahren arbeitete sie auch regelmäßig mit Schülern des San Francisco Zen Centers zusammen. Zusammen mit ihrem zweiten Mann Charles Brooks bot sie fast 30 Jahre lang Kurse an. Viele SchülerInnen reisten ihnen um die halbe Welt nach, um regelmäßig am Unterricht teilhaben zu können. Sie hat in den über 80 Jahren ihrer Tätigkeit tausende von Menschen in den USA, Europa und Mexiko tief berührt und angeregt. Sie wurde 102 Jahre alt. Elfriede Hengstenberg 1892 – 1992 „ Sie war Gymnastiklehrerin in Berlin und hat dort mit Großstadtkindern gearbeitet. Ihr Anliegen war es, dass Kinder selbständig ihre Bewegungsfähigkeiten entdecken und entwickeln können. Die Hengstenberg-Bewegungsmaterialien kommen ursprünglich in der Natur vor: Leitern, Hocker, Balancierstangen, Hühnerleitern,…laden Kinder ein zum Kriechen, Krabbeln, Klettern, Balancieren, Rutschen, Springen… Alle Materialien sind kombinierbar und dienen als vielseitige und bewegliche Bauelemente. Somit bieten Sie einerseits den Kindern die Möglichkeit, sich Bewegungslandschaften zu bauen, die sie in ihrem eigenen Zeitmaß und eigener Dynamik erkunden dürfen und die der Entfaltung ihrer Geschicklichkeit und Bewegungsfreude Raum geben.“15 15 http:www.hengstenberg-pikler.de/hengstenber_geschichte.htm [Datum der Recherche: 14.01.2009] 18 Emmi Pikler 1902 – 1984 „ Emmi Pikler war Kinderärztin, Gründerin und langjährige Leiterin des Säuglingswaisenheimes Lóczy in Budapest, das heute durch seine Forschung und Weiterbildung international als Pikler-Institut bekannt ist. Der Name Pikler steht heute für einen Bewußtseinswandel in der Kleinkindpädagogik: Schon der Säugling wird als Mensch ernstgenommen, wodurch auch die Langzeitschäden einer Kindheit im institutionellen Rahmen nachweislich nicht aufgetreten sind. Emmi Pikler erkannte schon bei ihrer familienberatenden Tätigkeit den Wert der Eigenaktivität und selbstbestimmten Bewegungsentwicklung des Kindes für seine Persönlichkeitsentfaltung.“16 . Frieda Goralewski 1893 – 1989 „ Menschen jeglichen Alters aus verschiedensten Lebenssituationen suchten ihre Kurse auf. Sie lehrte die natürliche Verbindung von Atem und Bewegung und stärkte so die Fähigkeit, , Anforderungen gewachsen zu sein. Gora war offen für jeden, besonders wichtig waren ihr die werdenden Mütter und kleine Kinder, aber auch Arbeiter und Angestellte, ebenso Musiker, Schauspieler und Wissenschaftler nahmen an den Gruppenstunden teil. Sie gründete die Schule für Atem, Stimme und Bewegung.“17 Moshé Feldenkrais 1904 – 1984 : „ Moshe Feldenkrais ging davon aus, dass ein Mensch nach dem Bild handelt, das er sich von sich macht. Er sagt, dass dieses Bild (self image) teils ererbt, teils anerzogen und zu einem dritten Teil durch Selbsterziehung zustande kommt. Wenn nun jemand das Bedürfnis hat, sein Handeln zu ändern…dann muß dieses Bild von sich selbst geändert bzw. erweitert werden… Er erarbeitete eine umfangreiche Sammlung von Lektionen (über 1000), die verbal einer Person oder einer Gruppe angesagt werden können. Dabei handelt es sich nicht um Körperübungen im herkömmlichen Sinn, sondern um Bewegungsanleitungen, die zum Ausprobieren und zum Lernen einladen. .. Ziel ist es, die Elemente Bewegung, Sinnesempfindung; Gefühl und Denken über das Element Bewegung zu verändern und zu entwickeln.“ 18 16 17 18 http:www.hengstenberg-pikler.de/pikler_geschichte.htm [Datum der Recherche: 14.01.2009] http:// www.goralewskigesellschaft.de/frida.htm [Datum der Recherche: 14.01.2009] http:// de.wikipedia.org/wiki/Feldenkrais 19 Bibliographie Literatur – und Quellenverzeichnisse: Haag Marianne: Elsa Gindler-von ihrem Leben und Wirken. Wahrnehmen, was wir empfinden. S.57, 58, 65, 67, Hamburg 2002 Haag, Marianne: Sich von Forderungen treffen lassen. Die Heinrich-Jacoby/Elsa-GindlerStiftung zur Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich. Jacoby. In: DGymBInfo 6/2005 Vgl.Klinkenberg, Norbert: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Ein Arbeitsbuch mit 20 Probiersituationen aus der Jacoby/Gindlerarbeit. S.57, 58, 70, Stuttgart 2007. http:// www.goralewskigesellschaft.de/frida.htm [Datum der Recherche: 14.01.2009] www.hengstenberg-pikler.de [Datum der Recherche: 14.01.2009] http://www.ruth-matter-stiftung.ch/text/nachempf.html [Datum der Recherche: 22.10.2008] Zahner, Hannes 2003: Einführung in das ganzheitliche Verständnis der Jacoby/Gindler-Arbeit. Online:URL: http://www.jacobcgindler.ch/seiten/jacoby/texte/einfuehrung.html [Datum der Recherche: 21.10.2008] Zeitler, Peggy: Wege der Entfaltung. Online:URL: http://www.we-ev.de/sensoryawareness/sa_intro.php [Datum der Recherche: 22.10.2008] Weitere zu empfehlende Literatur: Brooks, Charles V.W.: Erleben durch die Sinne.(Sensory Awareness) in der deutschen Bearbeitung von Charlotte Selver. Paderborn 1979 Franzen, Gabriele, M.: „ Werden Sie wieder reagierbereit!“. Elsa Gindler 1885 – 1961 und ihre Arbeit. In: Gestalttherapie 2, S. 3 - 19 Fromm, Erich: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung.Schriften aus dem Nachlaß. 1. Weinheim (Beltz) 1989 Goldberg, Miriam: Eine Minute warten. Über Aufmerksamkeit und Selbstbestimmung. Hamburg, 1995 Haag,Marianne/Birgit Rohloff (Hrsg.): Arbeiten bei Elsa Gindler. Notizen Elsa Gindlers und Berichte einer Teilnehmerin. Berlin 2006 Hengstenberg, Elfriede: Entfaltungen. Bilder und Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern. Arbor Verlag, Heidelbeg 1991 Jacoby, Heinrich: Jenseits von begabt und unbegabt. Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten – Schlüssel für die Entfaltung des Menschen. Hamburg 1994 Selver, Charlotte: every moment is a moment. Sensory Awareness Foundation erhältlich bei Wege der Entfaltung e.V. 20 Ahnengalerie: Von Sophie Ludwig ist leider nirgendwo ein Bild ausfindig zu machen. Heinrich Jacoby Charlotte Selver Emmi Pikler Elsa Gindler Moshé Feldenkrais Klettern Frida Goralewski Elfriede Hengstenberg