Einzelinterpretationen Rechte Kids

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Einzelinterpretationen
Branca 1992 - 1994
"Bei uns sind viele Ausländer in der Clique, also nicht gerade Kurden oder so was. Also
ganz normale Spanier, Italiener, Türken gibt's auch, aber das ist ja egal. Aber auf jeden Fall
keine Asylanten und so." (1992: 15;38-16;3)
"...die, was früher gekommen sind, sollen irgendwie ... bevorzugt werden, wie die
Deutschen, weil ich meine, ... die können ja nicht immer gegen Ausländer sein. Ich glaube,
kein Deutscher würde da die Müllcontainer auskippen ... meistens sind das die Ausländer.
Die sollten irgendwie alle gleich bevorzugt werden. Aber mit den Asylanten, manche sind
wirklich unverschämt und klauen und haben viel falsche Namen da, und bekommen das
Geld, und ich meine, solche sollten wieder zurückgeschafft werden. Aber es gibt ja
wirklich, also die was gar nichts dafür können. Oder viele sagen, die sind in Kriegsgebiete,
dabei sind sie das gar nicht, dabei können sie da genauso gut leben." (1993: 27;37-28;13).
"... weil als erstes kommen die Asylbewerber her, weil sie nichts haben und dann wollen
sie, dass es denen noch besser geht als jetzt Leuten, die wo weiß Gott wie lange hier
wohnen. Weil die Asylbewerber sind irgendwie zu doof in der Hinsicht und dann sind sie
irgendwie selber schuld, wenn sie so blöd angemacht werden. Vielleicht nicht die
einzelnen, aber das können sie denen verdanken, die so getan haben, dass sie voll klug
wären und die Deutschen verarschen könnten ... oder die haben sich bei zehn Heimen
angemeldet und von überall Kohle kassiert und dann sind das mal vier-, fünftausend Mark
und dann geht es denen praktisch besser als den anderen, die hier arbeiten und halt
gesetzlich." (1994: 65;6-24).
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Branca, geb. 1978, Kroatin, lebt mit ihrer Mutter in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in
einem Stadtteil einer mittelgroßen Stadt mit ca. 95.000 Einwohner, die im Einzugsbereich
einer Großstadt liegt. Der Stadtteil ist durch seine frühere selbständige, eher ländliche
Struktur und große Industrieansiedlungen geprägt. Branca hat ein eigenes Zimmer.
Seit 1982 lebt der Freund der Mutter in der Familie. Das Mädchen bezeichnet ihn als
Stiefvater. 1993 kommt es zwischen den Erwachsenen zu Auseinandersetzungen, worauf
der Lebensgefährte auszieht. Die Beziehung wird wieder aufgenommen, erscheint 1994
allerdings loser. Der Freund hat eine eigene Wohnung, ist aber dennoch häufig in der
Familie anwesend.
Branca besucht zu Beginn der Befragung die 8. Realschulklasse, 1993 muss sie die 9.
Klasse wiederholen.
Sowohl die Mutter als auch ihr Lebensgefährte sind Industriearbeiter ohne Schulabschluss
und stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Die Familie verfügt über die üblichen Haushaltsgeräte und ein Auto. Branca selbst besitzt
1994 eine Stereoanlage, einen CD-Player, einen Farb-TV, einen Walkman und ein
Keyboard (vgl. Fb.). Sie bekommt zunächst monatlich ca. 80 DM Taschengeld, das sie sich
durch Gelegenheitsarbeiten aufbessert. 1994 verfügt sie über 100.- bis 120.- DM
regelmäßiges Taschengeld; durch einen Job als Putzfrau verdient sie sich monatlich
zwischen 300.- und 400.- DM selbst dazu (vgl. Fb.).
Bis 1993 ist Branca Mitglied in einem Kegelverein.
I
Bei den Interviews trägt sie moderne, teure, legere, sportliche Markenkleidung. "Ich habe
halt das Hobby, dass ich mich ziemlich gut anziehe" (1994: 11;29-30).
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine politische Orientierung
Brancas einziges Interesse an Politik bezieht sich auf die Kriegsereignisse im ehemaligen
Jugoslawien. Dementsprechend nimmt sie auch nur zu diesem Thema politisch Stellung,
bzw. argumentiert aus ihren Erkenntnissen über die dortige Politik in ihren Stellungnahmen
zur Politik in Deutschland. Ein Wahlrecht für Ausländer in Deutschland findet sie "nicht
okay, die sollen in ihrem Land wählen" (1994: 68;16-17). Begründet wird diese Aussage
durch ein unterstelltes Desinteresse aller Ausländer am politischen Geschehen in
Deutschland. Hier schließt sie womöglich von den aktuellen, kriegsbedingten
Gewichtungen des politischen Interesses ihrer in Deutschland lebenden jugoslawischen
Landsleute auf das von anderen Ausländern.
Ihre Kenntnisse über politische Zusammenhänge in Deutschland sind entsprechend gering.
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Im Grunde stimmt Branca Gleichheitsvorstellungen ("alle Menschen sind gleich") zu und
sieht darin die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher
Nationen gegeben (vgl. 1993: 25;5-9). Eine Gleichbehandlung oder eine
Gleichberechtigung aller in Deutschland lebenden Menschen lehnt sie allerdings ab.
Branca unterteilt nämlich die Gesamtheit der Ausländer in Deutschland in unterschiedliche
Gruppierungen, die sie nach der Länge ihres Aufenthalts, nach Sprachkenntnissen und nach
dem Grad der Modernisierung hierarchisch ordnet (vgl. 1992: 16;11-21). Ausländer, die
schon länger hier sind, sollten "gleich bevorzugt werden wie die Deutschen" (1993: 27;3940). Unter diese Gruppierung von Ausländern, die klassischen Gastarbeiter, zu denen sie
sich und ihre eigene Familie zählt, stellt sie die ihrer Einschätzung nach neu
hinzugekommenen "Asylanten, Kurden und Albaner", deren deutsche Sprachkenntnisse sie
als mangelhaft und deren Gebaren und Kleidung sie als "altmodisch" qualifiziert
("Klamotten aus den 50er Jahren", 1992: 16;20). Diese Hierarchisierung begründet sie mit
einer spezifischen, von ihr wahrgenommenen Einstellung der deutschen
Bevölkerungsmehrheit: Unter der deutschen Bevölkerung sei eine gewisse
Ausländerfeindlichkeit feststellbar, von der sie sich selbst aber nicht betroffen sieht (vgl.
1993: 24;39). In ihren Augen ist eine Zuspitzung erst mit dem Hinzukommen von
Asylbewerbern entstanden. Deutsche erleben danach zwar Ausländer im allgemeinen als
Konkurrenz, z.B. auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt, akzeptieren allerdings die schon
lange hier lebenden Ausländer, weil sie ihnen von Nutzen sind und teilweise
Freundschaften bestehen (vgl. 1994: 44;13-24). Außerdem ist Branca davon überzeugt,
dass die Deutschen wüssten, dass es zu einem Krieg kommen würde, wenn Deutschland
alle Ausländer ausnahmslos in ihre Heimatländer zurückschicken würde (vgl. 1993: 36;1229).
Ab 1993 wähnt Branca Asylbewerber durch staatliche Unterstützungen im Vorteil
gegenüber den schon länger hier lebenden Ausländern. Sie vertritt die Ansicht, dass viele
Asylbewerber unberechtigterweise in Deutschland leben und Geld erhalten (vgl. 1994:
65;1-15). Sie reflektiert zwar, dass ihre Meinung zu Asylbewerbern sich hauptsächlich auf
Vorurteile stützt
"... Das sind eigentlich auch irgendwie Menschen, Ich weiß es auch nicht so, ich habe ja
keine Asylanten als Freunde und dann kann ich die auch nicht so einschätzen. Ich kann da
jetzt nicht viel herumreden über die Nation, obwohl ich die nicht kenne und mit denen
noch nie gesprochen habe." (1994: 64;28-37)
II
und sie nicht für alle Schwierigkeiten in Deutschland verantwortlich gemacht werden
können, nimmt aber trotzdem Abwertungen vor und spricht sich für eine Bevorzugung der
Ausländer aus, die sich schon länger hier aufhalten.
Darüber hinaus beklagt sie belästigende Annäherungsversuche durch männliche
Asylbewerber (s.u.). Zudem hält sie sie aufgrund eigener Beobachtungen im nahegelegenen
Asylbewerberheim für kleinkriminell ("Da habe ich schon oft gesehen, dass die ... da gibt
es doch manchmal Altkleidersammlungen und so, dann haben sie immer voll Säcke am
Rücken, dann sehe ich auch mal, dass sie Orangen klauen oder so... ", 1993: 32;33-37).
Deshalb stimmt sie dem Slogan "Asylbetrüger raus" zu, obwohl sie weiß, dass er "von den
Republikanern" (1994: 65;5) stammt. Einem Verbleib in Deutschland stimmt Branca nur
bei den von Krieg betroffenen Menschen zu. Im Prinzip ist eine Kontinuität in der
Ablehnung von "Asylanten, Kurden und Albanern" über alle 3 Befragungen feststellbar.
Allerdings differenziert die Jugendliche in der 3. Erhebung die Gruppierung der
Asylbewerber und erwähnt erst in diesem Jahr bosnische Flüchtlinge, deren Bedrohung im
Herkunftsland für sie nachvollziehbar ist und deren Verbleib in Deutschland sie dadurch
gerechtfertigt sieht (vgl. 1994: 65; 26ff.).
Lösungen ausländerfeindlicher Konflikte sieht Branca in einer gerechteren Verteilung der
Asylbewerber auf alle europäischen Staaten (vgl. 1993: 29;14-25). Außerdem sieht sie in
der Bewusstmachung, dass jeder im Ausland ein Ausländer ist, eine Möglichkeit,
ausländerfeindlichem Denken entgegenzuwirken (vgl. 1994: 67;33-34).
2.3
Gewaltakzeptanz
Als Lösung von Konflikten lehnt Branca Gewalt grundsätzlich ab ("miteinander reden und
nicht gleich schlägern", 1992: 24;30), trotzdem akzeptiert sie diese Art der Problemlösung
in der Klasse und in der Clique, zu der sie sich 1992 zählt und in der Schlägereien hin und
wieder unter den Jungen vorzukommen scheinen. Verständnis für eine gewalttätige
Konfliktaustragung zeigt Branca dann, wenn es um die Familienehre geht ("wenn man
Mutter und Vater ins Spiel bringt mit Schimpfwörtern", 1992: 23;20-23).
Branca ist im Kontext von Schule öfter mit Gewalt konfrontiert, die sie als für jüngere
Jugendliche typisch darstellt und z.T. verharmlost, "mehr so Scherze" (1993: 20;13). Selbst
das Mitbringen von Waffen bagatellisiert sie. Gewalttätige Handlungen unter Schülern
sieht sie vor allem unter dem Aspekt des Angebens (vgl. 1993: 17;15-17) und des
Demonstrierens von Kraft (vgl. 1994: 38;37-40).
Sie selbst hält sich nach ihrem Bekunden aus gewalttätigen Auseinandersetzungen heraus.
Wenn sie eine Schlägerei unter Jüngeren beobachtet, greift sie ein und versucht, eine
friedliche Lösung zu finden. Im allgemeinen ist Branca allerdings davon überzeugt, dass
man gegen die Tendenz zur Gewalt nichts machen kann: "die Menschen kann man nicht
ändern" (1994: 25;24-31).
Die Brandanschläge von Solingen lehnt Branca ab, befürwortet aber die Gegenwehr der
Türken, denn jeder "soll für seine Sache kämpfen" (1993: 35;14-15).
Branca sieht sich selbst als potentielles Gewaltkriminalitätsopfer. Einerseits nimmt sie
deshalb an einem Selbstverteidigungskurs (vgl. Fb. 1992) teil, andererseits meidet sie Orte,
an denen es für sie gefährlich sein könnte. Sie versteht auch, dass ihre Mutter darauf
besteht, dass sie nachts nach Hause gebracht wird.
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
In der 1. Erhebungsphase bemüht sich Branca, Ausländer verschiedener Klassen zu
differenzieren und in eine Hierarchie zu bringen, in der sie selbst als "normale
Ausländerin" ganz oben steht. Die Clique, zu der Branca sich 1992 zählt, setzt sich
III
demzufolge nur aus "normalen Ausländern, also nicht Asylanten oder Kurden" zusammen
(1992: 15;39-16;3). Im Verlauf der weiteren Erhebungen überträgt sie diese Klassifikation,
die sich 1992 nur auf den Cliquenzusammenhang bezogen hat, auch auf andere
Lebensbereiche. Zentrales Bedürfnis ist es, ihre Position als lange hier lebende Ausländerin
zu sichern. Als Rechtfertigung dieser Unterscheidung führt sie neben Asylbetrug auch
Anmache von Seiten der Asylbewerber an.
"... und so manchmal gehen sie mir schon auf den Keks, wenn sie da hinter mir so ... blöd
rummachen, hallo Mädchen und so, dann kotzt mich das schon an, weil die denken, die
wären es halt dann voll hier und so, dabei sind sie, wer weiß, ob da überhaupt Krieg ist, ich
meine, die können ja auch lügen und so. Da darf man nicht immer so bemitleidend sein ..."
(1994: 4;34-5;6).
1993 erwähnt sie im Zusammenhang mit Anmache auch Türken, die sie nach ihrer Aussage
von Asylbewerbern und Kurden "gar nicht mehr unterscheiden" kann, denn die sind
"bräunlich im Gesicht, für mich alle so gleich aussehend" (1993: 29;14-25). Sie bringt also
die Hautfarbe als konkret wahrnehmbares Unterscheidungskriterium ins Spiel, wobei zu
berücksichtigen ist, dass Branca selbst vom Aussehen her auch als Deutsche durchgehen
könnte. Auch ein angeblicher Missbrauch von sozialen Leistungen ("die haben sich bei 10
Heimen angemeldet und dann von überall Kohle kassiert"; 1994: 65;20-25), dient Branca
als Argument für die von ihr getroffene Unterscheidung.
Wohl auch um die Abgrenzung gegenüber den in ihren Augen minderwertigen Ausländern
mit mangelnden Sprachkenntnissen und unterbezahlter Arbeit manifestieren zu können,
bemüht Branca sich um einen guten Bildungsabschluss und eine sichere Berufsausbildung.
Im Verlauf der 3 Erhebungsjahre spielen außerdem Geldverdienen und Kaufen teurer
Markenkleidung
immer wichtigere Rollen in Brancas Leben. Verschiedene
Gelegenheitsarbeiten und der Putzjob verschaffen ihr die dafür erforderlichen finanziellen
Mittel. Somit wird es ihr möglich, den Anschluss an den in Deutschland praktizierten
Wohlstandskonsum zu bewerkstelligen. Um so schwerer wiegt, dass sie 1994 - im
Gegensatz zu den belastungsfreien Jahren davor - vor dem Hintergrund fehlgeschlagener
Bewerbungsbemühungen Schwierigkeiten der Berufsfindung (vorzugsweise im
kaufmännischen Bereich, "auf jeden Fall was mit Computern", 1993: 37;36) als zentrale
Problembelastung angibt.
Branca betont in allen 3 Erhebungen ihre kroatische Nationalität. Sie hat das Bedürfnis, in
Deutschland als Ausländerin anerkannt zu werden und ihre Nationalität nicht verstecken zu
müssen. Sie ist überzeugt davon, dass eine auf dem Papier gegebenenfalls bestätigte
deutsche Staatsangehörigkeit an der Einstellung der Menschen zu ihrer "eigentlichen"
Nationalität ("aber das Innere, das ist anders", 1994: 58;28-29) nichts ändern würde.
Deshalb spricht sie sich gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft aus (vgl. 1994: 58;21-34),
auch wenn sie darin manche Vorteile erkennen kann. Zum Zeitpunkt der 3. Befragung
würde sie sich im Zweifelsfall für die kroatische Staatsangehörigkeit entscheiden. Eine von
der Mutter angestrebte Rückkehr nach Kroatien zieht Branca für sich selbst in Erwägung,
wie aber auch 1993 eine Auswanderung in ein anderes Land; evtl. in das ihres Freundes
oder eines zukünftigen Mannes.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Branca erlebt in ihrer Familie wenig Stabilität und Rückhalt. Zur Mutter kann sie kein
vertrauensvolles Verhältnis aufbauen, weil sie ihr übernervös, ängstlich und wenig
belastungsfähig erscheint - ein Eindruck der durch ein Experteninterview mit einer
ehemaligen Horterzieherin Brancas zum Familienhintergrund bestätigt wird. Deshalb steht
sie als Ansprechpartnerin bei Problemen nicht zur Verfügung. Für jugendspezifische
Aktivitäten zeigt die Mutter wenig Verständnis. Trotzdem betont Branca in allen 3
Erhebungen, wie wichtig der Zusammenhalt in einer Familie ist. Das Mädchen scheint in
der eigenen Familie die Geborgenheit zu vermissen, die sie braucht. 1993 und 1994 wird
IV
ihr Wunsch nach einer kompletten Familie mit dem "richtigen Vater" und mit Geschwistern
(vgl. 1993: 13;25-32) deutlich. Die Beziehung zum Stiefvater, der Branca in
Auseinandersetzungen mit der Mutter häufig unterstützt hat, verändert sich 1993 durch den
Auszug aus der gemeinsamen Wohnung.
Branca sucht sich die Unterstützung und Geborgenheit im Freundeskreis, vor allem bei
einer 2 Jahre älteren Freundin, die Italienerin ist. Mit dieser bleibt sie über die Zeit der
Studie hinweg befreundet. Seit diese 1994 weniger Zeit für Branca hat, freundet sich das
Mädchen zusätzlich mit zwei Bosnierinnen an, die ebenfalls älter sind (21 und 24 Jahre).
Diese 3 Freundinnen ersetzen die Familie in sozio-emotionaler Hinsicht, bieten
Geborgenheit und stehen bei Problemen zur Verfügung. Branca sucht den Kontakt zu
älteren, weil sie sich von ihnen mehr Rat und Hilfe erwartet als von gleichaltrigen
Freunden, da diese auf einen größeren Erfahrungsschatz zurückgreifen können (vgl. 1994:
52;8-26). Je älter sie wird, desto weniger kann sie mit Gleichaltrigen anfangen.
Die
jugendkulturell
unspezifische,
an
ein
Jugendhaus
"als
einzige
Gemeinschaftsmöglichkeit, wo sich Jugendliche treffen können" (1992: 29;10-11)
angebundene Clique, zu der sich Branca 1992 noch zählt, verliert mit zunehmendem Alter
an Bedeutung. Zur Freizeitgestaltung (Disco, Schlittschuhlaufen, ab 1994 auch
Cafébesuche) findet Branca in anderen Stadtteilen Bekannte, die aber nie die Bedeutung
der Freundinnen einnehmen, anders als der 1993 18jährige spanische, eine Lehre als
Restaurantfachmann absolvierende Freund, mit dem sie 1993 viel unternimmt, den sie 1994
aber aufgegeben hat.
Im letzten Befragungsjahr ist Branca mit einem in Kroatien lebenden Jungen befreundet,
der ihr die sozio-emotionale Unterstützung gibt (vgl. Fb.), die sie von den Eltern nicht
erhalten kann. Obwohl sie ihn nur in den Ferien sieht, misst sie ihm eine große Bedeutung
zu. Sie beschreibt ihn als familiären, verständnisvollen, handwerklich geschickten und
klugen Menschen, als ihre große Liebe und würde ihn gerne nach Deutschland holen (vgl.
1994: 45;20-46;40).
Mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, nach ihren Angaben übrigens zu 2/3
AusländerInnen, hat sie Probleme, weil sie manche als noch "kindisch" einstuft.
Ausländerfeindlichen Haltungen begegnet sie in der Schule insgesamt nicht.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen
In Brancas Familie werden hauptsächlich die Nachrichten über das Kriegsgeschehen im
ehemaligen Jugoslawien mit Interesse verfolgt und kommentiert. Das Mädchen mischt sich
in der Regel in diese Gespräche nicht ein, sondern beschränkt sich aufs Zuhören. Mit
zunehmendem Alter wächst ihr diesbezügliches Interesse, was möglicherweise auf die
eigene Betroffenheit durch regelmäßige Besuche bei den aus Serbien nach Kroatien
zwangsumgesiedelten Großeltern und anderen Verwandten und durch die Freundschaft zu
dem kroatischen Jungen ab 1994 zurückzuführen ist.
Informationen zu deutscher Politik erhält sie größtenteils aus dem schulischen Unterricht.
Kenntnisse darüber hält sie zwar für wichtig, unterstellt aber, dass sich Ausländer sowieso
nicht für die Politik in Deutschland, sondern nur für die in ihrem Herkunftsland
interessieren (vgl. 1993: 31;10-13).
Im Zusammenhang mit der Behandlung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht
hat Branca 1994 den Film "Schindlers Liste" gesehen und sich dadurch ein Bild über die
Zeit des "Dritten Reichs" gemacht. Ihr Interesse geht aber nicht über das für die Schulnote
notwendige Wissen hinaus.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Branca ist, wie erwähnt, an einem Wahlrecht für Ausländer nichts gelegen, weil sie davon
ausgeht, dass diese sich nur für die Politik in ihren Heimatländern interessieren.
V
Die Jugendliche betrachtet die Benachteiligung von Ausländern auf dem Wohn- oder
Arbeitsmarkt zwar als ärgerlich, glaubt aber, dass daran nichts zu ändern sei. Sie spricht
sich für die Behandlung der lange hier lebenden Ausländer "wie Deutsche" aus.
Branca lehnt ab 1993 Cliquenzusammenhänge ab, weil sie davon ausgeht, dass dort, anders
als in 2er- oder 3er-Konstellationen, die Wünsche einzelner zwangsläufig unterdrückt
werden (vgl. 1994: 50;1). Es kann vermutet werden, dass diese Aussage im Zusammenhang
mit ihrem Rückzug aus der Clique steht, in der sie "eigentlich nicht so richtig drin war"
(1993: 23;17-24).
In der Schule erlebt sie die geringe Möglichkeit der Einflussnahme auf den
Unterrichtsinhalt als Defizit. Sie hebt die sinnvolle Funktion des Schulsprechers hervor, der
die Meinung der Schüler vertreten kann, lehnt es aber ab, selbst für das Amt der
Klassensprecherin zu kandidieren (vgl. 1994: 41;9-13).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Branca identifiziert sich mit der Gruppierung der schon lange in Deutschland lebenden
Ausländer, die sie als "normale Ausländer" bezeichnet. In dieser Hinsicht ist die jeweilige
Nationalität von eher untergeordneter Bedeutung. Andererseits spielt im Verlauf der
Studie für Branca selbst die kroatische Nationalität eine immer größere Rolle, was
möglicherweise auf das wachsende Interesse für Politik, aber auch auf die Zuspitzung des
Krieges auf dem Balkan zurückgeführt werden kann. Wegen ihrer kroatischen Nationalität
ist sie noch nie in Schwierigkeiten gekommen und bezüglich der Politik im ehemaligen
Jugoslawien herrscht zwischen Mutter und Tochter Übereinstimmung. In allem, was die
kroatische Nationalität betrifft, scheint die Mutter die Orientierung zu geben und Branca,
die in Deutschland geboren ist, als Vorbild zu dienen. Wie die Mutter nur kroatische, so hat
auch Branca hauptsächlich ausländische Freunde, genießt die regelmäßigen Ferien in
Kroatien und denkt über eine mögliche Rückkehr nach.
Auch ein gewisses Leiden an der sozialen Kälte und mangelnden "Hilfsbereitschaft" in
Deutschland wird stärker spürbar. 1994 identifiziert sie sich nämlich ganz mit der von ihr
beschriebenen kroatischen Mentalität und sieht in Kroatien ihre Heimat.
"... weil die Leute sind dort irgendwie fröhlicher und hilfsbereiter, ... und ich bin auch so
ein Typ. Hier findet man ganz selten irgendwie welche Typen, die wo einem gerne helfen
und so, die schauen sich alle nur immer selber an, hoffentlich geht es mir gut und so. Zum
Beispiel wenn in Kroatien jemand ein Haus baut ..., dann tun sie sich gegenseitig helfen ..."
(1994: 63;13-21)
Möglicherweise wirkt sich hier ein durch das Sitzenbleiben bewirkter Knick in der auf
Anpassung gerichteten, in Deutschland gültigen und nach ihrer Wahrnehmung das
gesellschaftliche Leben durchziehenden Leistungs- und Integrationsorientierung aus.
Dennoch bleibt diese Orientierung vorherrschend. Dies ist im wesentlichen sichtbar daran,
dass sie einen Realschulabschluss und eine gute Berufsausbildung anstrebt, - "entweder du
lernst zu Hause oder du hast mal später keinen gescheiten Beruf, weil dich keiner nimmt"
(1993: 14;17-18) - eigenes Geld verdient und dieses in Markenkleidung investiert. Durch
dieses Verhalten kann sie den Status der integrierten Ausländerin, die unter Deutschen
nicht weiter auffällt, halten. So lässt sich ihre Klassifizierung der Ausländer nach den
Merkmalen Sprachkenntnisse, Modernisierungsgrad und Länge des Aufenthalts und damit
ein wesentlicher Kern der Vorwurfshaltung gegenüber Asylbewerbern ("und dann sind das
auch mal vier-, fünftausend Mark, und dann geht es denen praktisch besser als den anderen,
die hier arbeiten und halt gesetzlich." 1994: 65; 22-24) aufrechterhalten.
Den Wohlstand der deutschen Bevölkerung führt Branca auf eine spezielle "Klugheit"
zurück (vgl. 1994: 60;22-40); dadurch sieht sie sogar die Deutschen anderen Völkern
überlegen. Möglicherweise liegt auch darin der Grund, dass sie sich zum Zweck
höchstmöglicher Anpassung um einen guten Bildungsabschluss bemüht. Wohlstand und
VI
Geld sind für Branca von großer Bedeutung ("Ohne Geld kann man ja nichts anfangen";
1993: 11;19-20). Im Zusammenhang mit der Hilfe für Kriegsflüchtlinge bewertet Branca
die moralische Verpflichtung und Verantwortung der Deutschen zur finanziellen
Unterstützung allerdings höher als die Bedeutung von Geld:
"... sagen wir mal, dass alle Asylanten hier unten, also bei denen Krieg ist, dann würde
doch die Hälfte dort unten auch sterben. Und warum? Weil die Deutschen dann schuld
sind, warum sie die dann nicht finanzieren können, obwohl sie genug Geld haben. Dann
wäre das halt schon irgendwie blöd." (1994: 66;5-13)
Über die Clique, zu der Branca sich 1992 zählt und die keiner speziellen Jugendkultur
zugeordnet werden kann, wird keine soziale Identität aufgebaut. Die Jugendliche urteilt
nach ihrem Ausstieg aus der Clique 1993, wie erwähnt, sogar, dass sie nie richtig "in der
Clique war" (1993: 23;12-16).
Im bezug auf das Geschlechterverhältnis orientiert sich Branca an traditionellen
Vorstellungen. Entscheidungen überlässt sie eher dem Mann. Ihre Lebensplanung macht
sie abhängig von den Wünschen ihres zukünftigen Mannes. Auch ein Teil ihrer Ablehnung
von Asylbewerbern ist zurückzuführen auf ihre besondere Betroffenheit als Mädchen von
den ihnen unterstellten bzw. erfahrenen verbalen sexuellen Belästigungen.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Branca fühlt sich von ihrer Umgebung akzeptiert und vertritt die Ansicht, dass jeder so
angenommen werden sollte, wie er ist. Von sich behauptet sie, dass sie mit allen Menschen
gut zurecht kommt und man sie sympathisch findet (vgl. 1993: 13;7-33). Branca konstruiert
ihr Selbstwertgefühl aber daneben vor allem auf der Basis der sich zugeschriebenen
Kompetenz, sich jederzeit überall durchsetzen zu können.
"... ich würde, glaube ich, das kleinste Loch in der Wand finden, dass ich durch die Welt
komme. ... Ich bin einfach so ein Typ, ich würde nie arm bleiben . ... Da wird meine Mutter
sagen, sie könnte mich jetzt alleine lassen, ich würde voll super durchs Leben kommen."
(1994: 12;29-39).
Durch die Berufstätigkeit der Mutter und durch die Tatsache, dass sie stark mit eigenen
Problemen beschäftigt ist, ist Branca von klein auf daran gewöhnt, für sich selbst
Verantwortung zu tragen. Dadurch entwickelt sie sich zu einem sehr selbständigen
Mädchen ("ich bin halt auch nicht so voll das Mamakindle", 1994: 10;32-33), trifft notgedrungen - ihre eigenen Entscheidungen, verdient ihr eigenes Geld und lebt so eher
neben der Mutter her als mit ihr (vgl. 1994: 17;34-36). Sie ist der Meinung, dass sie sich
überall durchschlagen kann, im Gegensatz zu ihrer Mutter widerstandsfähiger ("ich sag
immer das, was mir passt", 1994: 27;17) und zuversichtlicher ist.
Ihr Verständnis für die Probleme der Mutter reicht so weit, dass sie bereit ist,
Verantwortung für diese zu übernehmen und sie durch ihre Mithilfe zu entlasten (1993:
37;4-14). Empathie für die Situation der Mutter zeigt das Mädchen auch dadurch, dass sie
erkennt, wie wichtig ein Lebenspartner als Bezugsperson für die Mutter ist bzw. wäre (vgl.
1994: 22;2-9). Branca ist fähig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Dies geht
soweit, dass sie Verständnis für die ausländerausgrenzende Haltung vieler Deutschen hat,
die Ausländer als Konkurrenten in zahlreichen Lebensbereichen erleben. Sie glaubt, sie
würde sich im umgekehrten Fall in Kroatien genauso verhalten, auch wenn sie darin eine
Ungerechtigkeit erkennt und reproduziert damit die weit verbreitete Auffassung einer
Legitimität der Verteilung sozialer und politischer Rechte entlang der Grenzen nationaler
Zugehörigkeit.
Trotz ihrer Selbständigkeit ist es für Branca wichtig, sich ältere Freunde und Erwachsene
als Gesprächspartner und Ratgeber zu suchen. Sie begründet dies damit, dass sie mit
Gleichaltrigen nichts anzufangen weiß und bestrebt ist, von Älteren und deren Erfahrungen
zu lernen (vgl. 1994: 6;17-35). Die Brandanschläge in Solingen wurden in ihren Augen nur
deshalb verübt, weil die ihrer Ansicht nach noch kindlichen Täter - "und die sind manchmal
VII
sogar 14" (1993: 34;31) - nicht auf ihre Eltern gehört haben oder schlecht erzogen sind
("die Eltern sind eigentlich daran schuld", 1993: 34;39-40).
Mit zunehmendem Alter steigt Brancas Reflexionsfähigkeit. Sie selbst verweist darauf,
dass sie im Verhältnis zu den Jahren davor erwachsener ist und mehr dazugelernt hat (vgl.
1994; 13;7-15). Sie ist bestrebt, erwachsen und vernünftig zu wirken. In diesem
Zusammenhang sind ältere Freunde für sie sehr wichtig. Ihre Reflexionsfähigkeit reicht
allerdings nicht soweit, dass sie in ihrer Meinung, die Deutschen seien so vernünftig, dass
sie die Republikaner nicht mehr unterstützen und dadurch das Wiederaufleben
nationalsozialistischer Verhaltensweisen verhindern, einen Widerspruch zu ihrer eigenen
Position der Bevorzugung lange hier lebender Ausländer erkennt. Obwohl sie ständig
bemüht ist, einsichtig und erwachsen zu wirken, schließt sie sich hier nicht der als
vernünftig erkannten Einstellung (vgl. 1994: 43; 35-44;24) sondern im öffentlichen Diskurs
über das "Asylbewerber-Problem" weit verbreiteten Schlagworten und Vorstellungsbildern
an, die sie durch vereinzelte eigene Erfahrungen meint bestätigt sehen zu können.
Branca vertritt grundsätzlich die Ansicht, dass Konflikte verbal gelöst werden sollten.
Dazu ist sie in vielen Fällen allerdings nicht fähig. Mit der Mutter gelingt ihr eine solche
Konfliktlösung nicht, was dazu führt, dass Branca sich nicht an alle Verbote seitens der
Mutter hält, bzw. ihr nicht alles anvertraut. Vor Konflikten mit der besten Freundin scheut
sie sich, weil sie dadurch die Beziehung gefährdet sieht, die ihr Geborgenheit und
Problemansprache garantiert.
4.
Zusammenfassung
Branca, die selbst Ausländerin ist, stimmt dann einer Ungleichbehandlung von Ausländern
(hier: Asylbewerbern) zu, wenn es ihre eigene Position stärkt. Was sich 1992 womöglich
aufgrund einer noch kaum erfolgten Ausbildung des politischen Interesses nur auf den
Cliquenzusammenhang bezogen hat, dehnt sich im Verlauf der weiteren Erhebung auf alle
Lebensbereiche aus: Branca grenzt "normale Ausländer", zu denen sie in erster Linie die
klassischen Gastarbeiter und ihre Familienangehörigen zählt, ab von Asylbewerbern und
spricht sich für eine Bevorzugung dieser Gruppierung gegenüber den Asylbewerbern aus.
Sie leitet sie aus der Länge des Aufenthalts in Deutschland ab. Ab 1993 erscheint sie
politisch zumindest an dieser Frage interessiert. Seitdem stimmt sie rechten politischen
Positionen insofern zu, als sie Asylbewerber abwertet und ihnen zunächst pauschal Betrug
im Sinne des sogenannten "Asylmissbrauchs" und des ungerechtfertigten Bezugs
finanzieller Unterstützungsleistungen sowie (Klein-)Kriminalität und Anmachverhalten
unterstellt.
Gewaltakzeptanz ist über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg nur soweit
feststellbar, dass sie Gewalthändel unter männlichen Jugendlichen als alterstypische
Erscheinung toleriert und verharmlosend billigt. Sie verbindet sie nicht mit den von ihr
vertretenen Ungleichheitsvorstellungen.
Allerdings klingen Befürwortungen struktureller Gewaltmaßnahmen - freilich recht
allgemein, unspezifisch und nicht weiter ausgeführt - in der Zustimmung zur nach ihren
Kenntnissen immerhin rechtslastigen Parole "Asylbetrüger raus" zu. Über diese
Abgrenzung will sie ihre Stellung als "normale" Ausländerin sichern. Branca lebt in dem
Bewusstsein, zwar Ausländerin in Deutschland, aber quasi "Eingeborene" mit bestimmten
Rechten zu sein. Durch die Mutter, von der sie als Kind sehr stark abhängig war - eine
konstante Vaterfigur fehlt im Prozess ihres Aufwachsens -, ist sie eingebunden in
kroatische Beziehungszusammenhänge und dementsprechend sozialisiert. In bestimmten
Verhaltensweisen wie Leistungsorientierung und Konsum ist das Mädchen allerdings
germanisiert. Das zeigt sich darin, dass sie die Vorteile eines Lebens in Deutschland
würdigt, genießt und sichert, ihre kroatische Identität aber nicht aufgeben will. Eine
Diskontinuität in ihrer Einstellung zum Leben in Deutschland kann darin erkannt werden,
dass sie im Laufe der Studie auch Nachteile entdeckt.
VIII
Durch ihre Bekanntschaft mit bosnischen Kriegsflüchtlingen 1994 sieht sie sich
gezwungen, von der Position einer generellen Ablehnung von Asylbewerbern und der
Befürwortung ihrer sofortigen Abschiebung abzurücken und die Gruppierung der
Asylbewerber genauer zu differenzieren. Dabei sieht sie diese gestiegene
Differenzierungsfähigkeit auch mit eigenen Reifungsprozessen verbunden. Während sie
von Deutschen erwartet, dass sie durch Einsicht und Vernunft ("das könnte eigentlich
schon wieder kommen jetzt gerade mit den Asylanten und so, aber ich denke mal, dass es
dann genug gescheite Leute gibt, dass sie da jetzt nicht so wie früher sind ...", 1994: 43;3639) eine Ausweitung ausländerfeindlicher Verhaltensweisen gegenüber Asylbewerbern in
Richtung auf NS-ähnliche Zustände verhindern, bleibt ihre eigene AsylbewerberAbwertung und die damit verbundene Forderung nach Bevorzugung von ausländischen
Arbeitnehmerfamilien trotz dieser Einschränkung dennoch insgesamt erhalten. Vermutlich
zeitigt hier die öffentliche Debatte über das sogenannte "Asylanten-Problem" und die
gleichsam nachträgliche Bestätigung der von ihr vorgebrachten Argumente gegenüber
Asylbewerbern durch die Reform des Asylrechts problematische Auswirkungen.
Ilona 1992 - 1994
"... die rechten Jugendlichen sollen denken, wie sie wollen. Ich bin nicht rechts und nicht
links. Ich bin hier in Deutschland, ich verstehe das auch, ich kann jetzt nicht über Deutsche
fluchen oder so, das ist klar, ich lebe hier. - Aber die haben ein Recht dazu, wenn es denen
Spaß macht und wenn sie meinen ..." (1992: 10;3-10)
"Irgendwie haben die Deutschen schon recht, die wollen auch ihr Land für sich haben, aber
ich finde, die Ausländer, die wo sich auch wie Deutsche benehmen, die können eigentlich
nichts dafür, dass die halt die Ausländer hassen. Da finde ich auch keinen Grund, dass die
Deutschen die Ausländer hassen, die wo sich so benehmen halt, aber manche ..." (1993:
32;15-21)
"Ich habe gesagt, ich halte mich da heraus, weil irgendwie gehöre ich zu beiden, ich bin
selbst Ausländerin, aber habe auch deutsche Freunde, da kann ich mich nicht irgendwie auf
die Seite stellen, und dann sehe ich da welche, wo ich kenne, und: oh Scheiße, was mach
ich jetzt?" (1994: 66;38-67;6)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Ilona, geb. 1978, ist Kroatin. Ihre Mutter und ihr leiblicher, von der Mutter geschiedener
Vater stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie lebt mit Mutter, Stiefvater, der
Deutscher ist und seit 1976 in der Familie lebt, 3 Jahre älterer Schwester und 2 Jahre
jüngerem Bruder in einer 5-Zimmer-Wohnung in einem Stadtteil der mittelgroßen Stadt
W., die im Einzugsbereich einer Großstadt liegt. Der Stadtteil ist von Mehrfamilien- und
Hochhäusern geprägt. Ilona teilt ein Zimmer mit ihrem Bruder.
Sie besucht zu Beginn der Studie die 7. Klasse der Realschule, 1993 wechselt sie zum
Halbjahr der achten Klasse auf die Hauptschule.
Ilonas Stiefvater hat einen Realschulabschluss und ist heute Schreiner mit eigener Firma.
Die Mutter arbeitete früher als Schneiderin und ist jetzt Angestellte bei der Post. Ihr
Bildungsabschluss ist Ilona nicht bekannt.
Die Familie verfügt über die üblichen Haushaltsgeräte und 3 Autos. Ilona selbst besitzt eine
Stereoanlage, einen Heimcomputer, einen TV mit Videorecorder, ein Montainbike und
einen Walkman und verfügt zuletzt über einen Betrag aus Taschengeld und gelegentlichen
Geldgeschenken von monatlich bis zu 180 DM (vgl. Fb.).
IX
Im Verlauf der 3 Befragungsjahre verändert sie sich von einem äußerlich eher
unscheinbaren Mädchen zu einem modebewussten, geradezu wie ein Model hergerichteten
Mädchen.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine politische Orientierung
Ilona hat insgesamt nur wenig Interesse für und sehr vage Vorstellungen von Politik.
Entsprechend bezieht sie kaum politisch Stellung. Selbst Kroatin, ist ihr an einem
Wahlrecht für Ausländer nichts gelegen und kann ihm auch nicht ohne Vorbehalt
zustimmen. Dahinter scheint die Angst zu stehen, Deutschen ein Exklusivrecht streitig zu
machen (vgl. 1994: 28;23-28).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Ilona ist der Meinung, dass Ausländer für viele Probleme in Deutschland, z.B.
Arbeitslosigkeit, verantwortlich gemacht werden, obwohl sie auch andere Faktoren für ihre
Entstehung sieht. In ihren Augen ist diese Argumentation nicht gerechtfertigt, da Ausländer
- wie sie 1994 ( 54;27) meint - meist einen Gewinn für Deutsche darstellen, weil sie "die
Drecksarbeit machen".
Selbst wenn Ilona auch darüber hinaus im Kern Gleichheitsvorstellungen vertritt und diese
auch gerade auf interethnische Verhältnisse und ihre Bewertung bezieht ("Menschen sind
Menschen"), ergibt sich für sie daraus längst noch keine tatsächlich umsetzbare
Gleichberechtigung. Sie leitet nämlich von der nationalen Zugehörigkeit ein Recht der
Deutschen ab, sich über die Anwesenheit von Ausländern im eigenen Land mit Unbehagen
zu äußern und u.U. auch ausländerfeindlich zu denken. Diesem Recht müssen sich ihrer
Auffassung nach die Nichtdeutschen unterordnen.
1992 steht sie in Kontakt mit "rechten" Mitschülerinnen, die sie als Freundinnen
bezeichnet, und mit deren politischer Meinung sie sich arrangiert. Dies gelingt ihr
einerseits dadurch, dass sie deren Meinung verharmlost bzw. politisch brisante Themen
nicht zur Sprache bringt, oder andererseits dadurch, dass sie ihre Beziehung zu ihnen als
eine Normalität konstruiert, innerhalb derer nationale Zugehörigkeit keine besondere
Bedeutung hat. Kontakt zu ihr persönlich nicht bekannten "rechten" Jugendlichen
vermeidet sie ganz. Die Aussage ihrer "rechten" Mitschüler, sie würden nur unbekannte
Ausländer hassen, verringert ihr Gefühl des Bedrohtseins (vgl. 1992: 10,39-11;19).
In der 2. Erhebung nimmt die Tendenz, nicht als Ausländerin aufzufallen und sich
"normal", d.h. "wie eine Deutsche" zu benehmen, noch zu. Sie bemüht sich, sich dem von
ihr unterstellten Ideal Durchschnittsdeutscher anzupassen. Während sie 1992 noch passiv
erduldet hat, was Deutsche tun und über Ausländer sagen, tendiert sie nun dazu, sich aktiv
anzupassen. Darin sieht sie die Möglichkeit, Deutschen keinen Anlass zu geben, Ausländer
zu hassen. Am liebsten würde sie ihren Status als Ausländerin gänzlich verstecken.
In der 3. Erhebung verfolgt Ilona ihre Vorstellung noch massiver. Sie schreibt Ausländern
eine Mitschuld an Zuspitzungen von Ausländerfeindlichkeit zu, weil diese sich nicht richtig
anpassen können. Schwierigkeiten gibt es ihrer Meinung nach nur, wenn man sich als
Ausländer nicht richtig verhält. Sich herauszuhalten und sich wie Deutsche zu benehmen,
ist ihre Antwort auf Schwierigkeiten, die es zwischen Deutschen und Ausländern geben
könnte.
Ilona unterscheidet verschiedene Gruppierungen von Ausländern nach dem Grad ihrer
Anpassung an "deutsche Normalität". Diese zeichnet sich für sie aus durch die Länge der
Aufenthaltsdauer in Deutschland, eine geregelte Arbeit und das "Verhalten wie Deutsche".
Diesem Ideal versucht sie selbst nahezukommen. Bedroht fühlt sie sich durch "Ausländer,
die sich nicht benehmen können" und sich negativ über Deutsche äußern. In diesem
Erklärungszusammenhang zieht sie zum Zeitpunkt der 2. Erhebung den Schluss, dass
X
Ausländer, die das Verhältnis zu Deutschen durch Nicht-Anpassung belasten, nicht in
Deutschland leben sollten (vgl. 1993: 32;21-25). Einen für sie verstehbaren Anlass dafür,
von Deutschen gehasst zu werden, sieht Ilona beispielsweise darin, dass "manche Türken
randalieren", oder dass Asylbewerber kommen, damit "sie hier Geld haben".
"...dass Türken zum größten Teil auch schlecht sind. So Schlägereien und so, sind schon
ziemlich viele Türken damit verbunden, und Albaner finde ich voll schlimm." (1994:
62;29-34)
Solange Ausländer sich im Benehmen anpassen, gibt es nach ihrer Ansicht keinen Grund
für Ungleichbehandlung und Hass (vgl. 1993: 32;15-21). Diese Meinung wird auch in der
3. Erhebung vertreten.
2.3
Gewaltakzeptanz
1992, bei der innerfamiliären Kommentierung von Nachrichten über die Krawalle in
Rostock, spricht sich Ilona gegen Gewalt aus und bezeichnet die Täter als "nicht normal".
Sie stellen eine Bedrohung für sie dar, weil ihr Konstrukt der Normalität von Beziehungen
zwischen Ausländern und Deutschen durch derartige Übergriffe in Frage gestellt wird. Aus
demselben Grund vermeidet sie es, die Krawalle ihren Mitschülern gegenüber zum Thema
zu machen. Aus Angst zieht sie sich sogar von Aufenthaltsplätzen und gewohnten
Laufwegen zurück, die sie von "rechten Jugendlichen" besetzt sieht und akzeptiert sie als
deren Terrain.
Die Aussagen von Freundinnen, nur unbekannte Ausländer zu hassen, nimmt Ilona hin,
weil sie selbst sich dadurch in Sicherheit wiegt: Ihr kann keine Gewalt von Seiten der
"rechten" Mitschülerinnen zustoßen. Diese Verhaltensweise zieht sich durch alle 3
Erhebungen.
1993 vertritt Ilona die Meinung, dass es "ohne Anlass" nicht zu Gewalt kommen darf.
Daher lehnt sie die Brandanschläge von Solingen ab. Einen solchen Anlass sähe sie am
ehesten in Notwehrsituationen. Über die Notwehr-Gewalt hinaus kann Ilona sich vorstellen,
sich geplant für eine Gewalttat, wie einen möglichen Angriff auf ihre Freundin, violent zu
rächen (vgl. 1993: 38;11-17).
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Ilona ist schon ab 1992 in der Schule mit "rechten" Mitschülern konfrontiert; auch die beste
Freundin bewegt sich in "rechten" Kreisen. Es kommt deswegen zu Auseinandersetzungen
und Ilona ist gespalten zwischen Verteidigung der Freundin und Enttäuschung über ihre
"rechte" Orientierung (vgl. 1992: 10;30-38).
Im Freizeitbereich sieht Ilona sich gezwungen, Orte zu meiden, an denen "rechte
Jugendliche" anzutreffen sind. Sie sieht in ihnen zwar keine unmittelbare konkrete
Bedrohung für sie persönlich, kann ihnen aber auch nicht angstfrei begegnen. Zentrales
Bedürfnis für Ilona ist in dieser Zeit, zur Clique der "rechten" Freundinnen zu gehören. Die
Jugendliche fühlt sich gedrängt, sich den geltenden Normen zu unterwerfen, um den
Kontakt nicht zu verlieren. Beziehungen bleiben daher an der Oberfläche, Ansichten
werden nicht hinterfragt.
1993 hat sich Ilona zwar von den "rechten" Mitschülerinnen distanziert - nicht zuletzt
aufgrund eines Schulwechsels - fühlt sich aber nach wie vor durch ausländerfeindliche
Einstellungen bei Deutschen belastet. Als Problem stellt sich für sie die Existenz von
Gruppierungen von Ausländern dar, die gegen die Deutschen "aufmucken", sich "nicht wie
Deutsche benehmen" und dadurch den Hass von Deutschen und Ausländerfeindlichkeit
provozieren würden. Eine Lösung sieht sie in einer aktiven Anpassung aller Ausländer an
die Verhaltensweisen und Normen der Deutschen. Die, die sich nicht anpassen können und
XI
sich sogar beleidigend über Deutsche auslassen, sollen Ilona zufolge auch kein Recht auf
Verbleib in Deutschland haben.
"Da finde ich auch keinen Grund, dass die Deutschen die Ausländer hassen, die wo sich
benehmen halt, aber manche, wo so herumschreien, Scheiß Deutsche .... das finde ich auch
nicht okay, dann sollen die halt in ihr Land gehen, denn dort können sie das
schreien."(1993: 32;19-25)
In der 3. Erhebung äußert sich Ilona in ähnlicher Weise. Ausländer, die sich nicht anpassen
können und sich gegen Deutsche aussprechen, zerstören ihr Bild von einem möglichst
"normalen" Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern, wie sie selbst es zu pflegen
und zu praktizieren behauptet.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Ilonas Mutter lebt gegenwärtig, wie erwähnt, mit einem Deutschen zusammen. Die Familie
ist also binational und praktiziert das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten
somit alltäglich. Für Ilona bleibt die Mutter durch alle drei Erhebungsphasen
Ansprechpartnerin bei Problemen. Von ihr erhält sie Hilfe in Situationen, in denen sie
alleine nicht weiterkommt. Noch 1994 ist die Mutter als Orientierung wichtig, wenn beide
in ihrer Meinung auch nicht immer übereinstimmen und Freundinnen für Ilona immer
wichtiger werden. Das Gefühl der Geborgenheit und der Akzeptanz in der Familie bleibt
über die Zeit der Befragung bestehen. Die Einstellung der Mutter ist stark auf Anpassung
an deutsche Verhältnisse und Gewohnheiten gerichtet. Sie würde sich für das Mädchen
einen deutschen Freund wünschen, weil "...die haben mehr Anstand als die Ausländer"
(1994: 53;13-17). Ilona teilt ihre Meinung.
In Verlauf der 3 Erhebungsjahre gewinnt die Schwester als Ansprechpartnerin bei
Problemen und als Begleiterin in der Freizeit an Bedeutung. Zum leiblichen Vater hat Ilona
nur oberflächlichen Kontakt. Der Stiefvater nimmt für sie zu Beginn der Befragung dessen
Platz in der Familie ein. Sie fühlt sich von ihm akzeptiert und hat das Gefühl, sich auf ihn
verlassen zu können. 1992 betont Ilona die deutsche Nationalität des Stiefvaters, quasi als
Schutz vor möglichen ausländerfeindlichen Übergriffen (vgl. 1992: 8;25-28). Im Verlauf
der Studie nimmt seine Bedeutung als Ansprechpartner und das Gefühl von Akzeptanz und
Geborgenheit seitens Ilona jedoch ab.
In der Einstellung gegenüber Rechten gibt anscheinend ebenfalls die Mutter die
hauptsächliche Orientierung. Sie verurteilt deren Ausschreitungen, befürwortet aber, dass
man mit ihnen spricht.
In der Schule macht das Mädchen die Erfahrung, dass sie von "Rechten", obwohl sie
Ausländerin ist, "normal" behandelt wird.
Im Kreis der "rechten" Freundinnen fühlt sich Ilona zum Zeitpunkt der 1. Erhebung
angenommen und akzeptiert. Trotzdem zieht sie sich bis zur Erhebung 1993 von dieser
Clique zurück und findet eine neue Freundin als zuverlässige Ansprechpartnerin. Die
Clique bleibt weiterhin für oberflächliche Kontakte zum Zweck der Freizeitgestaltung
wichtig. 1994 findet sie dann einen Freundeskreis, der nicht entsprechend politisch belastet
ist.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen
Ilona liest typische Mädchenzeitschriften wie "Bravo", "Girl" und "Mädchen", in denen
politische Themen nicht vorkommen und die eher Modetrends und Stilrichtungen zum
Inhalt haben. Es kann vermutet werden, dass sie nicht zuletzt aus dieser Lektüre
Informationen bezieht, die es ihr erlauben, sich zumindest äußerlich über konsumkulturelle
Signets anzupassen.
Im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen im ehemaligen Jugoslawien verfolgt die
Familie die Tagesnachrichten und kommentiert betreffende Ausschnitte. Mit zunehmendem
Alter und mit der Ablösung von der Familie hat Ilona immer weniger Zugang zu
XII
Informationen politischer Art, zumal diese im Freundeskreis keine Rolle zu spielen
scheinen.
1993 führt Ilona die Veränderung ihrer ehemals "rechten" Freundinnen hin zu "normalen"
Jugendlichen darauf zurück, dass sie aus Fernsehinformationen zu der Einsicht gekommen
seien, ihr Handeln sei falsch.
3.1.4 Erfahrung mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe
Ilona wird, wenn sie 18 Jahre alt ist, als Kroatin in Deutschland nicht wählen dürfen. 1994
behauptet sie, dass ihr das nichts ausmache. Dies hängt offenbar mit ihrem politischen
Desinteresse zusammen. Über Wahlen wird weder in der Familie noch im Freundeskreis
gesprochen.
In verschiedenen Alltagsbereichen erlebt Ilona es allerdings als Defizit, dass sie nicht mehr
mitbestimmen kann: 1993 äußert sie, dass die Öffnungszeiten des Jugendhauses den
Wünschen der Jugendlichen nicht entgegenkommen; außerdem bewirkte eine eingeführte
Altersbegrenzung, dass viele ihrer Freunde nicht mehr hinein durften. 1994 beklagt sie,
dass in der Schule "alles nach Lehrplan geht" und die Schüler nicht über die Inhalte
mitbestimmen können.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Ilona baut sich eine quasi-deutsche nationale Identität auf, indem sie sich aktiv an das
anpasst, was sie für deutsche Normalität hält. Obwohl Ilona sich in vielen Bereichen nichts
gefallen lässt, sehr selbstbewusst auftritt und sich durchsetzen kann, beispielsweise in der
Schule oder gegenüber der Mutter, scheint sie sich bezüglich ihrer Nationalität gegenüber
den deutschen Freunden minderwertig zu fühlen. 1992 ordnet sie sich in die von ihr erlebte
Normalität im eher "rechts"orientierten Freundeskreis ein, duldet diese Einstellung,
hauptsächlich aus Angst, den Anschluss an diese Gruppe zu verlieren und sich gegen diese
zu stellen (vgl. 1992: 10;3-10) und bleibt bis zum Ende der Studie darauf bedacht, nicht
als Ausländerin identifiziert zu werden, sondern angepasst und "wie eine Deutsche" zu
sein. Offensichtlich orientiert sie sich dabei an Vorgaben, zumindest aber Vorbildern aus
ihrem sozialen Nahraum. Denn vor allem die Mutter scheint Ilona deutlich entsprechend
zu beeinflussen.
Während für den Aufbau ihrer Identität für Ilona noch 1992 und 1993 ein
Cliquenzusammenhang wichtig war, sind es 1994 Bekannte aus der jugendkulturellen
Szene der Rapper in verschiedenen Städten, die ihr das Gefühl des Angenommenseins
geben, wobei die Beziehungen aber nie in die Tiefe gehen. Je älter Ilona wird, desto
wichtiger scheint auch die Zugehörigkeit zu den Stilrichtungen "Rap" und "Techno" für sie
wichtig zu werden. In den Gruppen, in denen sie sich bewegt, wird nur diese Art von
Musik gehört und die entsprechende Kleidung getragen. Das schafft ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, das stilistisch in Abgrenzung von "rechts" gestimmten
Jugendkulturen - möglicherweise auch als Bezugspunkt gegen sie - aufgebaut wird.
Schon 1992 baut Ilona Identität über ihr äußeres Erscheinungsbild auf. Dabei scheint es ihr
neben ästhetischen Aspekten auch um die Demonstration eines Sozialstatus zu gehen, der
Einpassung in die Wohlstandsgesellschaft und eine gewisse Saturiertheit offenbart. Wichtig
waren ihr Markenkleidung und -schuhe. Ihr Outfit hat sich in den 3 Erhebungsphasen
immer modischer entwickelt, bis hin zu teurem, modischen Rap-Stil: Rap eher als
konsumkulturell geglättete Symbolik denn als Ausdrucksform der Benachteiligten und
Gettoisierten in der multikulturellen Gesellschaft.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Ilona ist in der Lage, sich in die Situation anderer Menschen empathisch
hineinzuversetzen. Besonders betroffen ist sie von der Kriegssituation im ehemaligen
XIII
Jugoslawien. Aus diesem Grund spricht sie sich 1993 auch für die Gewährung von Asyl für
Kriegsflüchtlinge aus (vgl. 1993: 37;1-5). Viel Mitgefühl zeigt Ilona für Menschen, die
unverschuldet in die Situation ausländerfeindlicher Übergriffe geraten, beispielsweise für
Kinder (vgl. 1993: 34;20-27). Dagegen kann sie die Haltung verschiedener Gruppierungen
von Ausländern, die sich gegen Deutsche aussprechen oder sich gegen eine ungerechte
Behandlung zur Wehr setzen, nicht verstehen. Durch dieses Verhalten sieht sie ihr
unbelastetes Zusammenleben mit Deutschen gefährdet (vgl. 1994: 50;32-51;1). Ihre
Fähigkeit zum Verständnis und zur Empathie mit Deutschen treibt letztendlich aber auch
soweit seltsame Blüten, dass sie sich an deutsche Lebensverhältnisse ganz anpasst.
Ilona reflektiert ihre Stellung als Ausländerin in Deutschland und kommt zu dem Schluss,
dass es ihr nicht zukommt, "über Deutsche zu fluchen" (1992: 10;3-10), auch wenn diese
sich ablehnend gegenüber Ausländern verhalten. 1994 folgt aus diesen Überlegungen die
Konsequenz, dass Ablehnung und Ausländerfeindlichkeit nur dann entstehen, wenn sich
Ausländer nicht anpassen. Folglich macht sie unangepasste Ausländer für
ausländerfeindliche Bemerkungen oder Verhaltensweisen Deutscher verantwortlich (vgl.
1994: 50;32-38). Ihre eigenen Anpassungsbemühungen und deren Reichweite an die von
ihr erlebte deutsche Normalität werden nicht reflektiert.
Ilona ist fähig, Konflikte, v.a. in der Schule, anzusprechen und auszutragen, soweit nicht
wichtige Beziehungen dadurch in Gefahr sind. Dann allerdings hält sie es für angebrachter,
sich herauszuhalten und keine Meinung zu vertreten. (vgl. 1994: 66;38-67;6) Wenn es um
das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern geht, erkennt sie zwar den Konflikt, in
dem sie selbst steht, bezieht aber keine Stellung, weil sie dadurch ihr Konstrukt von
"normalem" Zusammenleben in Gefahr geraten sieht. Ihre Toleranz findet allerdings
gegenüber Ausländern eine Grenze, die sich nicht nach ihren Vorstellungen benehmen und
ihrer Ansicht nach durch ihr Verhalten das Ansehen der Ausländer in Deutschland
gefährden und somit zu Ausländerfeindlichkeit beitragen. Solches Verhalten schreibt sie
hauptsächlich Asylbewerbern, Albanern und Türken zu, die in ihren Augen durch
Schlägereien oder sexuelle Anmache auffallen (vgl. 1994: 62;29-40).
Obwohl Ilona v.a. in der 3. Erhebung behauptet, sie könne Verantwortung für sich selbst
übernehmen, ihre eigenen Entscheidungen treffen und sich damit ein Selbstwertgefühl auf
der Basis erreichter Eigenständigkeit attestiert, orientiert sie sich doch stark daran, was
andere in ihrem Umfeld denken und tun. 1993 fällt oft auf, dass sie Ansichten vertritt, die
sie selbst für die Meinung der Mehrheit hält. 1994 mündet dieses Verhalten in die
Einstellung "Hauptsache die anderen sind mit mir zufrieden" (1994: 46;15). Darin zeigt
sich, dass Ilona sich unter dem Druck fühlt, sich anzupassen, um von anderen akzeptiert zu
werden.
Ilonas Verantwortungsgefühl gegenüber ihrer Familie nimmt in Verlauf der Erhebungen
eher ab; dafür strebt sie immer mehr danach, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu
tragen. Eigenverantwortlichkeit wird ihr von Seiten der Mutter auch auferlegt, z.B. beim
Wechseln der Schule. Ilona erhält insgesamt mit zunehmendem Alter mehr Freiheiten und
wird von der Mutter nicht mehr so stark kontrolliert. Eine allgemeine Verantwortlichkeit
der Gesellschaft erkennt Ilona für Situationen, in denen Menschen unverschuldet in Not
geraten sind. Dabei denkt sie v.a. an Menschen, die von Kriegen betroffen sind.
4.
Zusammenfassung
Ilona hält sich 1992 vor allem wegen ihres Wunsches, in der Klasse und im Kreis der
Freundinnen anerkannt zu werden, in einer Clique "rechts"orientierteter Jugendlicher auf.
Deren "rechte" Orientierung zeigt sich hauptsächlich in äußeren Merkmalen. Ob das
"Rechtssein" nur symbolischen, provozierenden Charakter hat oder auch eine politische
Stellungnahme darstellt, kann nicht eindeutig geklärt werden. Ilona wird, wie sie selbst
meint, trotz ihrer kroatischen Nationalität von diese Clique akzeptiert, solange sie keine
politische Stellungnahme bezieht und sich anpasst.
XIV
Sie löst sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr von dieser Clique. Möglich wird dies
zum einen durch ihre wachsende Mobilität. Sie ist auf den Cliquenzusammenhang immer
weniger angewiesen und weitet ihre Bekanntschaften auch auf andere Städte im Umkreis
von 50 km aus. Kontakte zu anderen Jugendlichen kann sie in Discos knüpfen, die sie um
so häufiger besucht, je älter sie wird. Dort stößt sie auf andere Jugendkulturen und kann
sich 1994 schließlich ganz aus der ehemaligen Clique lösen und eine Zugehörigkeit zur
Rapper-Szene aufbauen. Für die Problemlosigkeit der Loslösung ist ausschlaggebend, dass
Ilona Geborgenheit und Vertrauen nie im Cliquenzusammenhang gesucht hat, sondern
Mutter und Freundinnen zur Problemansprache zur Verfügung standen. Die Funktion der
Gruppe beschränkte sich auf die Gestaltung der Freizeit.
Der Wechsel Ilonas von der Realschule, an der die rechte Szene relativ groß zu sein
scheint, auf die Hauptschule kann zum anderen als Wendepunkt angesehen werden. Dass
Ilona den Wechsel aus diesem Grund herbeigeführt hat, erscheint unwahrscheinlich, zumal
sie den Schritt inzwischen bedauert und sich in die Realschule zurückwünscht. Durch
diesen Einschnitt kommt es allerdings zu einem Abbruch der Beziehungen zu den meisten
"rechten" Jugendlichen in ihrem Umkreis. Ilona musste sich in eine neue Klasse integrieren
und neue Freunde finden.
Ihre starke Anpassungstendenz ist allerdings erhalten geblieben. Äußerlich bemüht sie
sich um ein modisches Erscheinungsbild, das gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einer
Jugendkultur signalisiert. Obwohl sie selbstbewusst auftritt und sich auch äußerlich so
darstellt, vertritt sie nahezu nie eine persönlich gefärbte Meinung, sondern passt sich
mehr oder minder klar an die vermutete Einstellung der Mehrheit an. Durch diese
opportunistische Haltung verschafft sie sich in ihrem Bewegungsraum keine Feinde und
fühlt sich als Ausländerin sicher in Deutschland. Demgemäß erlebt sie nichtanpassungswillige oder auf völlige Gleichberechtigung pochende Ausländer als
Bedrohung für die labile Balance, die sie in ihrem eigenen Umfeld - wohl auch orientiert
am diesbezüglichen Vorbild der Mutter - aufzubauen und zu erhalten bestrebt ist.
Iris 1992 - 1994
"Sie haben uns beschimpft `Scheiß Skinheads` und so..." (1992: 17;12)
"Also das würde ich irgendwie am liebsten vergessen, weil gerade auch die ganze Szene da,
wo ich drin war, also wenn ich jetzt daran denke, das würde ich am liebsten zurückdrehen
und alles von vorne." (1993: 2;32-35)
"Also am Anfang war jeder voll dabei, und dann hat sich nach, vielleicht nachdem das alles
auch mal im Fernsehen war, also im Fernsehen kam, vielleicht sich jeder mal hingesetzt und
darüber nachgedacht..." (1994:19;10ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Iris, anfangs 13 Jahre alt, evangelisch, lebt über den gesamten Untersuchungszeitraum
hinweg in einem Ortsteil des Dorfes N. nahe einer Großstadt mit ca. 120.000 Einwohnern
zusammen mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und dem 11 Jahre jüngeren Stiefbruder in
einer 4-Zimmer-Wohnung mit Balkon. Sie hat selbst ein eigenes Zimmer. In der
Wohngegend befinden sich sowohl kleinere Einfamilien- und Mehrfamilienhäuser als auch
Hochhäuser.
Der Vater hat Hauptschulabschluss und arbeitet nach ihren Angaben als
"Ersatzteilverkäufer" im Schichtdienst. Iris kennt nicht den Schulabschluss der Stiefmutter,
die vormittags bei der Post arbeitet.
XV
Das Mädchen besucht die Realschule, wobei sie 1993 die 8. Klasse wiederholen muss.
Der Familie stehen an langlebigen Gebrauchsgütern 1 Farb-TV, eine Stereoanlage, 1 CDPlayer, 1Videorecorder und ein Auto, ab 1993 auch ein Zweitwagen zur Verfügung. Iris
selbst besitzt eine Stereoanlage, ein Skateboard und zwei Haustiere, einen Hasen und einen
Hamster, für die sie selbst zuständig ist; seit 1993 zusätzlich einen CD-Player und einen
Walkman. Als Taschengeld stehen ihr zunächst
ca. 50.- DM, beim zweiten
Erhebungsschnitt bis zu 100,- DM, die sie im Folgejahr durch Jobben auf 300,- DM
aufzustocken vermag, zur Verfügung.
2.
Politische Orientierungen
2.1
Allgemeine politische Orientierungen
Insgesamt vermittelt I. durchgängig den Eindruck, sich überhaupt (noch) nicht für
institutionsgebundene Politik zu interessieren. Rechnet sie sich 1992 nicht nur zu den
Hooligans, sondern auch zu den Skinheads, eine Selbstzuordnung die eine gewisse
Rechtslastigkeit deutlich werden lässt, und zählt Punks zu ihren Gegnern, so ordnet sie sich
ein Jahr später keiner subkulturellen Gruppierung mehr zu und hat ihre rechten
Orientierungen nach eigenen Aussagen mittlerweile abgelegt:
"Also so gegen Ausländer und das habe ich eigentlich nichts mehr. Es gibt trotzdem Leute,
die man nicht leiden kann, aber ich beschäftige mich jetzt eigentlich auch nicht mehr mit
dem." (1993: 34; 28-3 1)
„... also ich kümmere mich da nicht mehr darum. Also vielleicht sind - es kann sein, dass
schon ein paar zuviel hier sind (gemeint sind Ausländer; Anm. d. V.), aber wenn sie mich in
Ruhe lassen..." (1993: 34; 32-40)
1994 hat sich daran nichts geändert.
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
1992 vertritt I. gegenüber ‘Ausländern’ Ungleichheitsvorstellungen.
Im Unterschied zu Arbeitsmigranten - "die wo hier geboren sind, die wo eine feste Arbeit
haben, wo ihr Geld verdienen und die sich auch Wohnungen kaufen müssen und so, die
leben ja normal" (20; 26ff.) - lehnt I. Asylbewerber eindeutig ab. Sie unterstellt ihnen die
Erschleichung des Asylrechts, damit Betrug und die Ausnutzung ungerechtfertigt gewährter
geldwerter Vorteile:
„Aber grad die Scheinasylanten, wo rüberkommen, von der Regierung und vom Staat alles
kriegen und wo Deutsche keine Wohnungen mehr finden, also nein." (19;22-26)
I. fühlt sich als Deutsche gegenüber Asylbewerbern seitens der Regierung benachteiligt.
Trotz Ressourcenknappheit würden diese Menschen „alles geschenkt“ bekommen, während
Deutsche dafür arbeiten und Steuern zahlen müssten und auf dem Wohnungsmarkt keine
Wohnungen mehr fänden (vgl. 19;31-37).
I.s Argumentationsweisen legen Muster der Dramatisierung frei, die mit schroffen ethnischnationalen Gegenüberstellungen („die“ - “wir“) und scharfen Zuspitzungen (z.B. „alles“ „nichts“) operieren. Ihre Funktionalität kann sich auf zumindest 3 Säulen stützen: Erstens:
Mit den von I. verwendeten ‘Wir’- und ‘Die’-Kategorien erfolgt eine ethnisch-nationale
Grenzziehung auf der Basis rechtlich legitimierter Ein- und Ausgrenzung. Diese rechtliche
Basis fundiert somit Begründungen von Ungleichheitsvorstellungen. Zweiten: Die
Wortwahl erhält hier die Funktion der ‘Selbstabschottung’. Ihre Absolutheit lässt keine
Nuancierungen mehr zu und zeigt sich entsprechend wenig kompromissbereit gegenüber
Gegenargumenten. Drittens: I. beruft sich auf die grundsätzliche Gültigkeit des
Leistungsprinzips bei der Verteilung gesellschaftlicher (hier: finanzieller) Ressourcen im
Sinne eines Äquivalenzprinzips, das den Erhalt von staatlichen Transferleistungen an
Erwerbsarbeit knüpft. Ein - zudem aus ihrer Sicht noch überzogen angewandtes Bedürftigkeitsprinzip bei der Aufnahme von Asylbewerbern kommt ihr wie eine
XVI
Aushöhlung dieses Prinzips vor, das sie - fälschlicherweise (z.B. in Hinsicht auf den Bezug
von Sozialhilfe) - ausschließlich auf Deutsche angewendet sieht und durch das sie deshalb
Deutsche als benachteiligt wahrnimmt. Womöglich zeugen Muster der Dramatisierung mit
ihren Schwarzmalereien der eigenen Situation und den Schönfärbereien der Situation der
anderen aber auch von einem Leidensdruck, dessen Stärke differenzierte Sichtweisen nicht
mehr erlaubt. Je größer er ist, um so stärker dürfte er Reflexivität zurückdrängen. Somit
empfindet sich I., obwohl sie mit ihren 13 Jahren noch nicht in den Arbeitsprozess
eingebunden ist und auch nicht zu den SteuerzahlerInnen gehört, gegenüber Asylbewerbern
als Financier wider Willen.
Zusätzlich unterstellt sie ‘Ausländern’ 1992 noch ein erhebliches Maß an krimineller
Energie in Kombination mit mangelnder Arbeitsmöglichkeit oder gar -moral:
"... einbrechen oder klauen und so, weil sie nicht arbeiten gehen." (20;21-22)
Von ausländischen Hauptschülern geht ihres Erachtens eine Bedrohung aus. Obwohl sie
den eigenen zeitweiligen Besuch der Hauptschule nicht als persönliche Schädigung hat
erleben müssen - "Ja, ich war früher ein Jahr auf der Schule, da war´s eigentlich ganz gut...“
(27;24-26) - übernimmt sie offenbar das Feindbild anderer, wenn sie die Hölle auf Erden
für Deutsche an der Hauptschule als Bild heraufbeschwört:
"Wenn man da als Deutscher hinkommt, da kann man eigentlich gleich wieder
‘runtergehen, da wird man fertiggemacht und so." (1992: 27;12-14)
1994 hat I. weitergehende Gleichbehandlungsvorstellungen hinsichtlich Asylbewerbern und
Migranten entwickelt, wenngleich sie nach wie vor den Missbrauch des Asylrechts
befürchtet und diesbezüglich einen gewissen Sozialneid empfindet.
Denjenigen, „wo man auch weiß, dass es stimmt“ (24;24-25) und denen sie vermehrte
Anstrengungen zuspricht, ihre neuen Chancen zur Selbständigkeit in der BRD zu nutzen
(28;11-17), billigt sie ein Recht auf Asyl zu (24;25-26). Ihnen sollte geholfen werden, „auf
eigenen Füßen“ zu stehen (25;1-4). Die Grundlage dafür aber müsste eine scharfe
Überprüfung der Asylberechtigung sein (24;5.7). Trotzdem sind inzwischen Veränderungen
in Richtung weitergehender Gleichwertigkeitspositionen zu beobachten. So spricht sie sich
erstmals aus ihrem historischen Bewusstsein heraus und aufgrund eines
Perspektivenwechsels grundsätzlich für das Asylrecht aus:
„Bei uns kann das Gleiche irgendwann mal passieren, und wir wären dann auch froh.“
(27;24)
Auch Asylbewerbern, nicht nur allgemein den ‘Ausländern’, spricht sie inzwischen das
gleiche Recht auf Arbeit wie den Deutschen zu (vgl. 25;7-10)
Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sind für I. inzwischen gesellschaftliche Probleme, für
die es keine zu personalisierenden Ursachen gibt. Dies ist ein großer Unterschied zum
Vorjahr, der zeigt, dass ihre Gleichbehandlungsorientierungen tatsächlich an Fundament
gewonnen haben. Möglichkeiten zur Verminderung der Arbeitslosigkeit sieht sie nun in
strukturellen Maßnahmen wie im Job-Sharing (36;1-3) und in Arbeitszeitverkürzung (36;712).
Jugendlichen aller Nationalitäten räumt I. ebenso das Recht an, kulturelle Freizeitangebote
zu nutzen (31;21-26). Für I. stellen ‘Ausländer’ inzwischen sogar eine kulturelle
Bereicherung dar:
„Ja, man lernt halt auch viel von denen, deren ihre Kultur und wie die so leben und so.“
(23;3-4)
Als ‘typisch deutsch’ bezeichnet I. dagegen, Vorurteile gegenüber anderen zu haben:
„Also ich finde, Deutsche, die haben voll viele Vorurteile.“ (32;37-38)
Die deutsche Nationalität würde I. im Unterschied zum Vorjahr inzwischen auch jenen
zusprechen, die keine deutschen Vorfahren haben und nicht in Deutschland geboren
wurden: „man kann sich ja nicht heraussuchen, wo man geboren wird.“ (29;27-28).
XVII
I. kann sich nun selbst vorstellen, „irgendwann ‘mal“ beispielsweise nach Neuseeland oder
nach Australien auszuwandern (29;34-30;1). Aus diesen Auswanderungswünschen heraus
versetzt sie sich selbst verstärkt in diejenigen, die in die BRD kommen:
„Ich konnte mir auch nicht heraussuchen, dass ich jetzt hier auf die Welt kommen will. Ich
wäre auch lieber woanders auf die Welt gekommen, wo es schön warm ist oder so.“ (29;3538)
2.3 Gewaltakzeptanz
Schon 1992 zeigt I. sich distanziert gegenüber eigener physischer Gewaltausübung mit
privater, d.h. unpolitischer Motivation, spricht sich aber im Hinblick auf Asylbewerber für
institutionelle Ausgrenzungsmaßnahmen aus („Die, wo jetzt alles geschenkt kriegen und so
und wo dann auch noch frech werden, nein, also die sollen schon ‘raus."; 20;26-31) und
befürwortet gegenüber ihr missliebigen Ausländern auch eigene Einschüchterungsversuche
im Cliquenrahmen.
Physischer Gewalt, wie sie in Rostock angewandt wurde, steht sie aber distanziert
gegenüber. I. verurteilt sie jedoch nicht generell, sondern stellt - funktional argumentierend
- ihren Nutzen infrage und gelangt so zu einer ambivalenten Haltung:
"Ja also ich mein, irgendwie hat´s nichts gebracht, wenn sie das jetzt gemacht haben, weil
da müsst man bei der Regierung anfangen und andererseits war´s auch irgendwie, dass die
jetzt wieder raus mussten, weil ihre Heime abgebrannt sind. Also das ist irgendwie
gemischt."(18;25-30)
I. erwartet weniger von mehr oder weniger gewalthaltigen politischen Bekundungen des
Volkswillens auf der Straße als vielmehr von der Regierung, mit entsprechenden Gesetzen
gegen Asylbewerber vorzugehen:
"Also ich mein, die Regierung ist ja schuld, dass zu viele rüberkommen, und die sollen mal
was dagegen machen." (18;38-40)
Sie selbst sieht 1992 ihre Clique und andere rechtsorientierte Jugendgruppen als Opfer
öffentlicher Verunglimpfungen, obwohl diese Jugendlichen - ihre eigene Clique
eingeschlossen - lediglich ihr Recht zum Handeln aus der Untätigkeit der Regierung
ableiten:
"... wenn jetzt grad so Gruppen was dagegen machen wollen, dann heißt´s immer, ja
ausländerfeindlich, Nazis und so. Dann sollen sie halt mal was machen.“ (19;3-6)
Darüber hinaus stilisiert sie sie zu wahren Vaterlandsverteidigern, wodurch sie sich die
Feindschaft der ‘Ausländer’ zuziehen:
„...die haben halt was gegen uns, nur weil wir unser Land verteidigen wollen."(20;4-6)
Im Rahmen dieser sich selbst zugeschriebenen heroischen Aufgabe, setzt die eigene Clique
und auch I. eher auf Einschüchterungsmaßnahmen als auf direkte körperliche
Gewalttätigkeit:
"Na ja, wenn jemand ist, wo man nicht leiden kann und grad vorbeiläuft oder so, dann
schüchtern wir den ein bissle ein oder - wir laufen zu dem hin und so, und dann wird er
schon eingeschüchtert." (15;30-38)
Das bloße Erscheinungsbild der Clique trägt zur Einschüchterung anderer, offenbar
besonders türkischer Mitbürger ein. Diese verlassen z.B. „freiwillig“ einen öffentlichen
Spielplatz, wenn die Clique auftritt:
"Manchmal, also wenn wir dort sind, dann kommt gar niemand anderes. Manchmal sind so
Türken-Familien da, und wenn wir dann kommen, die gehen dann freiwillig."(16;26-28)
Die überwiegende Auseinandersetzungsweise besteht jedoch aus Beschimpfungen und
Vorhaltungen, die politisch relevante Bezüge aufweisen und mit denen sich die
Jugendlichen gegenseitig abwerten:
"Also, sie haben uns beschimpft, ‘Scheiß Skinheads und so’, und wir haben halt gesagt, ja
sie sind bloß Ausländer, und sie haben nichts zu sagen und so." (17;12-15)
XVIII
Diese Darstellung macht deutlich, dass I. bei diesen Auseinandersetzungen die
Provokationen von der anderen Seite ausgehen sieht. Dabei legt sie freilich auch ihr
Vertrauen in die Legitimität eines Territorialprinzips der Machtverteilung offen: Die
Hiergeborenen haben zu bestimmen, Zugewanderte („bloß Ausländer“) „haben nichts zu
sagen“.
I. ist in ihrem Wohnumfeld kurz vor der 92er Befragung Opfer einer Vergewaltigung (vgl.
3.1.1) geworden. Diese Erniedrigungserfahrung verarbeitet sie nicht etwa, indem sie
umgekehrt selbstausgeübte personale Gewaltausübung nun stärker befürwortet. Auch
personale Gewaltausübung seitens ihres Freundes, der am liebsten den Täter verprügelt
hätte, lehnt sie ab, um ihren Freund nicht weiteren Gefahren ausgesetzt zu sehen (26;2833). I. möchte außerdem nicht, dass sich die Clique ihretwegen mit der Hooligan-Gruppe,
aus der der Täter kommt, gewalttätig auseinandersetzt - vermutlich auch, damit für sie die
Clique ein Ort der Sicherheit bleibt:
"Also ich will nicht, also wenn wir uns unterwegs begegnen, ich bin mit welchen
zusammen, dass da eine Schlägerei ist oder so, das will ich nicht." (1992: 26;18-20)
I. lehnt einen so verstandenen Schutz seitens ihrer Clique ab, obwohl sie von Freunden des
Täters jetzt bedroht wird. Vielleicht zeigt dies, dass I. zwar Zugehörigkeit zu einer Clique
sucht, in der sie als Mädchen auch ihre Widerständigkeit beweisen kann, dass für sie aber
personale Gewalttätigkeit kein Mittel darstellt, um Stärke zu demonstrieren, ein
jugendkulturell orientiertes Gemeinschaftsgefühl zu erfahren oder Rachegelüste auszuleben.
1993 akzeptiert I. grundsätzlich weder selbst- noch fremdausgeübte personale Gewalt als
Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen oder als Problemlösungsmittel. Vielmehr geht
sie davon aus, mit Gesprächen Probleme aus der Welt schaffen zu können (vgl. 42; 4-9). Sie
spricht sich damit auch gegen fremdenfeindlich motivierte Gewalt aus, weil diese nur eine
Spirale von Gewalt bewirken würde:
"Da entsteht dann nur noch mehr Hass, und dann geht es immer so weiter." (42; 17-20)
Vornehmlich Leuten mit rechtsextremer Orientierung schreibt sie Gewaltbefürwortung zu:
"Ich schätze mal, gerade so die Rechten und so." (42; 24)
I. verurteilt jetzt nicht nur fremdenfeindlich motivierte Exzesse personaler Gewalt, sondern
auch entsprechende Einschüchterungs- und Diskriminierungsversuche. Für sie ist das ein
entscheidender Grund dafür, sich von einer Freundin zu trennen (vgl. 38; l-10).
1994 spricht I. sich wie im Vorjahr entschieden gegen Formen selbst- und fremdausgeübter
Gewalt aus und ist misstrauischer gegenüber staatlichen Ordnungskräften geworden, denen
sie u.U. jetzt sogar Kollaboration mit rechten Gewalttätern zutraut.
Sie begrüßt es, dass an ihrer Schule der Schulleiter, der Vertrauenslehrer und weitere Lehrer
auf die Vermeidung körperlicher Gewalt achten (vgl. 13;38-40). Als Auslöser für
Gewalttätigkeiten an der eigenen Schule werden fremde Hauptschüler angesehen, die sich
jetzt auf dem Realschulgelände nicht mehr aufhalten dürfen. Jeder Lehrer und auch Schüler
(14;39-40) fühlt sich nach ihrer Einschätzung für eine Gewaltreduzierung verantwortlich
(14;7-15). Die Ursachen für diese vormaligen gewalttätigen Auseinandersetzungen sieht I.
in Sozialstatus-Problemen. Durch die Ausgrenzung von Hauptschülern und durch eine
offenbar gute Schulatmosphäre konnte diese Schwierigkeit wohl beseitigt werden.
Bewaffnungen kommen in der Schule „gar nicht“ vor (15;7).
I. lehnt auch politisch motivierte Gewalt entschieden ab. Alkohol und Drogen lässt sie als
Entschuldigung entsprechender Gewalttaten nicht gelten (vgl. 39;26-31). Möglichkeiten
zur Vermeidung jugendlicher fremdenfeindlich motivierter Gewalttaten sieht I. z.B. in
einem „Schüleraustausch“ (40;1-6), bei dem Deutsche andere Kulturen kennen lernen
können. Sie selbst kann sich vorstellen, eines Tages auszuwandern. Ein Auslandaufenthalt
würde ihrer Meinung nach „vielleicht nicht jedem, aber vielen schon“ helfen, Fremde zu
verstehen (vgl. 40;10-15),
XIX
Für I. wäre eine solche Auslanderfahrung ein ‘Bollwerk’ gegen die Verführung seitens
rechter Cliquen, weil man durch sie zu Perspektivenwechsel, mehr Reflexivität und
Empathie angeregt wird,
„...weil dann hat man immer vor Augen, ‘Ich, ich war auch schon mal als Schülerin im
Austausch, und ich bin gut aufgenommen worden. Und jetzt kommen welche ‘rüber, die
nehme ich auch gut auf’ und so. Da hat man dann, da hat man die eigene Erfahrung. Wenn
man so was noch nie gemacht hat, dann hat man die eigene Erfahrung nicht, und dann lässt
man sich in irgendwas reinziehen und schließt sich irgendwo ab.“ (40;23-30)
I. verurteilt es ebenso, wenn Polizisten ihre rechten politischen Ansichten in ihren Beruf mit
hineintragen, was nach ihrem Ermessen bei den Vorfällen in Magdeburg (38;4-25)
geschehen ist. Derartige Vorfälle erwecken in I. den Eindruck, die Polizei arbeite mit
Rechtsextremisten zusammen. Dies weist auf einen erheblichen Vertrauensverlust
gegenüber staatlichen Ordnungskräften hin:
„Da sind sie wahrscheinlich irgendwie angestachelt worden von irgend jemand. Und
vielleicht haben die Polizisten ja auch irgendwie was dann vielleicht damit zu tun gehabt,
dass die gewusst haben, ‘Ja, wir können machen, was wir wollen, die machen nichts gegen
uns’ oder so. Und man weiß ja nicht, was, welche Verbindungen die miteinander haben,
oder so.“ (39;7-12)
Gegen eine solche ‘Verstrickung’ der Polizei sollte „etwas“ getan werden (41;12-14).
Ebenso misstrauisch ist I. gegenüber Politikern. Sie ist skeptisch, inwieweit diese sich
bemühen, rechtsextremistisch motivierte Gewalt zu unterbinden (vgl. 41;1-5).
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit sozialen
Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 hat I. vor allem Probleme damit, eine nur kurze Zeit zurückliegende Vergewaltigung
zu verkraften. Außerdem benennt sie noch schulische Schwierigkeiten.
Die Vergewaltigung erfolgte durch einen Jugendlichen aus einer Hooligan-Gruppe, die in
losem Kontakt zu I.s Clique steht (23;32-24;3). Dieser Täter hat einen italienischen Vater
und eine deutsche Mutter und pflegt offenbar sein italienisches Image (Memo). Von ihr
wird er insofern als ‘Ausländer’ wahrgenommen (23;40). Ihr kam bei der Vergewaltigung
niemand zu Hilfe, wohingegen der Täter zwei Freunde an seiner Seite hatte (24;14-20).
Nach der Vergewaltigung fand I. sofort Unterstützung bei ihrem Freund und dem
Jugendhausleiter P., der ihr zur Anzeige riet (vgl. 24;27-34). Vor einer Anzeige scheute sie
aber zunächst aus Angst vor der Reaktion der Eltern zurück (vgl. 24;23-27). Infolge der
Anzeige kam der Täter zunächst für zwei Monate in Untersuchungshaft (24;2-3). Von den
Mitgliedern der Hooligan-Gruppe wird I. nun unter Androhung von Gewalt („die wollen
mich jetzt alle verschlagen";23;35-37) unter Druck gesetzt, die Anzeige zurückzuziehen
(vgl. auch 24;4-8; 24;39-35;4). Glücklicherweise findet I. sowohl bei ihren Eltern (25;2224) als auch bei ihrem Freund, ihren Freundinnen, ihrer Clique und dem Jugendhausleiter
Unterstützung bei ihrer Absicht, die Anzeige nicht zurückzuziehen (25;12-15). I. ist sich
aufgrund des sozialen Rückhalts sicher, dass sie dieses Erlebnis verkraftet (vgl. 25;33-36).
Möglicherweise spielt die Vergewaltigung für ihre politischen Orientierungen durchaus
eine Rolle. So ist es ein von ihr als ‘Ausländer’ wahrgenommener Deutsch-Italiener, der sie
vergewaltigt hat. Und obwohl dieser in der direkten Nachbarschaft wohnt, überträgt sie ihre
Furcht auf die türkische Wohngegend, durch die sie „spät nachts“ nicht mehr gehen würde
(1992: 28;1-4). Diese Uhrzeit weist auf ihre Angst auch gerade vor sexueller Gewalt hin.
Außer mit der Vergewaltigung hat I. auch noch Probleme in der Schule. Sie ergeben sich
aus ihrer Widerständigkeit gegen ungeliebte Lehrpersonen, deren Unterricht sie gemeinsam
mit anderen teils massiv stört. „Manchmal“ werden Lehrer auch ‘fertiggemacht’ (11;36-40).
XX
Auf ein solches Verhalten folgen Strafen (" fliegen ‘raus“ ...Eintrag...Strafarbeit, und
wenn´s ganz schlimm kommt, nachsitzen.";12;5-7).
Allerdings hat I. nicht nur Ärger mit den Lehrern. Diejenigen, die in ihren Augen einen
guten Unterricht machen, d.h. den Lehrstoff lustig und interessant vermitteln können,
werden von ihr respektiert. Findet sie den Unterricht jedoch langweilig, so verweigert sie
sich ihm (16;20-21). Möglicherweise begründet dies auch ihre schlechten Schulleistungen.
1993 haben I.s Problembelastungen erkennbar nachgelassen.
Die Erfahrung der Vergewaltigung liegt inzwischen etwa ein Jahr zurück. Die Androhungen
von Gewalt, um sie zur Rücknahme der Anzeige zu bewegen, sind mit der Zeit unterblieben
(9;27).Hilfe fand sie vor allem in Gesprächen mit ihren Eltern (10; 10). Zudem hilft ihr jetzt
ihre Freundin. Die Unterstützung bei der Problembewältigung von Seiten ihres Vaters und
ihrer Stiefmutter weist auf eine Fortsetzung in der Bewältigung der Familienkrise hin. Im
Vorjahr hatte die Familie sich gerade mit der schwierigen Situation der Zurücksetzung der
älteren Tochter im Zuge der Geburt eines elf Jahre jüngeren Sohnes auseinandergesetzt. Ein
gemeinsam verlebter Familienurlaub in den letzten Sommerferien konnte den
Krisenbewältigungsprozess positiv enorm verstärken:
" seitdem haben wir irgendwie voll das gute Verhältnis." (1;7f)
I. erfährt jetzt in verschiedenen Situationen, wie sehr sie sich auf die Unterstützung durch
ihre Eltern verlassen kann (siehe Abschnitt `Familie`).
In der Schule wiederholt I. nun die 8 Klasse. Sie reagiert auf diese von ihr nicht negativ
bewertete Wiederholungssituation mit erhöhter Leistungsbereitschaft (22;1-6) und
verstärkter Eigeninitiative (20;3 1-21 ;8). Der momentan verbesserte Notenstand spornt sie
zu weiteren Anstrengungen an (vgl. 16;10-12). Zudem macht sie ganz neue
Erfolgserfahrungen durch ihre neuerliche Mitgliedschaft in einem schulischen "Popchor":
"...und das macht irgendwie voll Spaß." (11 ;14). Insgesamt hat I. auch einen wesentlich
besseren Kontakt zu ihren LehrerInnen und kommt zudem mit ihren neuen Mitschülern in
der Klasse gut aus. Im schulischen Bereich sind demnach Probleme, die sie durch ihre
eigene Widerständigkeit gegen angeblich unfaire Lehrer und langweilige Stoffvermittlung
erwirkte, in diesem Jahr völlig weggefallen. I. tut es offenbar wirklich gut, die Klasse zu
wiederholen. Sie schämt sich nicht wegen dieses Bruches in ihrer Schullaufbahn.
Demgegenüber schämt sie sich wegen ihrer `Vergangenheit`. Die ehemalige Mitgliedschaft
in einer politisch rechtsorientierten Clique ist für sie ein Fehler, den sie am liebsten
ungeschehen machen würde:
"Also, das würde ich irgendwie am liebsten vergessen, weil gerade auch die ganze Szene da,
wo ich drin war, also wenn ich jetzt daran denke, das wurde ich am liebsten zurückdrehen
und alles von vorne" (2;32-35); "Am liebsten würde ich eigentlich echt die Zeit
zurückdrehen. Das war irgendwie alles schwachsinnig." (4;13-15)
Wenn I. selbst ihre Problembelastungen benennt, so weist sie lediglich auf die Unsicherheit
ihrer zukünftigen Lebensplanung hin (Fb 3). Dies steht vielleicht in einem Zusammenhang
mit ihrer nicht problemlos gewesenen Schulbiographie. Es könnte erklären, warum ihre
emotionale Haltung gegenüber Asylbewerbern so stabil ist.
1994 gibt I. als ihre zur Zeit größten Probleme schulische Schwierigkeiten, die Unsicherheit
der beruflichen Zukunftsperspektiven und Zeitnot an (Fb. 10).
Zu ihren schulischen Problemen zählen ihre vor Jahren schon aufgetretenen
Verständnisschwierigkeiten im Fach Mathematik. Hier nimmt sie Nachhilfe und bemüht
sich folglich um die Verbesserung der Noten (13;10-12). Das Erreichen der Mittleren Reife
ist aber bislang offenbar nicht gefährdet (13;15).
Mit ihren Eltern besprach I. inzwischen auch ihren Berufswunsch. Sie würde am liebsten
die dreijährige Ausbildung zur Pferdewirtin machen und danach Jockey werden (10;10-11).
Inzwischen hat sie sich über die Phasen einer derartigen Ausbildung informiert und ist sich
auch sicher, über genügend Vorkenntnisse für diesen Beruf zu verfügen (10;22-34). Mit
diesem
Beruf
verbindet
sie
unverändert
vor
allem
sachlich-inhaltliche
XXI
Arbeitsorientierungen. Es ist ihr Traumberuf, „schon als kleines Kind“ wollte sie „das
schon immer werden“ (11;8). Die Eltern ermutigen sie, diesen Weg zu gehen (11;7-11), und
versichern ihr, als selbstverständlicher Rückhalt weiterhin zur Verfügung zu stehen (vgl.
1994: 11;12-13). Sollte sie keinen Ausbildungsplatz bekommen, so will sie Reitlehrerin
werden (vgl. 11;28-29). Doch erscheinen I. diese Zukunftsperspektiven durchaus als
unsicher. Für die Zukunft will sie. sich deshalb noch mehr um bessere Schulnoten
bemühen, um einen guten Schulabschluss zu erreichen. Doch weiß sie, dass ihr das eigene
Lustprinzip in ihrer Alltagsgestaltung dafür etwas im Wege steht: „...und dann irgendwie,
dann habe ich doch keine Lust.“ (43;17-24). Vermutlich erklärt sich durch diese Diskrepanz
zwischen Lustprinzip und Pflichtaufgaben in ihrer Freizeitgestaltung das Problem der
‘Zeitnot’.
I. gibt die Bewältigung der Vergewaltigung nicht als ein Problem an. Allerdings ist im
vergangenen Jahr die Gerichtsverhandlung aufgrund der Konfrontation mit dem Täter sehr
unangenehm gewesen. Der Täter ist in der Verhandlung aus Mangel an Beweisen
freigesprochen worden (8;16-17). I. ist erleichtert, ihm wenigstens im Alltag nicht mehr zu
begegnen (vgl. 8;20-26). Für I. ist die Vergewaltigung zwar eigentlich ein abgeschlossenes
Thema, doch die Erinnerung an sie „kommt“ gelegentlich auch noch nach Jahren „wieder
hoch“. In solchen Momenten kann sie sich auf ihre Freundinnen und ihre Eltern verlassen
(vgl. 9;26-31).
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Familie
I. sieht sich 1992 von ihren Eltern zwar nicht so akzeptiert, wie sie ist, aber fühlt sich
dennoch bei ihnen grundsätzlich geborgen. Sie kann sich ihrer Einschätzung nach auf ihre
Eltern verlassen und bei ihnen mit tatkräftiger Hilfe rechnen (Fb. 3). Mit ihrer Stiefmutter
kann sie auch über persönliche Probleme reden.
I. wohnt mit den beiden seit etwa 6-7 Jahren zusammen. Zuvor lebte sie bis zu ihrem 5.
Lebensjahr bei ihrer leiblichen Mutter. Zu einem Bruch in der Beziehung zu ihr kam es
offenbar aufgrund ihrer Alkoholsucht (vgl. 5;25-30). Übergangsweise wohnte I. dann bei
ihrer Oma, mit der sie sich ausgezeichnet versteht und mit der sie über alles reden kann
(7;11-13). Mit ihr hat sie nach wie vor regelmäßigen, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr
so häufigen Kontakt. Von ihr hat sie in der Vergangenheit auch am stärksten das Gefühl
von Geborgenheit vermittelt bekommen (6;39-40). Diese Entwicklungsgeschichte zeigt,
dass I. im Verlauf ihrer Kindheit zahlreiche Trennungen innerhalb der Familienbeziehungen
zu verkraften hatte. Von stabiler Kontinuität der Bezugspersonen kann nicht die Rede sein.
Zu einer neuerlichen Familienkrise kam es dann, als ihre Stiefmutter vor etwa zwei Jahren
von ihrem Vater ein eigenes Kind bekam. Erneut musste I. damals mit Verlustängsten fertig
werden:
"Ja, wir hatten da mal so eine Krise ab da, wo mein Bruder auf die Welt gekommen ist. Jetzt
grad in den ersten zwei Jahren, da war sie nur für ihn da, da hab´ich mich oft vernachlässigt
gefühlt. Da haben wir oft gestritten und so. Das ist jetzt aber geregelt, und jetzt hat sie auch
zugegeben, dass sie sich viel zu viel um ihn gekümmert hat, weil das halt ihr eigenes Kind
ist. Aber jetzt geht´s eigentlich" (5;15-22)
I. beschreibt wie eifersüchtig sie in den letzten Jahren auf ihren Bruder gewesen ist. So
verweigerte sich I. u.a. den von den Eltern auferlegten Pflichten gegenüber dem Bruder,
was möglicherweise ihre Antwort auf die zuvor erfahrenen Benachteiligungen war. Im
nachhinein verurteilt I. ihr eigenes Verhalten (7;34-39). Offenbar aufgrund der Zuspitzung
des Ärgers innerhalb der Familie ist es dann in der Vergangenheit zu einem
Klärungsgespräch gekommen, bei dem I. die eigenen Ängste klar wurden, bei dem aber
auch die Eltern ihre Fehler einsahen:
"Ich hab mich mit meinem Bruder auch nicht verstanden, weil er hat alles gekriegt und
stand auf einmal im Mittelpunkt und so und. Aber da hat mal die ganze Familie dann drüber
XXII
geredet, und dann hab ich irgendwie auch eingesehen, dass ich nur eifersüchtig war, dass
das gar nicht so war, weil die gucken jetzt danach, also die haben jetzt auch gemerkt, dass
sie Fehler gemacht haben." (5;38-6;6)
Statt durch Widerständigkeit versucht I. inzwischen durch die Übernahme von
traditionellen Hausfrauentätigkeiten Anerkennung zu bekommen. Sie übernimmt Aufgaben
wie Aufräumen, Einkaufen und Putzen, wenn sie den Eindruck hat, ihre Stiefmutter sei
überlastet (vgl. 2;9-10).
Wenn es Familienärger gibt, verhalten sich die Eltern konsequent. Angedrohte Strafen wie
Ausgehverbot und Reitverbot werden eingehalten (8;13-15). Dabei übernimmt I. durchaus
im nachhinein deren Perspektive und erachtet die Strafen als Maßnahmen, wieder zur Ruhe
zu kommen (8;2-5).
1993 sind die Familienbeziehungen - wie oben angedeutet - erheblich besser geworden. I.
schwärmt noch immer von dem gemeinsam verlebten Sommerurlaub, bei dem sie ihre
Eltern und auch ihre Verwandtschaft so unerwartet anders erleben konnte (vgl. 13;34-14;3).
Dieser gemeinsame Familienurlaub führte I. Erlebnismöglichkeiten vor Augen, die sie
innerhalb ihrer Clique nicht hatte:
"... in der rechten Szene ...da hat sich niemand für irgendwas richtig interessiert..." (25,6-8)
Auch entdeckte sie, dass innerhalb ihrer Clique ein Konformitätsdruck bestand, mit dem sie
nicht mehr zurechtkam, dem sie sich nicht mehr unterwerfen wollte:
"Also, da wo ich - ich war ja im Urlaub - und da wo ich wieder zurückgekommen bin, habe
ich eigentlich mit den ganzen, wo ich früher zusammen war, alle Streit bekommen. Gerade
im Urlaub, ich habe mich irgendwie schon verändert, wie ich herumgelaufen bin, und das
haben die halt am Anfang gar nicht verstanden. Und dann haben wir aber dermaßen Streit,
und sie haben uns irgendwie alle gar nicht mehr. Außer der S., aber sonst haben sich
eigentlich alle verändert." (3 ;40-4 ;4)
Somit trug das erheblich verbesserte Verhältnis zur gesamten Familie dazu bei, die Qualität
der Beziehungen innerhalb der Clique mit neuen Augen zu betrachten und nun kritisch zu
hinterfragen.
Besonders positiv hat sich das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter entwickelt. I. erachtet sie
inzwischen als ihre wahre "Mutter", ihre leibliche Mutter ist für sie dagegen wie eine
"Freundin" (1;37-40). Die Kontakte zur leiblichen Mutter beschränken sich auf
Kurzbesuche an deren Arbeitsstelle oder zufällige Begegnungen (1;28-30). Auch mit ihrem
Vater versteht sie sich "ganz gut", obwohl sie ihn durch seinen Schichtdienst selten sieht
(2;2-4). Positiv verändert hat sich zudem das Verhältnis zum Bruder, an dessen
Entwicklung I. inzwischen mehr Interesse aufbringt (1993: 5;4-6).
Die Eltern vermitteln I. das Gefühl von Geborgenheit. Sie zeigen ihr, dass sie jederzeit mit
ihrer Hilfe rechnen kann. So stellten sie dies unter Beweis, als sie sie während der
vorübergehenden Trennung von ihrem Freund emotional unterstützten (6;28-29), was
allerdings zur Folge hat, dass sie von der erneuten Aufnahme der Beziehung nun nicht
angetan sind (6;32-38). Die Eltern unterstützen I. auch in der Vorbereitung auf die
bevorstehende Gerichtsverhandlung (9;7-8). Über Themen wie Sexualität redet I. mit den
Eltern nicht; diese sind aber über deren Einnahme von Verhütungsmitteln (Pille) informiert
und damit einverstanden (28;7-l1). Für die Zukunft wünscht sich I., dass besonders die
Atmosphäre in der Familie so bleibt, wie sie ist.
Das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern ist auch 1994 konstant gut geblieben. I.
verbindet mit ihren Eltern ein stabiles Vertrauensverhältnis: „wir können auch über alles
miteinander reden ...“ (7;19). Auch das Verhältnis zu ihrem elf Jahre jüngeren Bruder
scheint mit zunehmenden Alter besser zu werden (vgl. 7;37-38).
Besonders schätzt I. an ihren Eltern deren Bereitschaft, sich für sie Zeit zu nehmen und mit
ihr zu reden, wann immer sie dies will (vgl. 8;6-10). Nach eigener Einschätzung hat sich
das Verhältnis mit ihrer Stiefmutter noch weiter verbessert, weil sie bei ihr konstant
tatkräftige Unterstützung bei der Bewältigung des Traumas ‘Vergewaltigung’ erhielt (9;35-
XXIII
36). Auch hilft sie nun I., die Trennung von ihrem Freund durchzuhalten (7;20-24). I. sieht
gelegentlich ihre leibliche Mutter, möchte diesen Kontakt aber nicht intensivieren, weil ihre
Stiefmutter an deren Stelle getreten ist (Memo). Bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter fühlt
I. sich geborgen und auch so akzeptiert, wie sie ist (Fb 9). I. unternimmt inzwischen mehr
getrennt von ihrer Familie, doch fährt sie nach wie vor gelegentlich gerne mit zu
Verwandtschaftsbesuchen und unternimmt auch gerne etwas mit ihren Eltern und ihrem
Bruder zusammen (9;40-10;4).
Schule
Trotz belastender Schulprobleme aufgrund ihrer Notenprobleme und ihres widerständigen
Verhaltens gegenüber ungeliebten Lehrern (siehe Abschnitt 3.1.1), geht I. schon 1992 nicht
ungern zur Schule. Das Wichtigste ist für sie das Zusammensein mit ihren MitschülerInnen
(9;25-27). I. hat mehrere Freundinnen; ihre beste Freundin geht in die Parallelklasse, ihr
Freund ist eine Klasse über ihr. In ihrer Klasse fühlt sie sich einer „Gemeinschaft“
zugehörig (11;27-28). Zu dieser gehören allerdings nicht jene, die „anständig, ruhig“ sind,
„sich keine Ausrutscher“ leisten, die „sich immer als die Klassenbesten vorkommen“ und
sich „bei jedem Lehrer einschmeicheln“ (11;32-12;5). Diese anderen SchülerInnen werden
„manchmal fertiggemacht und so“ (11;8-10). Mit ihnen will das Gros der Klasse nach ihrer
Wahrnehmung nichts zu tun haben, wie es auch umgekehrt der Fall zu sein scheint
(vgl.11;26-30). Mit „einigen“ ihrer Lehrer kommt I. gut zurecht (9;29-30). Besonders gut
verstehen sie und ihre Klasse sich mit dem Deutschlehrer, der den Unterrichtsstoff lebendig
und interessant zu vermitteln versteht (9;40-10;4). Offenbar strahlt dieser Lehrer Freude an
der Zusammenarbeit mit den SchülerInnen aus, die von anderen Lehrpersonen als so
problematisch wahrgenommen werden (vgl.10;40).
1993 erachtet I. die Wiederholung der achten Klasse als ein Angebot neuer Chancen. Vor
allem die neu erlebte Position, nicht mehr zu den Schlechtesten zu gehören, gibt ihr
Auftrieb (vgl. 7;28-29). I. lebte sich in die neue Klasse problemlos ein (8;l) und fand
schnell Kontakte (16;36). Die Klasse achtet sie und sucht bei schwierigen Lehrstoffen ihre
Unterstützung (16;30-34). I. erlebt das Zusammensein mit ihren MitschülerInnen als
positiv, auch wenn sie keine privaten Kontakte zu ihnen hat (17;8-1 1). Für sie ist die
Klasse eine Gemeinschaft (19;5), in der unterschiedliche Gruppen existieren, die zwar
getrennt etwas unternehmen, aber trotzdem zueinander in Beziehung stehen (19;8-l 1).
Insgesamt hat I. den Eindruck, das Verhältnis an der Schule zwischen Lehrern und Schülern
sei entspannter geworden, was sie mit der zahlenmäßigen Zunahme junger LehrerInnen an
der Schule erklärt (vgl.15;14-17).
Aufgrund ihrer jetzigen Vorkenntnisse hat zum Teil ihr Interesse am Unterricht bei
bekannten LehrerInnen zugenommen (15;1 1-14). Zudem hat sie eine neue Lehrerin, bei der
sie ihre Leistungen deutlich verbessern konnte. Diese realen Erfolgserfahrungen spornen sie
zu weiteren Anstrengungen an, um ein gutes Abschlusszeugnis zu bekommen (16;10-14).
Damit zeigt sie Engagement, ihr Problem `Zukunftsperspektiven` zu bewältigen. Zudem
genießt sie die neu eingeführten selbstbestimmten Arbeitsformen. In verschiedenen
Unterrichtsfächern werden die Schüler jetzt an der Themenauswahl beteiligt (20;20-27).
Zudem können SchülerInnen teils selbst den Unterricht eigenverantwortlich gestalten - eine
Chance, die I. mit Engagement ergreift (vgl. 20;25-27). Diese Aufgabe stellte hohe
Anforderungen an I. hinsichtlich der Vorbereitung und der Durchführung (20;40-21 ;7). Sie
ist stolz auf die aufmerksame Beteiligung ihrer Mitschüler, die sie erwirken konnte (21;1318) und auf die eigenen Lernerfolge (21;22-28). Die Unterrichtsinhalte haben für I. somit
teils an Sinnbezug gewonnen.
Schule ist auch zu einem Ort positiver Erfahrungen durch ihre freiwillige Beteiligung an
einem "Popchor" (11;11) geworden. Hierzu entschied sie sich nach den letzten
Sommerferien (11;22). 1. freut sich auf ihr Vorsingen vor Publikum:
"... das macht irgendwie voll Spaß."(1993: 1l;9-14)
XXIV
Außerdem genießt sie den eigenen Bedeutungsgewinn durch das Umgehen mit
Mikrophonen (11;32-34). Insofern kann sie in diesem Chor neue Interessen verwirklichen
und neue Talente in sich entdecken.
Innerhalb der Schule hat I. 1994 wieder etwas stärker Leistungsprobleme. Sie besucht jetzt
das 9. Schuljahr. Formen der Selbstbestätigung sind durch das Nachlassen der Noten
eingeschränkter geworden, doch sind ihr die Erfolge durch ihre Mitwirkung in einer
schulischen Musikgruppe geblieben. Mittlerweile ist sie Mitglied einer kleinen Musikband,
die von dem Musiklehrer „so nebenher“ geleitet wird (12;37). I. gehört mit ihrem Gesang
zu denjenigen, die bei Aufführungen vor der Schule besonders im Vordergrund stehen
(12;30-34). Sie hat hieran viel Spaß und genießt den jeweiligen Erfolg (12;7-15). Auch
Lehrer bekunden ihre Anerkennung für diese Gesangsleistung (16;4-7). I. kommt insgesamt
mit ihren L. immer besser zurecht (vgl. 16;8-9). Auch mit den (ja jüngeren) SchülerInnen
aus ihrer Klasse kommt I. nach wie vor gut aus (vgl. 15;21-22).
Freundes- und Bekanntenkreis
Den größten Teil ihrer Freizeit verbringt Iris 1992 mit einer Clique: „wir sind halt immer
zusammen“ (12;34-35). Dies ist eine gemischtgeschlechtliche Clique von ca. 15
Jugendlichen (vgl. 13;36) mit einer breiten Altersspanne von 11-24 Jahren (18;4-13). Zu
dieser großen Altersspanne kommt es dadurch, dass viele ihre Geschwister mit in die
Gruppe gebracht haben (8;16-19). Alterspanne und Geschwistertum weisen darauf hin, dass
es diese Clique in dieser Zusammensetzung noch nicht lange geben kann, sonst hätten
aufgrund unterschiedlicher, entwicklungsspezifischer Interessen schon Separationsprozesse
stattgefunden. Es sind mehr Jungen als Mädchen in der Gruppe (18;8). Manchmal ist ihr
Treffpunkt das Jugendhaus im Stadtzentrum, „meistens“ ist es in Ermangelung anderer
Treffpunkte - "Einen anderen Raum für uns haben wir eigentlich nicht" (14;10-12) - der
öffentliche Spielplatz. Die gemeinsamen Unternehmungen sind auf Action und Spaßerleben
ausgerichtet, vor allem "Parties und Diskos" (vgl. 13; 10-14). Die Clique definiert sich über
ihre rechten politischen Orientierungen, die ihre Mitglieder durch das Hören von Oi-Musik,
Kleidung("wir haben fast alle Bomberjacken"; vgl. 13;20f)) und Frisuren symbolisch zum
Ausdruck bringen. Kleidung ist für sie ein wesentliches jugendkulturelles
Zuordnungsmoment (vgl. 31;4-7).
Das Tragen einer gemeinsamen Frisur „ist eigentlich freiwillig“ (13;26), aber doch schon
uniformiert. Auch I. trägt diese Haarfrisur:
"Bei den Mädchen auch, die rasieren sich dann hinten die Haare weg und machen sich dann
meistens einen Pferdeschwanz.“ (17;22-28)
Der rasierte Nacken ist durch das Tragen des Pferdeschwanzes auf den ersten Blick nicht
mehr erkennbar. Der Pferdeschwanz, durchaus ein Symbol der Mädchenhaftigkeit, Keckheit
und zugleich Bravheit, verdeckt in der Öffentlichkeit dieses Symbol der politischen
Zuordnung. Damit erfolgt eine Anpassung sowohl an cliquenbezogene als auch an
gesellschaftliche Konformitätserwartungen. Diese Anpassung, die auf Vermeidung harter
Konfrontationen hinausläuft, spiegelt sich in ihrem ‘Lebensspruch’ wider, den sie als Motto
ihres Lebens aufstellt: „Immer locker und cool sein, aber wenn’s hart wird, sich anpassen
können“ (1992: Fb 11).
Ein fundiertes Weltbild liegt ihrer Cliquenmitgliedschaft und der damit dokumentierten
politischen Haltung nicht zugrunde. Vielmehr scheint sie Positionen anderer zu
übernehmen, also in der Clique quasi ‘mitzulaufen’. Ihr geringes Alter spricht in dieser
höchst altersheterogenen Gruppe dafür. Wahrscheinlich sucht sie dort das Gefühl von
selbstverständlicher Zugehörigkeit, das sie innerhalb der Familie offenbar häufiger leidvoll
vermissen musste, und findet es in Kategorien wie ‘nationale Zugehörigkeit’ und
‘Kameradschaft unter Deutschen’, das als Image innerhalb der Clique aufgebaut wird:
"...da fühlt man sich meistens wohl, da wird eigentlich niemand ausgestoßen so. Da ist jeder
mal Mittelpunkt, jeder ist dabei." (14;31-33)
XXV
Dennoch weist nicht nur die große Altersspanne der Mitglieder, sondern auch I.’s Wortwahl
darauf hin, wie wenig stabil und eingeschworen die Clique noch ist. So beschreibt I. in fast
jedem Satz die Clique unter Zuhilfenahme des relativierenden Wortes „eigentlich“ entweder „eigentlich nicht“, „eigentlich meistens“, „eigentlich selten“ oder „eigentlich
alle“. Diese Häufung der „eigentlich“-Formulierung, läßt die Clique „eigentlich“ als instabil
erscheinen, wenngleich I. sich in ihr geborgen und als Mensch respektiert fühlt. Außerdem
ist sie sich sicher, sich auf deren Unterstützung und tatkräftige Hilfe verlassen zu können
(Fb 3).
Möglicherweise tragen auch ihre beste Freundin und ihr Freund, die ebenfalls Mitglieder
sind, zu dieser Einschätzung bei (15;10-13).
Ganz wichtig ist für I. die beste Freundin. Sie gibt an, ein starkes Vertrauensverhältnis zu
ihr zu haben und mit ihr deshalb „über alles reden“ (20; 38-40) zu können. Offenbar
erzählen sich beide Mädchen gegenseitig von ihren Problemen. Mit der Freundin verbindet
sie eine innige, fast geschwisterliche (vgl. 20;40) Beziehung. I. baut damit außerhalb der
Familie eine ‘familienähnliche’ Beziehung auf, in der sie sich aufgehoben fühlt. Die Eltern
sind damit einverstanden, dass die Mädchen gelegentlich beieinander übernachten (21;2-6).
Zusammen mit ihrer Freundin fühlt I. sich gegenüber anderen Cliquen sicherer (21;18-22).
Auch bringen gemeinsame Unternehmungen mit ihr mehr Spaß (21;13-15). Im Vordergrund
der gleichwertigen Mädchenfreundschaft, in der keine über die andere dominiert (21;3538), steht das gegenseitige Verständnis, das „Füreinander-da-Sein“ (vgl. 21;29-31).
1993 ist I. nach den Sommerferien aus der politisch rechtsorientierten Clique ausgetreten
und ist jetzt mit "alten Freundinnen zusammen", mit denen sie "irgendwie das Leben wieder
ganz anders" sehen kann (3; 18-21). Ihr Freund verließ nach ihr während der Zeit ihrer
Trennung diese Clique. Beide veränderten ihre Frisuren, ihre Kleidungen, die MusikRichtung, um über den damit vollzogenen jugendkulturellen Stilwechsel sich auch politisch
abzusetzen (vgl. 3;11-15). Zu den ehemaligen Cliquenmitgliedern hat sie keinen Kontakt
mehr (22;39-23;2). Auch zu ihrer ehemals engen Freundin S. ist I. inzwischen in Distanz
getreten, weil diese sich nicht von der rechten Szene distanzieren will (vgl. 8;12-l6). I. stört
sich an deren fremdenfeindlichen Verhalten (38;1-10) ebenso wie an deren `unweiblichem`
Auftreten. Letzteres sieht sie in Verbindung mit dem symbolischen Maskulinismus in der
rechten Szene stehen:
"Ja. Also gerade jeder, wo sie sieht, die läuft irgendwie gar nicht herum wie ein Mädchen,
weil ihre abrasierten Haare, dann hat sie ihre Docs an und Bomberjacke und ihre Käppi
immer auf. Also wenn man es nicht weiß, dass es ein Mädchen ist, dann würde man denken,
sie wäre ein Junge." (8;6-12).
I. fühlt sich jetzt einer "kleinen Clique" (6;7) zugehörig, mit der sie das Leben wieder
richtig genießen will (vgl. 6;l-5). Vermutlich ergibt sich hierbei eine Verzahnung der nun
positiven Familienbeziehungen, die ihr wieder mehr Vertrauen in sich und andere
Menschen ermöglichen, und der positiven Freundschaftsbeziehungen (vgl. 6;9-12).
Innerhalb der jetzt eher altershomogenen Clique gehen die Jugendlichen gleichgelagerten
Interessen nach, die eher an dem örtlichen kommerziellen Angebot orientiert sind(„Dart“,
„Billard“, „Kino“; vgl.(25;3-l1).
Im Nachhinein hat sie das Empfinden, diese Interessen wären in der politisch
rechtsorientierten Clique nicht zu verwirklichen gewesen (vgl. 25;8). Aus der Distanz
heraus gibt 1. auch an, damals wenig Einflussmöglichkeiten innerhalb der Clique gehabt zu
haben (25;1). Bei gemeinsamen Unternehmungen kann ihres Erachtens jetzt - im
Unterschied zu vorher - jeder seine Wünsche und Vorstellungen einbringen (24; 1012).
Auch sie selbst fühlt sich hinsichtlich ihrer Wünsche berücksichtigt (24,15-17). Interessant
ist hier, dass sie die gleiche Sichtweise von Gleichberechtigung anführt, die sie letztes Jahr
bezogen auf ihre alte Cliquenzugehörigkeit genannt und im Nachhinein relativiert hat.
Möglich erscheint hier, dass erst bei Distanzierung tatsächlich die Bedingungen relativiert
XXVI
werden können, die vorher aufgrund des Wunsches nach Zugehörigkeit nicht realistisch
eingeschätzt werden können.
In I.s Freundschaftsbeziehungen hat es 1994 durch die endgültige Trennung von ihrem
Freund einige Veränderungen gegeben. Die Ursache für die Trennung sieht I. in der
einengenden und Lebensqualität beschneidenden Eifersucht ihres damaligen Freundes.
Nach häufigen Auseinandersetzungen beendete I. die Beziehung, worüber sie im nachhinein
„eigentlich froh“ ist (1;34). Inzwischen ist sie erleichtert, Distanz von ihm zu gewinnen. Sie
genießt ihre wiedergewonnenen Freiheiten wie eigene Kleidungswahl und unbekümmerte
Freizeitgestaltung zusammen mit ihren Freundinnen. Die beste Freundin besucht die
Parallelklasse, eine andere Freundin geht in die 10. Klasse der Realschule, eine weitere ist
20 Jahre alt, und die vierte war ebenfalls einst auf der Realschule. Mit diesen vier, teils
älteren und vermutlich selbständigeren Freundinnen besucht sie regelmäßig eine Kneipe
oder das Billard-Cafe im nahegelegenen Ort (3;37-43). Dabei lernt I. auch neue Jugendliche
kennen. Gesprächsthemen bei ihren Treffen sind Probleme, Träume oder
Jungenfreundschaften (4;9-19). Wie in den Vorjahren zeigt sich hier das typische Muster
von Mädchenfreundschaften, bei denen nicht gemeinsam erlebte Action ein
Qualitätsmerkmal darstellt, sondern das gegenseitige Vertrauen, gegenseitige Gesprächsund auch Hilfsbereitschaft. I. ist sich sicher, dass sie ohne die Unterstützung ihrer
Freundinnen diese Trennung von ihrem Partner nicht verkraftet hätte und zu ihm
zurückgekehrt wäre (4;29-37).
Freizeit
1992 verbringt I. einen Großteil ihrer Freizeit mit ihren FreundInnen im Kontext von
Cliquenaktivitäten (vgl. 12; 34f). „Total lautes“ (FB 3) Musikhören ist eines der
wesentlichen Bestandteile dieser Treffen (14;14 und 15;23-25), aber auch der Besuch von
Festen (16;7-10) und von Veranstaltungen im nahen Umfeld (14;10-12). Jenseits der
Cliquenaktivitäten besucht I. einen privaten Reiterhof (FB 14). Im direkten Wohnumfeld
gibt es ansonsten keine formellen Freizeitangebote.
1993 verbringt I. den Großteil ihrer Freizeit mit ihrem Freund (12;34-13 ;3). Meist sind
beide bei ihm zu Hause (30;11-15). Manchmal gehen sie in der Stadt spazieren (30;34-36)
oder treffen sich mit Freunden zu gemeinsamen Unterhaltungen oder Musikhören (30;3931;2).
Es werden verschiedene, eher konsumorientierte Unternehmungen zusammen mit der neuen
"Clique" gemacht (s.o.). Zu dem Spielplatz, dem Treffpunkt der ehemaligen Clique, geht sie
gar nicht mehr (13;6). Auch das letztjährig öfters besuchte Jugendhaus in L. interessiert 1.
nicht mehr (13;8-I0).
In ihrer Freizeit hört I. inzwischen andere Musik als noch im Vorjahr, in dem sie Oi-Musik
als eine bevorzugte Musikrichtung angegeben hatte. Inzwischen bevorzugt sie die Musik
aus den Hit-Charts (31; 17-19). Nur noch die "Onkelz" sind aus der Zeit ihrer ehemaligen
Mitgliedschaft zur politisch rechten Szene für sie übriggeblieben, die sie selbst aber nicht
"rechts" einordnet, sondern deren Realitätsbezug in den Texten sie als Auswahlgrund
angibt:
"... da sind halt Sachen drin, wie gerade, ich meine, also die wo halt irgendeinen irgendwie
selbst betreffen. Und also, ich finde, das sind gar keine rechten Lieder." (31 ;38-32;4 vgl.
auch 32;37- 33;2).
1994 trifft sich I. am Mittwochabend und am Wochenende mit ihren vier Freundinnen und
besucht mit ihnen kommerzielle Treffpunkte wie Kneipe und Billard-Cafe. Teils schließen
sich ihnen weitere Freunde an. Jeden Montagnachmittag hat sie ca. eine Stunde lang Probe
mit ihrer schulischen Musikband (12;36-13;3), zweimal pro Woche arbeitet I. in einem
Laden, in dem Gemüse und Obst verkauft wird. Dadurch bessert sie ihr auf. I. genießt die
Ungebundenheit und Spontaneität in ihrer Freizeitgestaltung, die sie durch die Trennung
von ihrem Freund wiedererlangt hat (43;5-9). Insgesamt ist I. sozial stabil eingebunden und
XXVII
erlangt langsam einen wachsenden Grad an Selbständigkeit durch das eigene
Geldverdienen.
Nachbarschaft und Wohnumfeld
Obwohl die Vergewaltigung in ihrem direkten Umfeld passiert ist und der Täter kein
Unbekannter war, fühlt I. sich in den beiden ersten Erhebungsjahren dennoch dort
„eigentlich“ sicher: "weil ich kenn fast jeden" (1992: 26;38 vgl. auch 1993: 10; 16f). Das
Umfeld erscheint ihr aufgrund fehlender interessanter Anlaufpunkte aber „ein bißle
langweilig“ (1992: 27;3).
Bis 1993 hat sie keine weiteren bedrohlichen Situationen in ihrem Umfeld mehr erlebt
(15;2). Gegenden, in denen sie mit dem Zusammentreffen des sozialen Umfelds des
damaligen Vergewaltigers rechnen muss - das "Jugendhaus" und den "Bahnhof' -, meidet
sie. I. überträgt ihr Unsicherheitsgefühl nicht mehr wie im Vorjahr auf die türkische
Wohngegend, sondern ordnet es realistisch zu (14;17-20). Das Ausmaß der
Gewalterfahrungen im öffentlichen Raum verbindet sie hauptsächlich mit einer spezifischen
Erfahrungswelt, die sich durch die Mitgliedschaft in gewaltbereiten Cliquen ergibt. Ihre
Wahrnehmung von Gewalt auf den Straßen scheint sich durch ihre Distanz zur politisch
rechtsorientierten Clique deutlich vermindert zu haben.:
"Aber, also gerade, wenn man draußen ist, also so viel bekommt man da eigentlich gar nicht
mehr mit, wenn man sich ganz abseilt."(1993: 14;28-38)
1994 war I. zunächst nach dem Freispruch des Täters verunsichert gewesen hinsichtlich der
Sicherheit in ihrem Wohnumfeld. Inzwischen ist sie erleichtert, dass dieser offenbar nicht
mehr in dem Ort wohnt. Wie schon im Vorjahr überträgt sie ihr Unsicherheitsgefühl
keinesfalls mehr auf die türkische Wohngegend am Ort, sondern ordnet es realistisch zu.
Gemeinsam mit ihren älteren Freundinnen ist sie durch deren Verfügung über ein Auto in
ihrer Freizeitgestaltung recht mobil. Dadurch sind sie nicht auf örtliche Angebote
angewiesen.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
1992 liest I. „manchmal“ die Jugendzeitschriften ‘Bravo’, ‘Girl’ und ‘Wendy’ und sieht
“manchmal“ Nachrichtensendungen im Fernsehen (Fb).
Mit ihren Eltern redet sie zu dieser Zeit nicht über politische Geschehnisse wie etwa über
die Vorfälle in Rostock. Über derartige politische Geschehnisse spricht sie aber mit ihren
„Freundinnen“ (9;1-2). Entsprechend bezieht sie ihre politischen Informationen und
Vorstellungen wahrscheinlich sehr stark von Seiten der Clique. So würde auch besser
erklärlich, dass sie Sozialneid gegenüber Asylbewerbern empfindet, obwohl sie selbst im
Gegensatz zu älteren Cliquenmitgliedern noch gar nicht in dem Alter ist, sich mit der
Gefahr der Arbeitslosigkeit und der Wohnungsnot auseinanderzusetzen.
Ihre 1992 vorgenommene Wortwahl „Scheinasylanten“ und die Kriminalitätsvorwürfe an
Ausländer lassen vermuten, dass manche Mediendarstellungen durchaus großen Einfluss
auf sie und die Clique haben. Diese Schlagwörter und Diskurse sind teilweise durch die
Medien verbreitet bzw. geführt worden. Auch das Motto der ‘Vaterlandsverteidigung’
wurde im Zusammenhang mit gewalttätigen rechtsextremistischen Auseinandersetzungen
öffentlich thematisiert.
1993 sieht I. manchmal Horrorfilme, die ihres Erachtens die Gewaltbereitschaft bei Kindern
durchaus fördern könnten (33;34-39), ihr selbst aber "eigentlich nichts" ausmachten (34;7).
Im Durchschnitt sieht sie etwa 2 Stunden fern pro Tag, am liebsten dabei "schöne" Filme
wie Zeichentrickfilme oder Serien. Manchmal konsumiert sie auch Liebes-, Witz- oder
Karatefilme (33;11-34,13). Nachrichtensendungen sieht sie so gut wie überhaupt nicht (41;
18-19). Auch Printmedien zieht I. nicht heran, um politische Informationen zu erlangen,
sondern um sich mit Themen auseinander zu setzen, die für sie privat interessant
erscheinen. So liest sie "manchmal" "Mädchen", "Girl" und "Bravo" (Fb 3).
Dennoch kennt I. das `Asylbewerber-Thema` vor allem aus den Mediendarstellungen:
XXVIII
"Ja, also gerade, wenn mal was im Fernsehen kommt, wenn sie sie in Turnhallen oder so
untergebracht haben." (39;l5-18)
I. sieht sich hinsichtlich ihres Mißtrauens gegenüber Asylbewerbern in Übereinstimmung
mit der Meinung ihrer Eltern. Offenbar kennen jene die Empfindung von Sozialneid (vgl.
40;15-23). Grundsätzlich aber lehnen I.s Eltern andere Menschen nicht nur deshalb ab, weil
sie Ausländer sind. Dies entspricht der veränderten politischen Haltung von I. Auch
verurteilen die Eltern nach I.s Mutmaßung Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener
Interessen (vgl. 44;25-28). Somit fühlt sich I. möglicherweise durch die politischen
Orientierungen der Eltern in ihrer eigenen Fortorientierung von der rechten Szene bestärkt.
Inwieweit I. mit ihnen über Politik diskutiert, ist fraglich.
1. nimmt außerdem an, dass sich ihre 1993 weiterbestehenden Vorbehalte gegenüber
Asylbewerbern ebenso mit der Mehrheitsmeinung der Deutschen decken wie ihre Haltung
zur Gewalt (vgl. 38;26-39; 42;27-29). I. zieht somit Mehrheitsargumente heran, um die
Positionen zu bestärken, zu denen sie selbst wohl nicht durch intensive Reflexion auf der
Basis von Informationsbeschaffung gekommen ist. Hierbei stützt sie sich vermutlich auf
eine öffentliche Meinung, die zum einen erstmalig nach der Gewalttat in Mölln eine
Solidarisierung mit den Gewaltopfern auf breiter Basis bewirkte und diese den Medien
wirksam in Szene setzte, die zum anderen aber auch im Zuge der Debatte um die Änderung
des Asylrechts eben dieses gänzlich oder teilweise infragestellte.
Die Schule spielt als Träger politischer Informationsvermittlung lediglich insofern eine
Rolle, als der Kontakt zu `ausländischen` Mitschülern überwiegend als unproblematisch
erlebt werden kann (36; 13-15). Eine diesbezügliche Bedeutung des Lehrstoffes ist nicht
erkennbar.
I. liest 1994 inzwischen „manchmal“ die Tageszeitung, zudem „manchmal“ die „Bravo“
und „häufiger“ Werbezeitschriften, was vermutlich mit ihrem ausgeprägteren
Konsumverhalten zu erklären ist (FB 6).
Ca. zwei Stunden am Tag sieht sie fern. Manchmal sieht sie sich inzwischen
Nachrichtensendungen an, selten auch Jugendmagazine. Oft schaut sie phantastische Filme
(FB 8). Zwar verfügt I. damit noch nicht über kontinuierliche Bezugsquellen politischer
Informationen, zeigt aber doch im Unterschied zum Vorjahr ein größeres Interesse an ihnen.
Zur wichtigen Informationsquelle ist offenbar der Schulunterricht geworden. Am Beispiel
der geplanten Klassenfahrt nach England konnte sie zum ersten Mal erfahren, dass solche
Möglichkeiten „manchen Ausländern“ in ihrer Klasse wegen Visumschwierigkeiten nicht
zur Verfügung stehen (22;10). Der Klassenlehrer regte offenbar diesbezüglich eine
thematische Auseinandersetzung an (vgl. 22;22-36).Dieser Klassenlehrer thematisierte im
Deutschunterricht augenscheinlich auch Fragen der Toleranz gegenüber ‘Ausländern’
(32;38-33;6). Im Fach Geschichte wurde gerade das Thema Nationalsozialismus
durchgenommen (20;10). Vermutlich trug dies bei I. zur Entwicklung eines historischen
Bewußtseins bei. Fragen hinsichtlich einer historischen Verantwortung der Deutschen
wurden besprochen (20;20-40). Innerhalb der Schulklasse gab es diesbezüglich offenbar
keine Kontroversen:
„Aber bei uns so in der Klasse war eigentlich niemand, wo so auf der rechten Seite war.“
(20;12-13)
Außer dem Deutsch- und dem Geschichtslehrer engagieren sich offenbar in der Schule auch
andere Lehrer, für gesellschaftliche Mißstände zu sensibilisieren. Sie arbeiten dabei mit
Schülern zusammen, die auch selbst entsprechende Themen (z.B. Tierschutz) aufwerfen
können (26;28-39).
3.1.4 Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer Teilhabe
Institutionelle Formen gesellschaftlicher und politischer Partizipation sind für Iris
durchgängig nicht präsent. Innerhalb der Schule versucht sie 1992 durch ihre
Widerständigkeit, Teilhabe am Ablauf der Geschehnisse zu gewinnen. Auch die
XXIX
Demonstrativität, mit der ihre Clique in der Öffentlichkeit ‘Raum’ beansprucht, scheint ein
Versuch zu sein, innerhalb der Gesellschaft Teilhabemöglichkeiten zu gewinnen. Beides
sind jedoch untaugliche Versuche dahingehend, Vertrauen in Gestaltungsmöglichkeiten von
Zukunft zu gewinnen.
1993 ist I. erheblich verunsichert hinsichtlich ihrer biographischen Berufsperspektive. Sie
wünscht sich die ,typisch weibliche' Normalbiographie einer ,modernen Frau', die Beruf und
Familie miteinander in Einklang bringt, wobei es ihr - entweder aufgrund eigener
schmerzlicher Erfahrungen oder im Zuge einer traditionellen Frauensozialisation - wichtig
ist, die Familie nicht zurückzustellen:
"Also, dass man halt für beides genug Zeit hat irgendwie und also nicht, dass da der Beruf
halt die ganze Zeit wegnimmt, dass man keine Zeit mehr für die Familie hat. Gerade, dass
beides irgendwie gleich ist, also die Familie zwar noch immer noch im Vordergrund, aber
..." (29;27-31)
Schule ist für sie inzwischen zu einem Erfahrungsraum geworden, in dem sie
Gestaltungsmöglichkeiten sowohl von Lehr- und Lernformen als auch von kulturellen
Ereignissen gewonnen hat. I zeigt jetzt Engagementbereitschaft. Die Gründe liegen in
erweiterten Spielräumen, die nach ihrer Einschätzung nun durch Lehrpersonen gegeben
werden, damit SchülerInnen einen Erfahrungsbezug vom Unterrichtsstoff zur eigenen
Lebenswelt herstellen können, sowie in neuen Selbstentfaltungsmöglichkeiten in einer
schulischen Musikgruppe.
I. zeigt insgesamt für ihre Perspektiven gesellschaftlicher Teilhabe individualistisch
ausgerichtete Konstruktionen. Abstraktere, z.B. politische Formen gesellschaftlicher
Teilhabe interessieren sie weiterhin offenbar überhaupt nicht.
1994 ist I. hinsichtlich ihrer biographischen Zukunftsperspektiven unverändert stark
verunsichert. Sie befürchtet stark, dass die Verwirklichung ihres Traumberufes „wegen
irgendwas nicht klappen könnte“ (42;33-34). In ihrer Perspektive orientiert sie sich nicht
mehr wie im Vorjahr so eng an normativen Bildern vom Leben einer ‘modernen Frau’, die
Beruf und Familie miteinander verbindet. Offenkundig hat die erlebte Erfahrung, in einer
Beziehung eingeengt und auf eine bestimmte weibliche Rolle festgelegt zu werden, dazu
beigetragen, jetzt erst einmal Eigenständigkeit und Freiheit als Ziel anzuvisieren.
Neben dieser individualistisch ausgerichteten Perspektive gesellschaftlicher Teilhabe hat
Politik keinen Bestand. Politisch schätzt I. sich ja „als gar nichts eigentlich“ ein (36;32).
Somit ordnet sich I. „eigentlich überhaupt nicht“ (36;40-37;1) einer politischen Richtung
zu. Umwelt- und Tierschutz sind für sie Bereiche des privaten Engagements, die „auch gar
nichts“ mit Politik zu tun haben (37;19):
„Da kann jeder was dafür tun, da kann man kann morgens aufstehen und sagen, ‘Heute
mache ich das’. Und dann hat man das selber gemacht, und dann war nichts, hat nichts der
Staat dazu gemacht oder so.“ (37;17-23)
Politik ist nach diesem Verständnis etwas, was „mehr so von oben“ kommt (1994: 37;3839).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Soweit für ihre politischen Orientierungen relevant, bezieht I. 1992 Aspekte ihrer sozialen
Identität hauptsächlich aus ihrer Nationalität und ihrer Zugehörigkeit zu einer
jugendkulturellen rechtsorientierten Szene; andere Bezugspunkte sind von untergeordneter
Relevanz.
Das Kriterium ‘Nationalität’ bietet ihr vermutlich ein Gefühl sozialer Zugehörigkeit, von
dem sie annimmt, dass es ihr nicht so schnell genommen werden kann. Dabei kann sie sich
auf die juristische Legitimität von nationaler Zugehörigkeit als Zu- und
Ausgrenzungskriterium in bezug auf Ressourcennutzung und andere Rechte berufen.
Innerhalb der Clique findet sie diesbezüglich Bestätigung.
XXX
Ihr bietet die jugendkulturelle Szene durch deren Propagierung von ‘Kameradschaft’ ein
nun noch verstärktes Gefühl von Zugehörigkeit. Angehörige dieser Clique sind auch ihr
Freund und ihre beste Freundin. Zu beiden hat sie Vertrauen, bei beiden findet sie die
Bereitschaft zum Gespräch und zur gegenseitigen Hilfe. Insbesondere zu ihrer besten
Freundin hat sie eine intensive, familienähnliche Beziehung aufgebaut. Dadurch dass diese
FreundInnen von ihr ebenfalls in der Clique sind, wird vermutlich ihr Gefühl von
Aufgehobensein und Geborgenheit im Cliquenkontext verstärkt. Somit geht ihre Suche nach
Zugehörigkeit, die sie im Laufe ihrer Familienbiographie oftmals vermissen musste, einher
mit der Übernahme politischer Haltungen, mit denen sie sich aufgrund von Desinteresse an
Politik nicht eigenständig auseinander zu setzen vermag.
Mit ihrem Verhalten im Kontext von Cliquenaktivitäten lehnt sich I. vermutlich versteckt
gegen ein passives, und dies heißt dann auch nicht-aggressives Mädchenbild auf. So steht
sie zwar offener personaler Gewaltsamkeit distanziert gegenüber und akzeptiert diese
offenbar nicht als ein Mittel zur Stabilisierung von Cliquengemeinschaft und zur
Demonstration von Stärke, doch nimmt sie an Einschüchterungsmaßnahmen aktiv teil.
Auch trägt sie eine Frisur zur Symbolisierung ihrer Zugehörigkeit zu einer politisch rechten
Clique und deren Gewaltbereitschaft. Allerdings versteckt sie die abrasierten Haare durch
einen Pferdeschwanz, einem Symbol angepasster Mädchenhaftigkeit. Wahrscheinlich will
sie mit diesem Verhalten ihre in herkömmlichen Bahnen weiblicher Sozialisation
verlaufende Anpassung im Elternhaus kompensieren. Zu Hause orientiert sie sich an
tradierten geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, um Anerkennung und positiv besetzte
Aufmerksamkeit zu erreichen; innerhalb der Clique verstößt sie dagegen, um
möglicherweise jene Selbstbehauptung und -durchsetzung demonstrieren zu können, die als
Anerkennungsnachweis unter (von männlicher Dominanz geprägten) Gruppierungen
Jugendlicher gilt. Darüber strebt sie an, ihre psychischen Verletzungen, die von ihrer
permanenten Zurücksetzung im Laufe ihrer Familienbiographie herrühren, verarbeiten zu
können. Da aber die Jungen in der Clique zahlenmäßig überlegen sind und I. zu den
jüngeren Mitgliedern zählt, ist von einer erneuten Anpassung, diesmal an männliche
Verhaltenspräferenzen oder -vorgaben auszugehen. I. selbst sieht jedoch die Mädchen
innerhalb der Clique als gleichberechtigt an; jede/r hat die Möglichkeit, eigene
Unternehmensvorschläge einzubringen (13;4-6), was tatsächlich aber eher
unwahrscheinlich ist (vgl. 14;4-7).
Ihr Sozialstatus spielt für die Entwicklung ihrer sozialen Identität lediglich insofern eine
Rolle, als I. sich diesbezüglich von den ‘Ausländern’ abgrenzt. Diese sind für sie
„Hauptschüler“, während sie selbst von der Hauptschule zur Realschule ‘aufgestiegen’ ist
und sich insofern als überlegen wahrnehmen kann.
Weitere identitätsrelevante Bezugspunkte sind für die Entwicklung ihrer politischen
Orientierungen ohne erkennbare Bedeutung.
I. zieht 1993 Facetten ihrer sozialen Identität nach wie vor aus ihrer nationalen
Zugehörigkeit. Insbesondere gegenüber Asylbewerbern benennt sie Nationalität als
Abgrenzungskriterium (vgl. 40; 18-21). Nationale Zugehörigkeit leitet sie vermutlich
deshalb auch aus der Existenz deutscher Vorfahren ab.
Der lokale Sozialraum spielt hingegen wie schon im Vorjahr für sie keine Rolle.
Auch ein zu erreichender Sozialstatus ist als Bereich ihrer sozialen Identität ohne
nennenswerte Relevanz. Dies wird insbesondere hinsichtlich ihrer Berufsorientierungen
deutlich. So möchte sie zukünftig ihren Traumberuf verwirklichen, d.h. sie nennt hiermit
ausprägte sachlich-inhaltliche Arbeitsorientierungen. Was sie in diesem Beruf an Gehalt
erlangen würde, interessiert I. offenbar überhaupt nicht. Möglicherweise ist dies ein
Element traditionell typisch weiblicher Sozialisation, nach der die Männer das (meiste)
Geld nach Hause bringen und die Frauen nicht oder weniger verdienen.
Dies würde zumindest übereinstimmen mit der Bedeutung, die das Geschlecht für I.s soziale
XXXI
Identität hat. I. orientiert sich nicht allein beruflich, sondern generell an gesellschaftlich
vorherrschenden Bildern von Weiblichkeit. Im Vorjahr wurde dies schon in ihrem Bemühen
um familiäre Integration durch die Erledigung von Haushaltsaufgaben wie Putzen und
Aufräumen erkennbar. Inzwischen hat I. ihr Augenmerk stärker auf ihr weibliches Aussehen
gerichtet:
"Dass man sich wenigstens anständig irgendwie anzieht. Und dass man sich nicht irgendwie
verkommen läßt, sondern auch herrichtet irgendwie." (55;31-34)
Über dies hinausgehend macht I. sich Gedanken über die ,innere Ausstrahlung' einer Frau,
d.h. um Freundlichkeit und Fröhlichkeit des weiblichen Geschlechts:
"Ja, irgendwie ein bißchen, irgendwie innerliche Ausstrahlung, irgendwie ein bißchen. Ja,
das kommt halt auch auf das Gesicht an, wenn eine die ganze Zeit nur ernst schaut oder so,
so irgendwie keine Ausstrahlung, lachen, irgendwie fröhlich sein oder so." (55;37-40-56;2)
I. stört sich deshalb auch am Auftreten der Mädchen aus der politisch rechten Szene, die
sich an einen dort gelebten Maskulinismus anpassen:
"Also, ich kenne viele, also die, wo echt auch denken, dass die S. ein Junge wäre." (55;17l8)
Die Entwicklung einer eigenen, an einem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von
Weiblichkeit orientierten sozialen Identität trägt somit bei I. dazu bei, sich von ihrer
politisch rechtsorientierten Clique zu distanzieren. Offenbar zählt diese `Weiblichkeit` mit
zu den Bereichen, die sie innerhalb ihrer Clique nicht ausleben konnte.
Inzwischen hat I. den `Blick des Mannes`, die kritische Bewertung einer Frau nach ihrem
Äußerem, internalisiert (54;3-6/55;9-12)). So beschäftigt sie sich mit ihrer Figur, mit der sie
nicht zufrieden ist, obwohl ihre Freundinnen sie augenscheinlich um diese beneiden (54;2226), sie macht zu Hause entsprechende Gymnastik-Übungen, kümmert sich um Kosmetik,
Körperpflege und Kleidung (53;36-55;34). Insgesamt zeigt I. eine deutliche Orientierung an
normativen Weiblichkeitsvorstellungen, die sich zum einen an Aussehen festmachen, zum
anderen an der (neo)klassisch weiblichen Doppelorientierung von Familie und Beruf, bei
der Familie vorrangig gewertet wird. Diese Orientierung läßt sie in Distanz treten zur
politisch rechten Szene, in der Mädchen diese Orientierungen so nach ihrer Erfahrung nicht
ausleben können.
Die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Jugendkultur spielt für ihre Identitätsentwicklung
lediglich in der Abgrenzung von der ehemaligen Szenenmitgliedschaft eine Rolle.
Auch noch 1994 bezieht wie in den Vorjahren Facetten ihrer sozialen Identität aus ihrer
nationalen Zugehörigkeit. Sie wird jedoch nicht als Kriterium von Ein- und Ausgrenzung
bemüht, sondern soll ihre eigene kulturelle Verankerung, die sogar als Verengung gedeutet
werden kann, verdeutlichen:
„Aber ich finde, jeder Mensch ist irgendwie an sein Land irgendwie mehr gebunden, weil
ich weiß auch nicht, das ist wahrscheinlich schon so. So bekommt man das mit, und man
kommt dann im dem Land zur Welt und denkt, ‘Ja, das ist halt jetzt mein Land’, man kennt
vielleicht auch noch nichts anderes.“ (32;12-17)
Die Ersetzung der auf Abstammung bezogenen Definition des Deutschseins durch kulturelle
Bezüge erklärt auch ihre im Unterschied zum Vorjahr vertretene Ansicht, ein Mensch
müsse keine deutschen Vorfahren haben, um der deutschen Kultur anzugehören (vgl. 32;2934). Inzwischen ist I. auch in kritische Distanz zur eigenen Nation getreten. Sie hält die
Deutschen für zu wenig offen gegenüber anderen Kulturen (33;11). Positive Eigenschaften
kann sie den Deutschen nicht zuordnen (33;14). Für sie stellt Nationalität nichts dar, auf das
ein einzelner Mensch stolz sein könnte. ‘Leistung’ ist demgegenüber etwas, auf das sie
selbst stolz sein würde: „Aber jeder ist bestimmt auf ‘was anderes stolz oder so.“ (33;3031). Ganz deutlich gestiegen ist I.s Interesse an anderen Kulturen, die sie einmal kennen
lernen möchte.
Ihr regionaler und lokaler Sozialraum spielt demgegenüber für sie keine erkennbare und
angesichts gewachsener Mobilität ohnehin eher nachlassende identitätsrelevante Rolle.
XXXII
I. orientiert sich an keiner jugendkulturellen Szene. In ihrem sozialem Umfeld ist
inzwischen Techno ‘in’, was sie mit einer allgemeinen Begeisterung für das entsprechende
Outfit erklärt (19;23-24). Sie selbst hört „manchmal ... gerne“ die entsprechende Musik,
ordnet sich aber nicht dieser Szene zu (19;34-35). Möglicherweise ist dies bei I. ein
Hinweis darauf, inzwischen klarer zu wissen, was sie selbst mag und will.
I. fühlt sich keiner jugendkulturellen Szene, sondern ihrem sozialen Nahraum aus
Freundinnen und Familie zugehörig. Daran wünscht sie auch für die Zukunft keine
Veränderung. Wieder einmal wird die stabile Qualität dieser Beziehungen sichtbar:
„...dass wir alle so zusammenhalten wie bisher und dass sich da nichts verändert. Und dass
wir immer füreinander da sind.“ (42;13-22)
Sie geht davon aus, in den vergangenen Jahren an sozialer Eingebundenheit gewonnen zu
haben (42;23-26).
I.s Geschlechtersozialisation orientiert sich im Unterschied zum Vorjahr nicht mehr so stark
an traditionell weiblichen Rollenvorgaben, sondern sucht jetzt das Gefühl der Freiheit. Die
Trennung von ihrem Freund hat offensichtlich zu diesem Wunsch beigetragen; die
Freundinnen haben sie in ihrer Abkehr von der vormals bestimmenden normativen
Orientierung an überkommenen Weiblichkeitsmustern unterstützt. Gleichwohl definiert sie
sich unverändert über ihr ‘weibliches’ Aussehen, wenn sie pro Monat etwa 250 DM für
Kleidung ausgibt.
Inwieweit der Sozialstatus eine Rolle für sie spielt, ist fraglich. Sie befindet sich nach
eigenen Angaben seit ein paar Monaten in einem Konsumrausch, möchte diesen aber
wieder einschränken. Sie stellt keinerlei Überlegungen hinsichtlich ihres späteren
beruflichen Einkommens an. Auch die Schule ist für sie eher ein Ort sozialer Geborgenheit
als ein Statuskriterium (43;10-16). Ob der Sozialstatus irgendeine Rolle in ihrer
Identitätsentwicklung spielt, ist hieraus nicht zu erkennen.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Schon 1992 verfügt I. über ein erhebliches Maß an Empathievermögen und Reflexivität in
persönlichen Fragestellungen. So versetzt sie sich nach Auseinandersetzungen mit ihren
Eltern durchaus in deren Position, was ihr hilft, sie zu verstehen. Dabei entwickelt sie teils
Selbstkritik, was zur Akzeptanz etwaiger Strafmaßnahmen beiträgt. I. hat offenbar durch
ihre Verlusterfahrungen innerhalb der Familie bzw. ihre Bearbeitungen gelernt, sich in
andere hineinzufühlen, um erneute Negativerfahrungen vermeiden zu können. Dies erklärt
auch ihre Übernahme unausgesprochener Erwartungen an ihre Rolle als Mädchen. Reflexiv
ist I. jedoch noch (?) nicht im Rahmen politischer Fragestellungen. Hier übernimmt sie
augenscheinlich fraglos Positionen älterer Jugendlicher aus ihrer Clique. Auch bemüht sie
sich nicht um politische Informationen, anhand derer sie ihre Haltungen gegenüber
‘Ausländern’ hinterfragen könnte. Die Ursachen dafür liegen vielleicht darin, selbst unter
einem so großen privaten Druck zu stehen, dass kein Raum bleibt für über das Private
hinausgehende Reflexionsebenen und dass die subjektive Notwendigkeit, sich einer
Zugehörigkeitsgefühl vermittelnden und Stärke demonstrierenden Clique anzuschließen,
deren politischen Gehalte in den Hintergrund treten lassen. So vermischen sich ihre
Unterscheidungen zwischen Arbeitsmigranten und Asylbewerbern, ohne dass ihr dies
bewußt wäre. Damit übernimmt sie auch die fehlende Toleranz der Cliquenmitglieder
gegenüber ‘Ausländern’. Sie stimmt zu, wenn türkische MitbürgerInnen den „Raum“ der
Clique, den öffentlichen Spielplatz, mehr oder (doch vielmehr) weniger „freiwillig“
verlassen, sie fordert die Ausweisung aller Asylbewerber und die Aufhebung des
Asylrechts. Diese Intoleranz bzw. Restriktivität wird untermauert durch ihre gegenwartsund zukunftsbezogene Verunsicherung. Offenbar werden im Verbund ihrer
Cliquenmitgliedschaft Asylbewerber und - abgeschwächt - auch andere Ausländer dafür
verantwortlich gemacht, dass sie selbst infolge wahrgenommener Auflösungsprozesse
normativer und sozialer Bindungen an Orientierungssicherheit verloren hat.
XXXIII
Zur Zeit (1992) sieht I. vermutlich wenig Anhaltspunkte für eine positive
Selbstwertkonstruktion. Leistungserfolge innerhalb der Schule können ihr Selbstwertgefühl
nicht stärken, weil sie aufgrund von Schulproblemen ausbleiben. Auch muss sie eine
Vergewaltigung verkraften. Eine solche traumatische Erfahrung untergräbt das eigene
Selbstwertgefühl, auch wenn I. bei ihren Freunden und den Eltern Hilfe findet. Vermutlich
ist ihr Selbstwertgefühl auch nicht von der Erfahrung unbeeinflusst geblieben, in der
Familie immer wieder in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. So stellt es schon einen
Stabilisierungsversuch des eigenen Selbstwertgefühls dar, wenn sie sich und ihre Clique als
‘Vaterlandsverteidiger’ definiert (20;5-6).
Inwieweit I. zur konstruktiven Konfliktbewältigung momentan in der Lage ist, ist ungewiß.
Innerhalb der eigenen Familie reagierte sie bis vor kurzem oftmals mit augenscheinlich
destruktivem Verhalten. Allerdings scheint hier ein Problembewältigungsprozess in Gang
gesetzt worden zu sein. Immerhin findet I. Gesprächsbereitschaft in ihrem sozialen Umfeld.
Ihr Empathievermögen ist ihre Stärke in Freundschaftsbeziehungen. So hat sie stabile
Freundschaften und damit jederzeit Gesprächspartner, um Schwierigkeiten konstruktiver zu
bewältigen.
Wie schon 1992 so verfügt I. auch 1993 über ein erhebliches Maß an Reflexivität und
Empathievermögen. Dies wird deutlich, wenn sie Erklärungen dafür sucht, warum z.B.
Menschen gewalttätig werden. Ihre eigenen Lebenserfahrungen bezieht sie in diese
Überlegungen mit ein. Seit ihrem Ausstieg aus ihrer Clique gibt sich I. auch toleranter
gegenüber `Ausländern`. Da sie es aber vermeidet, über ihre `Vergangenheit`
nachzudenken, werden inzwischen tolerante Positionen noch begleitet und quasi unterspült
von emotional begründeten Abwertungen von Asylbewerbern. Ihr momentan geäußertes
Lebensmotto "lmmer locker und gelassen sein" (Fb) und ihr Unwille, sich mit politischen
Fragen auseinander zu setzen, führen offensichtlich
zu
dieser
Parallelität
unterschiedlicher
politischer
Haltungen. Die grundsätzliche Toleranz gegenüber
`Ausländern` ist hinsichtlich der Asylbewerber nicht erkennbar.
1. zeigt sich in ihrer eigenen Identitätsentwicklung, in der das Kriterium `Geschlecht` eine
herausragende Bedeutung hat, auch wenig tolerant gegenüber anderen Mädchen, die nicht
ihren Vorstellungen von `Weiblichkeit` entsprechen wollen. Diese fehlende Toleranz
gegenüber weiblichen Verhaltensweisen, die nicht der Norm entsprechen, untermauern ihre
Distanz zur politisch rechten Szene. D.h. die von ihr hier vorgenommene distanzierte
Haltung zur politisch rechten Szene basiert nicht auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung
- vielmehr geschieht ein Wechsel quasi auf der Oberfläche. Die normative Orientierung am
vorherrschenden
Weiblichkeitsklischee
führt
nicht
zu
begründeten
Gleichheitsvorstellungen, sondern zu einer im Grunde genommen genauso unreflektierten
Intoleranz gegenüber Menschen, die nicht ihren Normvorstellungen entsprechen. Mit einem
neuen Freund etwa aus der rechten Szene könnte I. aus dieser Oberflächlichkeit heraus
erneut Ungleichheitspositionen gegenüber Fremden entwickeln.
I. zeigt in ihren sozialen Beziehungen Konfliktfähigkeit. Die Familienkrise konnte
weitergehend bewältigt werden und auch mit ihrem Freund klärte sie die Basis ihrer
Beziehung. Es ist davon auszugehen, dass sowohl I.s verbesserte Eingebundenheit in ihre
Familie als auch ihre veränderte, aber dennoch stabile Eingebundenheit in qualitative
Freundschaften zu dieser Konfliktfähigkeit beitragen. In ihren sozialen Beziehungen findet
sie Gesprächsbereitschaft ebenso vor wie die Bereitschaft, bei jeweils anfallenden
Schwierigkeiten zu helfen.
I. ist zudem im Verlaufe des letzten Jahres zu einer deutlich positiveren
Selbstwertkonstruktion gelangt. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war der als
besonders positiv erlebte Familienurlaub. Sie hat an Vertrauen zu den ihr nahestehenden
Menschen gewonnen und fühlt sich diesbezüglich offenbar sicherer. Zudem erlebt sie
Erfolge in der Schule durch gute Noten, durch die Leitung von Unterrichtsstunden und
durch ihre Mitwirkung in einem neugegründeten Chor.
XXXIV
1994 ist I. nach eigener Einschätzung in den letzten Jahren erheblich ‘erwachsener’
geworden. Sie sieht sich selbst als weitgehend selbständig an:
„Ja, ich habe halt irgendwie echt in den drei Jahren so viel dazugelernt. Und jetzt irgendwie,
jetzt habe ich endlich geschafft, jetzt stehe ich endlich auf, so gut wie möglich, auf eigenen
Füßen, kann machen, was ich will. Und ich habe echt aus den drei Jahren gelernt. Ich
glaube, so viel werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr dazulernen, wie in den
Jahren.“ (41;20-26)
Dieses Gefühl des Erwachsen-Werdens ist wesentlicher Teil der eigenen
Selbstwertkonstruktion. Sie begründet es damit, sich ihrer selbst sicherer geworden zu sein
(vgl. 1994: 41;29-35). Zu der gewonnenen Selbständigkeit gehört auch, selbst Geld zu
verdienen, mit dem sie machen kann, was sie will (41;37-39).
In privater Hinsicht zeigt I. ein deutliches Maß an Konfliktfähigkeit. Schwierigkeiten
werden jeweils mit sozialen Bezugspersonen besprochen. Zum Teil braucht sie deren Hilfe,
um eigene Bedürfnisse in Beziehungen klarer zu nennen. Sie setzt sich selbst für eine
Beseitigung ihrer Schwierigkeiten ein.
Während des Interviews wirkte I. selbstsicherer als im vergangenen Jahr (Memo). Im
Unterschied zum Vorjahr zeigt sie nicht mehr nur Reflexivität und Empathievermögen in
sozialer Hinsicht, sondern inzwischen auch im Umgang mit politischen Fragen. Bei diesen
bemüht sie sich, eigene Positionen klar zu begründen, indem sie sich u.a. in andere
Menschen hineinversetzt. I. zeigt ebenso Reflexivität und Empathievermögen im Umgang
mit Menschen. Sie versucht, andere zu verstehen. So hat I. insgesamt
Gleichwertigkeitsorientierungen entwickelt, die sie auch in politischer Hinsicht zur
Toleranz gegenüber Menschen aller Nationalitäten bewegen. Demgegenüber nennt sie
erstmals als deutsches Nationalcharakteristikum, gegenüber anderen leicht Vorurteile zu
haben, wovon sie sich selber distanziert. Keine Toleranz bringt sie jedoch gegenüber
denjenigen auf, von denen sie vermutet, entweder den deutschen Staat ausnutzen zu wollen
oder Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen anzuwenden.
4.
Zusammenfassung
Iris erscheint über den Untersuchungszeitraum hinweg als ein Mädchen, das nach
anfänglicher Zugehörigkeit zu einer politisch rechtsorientierten und gleichzeitig bedrohlich
auftretenden Clique, die sich jugendkulturell im Umfeld der Skin-Szene verortet sieht, seit
der ersten Wiederholungsbefragung zunehmend Gleichbehandlungsorientierungen im
Hinblick auf das Zusammenleben zwischen Menschen deutscher und nichtdeutscher
Herkunft entwickelt und Gewaltausübung generell und zur Durchsetzung politischer
Interessen im besonderen verurteilt.
Im einzelnen zeigt sich 1992, dass I. in sozialer Hinsicht über ein erhebliches Maß an
Reflexivitäts- und Empathievermögen verfügt. In politischer Hinsicht kommen diese
Ressourcen der Erfahrungsstrukturierung zunächst nicht zum Tragen, da I. vermutlich auf
der Suche nach Unterstützungssicherheit, die sie in der Familie als nicht gewährt
wahrnimmt, und nach Möglichkeiten des Selbstbeweises, die ihr im zentralen
Leistungsbereich der Schule verwehrt bleiben, Zugang zu einer relativ neu gegründeten,
politisch rechtsorientierten und gewaltförmig auftretenden Clique gefunden hat.
Die Clique bietet ihr das Gefühl nationalitätsbezogener, nicht wegnehmbarer Zugehörigkeit.
Zudem bewegen sich ihre engsten Freundinnen ebenfalls in dieser Clique, wodurch ihr der
Eindruck von Unterstützungssicherheit gegeben erscheint.
Durch diese Zugehörigkeit und möglicherweise unter Bezug auf den Erwachsenen-Diskurs
übernimmt I. in diesem Zeitraum Sozialneidempfindungen und Kriminalitäts-Vorwürfe
gegenüber Asylbewerbern, die sie emotional überdramatisierend für ihre gegenwarts- und
zukunftsbezogene Orientierungsunsicherheit verantwortlich macht. Sie geht soweit, die
Ausweisung der Asylbewerber aus der BRD zu fordern. Z.T. erstrecken sich ihre
Distanzierungen und Vorbehalte gegenüber den `Fremden` auch auf grundsätzlich von ihr
XXXV
akzeptierte Arbeitsmigranten bzw. inländische Jugendliche mit fremdem Pass. Zudem
projiziert sie die Angst vor sexuellen Gewalttätern einseitig auf Ausländer, vermutlich um
sich weiterhin unter Deutschen und in ihrem Wohnumfeld sicher fühlen zu können. Ihre
Gewaltakzeptanz reicht in dieser Zeit bis hin zur Beteiligung an Bedrohungshandeln und
Einschüchterungsversuchen gegenüber ausländischen Mitbürgern.
Auf die Cliquenzugehörigkeit kann I. schon 1993 verzichten, da ihre Familie ihr mehr und
mehr das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Die Ursachen hierfür liegen in einer
gelungenen Klärung schwieriger Familienkonstellationen, durch die I. sich zurückgesetzt
gefühlt hatte, in der tatkräftigen Unterstützung bei der Bewältigung einer
Vergewaltigungserfahrung und einer positiven Intensivierung der Beziehungen zu weiteren
Verwandten.
Neben ihrer Familie vermitteln ihr zusätzlich neue engste Freundinnen das Gefühl von
Unterstützungssicherheit. Diese Unterstützungssicherheit läßt eine normative Orientierung
an nationaler Zugehörigkeit überflüssig erscheinen. Dadurch entstehen offenbar
Gedankenfreiräume für weitergehende, auch politische Belange erfassende Reflexivität. So
zeigt I. sich im Kontext schulischer Sozialisation (1994) z.B. dazu in der Lage, historisches
Bewußtsein zu entwickeln, das ihr hilft, gegenwartspolitische Fragen vor dem Hintergrund
historischer Erfahrungen zu bearbeiten bzw. zu beantworten.
Wichtig für I.`s politische Sozialisation und für ihre Abwendung von Gewalt scheint auch
ihre Suche nach Selbstbestätigung und eigenen Freiräumen zu sein. 1992 findet sie diese
vor allem in der politisch rechtsorientierten Clique, während diesbezüglich ihr
Selbstwertgefühl
durch
die
schwierige Familienkonstellation, durch die
Vergewaltigungserfahrung und durch die schulischen Leistungsprobleme untergraben wird.
Im
Rahmen
ihrer
Clique
findet
sie
Möglichkeiten
vordergründiger
Selbstwertkonstruktionen durch nationale Überhöhungen und durch Selbstdemonstrationen
der `Stärke` gegenüber ausländischen
MitbürgerInnen (Beschimpfungen,
Einschüchterungsversuche). Auch diese Konstruktionen werden überflüssig, sobald sie
im Zuge des Ausbaus ihrer Reflexionsfähigkeit die Wiederholung der achten Klasse (1993)
als eine Chance begreifen lernt und somit nunmehr Stolz auf ihre Leistungserfolge in der
Schule entwickelt und Engagementbereitschaft zeigt. Diese Bereitschaft kann sie in die
Übernahme von Unterrichtssequenzen 1993 ebenso einbringen wie in einen neuen
schulischen Chor, in dem sie schnell eine exponierte Position als Leistungsträgerin
einnimmt. Öffentliche Auftritte (1993-94) tragen zur Selbstbestätigung bei.
Freiräume und Selbstbestätigungsmöglichkeiten außerhalb der Clique bringen I. 1993 in
Widerspruch zum Konformitätsdruck innerhalb der Clique. Im Kontext steigender
Unterstützungssicherheit führt dies dazu, dass I. sich 1993 von ihrer Clique abrupt löst und
jetzt Scham hinsichtlich ihrer ehemaligen Mitgliedschaft empfindet. Zunächst will sie sich
trotz Reflexionsfähigkeit in sozialen Beziehungen mit den Ursachen dieser politischen
Mitgliedschaft nicht auseinandersetzen. Steigendes Selbstwertgefühl und zunehmende
Selbstsicherheit ermöglichen ihr allerdings zunehmend kritische Distanz zu sich und
Toleranz gegenüber anderen, die neben dem von ihr entwickelten historischen Bewußtsein
zu einem Bestandteil politischer Reflexivität wird. Halten sich 1993 noch alte
Sozialneidgefühle
gegenüber
Asylbewerbern
und
neu
erworbene
Gleichbehandlungsoptionen
die
Waage,
so
überwiegen
1994
die
Gleichbehandlungsorientierungen. Zudem entwickelt sich im Zuge der Entfaltung ihrer
politischen Reflexivität eine durchaus kritische Haltung gegenüber Trägern institutioneller
Gewalt wie der deutschen Polizei. Auch ihre Empathiefähigkeit zeigt zunehmend Spuren in
politischen Fragestellungen. So versetzt sie sich ausgelöst durch eigene
Ausreisevorstellungen öfters in die Situation Fremder in der Bundesrepublik.
Zwar ist das Empfinden von Sozialneid noch vorhanden, wobei sie dahingehend
möglicherweise durch den Erwachsenen-Diskurs zu diesem Thema beeinflusst wird.
XXXVI
Unverändert ist sie auch hinsichtlich der Verwirklichung ihrer eigenen beruflichen Träume
verunsichert. Und noch immer plädiert I. für die Ausweisung derjenigen Flüchtlinge, die wie sie unterstellt - die BRD nur `ausnutzen` wollten. Doch ihre Mechanismen der
Erfahrungsstrukturierung - Reflexivität, Empathie, Toleranz und Selbstwertgefühl - sind
inzwischen in politischer Hinsicht von einer derartigen Stabilität, dass die Befürwortung
gewalthaltiger und politisch rechter Orientierungen im Jugendalter von ihr sowohl unter
Bezugnahme auf Bekannte als auch auf den eigenen Fall nicht (mehr) ideologisch
rechtfertigt, sondern als Suche nach Sicherheit und Zugehörigkeit, als Mitläufertum und als
Orientierung an männlichen Normenvorgaben und Inszenierungen im Rahmen
entsprechend ausgerichteten Cliquengebarens interpretiert wird.
Jennifer 1992 - 1994
" ... Ausländerhaß, über solche Sachen reden wir zu Hause nicht, weil ich schaue mir das
auch gar nicht an, weil mir das auch sehr weh tut, selbst auch." (1992: 11;34 ff)
"Da (in Solingen; d.V.) sind eine türkische Frau und ihre Kinder gestorben, verbrannt. Das
fand ich eine Schweinerei. Also man kann es auch übertreiben mit der
Ausländerfeindlichkeit. Also das war total Mist, was die da gemacht haben." (1993: 46;29
ff)
"Also schlechte Erfahrungen mit deutschen Jugendlichen hatte ich noch keine, also wenn
ich halt gemerkt habe, die sind, die fangen jetzt auch schon an, so ‘Ausländer wäh’ und so,
dann habe ich mich ganz einfach von denen abgewandt ...". (1994: 45;5 ff)
1. Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Jennifer, 1978 geboren, evangelisch, ist amerikanischer Nationalität und hat eine dunkle
Hautfarbe. Sie bewohnt seit vier Jahren mit ihrer (weißen) deutschen Mutter und ihrem
ebenfalls farbigen zwei Jahre älteren Bruder im Stadtzentrum einer mittelgroßen Stadt (ca.
100.000 Einwohner) eine 3 - Zimmer - Sozialwohnung in einem Wohnblock, in der sie sich
mit ihrem Bruder ein Zimmer teilen muss. Davor lebte die Familie im Ausland.
Ihr amerikanischer Vater lebt von der Familie getrennt. Die Mutter hat seit ca. zehn Jahren
einen amerikanischen Soldaten zum Freund, der sich teilweise in Amerika und teilweise in
Deutschland aufhält. Wenn er in Deutschland ist, lebt er während der Woche in einer
Kaserne in einer benachbarten Stadt, am Wochenende wohnt er mit in der Wohnung der
Familie. Jennifers Mutter hat einen Hauptschulabschluss und arbeitet als Putzfrau.
Die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet; Jennifer stehen zunächst 10 DM im
Monat in Form von gelegentlichen Geldgeschenken zur Verfügung. Sie verdient sich als
Babysitterin durchgängig etwas Geld hinzu. In den Folgejahren steht ihr ein regelmäßiges
Taschengeld zur Verfügung, über dessen Höhe sie keine Angaben macht.
1992 besucht Jennifer eine Hauptschule. Zum Schuljahr 1993/94 wechselt sie auf eine
Berufsfachschule, wo sie den Hauptschulabschluss absolviert. Danach besucht sie eine
Haus- und Landwirtschaftsschule.
2. Politische Orientierung
2.1 Allgemeine Orientierung
Jennifer zeigt durchgängig wenig Interesse an politischen Themen. Entsprechend dieser
Tatsache und einem anscheinend vorhandenen Mißtrauen gegenüber Politikern würde sie
1994 auch nicht wählen gehen, wenn sie dürfte:
XXXVII
"Nein. (...) Erstens, weil ich mich da in Politik und so gar nicht auskenne (LACHEN), und
zweitens, ich weiß nicht, die Leute, also die Politiker, die sagen ‘so und so’, dann ist es ja
doch nicht so, also ich enthalte mich da lieber." (1994: 41;27 ff)
Während des gesamten Erhebungszeitraums fühlt sie sich der Gruppe der ‘Raper’
zugehörig; "Gegner" stellen für sie durchgängig ‘Skinheads’, ‘Hooligans’ (1992 und 1994),
national eingestellte Gruppen (1992), rechte Jugendliche (1993 und 1994) und ‘Grufties’
(1994) dar (vgl. Fb. 1992 - 1994).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/ Gleichheitsvorstellungen im Kontext von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Jennifer zeichnet sich während des gesamten Erhebungszeitraums durch das Vorhandensein
von Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und Asylbewerber aus.
1992 äußert sie konkret weder Gleichheits- noch Ungleichheitsvorstellungen, jedoch klingt
an einigen Stellen an, dass sie selber als (durch ihre Hautfarbe erkennbare) Ausländerin
unter Vorurteilen von seiten der weißen Bevölkerung zu leiden hat (vgl. auch Kap. 2.3 und
1994: 44;27 ff): "Also ein Deutscher (ist) dabei (in der Clique, d.V.), der sagt schon mal
‘Scheiß-Ausländer’" (1992: 26;9 f) und "Also ich bin wirklich stolz auf meine Hautfarbe,
und meine Freundinnen haben mich noch nie beleidigt wegen meiner Hautfarbe oder so,
(...) die schämen sich auch nicht, irgendwo mit mir hinzugehen" (ebd. 12;37 ff).
1993 verurteilt sie implizit vor dem Hintergrund ihrer Befürwortung des
Gleichheitspostulats (I: "Was würdest du zu dem Satz sagen ‘Alle Menschen sind gleich’?"
J: "Das stimmt total"; 1993: 42;7 ff) die Ungleichbehandlung von Ausländern gegenüber
Einheimischen in Deutschland anhand eines selbst erlebten Beispiels:
"Beim Einkaufen, also mir selber ist das noch nicht passiert, aber ich habe schon so viel
gesehen (...), z.B. jetzt eine Deutsche, oder sie sah zumindest wie deutsch aus und stand da
vor der Kasse und hat bezahlt und hat noch irgendwas gefragt, ganz höflich war dann (die)
Kassiererin und so, und dann kam eine türkische Frau, und die hat dann auch noch was
gefragt, und die haben sie dann gleich angeschrien, und ‘können Sie nicht selber schauen
gehen’, und das merkt man dann schon ..." (ebd. 42;18 ff).
Jennifer empfindet Ausländer nicht als Konkurrenten der Deutschen im Kampf um
wirtschaftliche Ressourcen. So antwortet sie nach ihrer Meinung zu der Parole "Ausländer
nehmen hier die Wohnungen und die Arbeitsplätze weg" befragt: "Den finde ich idiotisch,
den Satz" (ebd. 43;32 ff). Sie befürwortet, dass materiell schlecht gestellten Ausländern
staatliche Unterstützung gewährt wird, wobei hier allerdings im Sinne der ‘Fairneß’ leichte
Vorbehalte in bezug auf (Asyl-?)Betrug anklingen:
"Die meisten Ausländer, die herkommen, haben nichts und so, dann finde ich das o.k.,
wenn die dann auch irgendwie sozial unterstützt werden (...). Es ist natürlich auch unfair,
(...) wenn jetzt eine Familie herkommt, und die hat schon hier voll die Kohle und so und
verlangt also aber immer noch Sozialhilfe ..." (ebd. 43;37 ff)
Angst vor Überfremdung Deutschlands zeigt Jennifer nicht (vgl. ebd. 44;14 ff), im
Gegenteil: Der unter Menschen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher
kulturell bedingter Mentalitäten mögliche Kulturaustausch wird von ihr als positiv
empfunden:
"Das (unterschiedliche Kulturen, d.V.) finde ich gut. Man lernt halt immer andere
Religionen kennen, und man lernt ihre Gebräuche und alles (...). Ich finde es voll
interessant eigentlich" (ebd. 44;10 ff).
Grundsätzlich befürwortet sie, dass Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten,
wenn es für sie wichtig ist: "Wenn sie z.B. für irgendeinen Beruf deutsch sein müssen"
(ebd. 43;18 f). Des weiteren hält sie das Wahlrecht für Ausländer im Hinblick auf deren
Wohlbefinden in Deutschland für richtig: "Das würde schon eine ganze Menge ändern. Die
würden sich auch viel wohler fühlen dann" (ebd. 45;5 ff; vgl. 1994: 41;36 ff). Sie billigt
XXXVIII
das Asylrecht - "Das ist doch o.k. Die Leute brauchen ja auch nur Schutz" (ebd. 45;32 f) und gibt sogar wirtschaftliche Motive als akzeptable Gründe für eine Asylgewährung an:
"Wenn (sie) sich in ihrer eigenen Heimat nichts aufbauen können, oder wenn sie einfach
nicht mehr dort wohnen (wollen), wenn sie sich nicht mehr dort wohl fühlen, oder in Not
sind sie alle" (ebd. 45;36 ff).
!994 betont Jennifer nach wie vor die Wichtigkeit der Gleichbehandlung aller Menschen
unabhängig von ihrer Nationalität für das Zusammenleben:
"Dass alle gleich behandelt werden, also wenn wir jetzt, unsere Clique zusammen sind, und
da ist ein Deutscher dabei, dann ist das einfach ganz normal, der gleiche Kumpel wie jetzt
der andere, also da werden keine Unterschiede gemacht" (1994: 34;35 ff)
Obwohl Jennifer sich nach eigenen Angaben mit Deutschen gleichberechtigt fühlt (vgl.
ebd. 33;24 ff), könnte die Wichtigkeit, die sie der Gleichstellung von Ausländern mit
Deutschen beimißt, doch darauf hindeuten, dass sie sich selber als zumindest potentielles
Opfer von Ausgrenzungsmechanismen oder rassistisch bedingten Vorurteilen fühlt.
Auf die Problematik der Ausländerkriminalität angesprochen, wird deutlich, dass sie keine
Kriminalitätszuweisungen in Richtung Ausländer vornimmt und dass sie ihnen auch kein
erhöhtes Aggressionspotential unterstellt:
"Es heißt immer bloß, ausländische (UNVERSTÄNDLICH), und so ist es ja gar nicht. Also
die, (...) ich weiß nicht, die Deutschen, also die schlagen sich doch genauso mit Ausländern
oder gegeneinander, also jeder schlägt jeden, aber das stimmt irgendwie gar nicht (dass das
immer auf eine Gruppe bezogen werden kann, d.V.)" (ebd. 42;38 ff)
Erstmals erwähnt sie explizit, dass es in ihrem (ehemaligen) Bekanntenkreis einen
rechtsorientierten Jugendlichen gibt, von dem sie und ihr Bruder sich aufgrund seiner
politischen Ansichten distanziert haben:
"Der (ein Freund des Bruders, d.V.) hat, da hat das gerade so angefangen, (...) also mit
Nazis und Skins und so, und der hat dann natürlich auch angefangen, und seitdem ist also
der Kontakt abgebrochen" (ebd. 36;27 ff)
Auch Jugendliche, die sich früher im örtlichen Jugendhaus aufgehalten haben und seit
einiger Zeit rechtsorientiert sind, meidet Jennifer - vermutlich auch aus Angst - ebenfalls:
"Ich sehe die ganz selten, und wenn ich sie sehe, dann geradeaus schauen und weiterlaufen,
gar nicht hinschauen und ‘hallo’ sagen" (ebd. 37;3 ff)
Über eine Tante, die aufgrund einer mit ihrer Schwangerschaft einhergehenden
Wohnungsnot für eine gewisse Zeit in einem Asylbewerberheim gewohnt hat, lernte sie
persönlich Asylbewerber kennen. Dies scheint ihre ohnehin vorhandenen
Gleichheitsvorstellungen gegenüber dieser Gruppierung (s.o.) untermauert zu haben: "Die
sind genau wie alle anderen" (ebd. 47;31) und "Die Leute waren alle ganz nett" (ebd. 48;21
f). Zudem kommt sie im Hinblick auf den Selbstmord eines Asylbewerbers aus Angst vor
Ausweisung zu dem Schluss, dass die bestehenden Regelungen zur Abschiebepraxis zu
"hart" sind (vgl. ebd. 48;23 ff).
2.3 Gewaltakzeptanz
Jennifer zeigt durchgängig weder auf politischer noch auf personaler privater Ebene
Gewaltakzeptanz, es sei denn, eigene verbale oder - selten - körperliche (Gegen)Gewalt
dient in Notsituationen als Schutz vor sexuellen oder rassistischen Übergriffen auf sich
oder Bekannte.
Obwohl sie sich durchgängig zu wehren scheint, wenn sie aufgrund ihrer Hautfarbe
angegriffen wird - "wenn dann wirklich jemand kommt, wie ich gerade gesagt habe
(‘Nigger’ sagen, d.V.), dann werde ich schon sauer, das kann schon sein, dass ich dann
schreie oder mit dem richtig Streit beginne" (1992: 13; 29 ff) -, zeigt sie doch meistens
Vermeidungs- oder Fluchtverhalten, wenn sie sich bedroht fühlt und Angst hat:
"Als ich auf einem Fest war (...), dort bin ich mit meiner Freundin nach Hause gelaufen
(...), da waren solch ein paar Jungen, so völlige Spinner, die waren total betrunken, und die
XXXIX
haben dann gemeint, sie sind jetzt cool und müssen jetzt rufen ‘Ausländer raus’. (...) Also
ich habe dann Angst bekommen, weil die betrunken waren und es ja so viele waren (...),
also ich kann es ja nicht verstecken, dass ich Ausländerin bin, auch wegen meiner
Hautfarbe, und dann wußte ich nicht, was ich tun sollte, und dann habe ich mich an meine
Freundin geklammert und gesagt, ‘komm, wir gehen schneller’, und ich habe dann nach
hinten geschaut, und dann ist einer von denen losgerannt, und ich habe wirklich gedacht,
der rennt jetzt auf mich los, und dann ist der aber Gott sei Dank ausgerutscht ..." (1992:
12;6 ff)
In Jennifers Clique (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’) kommt es unter den Jungen zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen. Jennifer nimmt jedoch nicht daran teil und distanziert
sich implizit davon, indem sie das Gewaltpotential vornehmlich den Jungen zuschreibt:
"Das sind dann meistens die Jungen, die sich streiten (...). Es gibt auch manchmal
Schlägereien und so, wenn sie so richtig sauer aufeinander sind, aber da bin ich dann
meistens nie dabei, das höre ich dann erst hinterher" (ebd. 24;29 ff)
Auch in der Schule wird sie Zeugin von gewalttätigen Auseinandersetzungen, wobei es
sich in diesem Umfeld anscheinend noch um ritualisierte Gewaltformen mit aus
‘Fairneßgründen’ einhergehendem Verzicht auf Waffen handelt:
"Also wenn es da Schlägereien gibt, dann nur mit Händen und Füßen, aber mit Waffen
nicht (...). Also die wollen das auch selber nicht, weil das ist zu gefährlich und so, entweder
mit deinen Händen oder sonst gar nicht, dann läßt du es bleiben, also die passen dann auf."
(ebd. 31;13 ff)
Aufgrund ihrer niedrigen Gewaltakzeptanz und eines anscheinend ausgeprägten
Gerechtigkeitsgefühls verurteilt sie insbesondere die Mißhandlungen, die einem Jungen in
ihrer Klasse widerfahren:
"Also in meiner Klasse fühle ich mich überhaupt nicht wohl, weil da ist keine
Klassengemeinschaft da, da wird immer nur gepetzt und geschlagen und oh Gott, da ist ein
Junge, den begrüßen sie mit Fußtritten und Backpfeifen und Haareziehen, das ist die
Begrüßung für ihn, weil er sich alles gefallen läßt, weil er sich selbst nicht wehrt, und das
finde ich total ungerecht, weil der hat echt blaue Flecken im Gesicht und überall, und die
Lehrerinnen, die interessiert das gar nicht." (ebd. 29;4 ff)
Jennifer zeigt Mitgefühl und Zivilcourage, indem sie versucht, ihrem Mitschüler zu helfen:
"Das tut mir weh, wenn ich das sehe, ich schreie dann die Leute immer an, ich habe keine
Angst vor denen, weil ich weiß, sie sind ein bißchen dumm im Hirn. (...) Ich wehre mich
dann dagegen und sage, ‘laßt doch den mal in Ruhe’ (...), ich habe es auch schon einer
Lehrerin gesagt, ‘schauen sie mal, die schlagen den richtig und so" (ebd. 30;3 ff)
Ebenso versuchte sie bei einer anderen Gelegenheit, ihre angetrunkene Freundin vor
sexueller Ausnutzung durch einen Jungen zu schützen, wobei sie auch vor dem Einsatz
körperlicher Gewalt nicht zurückschreckte:
"An dem Tag habe ich mich auch mit dem Jungen dann gestritten, also wir sind auch
gewalttätig geworden (...), wir haben uns dann geschlagen, also ich wollte das einfach
nicht, dass er das ausnutzt oder so, und ich habe die zwei dann erwischt, und ich habe
gewußt, sie ist betrunken, und er, er wußte noch, was er tat, und dann bin ich eben
stinksauer geworden" (ebd. 22;25 ff)
Wahrscheinlich aufgrund empfundener Bedrohtheitsgefühle im Hinblick auf
ausländerfeindliche Übergriffe gegen ihre Person im besonderen und des alltäglichen
Erlebens von Gewaltsituationen im allgemeinen wünscht Jennifer sich in Deutschland eine
"straffere" Gangart (vgl. Fb. 1992). Dies impliziert möglicherweise, dass sie staatsautoritäre
Gewalt propagiert und billigt, wenn sie zur Vermeidung von Verbrechen dient.
Auch 1993 wird sie Zeugin von Gewalt im Freundeskreis, wobei sich die Gewaltqualität im
Vergleich zum Vorjahr gesteigert zu haben scheint. Infolgedessen distanziert Jennifer sich
nunmehr noch entschiedener von diesem Verhalten:
XL
"Freunde hier so, wegen jedem bißchen gibt es gleich Schlägereien und so. (...) Ich habe
schon viel Unfaires gesehen, das sie zu zehnt auf einen losgegangen sind (...), das ist schon
unfair und so. Ich meine, ich finde es halt doof" (1993: 9;4 ff)
Obwohl sie den nunmehr wohl üblichen Gebrauch von Waffen für gefährlich hält, versucht
sie doch, Freunden, die in Bedrängnis geraten, zu helfen: "Mit dem Messer und Gaspistolen
und alles mögliche, und das ist mir dann zu gefährlich. Ich meine, also wenn es so unter
Freunden ist, dann gehe ich dann schon dazwischen, aber wenn (...) es dann so Fremde
sind, dann nicht" (ebd. 9;39 ff). Dennoch hält sie nicht viel von einem Polizeieinsatz in
solchen Situationen, weil sie ihre Freunde grundsätzlich mag und versucht, sich in ihre
Situation zu versetzen. Zudem bedenkt sie mögliche negative Sanktionen von seiten der
Eltern:
"Nein, eigentlich nicht so (Polizeieinsatz; d.V.). (...) Weil halt alle, die Väter und so, die
sind so streng, und die sind, wenn man so mit denen zusammen ist, sind die einfach voll
lieb, da, wenn sie dann anfangen zu schlagen und so, da kennt man sie fast gar nicht mehr.
(...) Ich meine, ich würde wegen sowas die Polizei nicht rufen. Irgendwann einmal
bekommen sie auch eine drauf, und dann werden sie das auch sehen" (ebd. 11;11 ff)
Hier scheint auch noch die Auffassung mitzuschwingen, dass sich Gewalt über
Gegengewalt als erfahrene Strafe selbst reguliert. Sie selbst lehnt es für sich eindeutig ab,
Waffen zu benutzen:
"Ich habe schon alle möglichen Angebote von Freunden bekommen, ‘hier, ich gebe dir da
so einen Schlagring oder so Ätzgas’ oder so, aber ich könnte mit sowas nicht rumlaufen.
Ich bin mal eine Zeit lang mit so Ätzgas herumgelaufen, aber das war nichts für mich."
(ebd. 20;21 ff)
Um sich vor Übergriffen zu schützen, ergreift sie andere (Vorsichts-) Maßnahmen: "Ich
gehe nie alleine nach Hause oder so oder irgendwo alleine hin, wenn es dunkel ist, und
wenn, dann ist es vielleicht nur mit dem Hund runter, und der, mein Hund, der paßt auf"
(ebd. 31 ff).
Auch in der Schule erlebt sie nach wie vor gewaltträchtige Situationen, wobei sie hier
wiederum den Jungen im Gegensatz zu den Mädchen ein erhöhtes Aggressionspotential
zuschreibt:
"Die Jungen, die streiten sich immer eigentlich gleich wegen jedem bißchen, also wenn der
eine zum anderen ‘Arschloch’ sagt, dann wird gleich geprügelt und so, und wir Mädchen,
wir schreien dann halt zurück oder sagen, ‘paß auf, jetzt höre auf’ und so, die Jungen gehen
gleich aufeinander los, also die sind voll aggressiv." (ebd. 17;8 ff)
Gegen sexuelle Anmache wehrt sie sich - wenn nötig - mit Gewalt: "Die pfeifen (hinter)
einem her oder fassen einen an den Arsch oder so, das kann ich natürlich nicht ausstehen,
also da verteile ich dann Ohrfeigen" (ebd. 40;34 ff).
Das ausländerfeindliche Attentat in Solingen verurteilt sie:
"Da sind eine türkische Frau und ihre Kinder gestorben, verbrannt. Das fand ich eine
Schweinerei. Also man kann es auch übertreiben mit der Ausländerfeindlichkeit. Also das
war total Mist, was die da gemacht haben" (ebd. 46;29 ff).
Als Grund für einen erst 16jährigen Täter erkennt sie Mitläufertum, wobei sie bei der
Begründung ihrer Meinung Reflexivität und Empathiefähigkeit beweist (vgl. ebd. 46;37 ff
und Kap. 3.2.2).
Auch 1994 bleibt Jennifers Gewaltakzeptanz weiterhin sehr niedrig. Sie spricht sich nach
wie vor konsequent gegen Gewalt aus und steht zu ihrer Meinung: "Blödsinnig, total also,
die Leute wissen das auch, wie ich darüber denke" (1994: 14;28 f).
3.
3.1
3.1.1
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
XLI
Jennifer gibt 1992 an, "zur Zeit keine Probleme" zu haben (vgl. Fb. 1992). Dennoch scheint
sie sich von ihrer Mutter im Hinblick auf Ausgehzeiten im Vergleich zu ihrem zwei Jahre
älteren Bruder etwas zurückgesetzt zu fühlen. Sie paßt sich den aufgestellten Regeln in der
Erwartung später zu erwartender Freiheiten jedoch an (vgl. 1992: 9; 20 ff). Außerdem
scheint sie sich von ausländerfeindlichen Übergriffen bedroht oder aufgrund von
Vorurteilen benachteiligt zu fühlen, was sie anhand eines konkreten Beispiels beschreibt
(s.o.) und was in einigen Äußerungen zumindest latent anklingt (s.o.). Insgesamt scheint sie
ziemlich unter der gewaltträchtigen Atmosphäre, die sie in Freizeit und Schule erlebt, zu
leiden (s.o.).
Dieses scheint sich 1993 weiter fortzusetzen, denn sie gibt in diesem Jahr als ihr Problem
"Ärger mit anderen Jugendlichen" an (vgl. Fb. 1993). Möglicherweise liegen in dieser Zeit
aber auch Konflikte mit den Jugendlichen im Jugendhaus, die sie 1994 im nachhinein
beschreibt, als sie bereits wieder behoben sind. Es wurden wohl aufgrund von
Eifersüchteleien und Neid Unwahrheiten in bezug auf ihr Sexualleben ("es wird halt
erzählt, dass ich mit dem und dem im Bett war"; 1994: 10;15) über sie erzählt, unter denen
sie - nicht zuletzt, weil sie das Jugendhaus sehr gerne besucht - litt (vgl. 1994: 10;5 ff).
1994 stellt der "Ärger mit anderen Jugendlichen" weiterhin eine Problembelastung für sie
dar, hinzu kommt "zu wenig Geld" zu haben (vgl. Fb. 1994). Letzteres scheint zum einen
durch eine durch das Auto einer Freundin ermöglichte, gewachsene Mobilität und dem
damit einhergehenden häufigeren Besuch von Discos und anderen kommerziellen
Freizeiteinrichtungen (vgl. 1994: 2;30 ff), zum anderen durch höhere Ansprüche in bezug
auf Kleidung (vgl. 1993: 9;4 ff) begründet zu sein.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Die Familie - respektive die Mutter - scheint Jennifer trotz einiger Unstimmigkeiten mit ihr
einen genügenden emotionalen und materiellen Rückhalt zu bieten. Obwohl Jennifer
häufiger sich selbst überlassen ist und die Mutter ihr altersangemessene Grenzen zu setzen
versucht, spricht Jennifer von einem Vertrauensverhältnis zwischen sich und ihrer Mutter
(vgl. 1992: 3;20 ff). Entsprechend fühlt sie sich von ihr akzeptiert, meint, Geborgenheit
und tatkräftige Unterstützung zu bekommen und sich auf ihre Mutter verlassen zu können
(vgl. Fb. 1992).
1993 gewährt die Mutter ihr aufgrund ihres zunehmenden Alters mehr Freiheiten, und
Jennifer empfindet dies als positive Veränderung (vgl. 1993: 3;12 ff). Dennoch fühlt sie
sich in diesem Zeitraum von der Mutter nicht mehr so akzeptiert, wie sie ist (vgl. Fb. 1993).
1994 wohnt der Freund der Mutter am Wochenende bei der Familie. Jennifer bezeichnet
ihn als "streng" (1994: 4;16) und glaubt, dass sich seine Anwesenheit negativ auf ihr
Verhältnis zur Mutter auswirkt (vgl. ebd.). Obwohl sie sich nach eigenen Angaben noch
immer gut mit der Mutter versteht, fühlt sie sich doch mit ihren Plänen und Sorgen von ihr
nicht ernstgenommen (vgl. ebd. 6;10 ff). Korrespondierend mit dieser Einschätzung glaubt
Jennifer auch nicht mehr, tatkräftige Unterstützung (aber noch Geborgenheit) von der
Mutter zu bekommen (vgl. Fb. 1994).
Zumindest 1994 findet Jennifer die Schule "langweilig" (1994: 17;23) und möchte sie am
liebsten verlassen. Insgesamt scheint sie den schulischen Anforderungen aber durchgängig
gewachsen zu sein. In ihren verschiedenen Klassengemeinschaften fühlt sie sich nicht
wohl. Ein Grund mit dafür scheint 1992 und ‘93 die anscheinend hauptsächlich bei den
Jungen vorhandene Gewaltbereitschaft zu sein (s.o.), während sie ihre
Klassenkameradinnen 1994 als "kindisch" bezeichnet (1994: 18;9). 1992 gibt Jennifer an,
dass ihre drei bis vier deutschen Klassenkameraden nicht ausländerfeindlich, wohl aber
gegen Asylbewerber eingestellt seien. Hier scheint sie allerdings eine anscheinend
zumindest latent vorhandene, evtl. aus Angst vor Sanktionen zurückgehaltene
Ausländerfeindlichkeit nicht bewußt wahrzunehmen bzw. unterzubewerten:
XLII
"Die Deutschen, die haben nichts gegen Ausländer. Das kommt schon mal vor, dass sie
sagen, ‘scheiß Asylanten’ oder so oder solche Sachen eben ‘die nerven mich, weil die jetzt
alles wegnehmen, Wohnungen’ und so etwas, aber selbst so eigentlich weniger, also die
schreien nicht in der Klasse herum ‘scheiß Ausländer’ oder so, weil sie bekommen dann
auch Ärger , (...) da kann man einen Schulverweis bekommen" (1992: 30;31 ff)
Jennifers Freundeskreis besteht aus zwei kontinuierlichen Freundinnen, wobei sie
zumindest mit einer von den beiden auch private Probleme bespricht (vgl. Fb. 1992-1994).
1994 hat sie einen (platonischen) Freund, mit dem sie ebenfalls vertrauliche Gespräche
führt (vgl. 1994:8;4 ff). Zusätzlich bewegt sie sich im Laufe der Jahre in verschiedenen
Cliquen, die sich hauptsächlich aus ausländischen Jugendlichen zusammensetzen (vgl.
1992: 26;5 ff). Durchgängig kritisiert sie die bei den Jungen vorherrschende cliquen-interne
und -externe Gewaltbereitschaft (s.o.) und 1992 auch die Aufenthaltsorte (Busbahnhof,
Kneipe, Spielhalle) der z.Zt. aktuellen Clique (Freunde des momentanen Freundes) (vgl.
1992:15;27 ff). Zumindest die 1993 aktuelle Clique ist tendentiell ‘links’ gegen "Nazis"
aber auch gegen Deutsche eingestellt. Jennifer teilt die Ansichten der Freunde aber nicht
uneingeschränkt:
"Die denken irgendwie alle das gleiche (...). Die Nazis sind Scheiße, und Deutsche sind
Scheiße, und so was denken sie immer. Alles mögliche, eigentlich denke ich auch ganz
anders wie die" (1993: 27;1 ff)
In ihrer Freizeit nutzt Jennifer häufig und gerne das örtliche Jugendhaus, in dem
Jugendliche verschiedener Nationalitäten verkehren. 1994 besucht sie aufgrund der durch
das Auto einer Freundin ermöglichten Mobilität zunehmend auch kommerzielle
Freizeiteinrichtungen wie Disco und Cafés (vgl. 1994: 2;36 ff).
In ihrem Wohnumfeld scheint Jennifer sich nicht immer sicher zu fühlen und zeigt aus
Angst vor Übergriffen Vermeidungsverhalten, z.B. sich nicht im dunkeln alleine im Freien
aufzuhalten (s.o.). Auf seiten einiger deutscher Nachbarn scheinen zudem Vorurteile
gegenüber Ausländern zu bestehen:
"Die meisten sind alles ausländische Familien, und es gibt auch zwei, drei deutsche
Familien, und da gibt es eine Familie, die ist total blöd, also ‘Ausländer bescheuert’ und so,
und so werden sie auch behandelt bei uns im Haus." (1994:46;15 ff)
Letztere Andeutung läßt vermuten, dass es aufgrund dieser Ausländerfeindlichkeiten auch
zu offenen Konflikten zwischen den einzelnen Wohnparteien kommt.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Informationen
Jennifers Auswahl der von ihr rezipierten Medien richtet sich vornehmlich nach deren
Unterhaltungswert (vgl. Fb. 1992-1994). Da in der Familie nicht über aktuelle Themen
gesprochen wird, kennt sie die politischen Ansichten der einzelnen Familienmitglieder
nicht:
"Das (Politik; d.V.) ist gar kein Thema, dann kann man auch nicht sagen, ob man gleicher
Meinung ist oder unterschiedlicher Meinung." (1993: 7;31 ff)
Diese fehlende Austauschmöglichkeit mag eine Ursache für ihr politisches Desinteresse
sein.
Obwohl sie "geschockt" war, als sie im NS-Unterricht der Schule von den Verbrechen der
Nationalsozialisten gehört hat (1994: 37;33), bleibt sie in ihrer generell negativen
Beurteilung der Geschehnisse im ‘Dritten Reich’ doch undifferenziert und z.T. indifferent:
"Also wenn er (jemand, d.V.) meint, er müsste stolz darauf sein, dass Hitler damals so
einen Mist gebaut hat, dann soll er das halt sein, aber ich finde es halt blöd, ich meine, er
war ja nicht besonderes" (ebd. 37;17 ff). Zudem scheint sie den Tatbestand zumindest
latent zu bagatellisieren ("nichts besonderes", "bißchen"): "Also ich denke einfach, der
Mann (Hitler, d.V.) war ein bißchen verrückt" (ebd. 33 f). Von den Großeltern hat sie
Näheres über diese Zeit erfahren, wobei der Großvater anscheinend auch unter den Nazis
zu leiden hatte: "Das war schlimm für ihn und so, und als er sich dann gegen Hitler
XLIII
gerichtet hat, wurde er auch eingesperrt" (ebd. 38;35 ff). Sie glaubt, dass die heutigen
Generationen Verantwortung für die damaligen Verbrechen tragen in dem Sinne, als dass
sie "anderen Jugendlichen irgendwie das erzählen (sollten) und sagen, ‘das war doch gar
nicht so gut’ und ‘da ist doch nichts besonderes gewesen’, (...) damit die mal ein anderes
Bild bekommen davon" (ebd. 11 ff).
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Jennifer engagiert sich nicht in Initiativen, Gremien oder schulischen
Mitverwaltungsausschüssen, was zumindest z.T. ihrem politischen Desinteresse geschuldet
zu sein scheint. Regelmäßig besucht sie das örtliche Jugendhaus.
1993 absolviert sie im ‘Holyday Inn’ ein Praktikum als Restaurantfachfrau (vgl. 1993:
13;29 ff). 1994 gibt sie als Berufswunsch "Kinderpflegerin" an (vgl. 1994: 11;17). Da sie
im Vorjahr nach dem Hauptschulabschluss die Bewerbungsfristen versäumt hat, besucht sie
zur Überbrückung der Wartezeit für ein Jahr eine Haus- und Landwirtschafts-Schule. Diese
möchte sie jedoch gerne verlassen, um für die verbleibenden Monate nach Amerika zu
gehen und dort zu arbeiten oder eine Schule zu besuchen (vgl. 1994:18;31 ff). Dies erlaubt
allerdings ihre Mutter nicht.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Jennifer scheint sich mit ihrer amerikanischen Nationalität zu identifizieren (vgl. 1993:
43;8 ff) und "stolz" auf ihre schwarze Hautfarbe zu sein (vgl. 1992: 12;37 ff). Da sie selbst
Ausländerinnenstatus hat, kann sie vermutlich Verständnis für die Belange anderer
Ausländer aufbringen und sie nach Individuen differenzieren, ohne in gruppenbezogene
Vorurteile zu verfallen. Heimat ist für sie "der Ort, wo ich mich wohl fühle, wo ich bleiben
möchte, egal, ob ich jetzt dort geboren bin oder nicht" (1994: 40;20 ff). Dabei scheinen
nicht vorhandene bzw. nicht wahrgenommene Vorurteile gegen Minderheiten (hier
Schwarze) eine Bedingung für ihr persönliches Wohlbefinden zu sein:
"Weil da (in Amerika, d.V.) fühle ich mich dann manchmal auch in der Familie viel wohler
wie hier, weil, wenn man das so sagt, sind hier die Weißen, also von der Hautfarbe her, und
in Amerika sind halt die ganzen Schwarzen (...) Da wird kein Unterschied gemacht." (1993:
23;26 ff)
Da sie den Begriff ‘Heimat’ mit keinerlei Territorialansprüchen oder kultureller
Verwurzelung verbindet, erscheint es logisch, dass sie auch keine Überflutungs- oder
Überfremdungsängste im Hinblick auf die Einwanderung Angehöriger verschiedener
Nationalitäten nach Deutschland empfindet.
Jennifers regionaler und lokaler Sozialraum trägt aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur
mit dazu bei, dass sie in ihrer Freizeit hauptsächlich mit ausländischen Jugendlichen
zusammentrifft. Dies und ihre eigene Nationalität scheinen es für sie selbstverständlich und
wünschenswert zu machen, auf friedliche Art und Weise mit Ausländern verschiedenster
Nationalität umzugehen.
Ihr Sozialstatus als amerikanisches, dunkelhäutiges Kind einer deutschen Mutter und die
damit verbundenen Erlebnisse (s.o.) scheinen wesentlich zu den bei ihr vorhandenen
Gleichheitsvorstellungen
in
bezug
auf
Ausländer
beizutragen.
Ihre
Gleichheitsvorstellungen im Hinblick auf Asylbewerber sind vermutlich wesentlich auf das
über die Tante erfolgte persönliche Kennenlernen von Vertretern dieser Gruppierung (s.o.)
in einem Asylbewerberheim zurückzuführen: "Beispiel Asylantenheim, (...) meine Tante
hat auch dort gewohnt, und dann habe ich dann auch schon wieder ein anderes Bild gehabt"
(1994: 34;17 ff). Grundsätzlich ist Jennifer der Meinung, dass gegenseitiges Kennenlernen
Vorurteile abbaut:
XLIV
"Die (ausländerfeindliche Mitbürger, d.V.) müssten die Leute vielleicht erstmal
kennenlernen, wissen, wie die sind, bevor sie irgendwelche Vorurteile, ja, aufhören zu
lästern und solche Sachen. Erstmal sich selber anschauen." (1994: 47;15 ff).
Jennifers niedrige Gewaltakzeptanz scheint u.a. einem geschlechtsspezifischen
Rollenverständnis geschuldet zu sein. Indirekt bringt sie über das Jungen zugeschriebene
erhöhte Aggressionspotential (s.o.) zum Ausdruck, dass Gewalttätigkeit für sie nicht zum
‘normalen’ Verhaltensrepertoire eines Mädchens zählt. Darüber hinaus zeigt sie z.B. in der
Familie Anpassungstendenzen, wenn sie sich z.B. an die als ungerecht empfundenen
Ausgehzeiten hält oder ihrer Mutter nicht unbedingt alles über sich erzählt: "Die (Mutter,
d.V.) denkt, (...) ich bin (...) so ein ganz braves Mädchen halt. (...) Die denkt halt immer,
ich gehe immer pünktlich zur Schule, solche Sachen, (...) dass ich also mit Jungs nicht so
besonders viel habe." (1994: 32;3 ff). Weiterhin scheint sie ein größeres
Harmoniebedürfnis zu haben, was sich u.a. in ihrem Wunsch, ein Internat auf dem Land zu
besuchen (vgl. 1992: 31;30 ff) und in ihrem Verhalten, Menschen zu meiden, die sie
aufgrund ihrer Hautfarbe oder Nationalität angreifen könnten, äußert:
"Also schlechte Erfahrungen mit deutschen Jugendlichen hatte ich noch keine, also wenn
ich halt gemerkt habe, die fangen jetzt auch schon an, so ‘Ausländer wäh’ und so, dann
habe ich mich ganz einfach von denen abgewandt." (1994: 45;5 ff)
Vor diesem Hintergrund scheint ihre Äußerung "ich kann es ja nicht verstecken, dass ich
Ausländerin bin, auch wegen meiner Hautfarbe" (1992: 12;16 ff) darauf hinzudeuten, dass
sie sich zumindest manchmal doch wünscht, nicht als Ausländerin zu erkennen zu sein, um
nicht mit ausländerfeindlichen Übergriffen konfrontiert zu werden. Jennifer zeigt ein
ausgeprägtes weibliches Selbstbewußtsein. So weiß sie ihre Interessen in Beziehungen mit
Jungen zu vertreten: "Ich kann es halt nicht leiden, wenn es heißt ‘du darfst das nicht und
das nicht’, ich bin nicht verlobt mit dem und nicht verheiratet und nichts, ich meine, er hat
mir nicht viel zu sagen" (1993: 38;16 ff). Auch in puncto Sexualität zeigt sie
Selbstbewußtsein und Integrität: "Ich sage dann schon, ‘ich möchte nicht’ und so, ‘ich
fühle mich jetzt nicht so gut’, ‘ich habe keine Lust’ oder ‘ich fühle mich halt jetzt nicht
danach’. Und dann muss er das verstehen, und wenn er das nicht versteht, dann ist auch
nichts zu machen. Dann ist es mir eigentlich auch egal, wenn er sauer ist, weil er versteht
mich ja nicht" (1994: 38;38 ff).
Jennifers durchgehende jugendkulturelle Orientierung an der ‘Raper-Szene’ prägt
möglicherweise ihre Toleranz mit, die sie Menschen anderer Nationalität entgegenbringt,
weil sich gerade in dieser Szene viele ausländische Jugendliche bewegen.
Ihre Beziehungen im sozialen Nahraum scheinen ihre Ansichten wesentlich
mitzubeeinflussen: Der Umstand, dass ihr Vater ein Schwarzer ist, spricht dafür, dass die
Mutter keine Vorurteile gegenüber Ausländern hat. Der tägliche Umgang mit ausländischen
Jugendlichen in Schule und Freizeit scheint ebenfalls dazu beizutragen, dass sie Ausländer
nach ihren individuellen Qualitäten und nicht nach ihrer Nationalität beurteilt.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Jennifer zeigt ein hohes Maß an Toleranz gegenüber Anderen im allgemeinen und
Ausländern im speziellen. Dies wird besonders an ihrem Verhalten gegenüber einer
Mitschülerin, die wegen eines auffälligen Hautflecks im Gesicht von ihren Mitschülern
ausgegrenzt wird, deutlich: "Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie mit mir zusammen ist
(...). Das macht also nichts aus, ich meine wegen dem Fleck, ist sie deswegen trotzdem ein
Mensch" (1993: 18;22 f).
Ihre Fähigkeiten zu Reflexivität und Empathie sind ebenfalls vergleichsweise stark
ausgeprägt. Sie ist in der Lage, Situationen und Verhaltensweisen anderer Menschen zu
analysieren und sich dabei in die Beweggründe der Betroffenen oder die Wirkungsweise
bestimmter Gruppenmechanismen hineinzudenken. So erklärt sie sich das Motiv des
16jährigen Attentäters von Solingen folgendermaßen:
XLV
"Das ist so ein Mitläufer gewesen (...). Der hat halt nur Freunde gekannt, die so denken und
war halt immer mit denen zusammen, und das ist klar, dann denken die auch so, der ist
auch ein Nazi, weil er immer mit denen zusammen ist und so, aber der hat vielleicht auch
gar keine anderen Freunde, ich schätze mal, dass das voll der Mitläufer ist und das gemacht
hat, um irgend jemanden was zu beweisen." (1993: 46;37 ff)
Ähnliche Ursachen vermutet sie für das gewalttätige Verhalten der männlichen
Cliquenmitglieder:
"Immer große Klappe, und wenn sie dann alleine sind, haben sie nichts dahinter, also
stehen nicht dazu, was sie mal gesagt haben. Also die sind alle feige für mich, das nervt
mich total, weil sie dann noch so angeben und so, und ‘hier und ich und da und hier’, und
dabei ist da gar nichts. Also sie können es nur in der Gruppe." (1994: 15;29 ff)
Jennifer zeigt Fähigkeiten zu Einsicht und Selbstkritik. So erkennt sie z.B. die Regeln, die
ihre Mutter für sie aufstellt als sinnvoll an und versteht, dass die Mutter aus Sorge um sie
so handelt (vgl. 1993: 5;24 ff). Rückblickend erkennt sie Fehler, die sie gemacht hat und ist
in der Lage, aus ihnen zu lernen:
"Ich habe schon viele Fehler gemacht, die Schule z.B. oder ja, zu Hause, mit meiner Mutter
(...) Da hatte ich so einen richtigen Durchhänger und habe dann die Schule geschwänzt für
lange und bin auch nicht nach Hause gegangen über eine Nacht oder so, bin
wiedergekommen und wieder gegangen, und wie ich wollte halt. Ich habe dann auch
ziemlich viel Ärger mit meiner Mutter bekommen, und meine Mutter, die hat dann halt, die
hat immer Kopfschmerzen davon bekommen und so, und das hat mir dann schon leid
getan, das hätte ich vielleicht nicht tun sollen (LACHEN). (...) ich habe halt, so auch mit
Jungs auch so viel Mist gebaut, also habe vielen Jungs weh getan, und die tun mir dann
schon jetzt leid, und manchmal wünsche ich es mir, ich könnte es wieder rückgängig
machen." (1994: 30;8 ff)
Obwohl Jennifer rechtsorientierte Menschen meidet, um Konflikten aus dem Weg zu
gehen, ist sie durchaus in der Lage, Konflikte verbal auszutragen und ihre Meinung zu
vertreten: "Wenn es darauf ankommt, mache ich den Mund schon auf" (1994: 21;25 f).
An ihrer Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen und ihr Verhalten entsprechend zu modifizieren
sowie ihrem Eingreifen in Situationen, in denen FreundInnen gefährdet sind (z.B. sexuelle
Ausnutzung der Freundin, mißhandelter Klassenkamerad, s.o.), wird deutlich, dass Jennifer
bereit ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Sie zeigt bereits am Anfang der Untersuchung ein stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein,
das auf dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte
reflektiert beurteilen und sich aufgrunddessen eine eigene Meinung bilden und diese auch
vertreten zu können, basiert. Zusätzlich scheint ihr attraktives Äußeres ihr
Selbstbestätigung von ihren männlichen Bekannten einzubringen (vgl. 1994: 30;31 ff). Ihre
ausgeprägten individuellen Kompetenzen ermöglichen es ihr, sich in puncto Integrität
ihrem am Vorbild eines männlichen weißen Schauspielers entlehnten Ideal (Coolness)
anzunähern: "Der (Kevin Kostner, d.V.) ist halt lässig, der nimmt es so, wie es ist und läßt
sich halt nichts gefallen (...). Wenn man halt einfach, ja, wenn man so ist, wie man ist, also
sich nicht irgendwie anders gibt, das ist für mich jemand, der cool ist, also der sich nicht
schämt für das, was er ist oder wie er ist" (1994: 26;27 ff).
4.
Zusammenfassung
Jennifer präsentiert sich als eine Persönlichkeit, die sich - vermutlich wesentlich durch
ihren Status als dunkelhäutige Amerikanerin in Deutschland, ihre ausgeprägten
individuellen Kompetenzen wie Toleranz, Reflexivität, Empathie und den Einfluss ihrer
Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflusst - durch das Vorhandensein umfassender
Gleichheitsvorstellungen und eine - wahrscheinlich zusätzlich auf ihrem Rollenverständnis
als Mädchen/ Frau basierende - niedrige Gewaltakzeptanz sowohl auf politischer als auch
auf personaler Ebene auszeichnet.
XLVI
Jennifers politische Ansichten stellen eine Weiterentwicklung des von ihr propagierten
Gleichheitspostulats ‘Alle Menschen sind gleich’ (s.o.) dar: So spricht sie sich für die
Gleichbehandlung aller Menschen aus, befürwortet das Wahlrecht für Ausländer und die
Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft in bestimmten Fällen sowie die Gewährung
sozialer Unterstützung bei Bedarf. Des weiteren bewertet sie die Möglichkeit des
Kulturaustausches zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten als positiv.
Sie billigt das Asylrecht und hält es in bestimmten Fällen sogar für zu hart (s.o.). Jennifer
zeigt keine Überflutungs- oder Überfremdungsängste im Hinblick auf die Einwanderer und
nimmt keine Kriminalitätszuweisungen in Richtung Ausländer vor.
Jennifers politische Ansichten scheinen wesentlich von ihrer Situation und ihren
Erlebnissen als dunkelhäutige Amerikanerin in Deutschland und ihrer Fähigkeit,
Sachverhalte reflektiert beurteilen sowie sich in die Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen
und die Wirkungsweise bestimmter (Gruppen-)Mechanismen hineindenken zu können,
beeinflusst zu werden. Obwohl sie von sich behauptet, in der Regel kein Opfer von
Ausländerfeindlichkeit zu sein, klingt in ihren Äußerungen doch zumindest latent häufiger
an, dass auch sie aufgrund ihrer Hautfarbe Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt
ist (s.o.). Resultierend aus dieser Tatsache scheint sie sich entsprechend in die Situation
anderer Ausländer in Deutschland hineinversetzen zu können und Verständnis für deren
Bedürfnisse aufzubringen. Mit ihren o.a. Ansichten scheint sie sich mit diesen
Gruppierungen zu solidarisieren und ihnen die Rechte zuzuerkennen, die sie auch für sich
selbst in Anspruch nimmt bzw. nehmen möchte. Unterstützend kommt vermutlich hinzu,
dass sie aufgrund der Bevölkerungsstruktur ihres Wohnumfeldes in Schule und Freizeit mit
sehr vielen (jugendlichen) Ausländern zusammentrifft und diese aufgrund ihrer
persönlichen Qualitäten zu beurteilen gelernt hat. Im Hinblick auf Asylbewerber ist ihr die
Möglichkeit zu persönlichen Kontakten durch eine kurzfristig in einem Asylbewerberheim
lebende Tante zuteil geworden (s.o.).
Ihre niedrige Gewaltakzeptanz scheint neben o.a. Gründen vornehmlich ihrem
geschlechtsspezifischen Rollenverständnis geschuldet zu sein. Zum einen scheint
Aggressivität für sie nicht zum typischen Verhaltensspektrum eines Mädchens zu gehören
(s.o.), zum anderen zeigt sie aufgrund ihrer individuellen Kompetenzen und evtl.
geschlechtsspezifisch bedingter Anpassungstendenzen - trotz eines gewissen Fatalismus’ Einsicht in die Nutzlosigkeit herrschender Gewaltmechanismen und versucht eigene
Aggressivität zu bekämpfen, wobei sie damit selbstkritisch implizit an die
Eigenverantwortung des Individuums appelliert:
"Ich denke, an Gewalt kann man eigentlich gar nichts ändern. Das kommt manchmal über
einen selbst, ich merke es manchmal, ich bin manchmal so aggressiv (...). Ich meine, ich
gehe dann nicht hin und schlage irgend jemand, weil der mir nicht gefällt, ich lasse es dann
eher an mir selber aus und sitze dann da und bin schlecht drauf." (1993: 21;37 ff)
Jutta 1992 - 1994
„Bei mir sitzt die Faust ziemlich locker. Stimmt genau.“ (Fb 1992)
„Die Asylbewerber, die sind alle falsch, von vorne bis hinten ... die reden doch nur Scheiß
heraus, die lügen doch von vorne bis hinten und gehen auch noch bei uns in die Schule.“
(1993:53;27-32)
„Dass das in den Gefängnissen so hart zugeht ... klar, das tut mir auch irgendwie schon
leid, aber die sind doch selber Schuld wenn die wieder abgeschoben werden, so wie die
sich hier aufführen. Die sind als Gäste zu uns gekommen und nicht als weiß Gott was, hey,
XLVII
ihr dürft kommen und dürft den King spielen und so, wir schieben euch auch das Geld in
den Arsch ‘rein.“ (1994:34;4-10)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Jutta, evangelisch, ist 1992 13 Jahre alt. Sie stammt aus den neuen Bundesländern
(Brandenburg) und ist 1990 nach T. gezogen, eine mittelgroßen Stadt in Süddeutschland, in
der sie die Hauptschule besucht. Sie lebt zunächst mit ihrer Mutter und ihren beiden
Schwestern (12 und 16 Jahre alt) in einer Drei-Zimmer-Mietwohnung im Stadtkern, wobei
die ältere Schwester mehr bei ihrem Freund wohnt als zu Hause und zum Zeitpunkt des
Interviews 1993 gänzlich mit ihm zusammengezogen ist. Nach dem Tod des Vaters, der
von Beruf LKW-Fahrer war, im Jahre 1992 zieht Jutta mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren
Schwester 1993 in eine andere 3-Zimmer-Wohnung in einem Stadtteil von T. um. Hier hat
Jutta anfangs ein Zimmer für sich alleine, welches sie aber 1994 erneut mit der jüngeren
Schwester teilen muss, da ihre ältere Schwester, die inzwischen ein Kind bekommen hat,
gemeinsam mit diesem wieder zu Hause einzieht.
Juttas Mutter arbeitet 1992 als Kassiererin. Diesen Beruf muss sie 1993 aus
gesundheitlichen Gründen aufgeben muss. Seitdem ist sie arbeitslos. Dies wirkt sich
negativ auf die finanzielle Versorgung der Familie aus: Jutta erhält kein Taschengeld. Von
1992 bis 1993 arbeitet sie deshalb gelegentlich in einer Essigabfüllerei. Später trägt sie an
Wochenenden Zeitungen aus und jobbt regelmäßig in den Ferien.
2.
Politische Orientierung
2.1.
Allgemeine Orientierung
1992 und 1993 stellt sich Jutta als eine Jugendliche dar, deren allgemeine politische
Orientierung fremdenfeindlich motiviert ist. Diese Fremdenfeindlichkeit ist bis 1994
allerdings kaum vor einem explizit politischen Hintergrund zu interpretieren, da Juttas
Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen im allgemeinen sehr gering ist und sie in
Folge dessen zum Beispiel auch nicht über die Umstände der Ereignisse von Solingen oder
Hoyerswerda informiert ist (vgl.1993:59;24ff) und ebenfalls trotz entsprechender
Gelegenheit kaum Interesse an Informationen über die Motive von Asylnachfrage in
Deutschland zeigt (siehe 2.2). 1994 gibt Jutta an, politisch interessiert zu sein (1994:41;2324) und berichtet von ihrem Besuch einer Versammlung der Republikaner: „Mich hat es
bloß interessiert, weil es Politik ist, wollte ich bloß mal rein, die sind ja rechts drauf ...“
(1994:35;15ff). Bei einer Wahl würde sie sich entweder für die SPD oder für die
Republikaner entscheiden (vgl. 1994:35;38-40). Politik ist aber im Gespräch mit ihren
Freunden kein Thema, denn „ dann reden wir nicht über Politik oder so einen Scheiß, dann
reden wir über was ganz anderes.“ (1994:41:21-22). Wird Jutta in den Interviews gezielt
nach ihrer Meinung zu bestimmten politischen Ereignisse gefragt, verweigert sie sich
auffällig durch stereotype Äußerungen wie: „Kein Plan. Schweig.“ (1994:43;37).
Juttas jugendkulturelle Orientierung ist unauffällig: Sie zählt sich durchgängig zu
Discofans bzw. Technos, 1994 außerdem zu Umweltschützern und „Ökos“. 1992 fühlte sie
sich kurzzeitig zu den Rapern hingezogen, die für sie in den folgenden Jahren unbedeutend
werden. Jutta sind linke Jugendliche, Skater und Punker egal, während sie rechte
Jugendliche, Skinheads, Hooligans, Bundeswehrfans, Rocker und Autonome ablehnt oder
als Gegner erklärt (vgl. Fb 1-3).
2.2.
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Jutta zeigt durchweg zahlreiche Ungleichwertigkeitsvorstellungen, die sich im Laufe der
Zeit in Ungleichbehandlungsforderungen ausformen.
XLVIII
Zunächst richtet sich ihre Abneigung gegen „Neger“ (1992:30;7-14) und Kriegsflüchtlinge
aus Jugoslawien: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ich finde die Ausländer blöd, die
in den Kasernen sind.“ (1992:30;33-35). Nachdem Jutta von einem Asylbewerber in der
Nähe deren Unterkunft (sexuell) belästigt wurde, hat sie Angst vor weiteren Übergriffen.
An Fragen nach Asyl-Anlässen zeigt sich Jutta schon 1992 und 1993 desinteressiert: „Ja,
sie wurden da aus ihrem Land, wie soll ich - rausgejagt, warum weiß ich auch nicht,
interessiert mich auch nicht.“ (1992:30;27-29); „Die Tussi, also das eine Mädchen wollte
mir das mal erklären, aber die konnte kein richtiges deutsch und da habe ich gesagt, komm,
laß es sein, interessiert mich auch nicht.“ (1993:53;1-4).
1993 nimmt der Umfang von Juttas Vorwürfen gegenüber Asylbewerbern deutlich zu:
„Klar, ich meine, die brauchen vielleicht Hilfe, aber die kommen hierher und machen sich
den Arsch breit, die klauen ja wie die Rohrspätze, also die, die wir kennen.“ (1993:55;1114). Dieser Vorwurf resultiert sowohl aus ihrer konkreten Beschuldigung rumänischer und
jugoslawischer Mitschüler, sie bestohlen zu haben (vgl.1993:55;22-25), als auch aus ihrem
Neid auf die (vermeintlich) teure Kleidung ihrer rumänischen Mitschülerinnen, die „erst
mit so Klamotten, die Röcke da“ (1993:52;26) in Deutschland angekommen sind „und jetzt
ist eine Woche ‘rum, dann haben sie schon ‘Levis’- Klamotten an.“ (1993:52;29-30). Da
sie sich selbst keine Markenkleidung leisten kann, fühlt Jutta sich ungerecht behandelt:
„Ich weiß nicht wo ich mir das her holen soll, und die ziehen jeden Tag neue Klamotten
an.“ (1993:52;2-3). Weil sich das eigene Leben für sie mühsam und unbequem darstellt,
wehrt sie sich dagegen, dass es andere (in ihren Augen) einfacher haben. Dieses Gefühl der
Ungleichbehandlung hinsichtlich finanzieller Ressourcen wird auch in ihrer oberflächlichambivalenten Zustimmung zum Statement ‘Alle Menschen sind gleich’ deutlich, in dessen
Auslegung sie indirekt zunächst einmal die Nivellierung ihrer eigenen (finanziellen)
Verhältnisse fordert: „Ja, alle Menschen sind doch gleich. Ich meine, ich habe ja nichts
gegen Ausländer oder so, aber ich meine, ich verstehe die Leute nicht, die jetzt rein
kommen, die Asylanten. Die verstehe ich nicht, die sind irgendwie Gottes drauf, jeden Tag
neue Klamotten und Levis oder so was.“ (1993:51;33-38). In diesem Zusammenhang
beschuldigt sie jugendliche Asylbewerber schließlich des Leistungsbetruges und der
Kriminalität, indem sie vermutet, deren Geldquelle sei „das Sozialamt wahrscheinlich, oder
irgend was, was weiß ich. Klauen. ... oder Auto verkaufen, so klauen.“ (1993:52;6-10).
Dies seien keine Einzelfälle, sondern „sehr viele“ (1993:52;15). Außerdem bezichtigt Jutta
die ihr aus der Schule bekannten Asylbewerber pauschal des Lügens: „Ich meine, die, die
ich kenne, die Asylbewerber, die sind alle falsch, von vorne bis hinten ... überhaupt das
Reden, die reden doch nur Scheiß heraus, die lügen doch von vorne bis hinten und gehen
auch noch bei uns in die Schule.“ (1993:53;26ff). Wohl wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer
multinationalen Clique, mit der Jutta 1993 ihre Freizeit verbringt, und deren Mitglieder alle
in Deutschland geboren
wurden (vgl.1993:54;28-29), differenziert sie ihre Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf
‘Ausländer’ und ‘Asylbewerber’. Jutta akzeptiert ‘deutsche’ Ausländer, die sich der
deutschen Lebensmentalität angepaßt verhalten und die deutsche Sprache beherrschen, was
sich auch darin ausdrückt, dass sie erst einen Freund türkischer und später einen Freund
italienischer Herkunft hat. Sie versucht, ihre ausländischen Freunde von denen abzuheben,
die Opfer von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime sind: „Ich verstehe nicht, dass die
gleich die Häuser anbrennen, die haben zwar was gegen die Ausländer, aber es sind doch
nicht alle so wie die. Es gibt Ausländer, die voll okay sind, aber die, die jetzt neu rein
kommen, ich weiß nicht, denen ihr Verhalten.“ (1993:60;30-32).
1994 überführt Jutta ihre Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Asylbewerbern in
Ungleichbehandlungsforderungen: „Also was würde ich noch ändern? Ich will nicht
Asylantenabschiebung sagen, aber ich will die Asylanten erst in ein anderes Land
reinschieben.“ (1994:33;21-23). Auch Asylbewerber, die in Deutschland Schlägereien
anfangen, sollten nach Juttas Meinung abgeschoben werden: „Ich meine, dann sind sie
XLIX
selber Schuld, dass es Rechtsradikale gibt.“ (1994:37;12-13). Jutta sieht im
‘Rechtsradikalismus’ somit eine legitime Abwehrreaktion Deutscher, die sich in der
Bewegungsfreiheit innerhalb ihres Territoriums zurecht bedroht fühlen. Zumal sie in der
Vergangenheit persönlich tatkräftig an territorialen Kämpfen in der Schule beteiligt war,
fühlt sie sich von Asylbewerbern in ihrem mühsam eroberten Rang bedroht. Hinzu kommt,
dass sie neben diesem eher über männliche Verhaltensmuster erworbenen ‘Rang’ auch
augenscheinlich um ihre Stellung als attraktivitätsorientiertes Mädchen kämpft. So fühlt sie
sich auch von Asylbewerberinnen latent bedroht, weil die „meinen, sie wären hübsch, so
mit erhobener Nase laufen sie an mir vorbei.“ (1994:30;23-25). Aus Juttas Warte lassen
sich soziale Positionen aus finanziellen Ressourcen gewinnen und somit Zugänge zu
oberen Rangplätzen in einer Gruppe von Gleichaltrigen sichern. Es ist anzunehmen, dass
Jutta sich nach dem Umzug von Brandenburg nach T. zunächst einen (Hierarchie)Platz
erobern musste, den es für sie weiterhin zu sichern gilt. Jutta benutzt häufig mit stark
pauschalisierendem Tenor das Argument, die Asylbewerber seien an der Problematik
selbst Schuld, sowohl aufgrund ihres Charakters, als auch wegen ihres Verhaltens : „Also
die Asylanten, die sind alle gleich ... die sind total anders, einen schlechten Charakter
haben sie auch und so ja.“ (1994:30;9-16). Sie versächlicht ihre Gegner in Form von
Asylbewerbern als „Dinger“ (1994:29:15) und wiederholt die Forderung, Asylbewerber
sollten sich in Deutschland wie Gäste benehmen und einer Arbeit nachgehen. Das
Wahlrecht würde sie den Ausländern zubilligen, die in Deutschland wohnen und arbeiten
(1994:42;36-40), mit Ausnahme der Asylbewerber: „Also die Asylanten würde ich nicht
wählen lassen, da bin ich ganz ehrlich. Ich würde die auch erst mal ein paar Jahre zappeln
lassen, also arbeiten lassen und dann dürften sie vielleicht wählen.“ (1994:43;4-8).
Ein weiterer Auslöser für Juttas Antipathien gegenüber Asylbewerbern und
Kriegsflüchtlingen ist ihre persönliche finanzielle Misere: „Ich meine, ich will nicht sagen,
dass ich arm, ich bin aber arm, aber ich kann mir sowas nicht leisten, wie die sich das
leisten können. Oh je, die Klamotten und Fahrräder und so.“ (1994:32;7-10). Der zentrale
Wert, den ‘Arbeit’ und damit ‘eigenes Geld verdienen’ in Juttas Leben einnimmt, läßt sie
aber auch deutsche ‘Leistungsbetrüger’ verurteilen: „Manche Deutsche, die sitzen auf
ihrem Arsch und bekommen ihr Geld, das sind nicht nur Asylanten, es gibt auch Deutsche.“
(1994:45;22-24). Diese Aussage bezieht sie 1994 auch auf ihre Mutter, die aus
Krankheitsgründen ihren Beruf zeitweise nicht ausüben kann und der sie vorwirft, ein
Rückenleiden nur vorzuschieben, um „den ganzen lieben langen Tag zu Hause zu sitzen.
Die sitzt sich ihren Arsch richtig fett, die könnte doch auch was tun.“ (1994:45;27-30).
Einerseits betont Jutta: „Andere Leute arbeiten dafür, dass die ihr Geld bekommen, das ist
Tatsache, deswegen sind die Steuern hier auch so hoch, damit die Asylanten und die
Deutschen und alle überhaupt ihr Geld bekommen.“ (1994:46;17-20), andererseits will sie
einen geplanten Jamaikaurlaub auf die von ihr zuvor verurteilte Weise des
Leistungsmißbrauchs finanzieren: „Dann lassen wir uns erst mal unseren Arsch hier
festsitzen und lassen uns das Geld in den Arsch schieben, dann fliegen wir. So wie andere
das machen.“ (1994:52;25-27).
Trotz ihrer durchgängig fremdenfeindlichen Einstellungen lehnt Jutta rechtsextrem
orientierte Jugendliche ab (vgl.1994:48;24-32). Auch die Beziehung zu ihrem Ex-Freund
hat sie beendet, als sie merkte, dass er zum Rechtsextremismus tendiert (vgl.1994:49;5-10).
2.3.
Gewaltakzeptanz
Bei Jutta läßt sich ein hohes physisches und psychisches Gewaltpotential feststellen, das
sich schon 1992 sowohl in in Gedanken ausgetragenen Tätlichkeiten gegenüber ihrer
jüngeren Schwester - „Manchmal könnt’ ich meiner kleinen Schwester so eine
runterkleben, dass sie sonst wohin fliegt, aber ehrlich“ (1992:6;10-12) -, als auch in
tatsächlichen Schlägereien mit Mitschülern äußert: „Ich hab’ ihm eine runtergescheuert,
L
haja, was soll man denn da machen?“ (1992:13;5-6). Aus dem Zusammenhang
persönlicher Gewalterfahrung (einer Beinahe-Vergewaltigung im Park, gegen die sich Jutta
erfolgreich körperlich zur Wehr setzen konnte) scheinen Juttas Bestrebungen,
Selbstverteidigungstechniken zu erlernen, zu resultieren. Sie lernt zunächst Judo, um sich
zur Wehr setzen zu können (vgl.1992:24;34) und in einer Notsituation nicht der Hilfe der
Polizei zu bedürfen. Das Argument der Selbstverteidigung zieht sich durchgängig durch
Juttas Rechtfertigungen von Gewaltanwendung. 1994 berichtet sie von zwei persönlichen
Erfahrungen sexueller Belästigung beim Trampen, die für sie aber glimpflich ausgegangen
sind (vgl.1994:61;7-39). Juttas Gewaltbilligung läßt sich an ihrer Forderung nach der
Todesstrafe (vgl.1992:26;5-10) (hier für Sexualverbrecher) festmachen: „Am liebsten
wollt’ ich, dass man die aufhängt oder dass alle lebenslänglich in den Knast kommen.“
(1992:25;38-39). Außerdem äußert sie in Bezug auf Sexualtäter unverhohlen eigene
Rachegelüste: „Ja, so was überhaupt, da möcht’ ich lieber selber jeden erschlagen.“
(1992:26;10-11).
Juttas Strategie, Konflikte mit Gewalt lösen zu wollen, verstärkt sich 1993. Hier erzählt
Jutta (lachend), dass sie mit ihrer Clique ein Mitglied „krankenhausreif“ geschlagen hat,
weil dieses den Drogenkonsum in der Clique nach außen getragen hat (vgl.1993:16;30-36).
Sie gibt an, auf dem Schulhof würde geschlagen „bis fertig ist. Bis die eine sagt, sie kann
nicht mehr, oder so. Dass sie sich nicht mehr wehrt.“ (1993:31;26-27). Jutta erzählt auch
von einer Schlägerei, in die sie selbst verwickelt war und in bei der sie zum Schluss
gewonnen hat (vgl.1993:32;17). 1994 erklärt sie rückblickend: „Ich hatte voll viele
Schlägereien auch.“ (1994:28;17). Jutta betreibt ab 1993 die Kampfsportart ‘Teak Wan
Do’, die sie in einem Verein dreimal wöchentlich trainiert (vgl.1993:40;20) und möchte
gerne ‘Kickboxen’ lernen. Sie benutzt die Kampfsportart im Rahmen von Schulhofkämpfen
und zur Abschreckung potentieller Angreifer: „ Jetzt schlägt mich keiner mehr, jetzt.
Überhaupt, seit ich dem einen die Fresse voll geschlagen habe“ (1993:33;12-14). Auch im
Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit Lehrern macht Jutta vor der Anwendung
körperlicher Gewalt nicht halt (vgl.1993:21;35-40). Zusammen mit ihrer Freundin sieht sie
sich Horrorfilme („So richtig harte.“ 1993:44;7) und Karatefilme an: „Wie sie kämpfen und
überhaupt, das gefällt mir Gottes arg.“ (1993:34;1-7). Die insgesamt zum Ausdruck
gelangende Gewaltfaszination Juttas steht in gewissem Widerspruch dazu, dass sie generell
Gewalt nur als Verteidigungsmittel in Notsituationen für legitim hält.
l994 tut sie die Schlägereien an der Schule als „Kindereien“ (1994:28;2-3) ab und scheint
in ihrer Gewaltbereitschaft zunächst gemäßigt: „Ich schlage mich eigentlich nur, wenn mich
einer provoziert, sonst gehe ich jeder Schlägerei aus dem Weg.“ (1994:28;22-24). Als Jutta
sich 1994 im Bahnhof von einem Asylbewerber mit einem Messer bedroht sieht, benutzt sie
allerdings nicht nur ihre Kampfsporttechnik, um dem vermeintlichen Angreifer das Messer
aus der Hand zu schlagen, sondern scheint, wie die Folgen ihres Einsatzes zeigen, durchaus
noch mehr zu tun als zu bloßer Selbstverteidigung notwendig gewesen wäre: „Ich habe ihn
halt an der Nase getroffen, statt am Arm, dann hatte er einen Nasenbeinbruch und zwei
Rippen gebrochen. Ja, ich habe zugeschlagen, also da kann ich hart sein, radikal.“
(vgl.1994:28;36ff).
In
diesem
Zusammenhang ist
ihre
Einordnung der
Auseinandersetzungen auf dem Schulhof als ‘Kindereien’ womöglich so zu interpretieren,
dass ihre Gewalterfahrungen nun eine andere, härtere Qualität erlangt haben.
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1.
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Jutta gibt 1992 an, Probleme mit der (beengten) Wohnsituation zu haben, zu denen 1993
gravierende Probleme im Verhältnis zur Mutter und 1994 finanzielle und schulische
LI
Sorgen hinzukommen. Eine sicherlich große Belastung ist der Tod ihres Vaters (1992) und
der zum Zeitpunkt des Verlustes dieser für sie starken Bezugsperson erst zwei Jahre
zurückliegende Umzug von Brandenburg nach T.. Juttas Interessenlagen konzentrieren sich
auf die Bereiche der finanziellen Versorgung und eines konstanten emotionalen Verhältnis
zur Mutter, das zum Zeitpunkt der Interviews von gegenseitiger Ablehnung und
Distanzierung gekennzeichnet ist.
3.1.2.
Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Jutta hat im Bereich ihrer Familie große Probleme. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist
ausgesprochen gespannt und ändert sich erst 1994 geringfügig, z.B. dahingehend, dass ihre
Mutter das Mittagessen für sie zubereitet, während Jutta in dieser Beziehung vorher für ihre
jüngere Schwester und sich sorgen musste. Jutta kann sich der Mutter nicht mitteilen
(„Also richtig sprechen tu’ ich ja mit ihr nicht“ 1992:3;26-27) und fühlt sich von ihr
emotional abgelehnt: „Manchmal glaube ich, meine Mutter ist gar nicht meine richtige
Mutter, glaube ich echt manchmal, nicht nur manchmal, immer, fast immer.“ (1992:19;2830). Sie hat den Eindruck, von ihrer Mutter ausgebeutet zu werden, weil sie immer
„schuften und schuften“ (1992:6;6) muss, während ihre Mutter „heimkommt, macht sich’s
bequem, ißt halt und dann schläft sie, weil sie so müde ist“ (1992:5;24-25). Jutta entzieht
sich in Folge dessen dem Zuhause, in dem sie sich nicht wohl fühlt (vgl.1992:3;34). Auch
die Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester, mit der sie früher eine gemeinsame Klasse
besucht hat, ist mehr als problematisch. Die Streitigkeiten zwischen den beiden Mädchen
gehen über den Rahmen ‘normaler’ Geschwisterkämpfe hinaus und erlangen beinahe die
Qualität eines ‘Schwesternhasses’ der sich in Juttas unverhohlenem Triumph äußert, als
ihre Schwester durch Juttas Zutun eine Klasse wiederholen muss (vgl.1992:34-36). Die
einzige familiäre Bezugsperson, mit der sie sich sehr gut versteht, ist ihre ältere Schwester,
die allerdings schon 1992 mehr oder weniger von zu Hause ausgezogen ist.. In der Familie
ihrer besten Freundin findet Jutta eine ‘Ersatzfamilie’, in der sie ihre Probleme besprechen
kann und Geborgenheit bekommt (vgl. 1992:37-39). Diese Familie nimmt sie auch mit in
Urlaub.
Da ihr Vater eine starke Bezugsperson für Jutta war, leidet sie sehr unter seinem Tod
(1994:24;21-22) und vermißt ihn: „Ich glaub’ meine Mutti, die akzeptiert mich gar nicht.
Wie mein Vater noch da war, ich glaub’, da war alles besser, aber seitdem an akzeptiert sie
nur noch meine jüngere Schwester.“ (1992:2;21-24). Sie zeigt Tendenzen, sich mit ihrem
idealisierten Vater und dessen Verhalten zu identifizieren, der sich häufig mit der Mutter
stritt und sich dann von zu Hause entfernte. Jutta zeigt Tendenzen ihn zu imitieren
(vgl.1992;25-37). In der Beziehung zu ihrer Freundin versucht sie, den Verlust des Vaters
zu kompensieren: „Ich kann mit ihr über alles reden, wie es bei meinem Vater gewesen
war.“(1992:18;1-2). Als ihre ältere Schwester 1993 ganz zu ihrem Freund zieht,
verschlechtert sich die Beziehung zwischen Jutta und ihrer mittlerweile arbeitslos
gewordenen Mutter mehr und mehr. Jutta fühlt sich gegenüber der jüngeren Schwester
(finanziell) benachteiligt und ausgeschlossen: „jetzt bin ich hier zu Hause die Blöde“
(1993:1;8). Zwischen den Schwestern ist ein Konkurrenzverhältnis um die mütterliche
Fürsorge entstanden (vgl.1992:4;1-3). Die durch Juttas Familie nicht erbrachten
Unterstützungsleistungen werden durch fehlende Außenkontakte der Familie in den neuen
sozialen Zusammenhängen (vgl.1992:4;28-30) nach dem Zuzug der Familie aus den neuen
Bundesländern zunächst noch verschärft. Als die Situation 1993 zu eskalieren droht,
überlegt Jutta, in eine vom Jugendamt betreute Wohngruppe zu ziehen, zumal auch ihre
Mutter mit einer ‘Heimeinweisung’ droht (vgl.1993:2;38-40). Jutta gibt an, von der Mutter
geohrfeigt zu werden (vgl. 1993:4;4-6 und 16-20). Sie bespricht ihre Probleme nach wie
vor mit der Mutter ihrer Freundin (vgl. 1993:7;21-23) und gibt als zentrales Bedürfnis an,
dass sie sich wünschte, ihre eigene Mutter zeigte mehr Verständnis für sie (vgl. 1993:9;10).
Diese hat 1993 einen Partner, der zwar die Familie, nicht jedoch Jutta finanziell unterstützt.
LII
Sie beschreibt ihr Verhältnis zu ihm mit den Worten: „Der stößt mich ab.“ (1993:62;40)
und würde es nicht akzeptieren, mit dem neuen Partner der Mutter zusammenzuwohnen.
1994 gibt Jutta an, dass ihre Beziehung zur Mutter besser geworden sei. Dies kommt wohl
teilweise daher, dass Jutta nur noch selten zu Hause ist. Trotzdem möchte Jutta im Falle des
geplanten Umzugs der Mutter zu deren Freund in den Schwarzwald nicht mitgehen,
sondern am Heimatort bleiben und die Schule dort beenden, da sie denkt, ihre Mutter sei
nach wie vor der Meinung „mit mir, da gibt es sowieso Probleme“ (1994:12;4-5).
Mittlerweile ist ihre ältere Schwester samt Baby wieder zu Hause eingezogen, so dass sich
Jutta das Zimmer mit der jüngeren Schwester teilen muss, was zu Konflikten führt (vgl.
1994:4;35 und 1994:5;1-8). Trotzdem freut sie sich über die Anwesenheit der älteren
Schwester, weil sie sich von dieser unterstützt und akzeptiert fühlt.
Jutta hat über die gesamte Zeit hinweg (wechselnde) Freunde als Partner in
Zweierbeziehungen, die unterschiedlicher nationaler Herkunft (Türkei, Italien) sind. Bei
ihnen übernachtet sie auch.
In der Schule hat sie durchgängig große Probleme. Wegen des Umzugs aus den neuen
Bundesländern nach T. und damit verbunden Fremdsprachenwechsels von Russisch zu
Englisch hat sie gleich zu Anfang eine Klasse wiederholt und leidet unter ihren schlechten
Noten (vgl.1992:8;34-39). Trotz des guten Klassenverbands geht sie nur ungern zur
Schule, lernt wenig und sehnt sich zurück in die Schulform der ehemaligen DDR
(vgl.1992:9;6-9). 1993 fühlt sie sich von den Lehrern ‘auf den Kieker genommen’
(vgl.1993:21;25-27) und leidet unter Prüfungsangst (vgl.1993:36;31-40). Jutta absolviert
ihr Berufspraktikum bei einem Maler, bei dem sie auch eine Lehrstelle antreten möchte.
1994 schwänzt sie bis zu einem Monat den Unterricht (vgl.1994:9;33-37) und droht
sitzenzubleiben (vgl.1994:20;22-23). Als Gründe für ihre schwachen Leistungen gibt sie
an, keine Zeit zu haben, da sie einerseits auf den Neffen aufpaßt (1994:14;32ff) und
andererseits nun ausgiebig Techno-Parties besucht.
Ihre Freizeit verbringt Jutta 1992 häufig mit ihrer Freundin, mit der sie vor allem in
Diskotheken geht. 1993 wird sie Mitglied in einer Clique von 25 Jugendlichen im Alter
von 14 bis 23 Jahren, in der Gymnasiasten ausdrücklich nicht erwünscht sind
(vgl.1993:18;22-25). Diese Gruppe trifft sich regelmäßig mehrmals in der Woche an einem
Kiosk oder in einer ‘Hütte’ eines Mitglieds, um dort (Techno-)Musik zu hören, zu rauchen,
Alkohol zu trinken und anscheinend auch Drogen zu konsumieren. Durch die Anwesenheit
der älteren Jugendlichen besteht die Möglichkeit, an Alkohol zu gelangen (vgl.1993:14;1419). Jutta beschreibt die Clique als eingeschworene Gemeinschaft, in der (wegen der
Drogen) „alle dicht halten“ (1993:16;9-11). Sie beschreibt sehr eindringlich, was passiert,
wenn ein Gruppenmitglied den Drogenkonsum publik macht: „Also wir hatten halt
bestimmtes Zeug bekommen, und da hat einer geplappert gehabt, in der Schule, und ja,
darauf hin bin ich, na ja, sind wir hin und haben ihn geschlagen, krankenhausreif war er
sogar.“ (1993:16;30-33). Wie schon zuvor, ‘erschlägt’ sich Jutta auch hier ihre Position in
der Clique. In Folge ihres gesicherten Platzes fühlt sie sich „wie in einer Familie“
(1993:20;23-25), findet Geborgenheit und Akzeptanz und kann ihre Probleme besprechen
(vgl.Fb 2). In der Gruppe wird alles gemeinsam entschieden. 1994 paßt Jutta tagsüber
häufig auf ihren kleinen Neffen auf oder verbringt ihre Zeit mit einer Freundin und geht
tanzen. Von der Clique hat sie sich getrennt. Probleme bespricht sie jetzt entweder mit
einer neuen Freundin (vgl.1994:57;32-39)) oder macht diese mit sich selbst aus, weil sie
andere damit nicht belästigen will (vgl.1994:58;14-20).
Da in Juttas Nachbarschaft und Wohnumfeld einige Asylbewerber, mit denen sie schon
negative Erlebnisse hatte (s.o.), in ehemaligen Kasernen untergebracht sind, fühlt sie sich
1992 in ihrem direkten Umfeld belästigt und wünscht, dass die Flüchtlinge in anderen
Städten untergebracht würden: „...aber nach V., warum können sie nicht nach W. oder so in
der restlichen Gegend, ich weiß nicht. Ich glaube in E. hat’s nicht so viele Ausländer oder
in - wie heißt das - Stuttgart, aber da hat’s viele Ausländer.“ (1992:31;18-23).
LIII
3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Jutta sieht regelmäßig die Nachrichten und liest 1994 täglich die ‘Bildzeitung’. Außerdem
kauft sie sich hin und wieder die ‘Bravo’. Sie sieht nicht viel fern, mit Ausnahme der
Musikkanäle ‘MTV’ und ‘VIVA’.
3.1.4. Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Jutta berichtet mit Ausnahme des Besuches einer Versammlung der ‘Republikaner’ und
eines Ausflugs der Schulklasse in den Landtag von keinerlei Interesse an, Erfahrungen mit
oder Ressourcen von gesellschaftlicher oder politischer Teilhabe.
3.2.
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1. Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Jutta hat kein ausgeprägtes Nationalitätsbewußtsein; im Gegenteil: „Was weiß ich, stolz
darauf sein, auf Deutschland, gar nichts eigentlich, finde ich.“ (1994:50;13-15). Sie ist der
Meinung, dass Deutschland sich für die Folgen des Holocaust schämen muss
(vgl.1994:48;17-18) und denkt, dass Deutschland (zurecht) einen schlechten Ruf wegen der
milden Rechtsprechung und der Häufigkeit von Sexualdelikten hat (vgl.1994:47;3-18).
Sicherlich spielt hier Juttas Herkunft aus der ehemaligen DDR eine große Rolle, der sie
aufgrund mancher im vereinigten Deutschland herrschenden Mißstände wie
Arbeitslosigkeit oder Armut hinterherzutrauern scheint.
Dies weist darauf hin, dass sie sich in ihrem regionalen und lokalen Sozialraum nicht
vollständig integriert fühlt. Jutta ist sehr unzufrieden mit ihrer finanziellen Situation. Da sie
kein Taschengeld erhält und wegen schulischer Probleme ab 1993 nur noch unregelmäßig
jobben kann, leidet sie unter ihrem niedrigen sozialen Status. Die nach dem Tod des
Vaters und der Arbeitslosigkeit der Mutter sehr beengten Wohnverhältnisse belasten Jutta,
zumal sie kein eigenes Zimmer und somit keinen Platz für sich alleine hat. Ein weiteres
Problem stellt für sie der unerfüllte Wunsch nach Markenkleidung dar. Wenn Jutta Geld
hätte, würde sie gerne damit angeben (vgl.1992:21;34-40). Außerdem hat sie den Traum zu
verreisen, wofür aber das Geld fehlt.
Jutta offenbart deutliche Schwierigkeiten im Aufbau einer Geschlechtsidentität. 1992
äußert sie: „Ich wäre’ auch lieber ein Junge, gefällt mir auch besser - da hat man auch mehr
Möglichkeiten als wie ein Mädchen.“ (1992:27;30-35). Andererseits möchte sie aber „nie
einen Jungen anmachen, also das ist irgendwie blöd, da will ich doch lieber ein Mädchen
sein“ (1992:28;4-8). Dies hat zur Folge, dass sie sowohl den Rollenerwartungen, die an
Jungen gestellt werden, als auch Rollenerwartungen an Mädchen genügen will und dabei
ihre soziale Plazierung über einen Spagat zwischen männlich konnotierten
Verhaltensmustern (z.B. körperliche und sprachliche Aggressivität, Widerständigkeit,
Revierverhalten) und Segmenten weiblicher Rollenstereotype (z.B. Sich-schön-machen) zu
bewerkstelligen sucht. Die Gründe ihrer zwiespältigen geschlechtsspezifischen
Identitätskonstruktion sind abgesehen von ihrer ausgesprochenen Idealisierung der
Männerrolle aufgrund ihrer engen Vaterbeziehung auch in den unerfüllten Wünschen der
Mutter nach einem Sohn zu suchen. Juttas Unerwünschtheit als Tochter wurde ihr von ihrer
Mutter häufig vorgehalten (vgl.1994:2;35ff). Einerseits orientiert sie sich also (besonders
1992) sehr an Jungen und deren Aktivitäten: „Ich spiele auch Fußball und seitdem bin ich
schnell, ich weiß nicht, ich hätte mal ein Junge werden sollen und das, ich weiß nicht,
nachher hat man das dann richtig gesehen, da hab ich nur mit Jungs rumgemacht, nur mit
denen zusammengewesen, nur mit Jungs.“ (1992:26;26-31). In diesen Zusammenhang paßt
auch Juttas ursprünglicher Wunsch, Kfz-Mechanikerin zu werden (vgl. 1992:9;25-29). Ihre
Schmerzverdrängung im Zusammenhang mit dem Tod des Vaters ist ebenfalls eher
jungentypisch geprägt: „Ich brauch’ da doch nicht gleich Tränen vergießen.“ (1992:14;35).
LIV
Es scheint, als wollte Jutta ein Junge sein, um den Machtkampf gegen ihre Mutter im Stil
des Vaters gewinnen zu können, indem sie sowohl auf generell männliche Eigenschaften
der Konfliktaustragung, wie z.B. Einsatz körperlicher Kräfte, als auch auf die
Rückzugstaktiken die sie bei ihrem Vater gesehen hat, zurückgreift. Andererseits schminkt
Jutta sich sehr stark, „um bei den Jungs besser anzukommen“ (1992:32;36-38). Insofern
verspürt sie Konkurrenz mit den von ihr ungelittenen Fremden und AsylbewerberInnen auf
zwei Ebenen: auf der Ebene traditionell männlicher Konkurrenz um Territorien und
(körperliche) Überlegenheit, sowie der Ebene ‘typisch weiblicher’ Selbstinszenierungen.
Dabei trägt sie diese Konkurrenz vorwiegend auf Feldern maskuliner
Auseinandersetzungsformen aus.
Ihre jugendkulturelle Orientierung scheint hinsichtlich ihres Musikgeschmacks ‘Techno’
alters- und (konsumkulturell) trendgemäß zu sein. Bedenklich ist der dieser Szene
zugeschriebene Konsum von Designerdrogen, von denen Jutta zwar Andeutungen, jedoch
keine eindeutigen Aussagen macht.
Es fällt auf, dass Jutta keine langfristigen Beziehungen im sozialen Nahraum hat. Sowohl
ihre Freundin von 1992, als auch die Clique und ihre Freunde sind nur einander
abwechselnde Bezugspunkte in ihrem Leben. Vermutlich auch aufgrund dieser
Unverbindlichkeiten in ihren sozialen Beziehungen zeigt sich bei Jutta ein deutlicher
Wunsch nach Orientierung und sei es durch Autorität, so dass sie sich sogar die von ihr in
den Schulen der ehemaligen DDR erlebte Prügelstrafe wieder zurücksehnt (1994:21;3040), aber auch der Wunsch, dass sich jemand um sie kümmert und sich (auf welche Art
auch immer) mit ihr auseinandersetzt.
3.2.2. Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Juttas Toleranzschwelle gegenüber Asylbewerbern ist niedrig. Sie erwartet von ihnen, dass
sie sich in Deutschland „wie Gäste“ benehmen, sich (sprachlich korrekt) verständigen
können und sich in Juttas ‘Revier’ zurückhalten sollen. Gegenüber Deutschen oder in
Deutschland geborenen Ausländern betont sie die Relevanz von Akzeptanz der gesamten
Persönlichkeit und möchte selbst so akzeptiert werden, wie sie ist. Sie zeigt erstmals 1994
die Tendenz, ihre Aussagen oder Handlungen reflexiv zu betrachten, allerdings mit der
Betonung auf ihre familiäre Situation (und nicht unter dem Blickwinkel ihrer
Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Nichtdeutschen): „Ich muss ziemlich viel denken
(...) Über alles, was ich falsch gemacht habe, ob ich überhaupt etwas falsch gemacht habe
(...) Über alles so, meine Familie, alles.“ (1994:56;3-13). Andererseits scheint Jutta
durchaus in der Lage zu sein, Lösungen für die Probleme Anderer zu finden, so dass ihr
durchaus empathische Fähigkeiten zuzuschreiben sind (vgl.1992:37;14-17). Außerdem ist
sie in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Dies zeigt sich in der selbständigen
Haushaltsführung, die sie während der arbeitsbedingten Abwesenheit der Mutter 1992
durchgeführt hat. Auch bei der Inobhutnahme des Neffen scheint sie der Situation
gewachsen zu sein. Diese Anforderungen und erworbenen Fähigkeiten vermitteln Jutta das
Gefühl, dass sie viele Dinge ohne fremde Hilfe schafft und tragen somit zu ihrem
Selbstwertgefühl bei, das im übrigen von ihren Machtgefühlen durch die Kompetenz zu
körperlicher Gewaltausübung stabilisiert wird.
4.
Zusammenfassung
Während Jutta sich 1992 noch nur von den Asylbewerbern in ihrem direkten Wohnumfeld
belästigt fühlt, entwickelt sie ab 1993 eine Antipathie gegenüber Asylbewerbern im
allgemeinen, die sich bis 1994 manifestiert. Auch ihre Gewaltakzeptanz und -ausübung
verschärft sich ab 1993, indem sie anfängt, diverse Kampfsportarten zu trainieren und diese
nicht nur zur Selbstverteidigung auszuüben. Jutta zeigt also von Anfang an das Bild einer
gegenüber Asylbewerbern feindlich eingestellten Jugendlichen, in deren Sprache, Denken
LV
und Handeln sich über den gesamten Zeitraum hinweg Gewaltbilligung und -ausübung
manifestieren.
Nach dem Tod des Vaters können ihre Bedürfnisse nach Geborgenheit, Zuwendung,
Akzeptanz und Anerkennung in der katastrophalen Mutter-Tochter-Beziehung nicht mehr,
oder allenfalls rudimentär Befriedigung finden. Da Jutta auch durch den erst unlängst
zurückliegenden Umzug aus den neuen Bundesländern bedingt in ihrem sozialen Nahraum
kontinuierliche und verlässliche Ansprechpartner fehlen, versucht sie den Verlust der für
sie wichtigsten Bezugsperson durch intensive, aber häufig wechselnde Freundschaften
(entweder mit verschiedenen ‘besten Freundinnen’ oder im Rahmen ihrer Clique) zu
kompensieren.
Auf dem Hintergrund dieser Lebenssituation und des gleichzeitigen Durchlebens der
Pubertät als persönlichkeitsprägenden Entwicklungszeitraum, zeigt sie sich in ihrer
geschlechtlichen Selbstdeutung irritiert. Sie beginnt, ihre seit der Zeit der Kindheit von der
Umwelt bestärkten und tolerierten ‘jungentypischen’ Seiten in Verbindung mit hoher
Aggressions- und Gewaltbereitschaft auszuleben. Jutta sieht sich in diesen sozialen
Plazierungsversuchen von männlichen Asylbewerbern bei ihren territorialen
Grenzziehungen bedroht und versucht, sich mit den erlernten, immer härter werdenden
Kampftechniken im Kampf um ihren Rangplatz, aber auch in Notwehrsituationen
(sexueller) Belästigung, denen sie sich als Mädchen gerade von Fremden ausgesetzt fühlt,
zur Wehr zu setzen. Zusätzlich reagiert sie auf die an sie gestellten Rollenerwartungen als
Mädchen mit Konkurrenzkämpfen um als weiblich stereotypisierte Ressourcen von
sozialem Prestige (gut aussehen, chic sein), in denen sie sich durch die mit dem Tod des
Familienernährers gefährdete finanzielle Versorgung geschwächt fühlt, und auf die sie mit
ausgeprägtem Sozialneid reagiert. Ihre allgemeine politische Desorientierung gibt für
solche Ausgrenzungsorientierungen insofern den Rahmen ab, als ihre Uninformiertheit
über und ihr Desinteresse an Fluchtursachen von Asylsuchenden die von ihr
vorgenommenen Vorwurfshaltungen mit ihren klaren Pauschalisierungstendenzen nicht
reflexiv zu korrigieren bzw. modifizieren gestatten.
Ihre schlechten schulischen Leistungen drohen ihr außerdem eine berufliche Perspektive zu
nehmen.
Juttas Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft sind also Phänomene, deren
Bedingungen vor allem in ihrer desolaten familiären Situation zu suchen sind.
Sollte Jutta auch zukünftig keine kontinuierlichen Unterstützungsressourcen erhalten, sei es
zu Hause, in der Schule oder im Freundeskreis, besteht die Gefahr, dass sie ihre
Unzufriedenheit gänzlich auf das Feindbild ‘Asylbewerber’ überträgt und ihre
Ungleichbehandlungsforderungen mittels ‘Faustrecht’ durchzusetzen versucht.
Johannes 1992 - 1994
„Die meisten (Asylbewerber, d.V.) kommen glaube ich aus - das sind Kurden und so und
kommen aus Indien, kommen her und sagen ‘ich Asyl kriegen, Wohnung kriegen, Geld’ und hier die meisten Leute arbeiten das Leben lang und sparen wenigstens ein Jahr lang
für’s Auto, die kommen her und sagen ‘ich brauchen Auto’, zack, schon haben sie einen
schönen BMW oder Daimler.“ (1992: 24;18 ff)
„Die meisten Ausländer, die leben schon wer weiß, wie lange hier, 10, 20 Jahre und so. Ich
meine, die haben damals schon geholfen wieder aufbauen, arbeiten hier, zahlen ihre
Steuern. Also, das mit der Arbeit wegnehmen, das sind nicht die Ausländer, sondern
meistens die Asylanten.“ (1993: 38;4 ff)
LVI
„Ja, darüber (Arbeitssuche, d.V.) bin ich schon irgendwie benachteiligt, weil dadurch, dass
die (Asylbewerber und Aussiedler, d.V.) billiger sind und alles, die wollen halt nicht soviel
haben. Die meisten Deutschen oder sonstige Ausländer, was halt schon lange hier leben,
die sind halt anspruchsvoller, weil die kennen sich besser aus, die wissen, wie sie hier zu
leben haben, weil sie mit dem Geld auskommen müssen und alles. Und die, die neu
dazukommen, die wissen ja nicht, was Sachen kosten und so. Die können sich noch kein
richtiges Bild machen.“ (1994: 47;9 ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Johannes, geb. 1979, evangelisch, lebt mit seinem Vater und seinen beiden älteren Brüdern
(1992 17 und 20 Jahre alt) in der mittelgroßen Stadt V. (ca. 50.000 Einwohner) im
Ballungsgebiet Mittlerer Neckar.
Die Familie bewohnt eine 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Brennpunktgebiet, das bereits
im Industriebereich der Stadt liegt und aus drei großen Wohnblöcken mit jeweils 20
Wohnungen besteht. Johannes besitzt ein eigenes Zimmer. Die Eltern wurden kurz vor dem
erstens Interviewtermin geschieden und lebten davor schon seit ca. einem Jahr getrennt.
Der Vater hat Hauptschulabschluss und ist als städtischer Arbeiter auf einem Friedhof tätig;
die Mutter arbeitet zunächst als Verkäuferin in einer Bäckerei, später als Bedienung in
einer Gastwirtschaft. Der mittlere Bruder beginnt nach dem Hauptschulabschluss eine
Lehre im Straßenbau, der älteste Bruder absolviert nach einer Ausbildung zum Bäcker die
Bundeswehr und arbeitet dann ebenfalls im Straßenbau.
Die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet. Johannes stehen durchgängig 50 DM
Taschengeld im Monat zur Verfügung.
Während des gesamten Erhebungszeitraums besucht er die Hauptschule des Ortes. Mit
seinem Vater ist er Mitglied im Wanderverein.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Johannes zeigt sich an aktuellen und politischen Themen im allgemeinen interessiert. 1994
würde er „gehen zur Wahl und würde auch besonders die SPD wählen“ (1994: 54;6 f), weil
Scharping in seinen Augen im Gegensatz zu Kohl „sehr viel tun (wird) für Deutschland
allgemein“ (ebd. 10). Damit weiß er sich in Übereinstimmung mit seiner Familie (vgl. ebd.
55; 6 ff).
1992 fühlt er sich den Fußballfans, Heavies, Skatern, Bundeswehrfans und Fans von
Musikgruppen zugehörig. Hooligans und national eingestellte Gruppen findet er „ganz
gut“, während er Raper und Skinheads als „Gegner“ bezeichnet (vgl. Fb. 1992).
Interessanterweise bezeichnet er sich 1993 als den vormals als „Gegner“ bezeichneten
Rapern zugehörig (und den Fußballfans, Bikern und Streetfightern) und gibt nunmehr
neben rechten Jugendlichen und Skinheads auch Heavies als „Gegner“ an. Bundeswehrfans
und Wehrsportgruppen findet er „ganz gut“ (vgl. Fb. 1993). 1994 fühlt er sich den Skatern
und Technos zugehörig; Umweltschützer, Wehrsportgruppen und Raper findet er „ganz
gut“. Als „Gegner“ bezeichnet er nach wie vor Skinheads und rechte Jugendliche und neu
Hooligans (vgl. Fb. 1994).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Johannes’ politische Ansichten sind 1992 durchsetzt von Ungleichheitsvorstellungen in
bezug auf Ausländer im allgemeinen und Asylbewerber im besonderen. Obwohl er mit
vielen ausländischen Jugendlichen ( u.a. jugoslawisch, türkisch, spanisch, iranisch, vgl.
1992: 31; 1 ff) befreundet ist und ein Gleichheitspostulat erhebt - „jeder Mensch ist ein
Ausländer“ (vgl. ebd. 23;34 ff) -, solidarisiert er sich doch in gewissem Maß mit
Gruppierungen, die fordern, alle Ausländer in ihre Heimatländer zurückzuschicken: „Ganz
LVII
ok find ich’s nicht so arg, aber es ist schon richtig, was sie meinen“ (ebd. 37;17 ff). Er
kritisiert eine angebliche Bevorzugung von Einwanderern in der Konkurrenz mit Deutschen
in bezug auf wirtschaftliche Ressourcen:
„wir suchen vielleicht schon zwei, drei Jahre lang eine Arbeit, eine Wohnung und so, die
kommen her, kriegen gleich eine Wohnung, Arbeit, nur weil’s Ausländer sind“ (ebd. 37;20
ff)
Weiterhin fühlt er sich durch kulturelle Unterschiede gerade von türkischen Nachbarn
belästigt - „grad’ die Türken mit Knoblauch und so, das stinkt dann immer durch’s ganze
Haus“ (ebd. 28;33 ff) - und sieht in der Kulturdifferenz einen Grund für mögliche
Reibungspunkte und von (türkischen) Migranten ausgehende Gewalteskalationen: „mehr
brutal, wenn du jetzt z.B. eine Türkin anmachst, dann musst du sie heiraten, wenn nicht,
dann wirst du abgestochen, das stimmt“ (ebd.38;1 ff). Zudem zeigt sich bei der
Beschreibung von spaßig gemeinten Wortgefechten, die er sich mit einem türkischen
Mitschüler liefert, dass er zumindest latent Türken bestimmte Attribuierungen zuschreibt:
„dann sag’ ich, du bist ein grüner Türke, das ist so eine Droge (...). es gibt doch den grünen
und den schwarzen Türken oder irgendwie so, das sind ja Drogen, alle Türken sind
drogensüchtig“ (ebd. 31;34 ff). Gegenüber Asylbewerbern vertritt er eine nationalistisch
anmutende Gesinnung:
„weil ich Deutscher bin, weil ich finde, dass die meisten Asylanten wieder raus sollten“
(ebd. 31;19 ff)
Dabei greift er bei seiner Begründung einerseits auf Überflutungsargumentationen - „das
meiste kommt bloß hierher“ (ebd. 24;14) - zurück, wobei Deutschland im Vergleich mit
anderen Nationen in der Rolle des ‘Lückenbüßers’ gesehen wird: „ich hab’ noch nie im
Fernsehen gehört, dass sie jetzt nach Frankreich reinkommen, nach Polen, nach Rußland
oder woanders“ (ebd.). Andererseits wirft er den Flüchtlingen eine überhöhte
Anspruchshaltung vor, die über ein Ausnutzen des Sozialstaates und damit in seinen Augen
mit dem Verstoß gegen das Leistungsprinzip zum Erfolg führt:
„die kommen her und sagen ‘ich Asyl kriegen, Wohnung kriegen, Geld’, und hier die
meisten Leute arbeiten das Leben lang und sparen wenigstens ein Jahr lang für’s Auto,
zack, schon haben sie einen schönen BMW oder Daimler“ (ebd. 24;20 ff)
In Johannes’ Zitation des ‘gebrochenen Deutsch’ scheint unterschwellig eine
grundsätzliche
rassistische
Unwertigkeitseinschätzung
dieser
Gruppierung
durchzuschimmern. Aus selbst gemachten Erfahrungen und dem Wissen „die kriegen
überhaupt keine Arbeitsplätze“ (ebd. 24;35) kombiniert er einen zwar nicht direkt
geäußerten, aber zwangsläufig aus seinen Äußerungen folgenden Kriminalitätsvorwurf:
„Kurden, die fahren auch immer mit Mountainbikes rum (...), IBM-Computer und alles
mögliche, ich möcht nicht gern wissen, woher das ist“ (ebd. 24;39 ff)
Anhand zweier Vorfälle, in denen Asylbewerber als Provokateure und Gewalttäter
erscheinen, wird ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung abgeleitet: „einmal hab’ ich
bloß mit so einem geredet, dann sind gleich seine drei Brüder gekommen und wollten mich
verschlägern (...) Silvester wurde meinem Bruder eine Leuchtkugel-Pistole ins Gesicht
gefeuert“ (ebd. 25;29 ff). Den Vorwurf, Störfaktor und Unruheherd zu sein, überträgt
Johannes aus seinem eigenen Lebensfeld auch auf den gesellschaftlichen Bereich, wobei
die Asylbewerber dann der ‘Tropfen’ sind, der das ‘Faß zum Überlaufen’ bringt: „das ist
sowieso der Fehler, das sieht man ja, was in Rostock los ist, dann haben sie eh Not und
alles, dann bringen sie da auch noch die Asylanten rein“ (ebd. 23;10 ff). Nicht zuletzt
glaubt er seine Ablehnung der Asylbewerber auch durch eine ihnen unterstellte ablehnende
Haltung ihm gegenüber auf ‘Gegenseitigkeit’ legitimieren zu können (vgl. ebd. 31;17 ff).
1993 schätzt Johannes sich selbst als „neutral“ (1993: 54;3) ein. Dennoch scheinen sich
seine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber und Aussiedler (die er z.T.
nicht als Gruppierungen differenziert, vgl. 1993: 43;11 ff). noch zu verschärfen. Neben den
bereits erwähnten Meinungen ist er der Ansicht, dass „denen doch alles in den Arsch
LVIII
geschoben“ wird (1993: 39;4 f) und fordert stärkere Kontrollen dieser Gruppierungen
hinsichtlich möglicher Leistungserschleichung durch staatliche Organe, z.B.
Wohnungskontrollen ( vgl. ebd. 15 ff). Er propagiert, dass die Grenzen „mehr dicht“
gemacht werden sollen (ebd.) und einen sukzessiven Abbau der Aufnahmequote: „die
sollten die Sache so langsam immer weiter runtersteigern und irgendwann gar nichts mehr“
(ebd. 35 ff). Zudem unterstellt er, dass die meisten „Nazis“, „Polacken“ und „Russen“ seien
(ebd. 54;11). Nach seiner eigenen Einschätzung hat sich seine Einstellung gegenüber
Ausländern aufgrund der fremdenfeindlichen Anschläge in Rostock, Mölln und Solingen
allerdings - wohl nicht ganz ohne Angst vor Gegenwehr - grundlegend geändert: „“Das
(Mölln, d.V.) hat mir gar nicht gefallen. Weil ich denke, das könnte jedem passieren. Da
könnten jetzt beispielsweise mal Türken kommen und würden bei Deutschen einen
Anschlag machen“ (ebd. 42; 34 ff). Johannes zeigt explizit keine nationalistischen
Ressentiments mehr gegenüber Ausländern: Weder zeigt er Ängste im Hinblick auf ein
mögliches ‘Aussterben’ der Deutschen - „jeder Deutsche wird irgendwann mal heiraten,
wird mal ein paar Kinder bekommen, dann sind schon wieder ein paar Deutsche da“ (ebd.
45;35 ff) - noch vor einer Vermischung der verschiedenen Völker: „Z.B. vom Deutschen
und Türken, da gibt es halt gemischt, das macht gar nichts aus“ (ebd. 46;2 f). Er betont
nunmehr die Wichtigkeit der ausländischen Arbeitskräfte (speziell der Türken) für den
Wiederaufbau Deutschlands und die gegenwärtige Wirtschaft, wobei jedoch
Ungleichheitsvorstellungen im Hinblick darauf anklingen, dass Deutschland die Ausländer
vornehmlich zur Verrichtung niederer Arbeiten benötigt:
„Ohne Ausländer könnten wir Deutschland auf gut Deutsch vergessen. (...) 90 % der
Türken haben geholfen, Deutschland überhaupt wieder richtig nach dem Krieg aufzubauen.
Die helfen wenigstens, die Ausländer. Weil ich glaube nämlich nicht, dass ein deutscher die
Courage hätte, bei der Müllabfuhr zu arbeiten. Der wäre sich viel zu fein dafür.“ (ebd.
37;17 ff)
Vor dem Hintergrund der Delegation minderwertigerer Arbeiten an Gastarbeiter läßt sich
wohl auch seine Befürchtung verstehen, dass Deutschland zur Hälfte „leer stehen“ (ebd. 33
ff) würde, wenn man die Ausländer in ihre Heimat zurückschickte. Hinsichtlich
wirtschaftlicher Ressourcen sieht Johannes nach wie vor die Deutschen sowohl gegenüber
Asylbewerbern als aber auch anderen Ausländern als benachteiligt an. Seiner Meinung
nach kommen bei der Stellenvergabe „zuerst die Asylanten, dann die normalen Ausländer
und dann erst wir Deutschen“ an die Reihe (ebd. 38; 28 ff). Darauf angesprochen, dass
Asylbewerber doch zunächst gar nicht arbeiten dürfen, erhebt er den Vorwurf: „da wird
viel Schwarzarbeit gemacht“ (ebd. 36). In seinem Bemühen, Arbeitsmigranten und
Asylbewerber in eine zu akzeptierende und eine nicht zu akzeptierende Gruppierung zu
differenzieren, solidarisiert er sich mit den Gastarbeitern, indem er sie ebenfalls als Opfer
der angenommenen Alimentierung und Anspruchshaltung der Asylsuchenden beschreibt:
„ Die meisten Ausländer, da kenne ich auch ein paar Leute, (...) da arbeitet die ganze
Familie (...), und die zahlen auch Steuern, für was? Wir zahlen die Steuern, und die
(Asylbewerber, d.V.) bekommen das. Auf gut Deutsch gesagt, wir arbeiten für die.
Sozusagen sind wir die Sklaven“ (ebd. 40; 14 ff)
Johannes befürwortet das Wahlrecht für (gastarbeitende) Ausländer, jedoch würde er ihnen
nicht unbedingt die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkennen (vgl. ebd. 45;26 ff).
Trotzalledem schwingen in vielen seiner Äußerungen noch immer Ressentiments
gegenüber Ausländern in bezug auf Kulturdifferenz - er will z.B. keine türkische oder
italienische Freundin (vgl. ebd. 46;10 ff) - oder sexuelle Konkurrenz mit - er ist z.B. der
Meinung, dass viele Ausländer eine deutsche Frau haben (vgl. ebd. 40;11).
1994 bezeichnet Johannes seine politische Einstellung als ‘links’:
„Ich bin mehr für die Ausländer als für die Rechtsradikalen. (...) Die Linken sind für
Ausländer und gegen Nazis“ (1994: 56;11 ff)
LIX
Für dieses Anliegen ist er auch bereit, aktiv zu werden: „meine ganzen Kumpels, wir
wollen uns jetzt alle T-Shirts bestellen, wo drauf steht ‘Mein Freund ist Ausländer’ oder
(...) ‘Gebt Nazis keine Chance’“ (ebd. 56;17 ff). Außerdem hat er an einer Demonstration
gegen die Republikaner teilgenommen (vgl. ebd. 55;23 f). Im Hinblick auf ein von ihm
angenommenes vermehrtes Aufkommen von Rechtsradikalismus vertritt er eine Art ‘OstImport-Theorie’: „weil gerade von der ehemaligen DDR drüben, sind viele Rechtsradikale
aus Berlin“ (ebd. 50;2 ff). Obwohl er einerseits Asylbewerber und Aussiedler nicht mehr
als Konkurrenten um einen Arbeitsplatz ansieht, weil er glaubt, dass bei der Einstellung die
individuelle Qualifikation des Bewerbers entscheidend ist (vgl. ebd. 44;35 ff), fühlt er sich
doch benachteiligt, weil er keinen Ferienjob bei der Stadtgärtnerei bekommen hat. Seiner
Ansicht nach stellt die Stadt aus Kostenspargründen lieber Aussiedler ein (vgl. ebd. 44;16
ff). Anders als in den Vorjahren wirft er Asylbewerbern und Aussiedlern aber nicht mehr
die bewußte Ausnutzung unseres Sozialstaates vor, sondern glaubt, dass diese
Gruppierungen wegen ihrer eigenen Unwissen- bzw. Unerfahrenheit selber zu
Ausgenutzten des Staates werden:
„Aussiedler oder Asylanten oder Asylbewerber, weil die es nicht so wissen, wieviel man
normalerweise verdient in dem Beruf oder so, nehmen die, die arbeiten nämlich viel, weil
sie denken, um so (mehr) sie arbeiten, um so mehr bekommen sie, und die sind halt
billiger“ (ebd. 46;34 ff)
Zudem nimmt er neben dem latenten Verweis auf den Fleiß der genannten Gruppierungen
(„die arbeiten nämlich viel“) an anderer Stelle implizit auch den vormals gemachten
Vorwurf einer zu hohen Anspruchshaltung - hier zumindest in Hinsicht auf Verdienst- und
Konsumerwartungen - zurück, indem er behauptet: „Deutsche oder sonstige Ausländer, was
halt schon lange hier leben, die sind halt anspruchsvoller“ (ebd. 47;12 f).
2.3
Gewaltakzeptanz
1992 zeigt Johannes Gewaltakzeptanz hauptsächlich im privaten, personalen Bereich.
Zudem billigt und propagiert er staatliche (Polizei-)Gewalt zur Vermeidung von
Verbrechen.
Er sieht sich selbst als Typ, bei dem „die Faust ziemlich locker sitzt“ bzw. der immer
„ausrasten“ könnte, „wenn mich einer schief anschaut“ (vgl. Fb. 1992). Dabei spielt wohl
teilweise ein Wunschdenken in Richtung idealisierter und harter Männlichkeit mit, zumal
er sich von massiveren Formen der körperlichen Auseinandersetzung distanziert: „das finde
ich auch scheiße, schon vom Fußball her, wenn sie sich nur wegen dem Fußball umbringen
und Schlägereien (...), also ich mag Gewalt nicht haben“ (1992: 38;17 ff). Der
scheinbareWiderspruch zwischen seiner Einschätzung der Hooligans als „ganz gut“ (Fb.
1992) einerseits und als „die schwierigsten Gegner“ andererseits wird anscheinend durch
die Aufspaltung in die Ablehnung von Brutalität - was wahrscheinlich auch für die
Ablehnung der Skins (Fb.) auschlaggebend ist - und die Billigung der Gesinnung aufgelöst:
„Die (Hools, d.V.) sind auch wie Nazis, sind stolz auf’s Vaterland, wollen’s Vaterland
reinhalten“ (1992: 37;3 ff). Die Ablehnung massiver Gewalt ist allerdings auch den wahrscheinlich zum Teil auf seiner eher zierlichen Körperstatur (s.u.) basierenden - eigenen
Bedürfnissen nach Unversehrtheit und Schutz geschuldet: „Da bin ich abgehauen, das war
mir zu gefährlich“ (ebd. 38;28 ff). Gemäßigteren Gewaltformen scheint er nicht abgeneigt
zu sein: „ich rauf’ mehr“ (ebd. 38;31). Dies bezieht er auf z.T. gezielt aufgesuchte und
inszenierte Cliquenauseinandersetzungen (s.u.), in denen Gewalt zum Faktor einer
attraktiven und erlebnisbetonten Freizeitunternehmung wird:
„grad’ in der Disco, da gab’s auch schon oft Schlägereien, da gehen wir hin, ja, da machen
wir ein bißchen Krawalle, Schlägerei, nur damit wir auch mal einen kleinen Spaß haben“
(ebd. 38;34 ff)
LX
Solche Konfrontationen im Freizeitbereich verharmlost er und bezeichnet sie als „Rauferei“
(ebd. 40;18). Dies scheint auch aus dem Wissen zu resultieren, dass ein entsprechendes
Verhalten in anderen Lebensbereichen negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte:
„in der Arbeit und von Berufs wegen, in der Schule, da find’ ich’s schlecht, weil wenn man
jetzt in der Arbeit nur Probleme hat und das mit der Faust regelt, das kann sein, dass er da
entlassen wird, in der Freizeit, da macht’s ja nichts aus, das ist ja Kinderstreit“ (ebd. 40;31
ff)
Im schulischen Umfeld gehört Gewalt für ihn ebenfalls durchaus zum Alltag (vgl. ebd.
41;12 ff). Da dort wohl des öfteren jüngere Schüler von älteren bedroht werden, hält er es
für legitim, ein Messer zur Verteidigung bei sich zu tragen:
„Wenn man so Waffen hat zur eigenen Verteidigung, das ist schon in Ordnung, weil wenn
jetzt so ein Großer kommt (...) mit dem Messer oder irgendwas (...), also ich selber hab’ nur
manchmal ein Messer bei mir“ (ebd. 34;26 ff)
Ähnlich stellt er auch seine in früheren Zeiten in einem Boxverein angeeigneten
Fähigkeiten in ihren defensiven Aspekten heraus: „Verteidigung, wie man sich hinstellen
muss, die Abdeckung, Schläge antäuschen“ (ebd. 42;13 ff). Gewalt hat bei Johannes also
einen wichtigen Stellenwert als Mittel, sich zur Wehr zu setzen und als Signal an andere,
sich aus Konfrontationen herauszuhalten, aber auch, um Provokationen und
‘ungerechtfertigte’ Kritik zu bekämpfen: „wir sind ja dann mehr als genug, und dann würde
ein Erwachsener auch nicht viel Chancen haben (...), wenn wir zusammen sind, dann lassen
wir uns von Erwachsenen, wenn wir uns schlägern und so, wenn uns die (andere
Jugendliche, d.V.) provoziert haben, dann lassen wir uns von denen nichts in die Schuhe
schieben“ (ebd. 39;5 ff). Das dabei anklingende Stärkeprinzip als selbstverständliche
Begründung von Gewalt kommt auch bei der schon geschilderten Bedrohungssituation
durch einen jugendlichen Asylbewerber und seine Brüder zum Tragen, in der Johannes
ebenfalls seine Brüder zur Hilfe geholt hat: „Dann sind die auch gekommen, haben extra
noch einen mitgebracht, und dann haben sie alle vier Schläge bekommen“ (ebd. 25;36).
Zudem rechtfertigt er Gewalt als Erziehungsmittel, z.B. zur ‘Umerziehung’ der Hooligans:
„irgendwas hinkriegen, damit sie nicht mehr so brutal sind, ihnen irgendwie mal eine
richtige Lektion erteilen, z.B. mal einen richtigen Stromschlag verpassen, Gehirnwäsche“
(ebd. 36;33 ff). Im Hinblick auf fremdenfeindliche Übergriffe schwingt bei Johannes trotz
seiner o.a. Ablehnung massiver Gewaltformen doch zumindest latent eine Billigung oder
Verharmlosung („halt“) der Gewalttaten mit, indem er die Motive der Täter nicht explizit
verurteilt und ihnen an anderer Stelle (s.o.) sogar teilweise Recht gibt: „Das sind ja gerad’
die Nazis, die Skinheads (in Rostock, d.V.), die wollen das halt nicht so, dass hier die
ganzen Ausländer reinkommen“ (ebd. 23;26 ff). Am Beispiel eines durch Hooligans
ausgelösten Konfliktes zeigt sich, dass er neben der geschilderten Verharmlosung („bißle“)
die eingesetzte Gewalt wohl durchaus als begründet und erfolgreich ansieht: „da haben sie
jetzt auch in der Nähe vom Neckar-Stadion viele Asylantenheime hin, und da haben auch
Hooligans (...), haben sie den Bau gestoppt, haben sie da ein bißle randaliert“ (ebd. 25;16
ff).
Johannes akzeptiert zudem direkte Gewalt staatlicher Organe zur Verbrechensbekämpfung
(vgl. ebd. 27;28 ff). Er ist der Ansicht, dass es in Deutschland ein bißchen „straffer“
zugehen sollte (vgl. Fb. 1992) und befürwortet eine stärkere Präsenz und ein härteres
Durchgreifen der Polizei (vgl. ebd. 27;16 ff). Da er die Polizei aber aufgrund einer in
seinen Augen ungerechtfertigten Behandlung seines Bruders im Rahmen einer
Bußgeldangelegenheit auch als „Halsabschneider“ (ebd. 32;11 f) begreift, würde er
persönlich auf sie nur im äußersten Notfall zurückgreifen: „höchstens, wenn’s mit
Waffengewalt geht, dann würde die Polizei höchstens noch einsetzen, aber sonst würde ich
meinem Bruder sagen, dass der das macht“ (ebd. 33;3 ff).
1993 scheint Johannes’ Gewaltakzeptanz im privaten personalen Bereich abzunehmen.
Nach eigenen Angaben versucht er, Situationen, in denen es zu (gewaltförmigen)
LXI
Normüberschreitungen kommen könnte, zu vermeiden, was ihm unter dem Einfluss seiner
Freundin, mit der er seit vier Monaten befreundet ist, auch weitgehend zu gelingen scheint:
„Ich bin halt jetzt nicht mehr so arg mit Freunden zusammen, was zu viel Scheiße bauen.
Das liegt auch daran, dass ich jetzt eine Freundin habe“ (1993: 29;15 ff)
Zwar hat er sich zu Silvester eine (Leucht- ?)Pistole gekauft, aber er hat sie aus eigenem
Antrieb seinem Vater zur Aufbewahrung anvertraut (vgl. ebd. 25 ff). Ein Messer führt er
ebenfalls nicht mehr mit sich. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass er zwei Jahre
lang die Selbstverteidigungssportart ‘Wing Tsung’ trainiert hat und sich aufgrunddessen in
der Lage sieht, sich auch ohne Waffengewalt bei Angriffen verteidigen zu können (vgl.
ebd. 30;11 ff). Um - nicht zuletzt aus kalkulatorischen Gründen - Konfrontationen zu
vermeiden, erzählt er den anderen Jugendlichen nichts von seinen speziellen Fähigkeiten:
„Da provozieren sie dich noch mehr, dass du denen was machst, und dann denken sie, ‘ach
Scheiße gut, wenn der mir jetzt eine reinhaut, zeige ich ihn an, dann bekomme ich noch
Schmerzensgeld’“ (ebd. 32;18 ff). Trotzdem kommt es auch mit seinen jetzigen Freunden
zu von ihnen aktiv provozierten gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen
Jugendlichen:
„Einfach geht man auf einen zu, rempelt ihn an, wenn er irgendwas sagt, dann hauen wir
ihm eine auf die Fresse und fertig“ (ebd. 36;6 ff)
Die ausländerfeindlichen Anschläge in Mölln, Solingen und Rostock haben ihn - wie schon
erwähnt - sehr betroffen gemacht und er distanziert sich mit dem Verweis auf die
Wichtigkeit eines Menschenlebens davon (vgl. ebd. 42;17 ff). Desgleichen bewertet er die
Gegenreaktion der jugendlichen Türken auf den Anschlag in Solingen als „übertrieben“
und „überflüssig“ (vgl. ebd. 44;28 ff). Zur Vermeidung von Ausländerfeindlichkeit hält er
den Einsatz von türkischen Polizisten für hilfreich (vgl. ebd. 45;1 ff).
Johannes Gewaltakzeptanz - respektive Reaktanz - scheint 1994 weiter abzunehmen. Er
selbst gibt an, dass er - auch aufgrund altersbedingter Reifungsprozesse - „lockerer“ (1994:
14;38) geworden sei und bei potentiellen Konflikten toleranter reagiere:
„wenn mich dann einer nur dumm angeredet hat, dann haben wir uns vielleicht eins auf die
Fresse gehauen und jetzt nicht mehr so, jetzt frage ich einfach, was das soll und rede mit
ihm. Wenn er dann Streß anfängt, dann wehre ich mich halt und fertig aus“ (ebd. 15;1 ff)
Konfliktauslöser sind für ihn aber immer noch verbale Angriffe gegen seine Familie (z.B.
„meine Mutter wäre eine Schlampe“; 1994:15;33 f) und zusätzlich ‘Anmache’ seiner
Freundin (vgl. ebd. 17;18 ff), auf die er - vermutlich resultierend aus seiner noch immer
vorhandenen Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen - gewalttätig reagiert.
Neben privaten Verwicklungen in gewalttätige Auseinandersetzungen (vgl. ebd.) scheint es
auch im Cliquenzusammenhang noch zu Normüberschreitungen zu kommen (vgl. ebd. 52;6
ff). Sein erhöhter Anpassungswillen ist vermutlich im wesentlichen auch dem Umstand
geschuldet, dass er nach eigenen Angaben des öfteren mit der Polzei zu tun hatte, wo er
sich wegen (angeblich begangener ?) Normüberschreitungen, z.B. Körperverletzung (vgl.
ebd. 17;18 ff), verantworten musste. Bei dem zuständigen Jugendsachbearbeiter war er
„sozusagen schon ein Stammkunde“ (ebd. 20;29). Neben seinem Kosten-Nutzen-Denken
im Hinblick auf negative Konsquenzen für seine Zukunft trugen auch die Verärgerung
seines Vaters und dessen Androhung von Sanktionen (vgl. ebd. 21;5 ff) und die ablehnende
Haltung seiner Freundin hinsichtlich seines Verhaltens dazu bei, dass Johannes ernsthaft
versucht, sich anzupassen:
„Meiner Freundin hat es auch nicht gefallen, wie ich gewesen bin, und dann ändert man
sich schon, und den Eltern gefällt es schließlich auch nicht, wenn man da irgendwie so
drauf ist, mit Knarre herumrennt“ (ebd. 16;13 ff)
Seine Veränderung beschreibt er mit einem gewissen Stolz:
„Damals hatte ich einen Scheiß-Charakter, weil ich mit Leuten, was mich aufgeregt haben,
geredet, ‘ach, halt doch die Fresse’ und lauter so, ‘verpiß dich doch’. So bin ich halt heute
nicht mehr (...), das sagt auch gerade die S. ( ehemalige Freundin, d.V.), (...) sie kann jetzt
LXII
sogar besser mit mir reden als damals (...). Auch Leute, mit denen ich über ein halbes Jahr,
ein Jahr keinen Kontakt mehr hatte, sogar die haben es gesagt, ich habe mich ganz schön
verändert“ (ebd. 27;24 ff)
Noch immer billigt und propagiert er staatliche (Polizei-) Gewalt und fordert unter Hinweis
auf vermehrte Drogenkriminaltät stärkere Kontrollen und höhere Strafen (vgl. ebd. 52;36
ff), was unter anderem seiner Angst vor ‘amerikanischen Verhältnissen’ und der damit
einhergehenden Bedrohung des Einzelnen geschuldet zu sein scheint (vgl. ebd. 16;19 ff).
3.
Zusammenhang der politischen Orientierung mit sozialen Erfahrungen und
Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 gibt Johannes als zentrales Problem „Ärger mit älteren Jugendlichen“ an (vgl. Fb.
1992). Dabei hat er vermutlich einerseits die erwähnten Cliquen-Auseinandersetzungen im
Blick, andererseits könnte diese Aussage das Bewußtsein seiner eigenen körperlichen
Unterlegenheit und einer damit einhergehenden eher ohnmächtigen Position in
Konfliktsituationen wiederspiegeln:
„Wenn ich so bin wie ich, dann kann’s leicht passieren, dass ich mal eine drauf kriege“
(1992: 12;36 ff)
1993 stellt seine „weitere Lebensplanung“ eine Belastung für ihn dar (vgl. Fb. 1993). Dies
scheint aus einer gewissen Unsicherheit, sich für einen Beruf zu entscheiden, zu resultieren.
Seine weitere Lebensplanung belastet ihn auch noch 1994 (vgl. Fb.). Die ihm im Vorjahr
angebotene Möglichkeit, eine KFZ-Mechanikerlehre zu absolvieren (vgl. 1993: 25;23 ff)
besteht von seiten des betreffenden Betriebes nicht mehr. Zudem nimmt Johannes an, dass
sein Hauptschulabschluss nicht besonders gut ausfallen wird, so dass er sich für ein
Berufvorbereitungsjahr angemeldet hat, um seinen Notendurchschnitt möglichst noch zu
verbessern und somit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Desweiteren gibt er
„Streß in der Nachbarschaft“ an, was vermutlich den vormals begangenen
Normüberschreitungen im Cliquenzusammenhang und seinem ‘einschlägigen’ Ruf (s.o.)
geschuldet zu sein scheint.
Die mit der Trennung der Eltern verbundene Problembelastung scheint Johannes
überwunden zu haben, zumindest äußert er diesbezüglich keinen Leidensdruck. Allerdings
zeichnet sich vermutlich als Folge der früheren elterlichen Streitereien ein Bedürfnis nach
Harmonie und Konfliktvermeidung ab (vgl. 1992: 17;32 ff und s.u.).
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Trotz der Trennung der Eltern bietet die Familie Johannes - wenngleich er auch für lange
Phasen (hauptsächlich nachmittags) auf sich allein gestellt ist - einen soliden emotionalen
und materiellen Rückhalt. Dabei erfüllen sowohl der Vater als auch die Brüder
Vorbildfunktionen (vgl. 1992: 10;27 ff und 19;29 ff) bzw. bieten sich als Gesprächs- und
Unternehmungspartner an. Auch zu der Mutter, die ihn und den Rest der Familie
regelmäßig besucht, hat er ein gutes Verhältnis (ebd. 9;20 ff). So fühlt er sich durchgängig
von beiden Elternteilen und den Brüdern akzeptiert und meint, mit ihnen über persönliche
Probleme reden zu können (außer 1993), fühlt sich bei allen Familienmitgliedern geborgen
und bekommt tatkräftige Unterstützung in Notfällen (vgl. Fb.). Insgesamt wird durch
Johannes’ Familiensituation die für Jungen eher typische Situation des Versorgtwerdens
bei gleichzeitigem Einräumen größerer Freiräume ergänzt in Richtung realer
Mitverantwortung und tätiger Mithilfe im Haushalt, so dass er bereits 1992 ein großes Maß
an Selbständigkeit besitzt und dementsprechend Anerkennung durch die Familie erfährt.
Mit den schulischen Anforderungen kommt Johannes durchgängig im großen und ganzen
zurecht, nicht zuletzt, weil er die generelle Funktion der Schule als Bildungvermittlerin und
damit als Berufsvorbereitung bejaht (vgl. 1992: 43;38 ff). 1993 verschlechtern sich seine
LXIII
Noten zunächst, doch verwendet er 1994 im Hinblick auf seinen Abschluss wieder mehr
Zeit zum Lernen, so dass sich sein Notendurchschnitt zwischen befriedigend und
ausreichend einpendelt. Obwohl er zumindest 1992 der einzige Deutsche in der Klasse ist,
scheint er sich in seiner Klassengemeinschaft wohlzufühlen (vgl. 1992: 13;11 ff).
!992 ist Johannes’ Freundeskreis analog seiner Schulsituation und seiner Wohnlage (s.u.)
hauptsächlich von ausländischen Jugendlichen geprägt. Die häufigste Gesellungsform ist
für ihn die Clique, in der auch sein bester Freund (vgl. 1992: 33;29 ff) Mitglied ist. Die
subkulturelle Ausrichtung der jungen-dominierten Clique ist homogen: „Wir sind alles bloß
Heavies“ (ebd. 35;13). Als gemeinsames Emblem haben viele Mitglieder eine Schlange
(anscheinend der Heavy-Metall-Band ‘Metallica’ entlehnt) oder auch ein Kreuz
eintätowiert (vgl. Memo). Verbindendes Muster innerhalb der Gruppe sind spannende und
riskante Aktivitäten, die sich oftmals im Bereich von Normübertretungen bzw. körperlichen
Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen bewegen (s.o.). Neue Mitglieder werden
Mutproben unterzogen (vgl. 1992: 48;40 ff). Insgesamt dient die eigene Clique als
Rückhalt und Unterstützungspotential in z.T. zu Wettkampfsituationen stilisierten
Konfrontationen (s.o.). Obwohl der Cliquen-Treffpunkt auch den „Nazis“ (ebd. 22;20) als
beliebter Aufenthaltsort dient, verneint Johannes Konflikte mit dieser Gruppe: „Wir
kommen miteinander aus - wir hören ja auch z.T. die gleiche Musik“ (Memo). 1993 hat
Johannes sich von der erwähnten Clique, die sich jetzt ‘Getto-Comben’ nennt und die er als
‘Gang’ bezeichnet, weitgehend distanziert, weil dies seiner Meinung nach zu brutal
geworden sind: „die rennen alle mit Pistolen rum“ (1993: 33;3 f). Er trifft sie noch in der
Schule. Er selbst ist jetzt Mitglied der ‘Getto-Gang’, die aus fünf bis sechs Jugendlichen
seines Alters besteht und seiner Meinung nach nicht „so viel Scheiße“ macht wie die
‘Getto-Comben’ (ebd. 34;7 ff). Als gemeinsames Emblem ist ein Fadenkreuz geplant
(ebd.). Johannes bezeichnet sich und seine Freunde nunmehr als „Raper“, zu dem er ganz
„spontan“ geworden ist, weil ihm diese Stilrichtung besser gefiel (1993: 36;22 ff). Noch
immer kommt es im Cliquenzusammenhang zu Normübertretungen (vgl. ebd. 36;6 ff). Seit
vier Monaten hat er eine mazedonische Freundin, mit der er sich gut versteht. Er meint von
ihr Akzeptanz, Geborgenheit sowie tatkräftige Unterstützung zu bekommen und kann mit
ihr über persönliche Probleme sprechen (vgl. Fb. 1993). 1994 ist Johannes mit zehn bis
fünfzehn „Kumpels“ ganz „normal“ zusammen: „Wir sind nicht irgendwie so eine Gang“
(1994: 28; 1 ff). Insgesamt scheint er nicht mehr häufig in (gewalttätige)
Normüberschreitungen verwickelt zu sein (s.o.). Die Beziehung zu seiner letztjährigen
Freundin besteht nicht mehr, er hat jetzt eine neue gleichaltrige deutsche Freundin, die die
benachbarte Realschule besucht. Auch von ihr bezieht er Akzeptanz, Geborgenheit sowie
tatkräftige Unterstützung und kann mit ihr über persönliche Probleme sprechen (vgl. Fb.
1994).
In seiner Freizeit nutzt Johannes sowohl jugendspezifische Räume (z.B. das örtliche
Jugendhaus), die von Erwachsenen betreut werden, als auch kommerzielle
Freizeiteinrichtungen. Daneben treibt er durchgängig hobbymäßig Sport. 1994 werden die
regelmäßigen Aktivitäten mit den jeweiligen Cliquen durch den Umgang mit neuen
Freunden abgelöst, wobei in der Freizeit nunmehr eine Tendenz zu Unternehmungen im
privaten Bereich abzulesen ist (z.B. Privatparties, gemeinsames Sport-Sehen im Fernsehen;
vgl. 1994: 1;29 und 8;9 ff).
Johannes Nachbarschaft und Wohnumfeld ist vom Stadtzentrum, der Schule und dem
Jugendhaus ca. einen Kilometer entfernt und liegt mitten in einem Industriegebiet. In den
drei Blöcken der Wohnanlage leben insgesamt ca. 360 Menschen, davon sind nach
Johannes Angaben nur drei Familien deutsch (1992: 28;21 ff). In direkter Nachbarschaft
existiert ein Asylbewerberheim. Einziger ‘Lichtblick’ der Anlage ist ein kleiner
Kinderspielplatz mit integriertem Bolzplatz und Tischtennisplatten. Trotz des schlechten
Rufes des Wohnviertels (vgl. 1994: 24;7 ff), fühlt Johannes sich dort durchgängig wohl
und meint, „dass man da gut leben kann“ (ebd. 28). 1992 führt er als Positivum an, dass er
LXIV
„fast alle Kinder“ dort kennt (ebd. 31;12 f). Dennoch meidet er aus Angst vor Übergriffen
bestimmte Plätze des Wohnumfeldes (vgl. 1992: 21;18 ff und 22;5 ff). Sein
Sicherheitsbedürfnis zeigt sich auch daran, dass er die Kasernen in seinem direkten
Wohnumfeld als Schutz begreift und begrüßt: „das find’ ich extra sicherer, wenn die Armee
da ist (...) wenn ein Luftangriff kommt“ (1992: 29;25 ff). Als Verbesserung wünscht er sich
eine Fahrradrennstrecke (ebd. 30;22 ff). Infolge der größeren Entfernungen entwickelt
Johannes schon 1992 eine große Mobilität ( vgl.ebd. 21;21 ff).
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Während Johannes 1992 noch angibt, „regelmäßig“ die Tagesschau zu sehen (vgl. Fb.
1992), richtet sich die Auswahl der von ihm rezipierten Medien in den Folgejahren
hauptsächlich nach deren Unterhaltungswert. In der Familie wird über aktuelle Themen
gesprochen (vgl. 1992: 15;2 ff), wobei er sich aktiv an den Gesprächen beteiligt. Dabei
vertritt er seine Meinung auch dann, wenn er sich nicht mit den Erwachsenen in
Übereinstimmung befindet (vgl. 1994: 27;12 ff). Der NS-Unterricht in der Schule
interessiert ihn weniger, weil er sich aus eigenem Antrieb mit Hilfe von Schallplatten und
Büchern über das ‘Dritte Reich’, die seinem Vater gehören, schon mit dieser
Geschichtsperiode beschäftigt hat und auch mit seinem Großvater darüber spricht, der diese
Zeit miterlebt hat (vgl. 1993: 49;33 ff). Johannes akzeptiert den von den
Nationalsozialisten begangenen Völkermord als Tatsache, jedoch gibt er die Schuld an
diesem Verbrechen nicht Hitler, sondern Göbbels (vgl. 1992: 23;4 ff). Dies korrespondiert
mit seiner eigenen - zumindest 1992 - nationalistischen Einstellung und seiner
gleichzeitigen Ablehnung massiver Gewalt. Wenn er Hitler von den Gewaltverbrechen
freispricht, kann er sich mit dessen politischen Zielen zumindest ein Stück weit
identifizieren.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Johannes besucht durchgängig das Jugendhaus des Ortes, wo er ein gerngesehener Gast ist,
weil er häufig aktiv bei anfallenden Arbeiten hilft (lt. Angabe des dortigen
Jugendarbeiters). 1993 wird er konfirmiert. Dieses Fest bedeutet ihm aus religiösen
Gründen nichts, jedoch begrüßt er es als willkommenen Anlass, die ganze Verwandtschaft
auf einmal wiedersehen zu können (vgl. 1993: 8;33 ff). 1994 nimmt er an einer
Demonstration gegen die Republikaner teil. Im Hinblick auf seine berufliche Zukunft
möchte Johannes einen möglichst guten Hauptschulabschluss machen, um die für ihn
bestmöglichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. 1994 meldet er sich für ein
Berufsvorbereitungsjahr an, um dadurch seine zu erwartenden (unter-)durchschnittlichen
Noten im Abschlusszeugnis noch zu verbessern. Wenn er keine andere Lehrstelle bekommt,
möchte er das Angebot des Chefs seines Bruders annehmen, eine Ausbildung als
Baugeräteführer bei ihm zu absolvieren (vgl. 1994: 45;11). Des weiteren will er sich für
vier Jahre bei der Bundeswehr als Pilot verpflichten, u.a. weil ihn „Fliegen und Schießen,
einfach das ganze technische Gerät“ (1994: 11;6 ff) interessieren.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Obwohl Johannes 1992 angibt, „nicht stolz“ (1992: 33;22) auf seine deutsche Nationalität
zu sein, wird anhand seiner o.a. Ungleichheitsvorstellungen und Ausgrenzungsversuche in
bezug auf Ausländer und besonders Asylbewerber sowie Aussiedler doch deutlich, dass er
Deutschland zumindest latent als kulturelle und enthnische Heimat begreift. Zudem
identifiziert er sich anscheinend mit Deutschland als Wohlstandsstaat, der durch die seiner
Meinung nach ungerechtfertigte Alimentierung und Anspruchshaltung der Asylbewerber
und Aussiedler gefährdet wird. Im Laufe des Untersuchungszeitraumes verlieren sich
LXV
zunächst seine nationalistischen Ausgrenzungsversuche im Hinblick auf Arbeitsemigranten,
allerdings nicht ohne den Hinweis auf die Bereitschaft dieser Gruppierung, auch
minderwertige Arbeiten zu verrichten (s.o.). 1994 lassen auch die Schuldzuweisungen in
Richtung Asylbewerber und Aussiedler nach. Obwohl Johannes sich in der Konkurrenz um
wirtschaftliche Ressourcen gegenüber dieser Gruppierungen noch immer im Nachteil sieht,
gibt er als Ursache für deren vermeintliche Bevorzugung deren Unwissenheit und
Anspruchslosigkeit und den Sparwillen der Stadt/des Staates an (s.o.). Sein regionaler und
lokaler Sozialraum bedingt durch die in ihm vorherrschende Bevölkerungsstruktur (s.o.),
dass Johannes in seiner Freizeit, in der Schule und Nachbarschaft hauptsächlich mit
(jugendlichen) Ausländern zusammentrifft. Dies zieht einerseits die Notwendigkeit nach
sich, sich mit diesen Menschen zu arrangieren, will er in Schule und Freizeit einen
freundschaftlichen oder zumindest friedlichen Umgang mit ihnen haben. Durch das enge
Zusammenleben wird aber vermutlich andererseits auch kulturellen Vorurteilen und
Bedrohtheitsgefühlen sowie evtl. Ver- bzw. Bedrängungs- und Überflutungsängsten
Vorschub geleistet. Die (berechtigte) Angst vor Übergriffen scheint mit ein Grund für seine
hohe Akzeptanz staatlich ausgeübter (Polizei-)Gewalt zu sein. Johannes Sozialstatus
scheint insoweit Einfluss auf seine politischen Ansichten zu haben, als er sich in seiner
Sorge um einen späteren Arbeitsplatz und der empfundenen Konkurrenz mit o.a.
Gruppierungen niederschlägt, weil er aufgrund seines Schulabschlusses später in ähnlichen
Berufsfeldern tätig sein wird wie diese. Sein geschlechtsspezifisches Verhalten scheint
über die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen wie Wehrhaftigkeit,
Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit unter Männern prägend auf seine hohe
Gewaltakzeptanz im privaten personalen Bereich zu wirken. Die jungen-dominierte Clique
wird dabei zum schützenden Rahmen, in dem aktiv aufgesuchte, bewußt inszenierte
(kollektive) gewalttätige Konfrontationen ausgelebt werden können, deren emotionalen
Höhepunkten Aspekte des Erlebens von Risiko, Abenteuer und Faszination innewohnen.
Zudem kann Johannes über die Demonstration eines entsprechenden Verhaltens
Anerkennung und Akzeptanz von seiten der Clique erhalten und bewahren. Seine zunächst
eher ‘schwächliche’ Körperstatur führt offensichtlich häufig dazu, dass er versucht, Gewalt
zu vermeiden, wenn eine potentielle Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit besteht.
Im Laufe seiner körperlichen und biographischen Entwicklung gewinnt die
partnerschaftliche Beziehung zu Mädchen für ihn an Bedeutung. Nach seinen eigenen
Aussagen scheint es u.a. dem Einfluss seiner beiden Freundinnen geschuldet zu sein, dass
seine personale Gewaltakzeptanz bis 1994 abnimmt. Zudem bewirkt seine durch
motorisierte Freunde und Brüder gewonnene Mobilität (vgl. 1993: 27;1 ff) vermutlich, dass
evtl. vorhandene Bedrohtheits- und Bedrängtheitsgefühle durch die Erweiterung seines
Wirkungsradius’ und die damit verbundene häufigere Abwesenheit vom direkten
Wohnumfeld und somit auch diesbezügliche Vorurteile über Ausländer abnehmen.
Johannes’
während
des
Erhebungszeitraumes
wechselnde
jugendkulturelle
Orientierungen (1992: Heavy, Skater; 1993: Raper; 1994: Techno, Skater) scheinen
zumindest 1992 und 1993 weniger seine politische Ausrichtung denn seine
Gewaltakzeptanz zu beeinflussen. Die oben genannten faszinierenden Aspekte von Gewalt
werden in diesem Zeitraum in den einzelnen Gruppen inszeniert und - hauptsächlich als
harmloser sportlicher Wettkampf (s.o.) empfunden - ausgelebt. Das Zugehörigkeitsgefühl
zu ‘Rapern’ und ‘Technos’, das sich bei Johannes vornehmlich im Hören der spezifischen
Musikrichtung auswirkt, zieht möglicherweise eine zunehmende Toleranz gegenüber
anderen (ausländischen) jugendkulturellen Ausrichtungen nach sich. So gestaltet sich der
gemeinsame Aufenthalt Jugendlicher verschiedener Nationalitäten und Orientierungen im
Jugendhaus ausnehmend friedlich, u.a. weil jede Gruppe wechselweise die Musik
bestimmen kann, die gespielt wird (vgl. 1994: 33;9 ff). Seine Beziehungen im sozialen
Nahraum beeinflussen seine politischen Ansichten vermutlich in unterschiedlicher Weise.
Während seine ausländischen Freunde wahrscheinlich dazu beitragen, dass er Ausländer ab
LXVI
1993 vornehmlich als Stützen der deutschen Wirtschaft begreift, scheinen familiäre
Einflüsse von Vater und Großvater (s.o. und u.) in seiner Beurteilung des ‘Dritten Reiches’
und zusätzlich von den jeweiligen Freundinnen (s.o.) in der Forderung nach mehr
Anpassung an Normalitätsstandards zu greifen. Zudem beeinflusst ihn sein Vater
anscheinend zumindest latent in seinen Ansichten über Asylbewerber:
„Gegen Ausländer ist mein Vater nicht so arg, mehr gegen Scheinasylanten“ (1993: 43;11
f)
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Johannes’ Toleranz gegenüber Ausländern allgemein und Aussiedlern und Asylbewerbern
im besonderen nimmt bis 1994 allmählich zu. Bereits 1993 fordert er keine generelle
Ausweisung von Ausländern aus nationalistischen Gründen mehr, sondern begreift
Arbeitsemigranten viel mehr als unerläßliche Stütze der deutschen Wirtschaft (s.o.). Auch
im Hinblick auf Asylbewerber und Aussiedler zeigt er 1994 Toleranz, gepaart mit
Emphatie. Noch immer empfindet er diese Gruppierungen als Konkurrenz um
wirtschaftliche Ressourcen, jedoch erhebt er keine direkten Schuldzuweisungen mehr in
ihre Richtung, sondern sieht die Gründe für die von ihm subjektiv wahrgenommene
Bevorzugung dieser Gruppierungen eher in ihrer Unwissenheit und Anspruchslosigkeit
(s.o.). Auch im familiären Bereich erweist er sich als einfühlsam. So zeigt er sich eher stolz
auf seine Selbständigkeit im Haushalt, deren Notwendigkeit er auch in einer Entlastung des
berufstätigen Vaters sieht (vgl. 1992: 6;24 ff). Johannes’ Reflexionsvermögen in der
Beurteilung gesellschaftlicher und politischer Phänomene sowie eigener vormaliger
Verhaltensweisen scheint bis 1994 zuzunehmen (s.o). Besonders aktuelle (außen)politische Geschehnisse reflektiert er anscheinend unter dem Einfluss des Großvaters, der
angesichts der zunehmenden Verschärfung kriegerischer Auseinandersetzungen im Ausland
im Gegensatz zu früher nicht mehr gerne über die NS-Zeit spricht, wobei ihm die
wahrgenommene Parallelität zur Gegenwart Angst vor der Zukunft zu machen scheint:
„Jetzt, da, wo er (der Großvater, d.V.) sowieso gerade sieht, ja, ist hier überall Krieg und
so, das macht ihn eher ein bißchen nachdenklich, (...) das hat angefangen mit dem
Golfkrieg, jetzt geht es los unten in Ex-Jugoslawien (...), jetzt fängt es an in Rußland. Jetzt
muss man sich sowieso erstmal Gedanken machen, was passiert jetzt in den nächsten
Jahren, vielleicht passiert hier das Gleiche, vielleicht bricht hier auch noch ein Krieg aus,
man sieht ja gerade hier, jetzt fängt es wieder an damit, Asylbewerberheime angezündet
(...), so viele Rechtsradikale“ (1994: 43;13 ff)
Ein Anzeichen dafür, dass diese Ängste für ihn sehr real sind, ist seine positive Bewertung
der Kasernen in seiner Nachbarschaft, die ihn vor evtl. „Luftangriffen“ schützen können
(vgl. 1992: 29;25 ff). Nicht eindeutig ersichtlich wird, inwieweit z.B. die zunehmende
Abkehr von Gewalttätigkeit aus einer aus Erfahrung gewonnenen Einsicht oder aus reinem
Kosten-Nutzen-Kalkül hinsichtlich der Vermeidung negativer Konsequenzen von seiten
seines Vaters, der jeweiligen Freundinnen, der Polizei und im Hinblick auf seine schulische
und berufliche Zukunft erwächst. So besteht bei ihm auch 1994 eine relativ unreflektierte
Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen, die ihn z.B. auf verbale Angriffe in
bezug auf seine Familie und seine Freundin gewalttätig reagieren lassen, wahrscheinlich
weil er sich in seiner ‘Ehre’ verletzt fühlt (vgl. 1994: 15;19 ff). Seine Fähigkeit, Konflikte
verbal auszutragen, scheint stark von dem Miterleben der Streitigkeiten der Eltern vor
deren Trennung beeinflusst zu sein. Johannes versucht zumindest im fämiliären Rahmen,
einem Streit (mit Ausnahme der im Cliquenzusammenhang inszenierten kollektiven
gewalttätigen ‘Wettkämpfe’ und Reaktionen bei vermeintlichen Übergriffen auf seine
Person bzw. seine ‘Ehre’) eher aus dem Weg zu gehen und ihn womöglich durch die
Anwendung bestimmter Strategien zu beenden:
“Die (Eltern, d.V.) haben sich gestritten, dann bin ich weggeblieben, hab’ mich ins Zimmer
gesetzt und hab’ irgendwas gemacht, gespielt, gemalt oder hab’ Musik gehört und hab’ sie
LXVII
richtig laut gemacht, damit die reinkommen und mich anschreien müssen, damit sie dann
aufhören, so mach’ ich’s heute ab und zu, weil wenn sie dann mit meinem Bruder streiten
ein bißchen, mal einen kurzen Krach haben, und dann kommt mein Vater meistens rein und
sagt, ‘mach’ die Musik leiser’, und in der Zeit kann sich mein Bruder gut verkrümeln“
(1992; 8;35 ff)
Johannes ist bereit, Verantwortung für sich (z.B. Schule) und andere zu übernehmen.
Schon 1992 übernimmt er bereitwillig anliegende Pflichten im Haushalt, und 1994 nimmt
er u.a. an einer Demonstration gegen die Republikaner teil, um seinen politischen
Ansichten Nachdruck zu verleihen. Auch hier stellt als Begründung seiner Ablehnung
dieser Partei einen historischen Bezug her:
„wenn die jetzt z.B. an die Macht kommen würden, dann fängt es genauso wieder an wie
früher, (...) die sind ja gegen Ausländer und alles. Das sind ja sozusagen Rechtsradikale in
meinen Augen, genauso wie damals die rechtsradikalen Gruppen, wie sie alle heißen,
NSDAP, (...) das sind genau die gleichen, dann fängt es wieder so an wie früher“ (1994:
55;32 ff)
Obwohl zumindest 1992 und 1993 seine ‘zarte’ Körperstatur und geringe Größe in keiner
Weise seinen Idealvorstellungen entspricht und er gewalthaltige Situationen aus Angst vor
Verletzungen eher meiden muss, zeigt Johannes schon zu Beginn der Befragung ein starkes
Selbstbewußtsein. Dies basiert zum einen zunehmend auf dem Vertrauen in die eigenen
Fähigkeiten, sein Leben selbst aktiv gestalten und zu bestimmten Einsichten stehen zu
können (er spricht sich z.B. gegen Alkohol- und Drogenmißbrauch aus), zum anderen auf
der Anerkennung und zunehmenden Akzeptanz als ‘Fast-Erwachsener’, die ihm von seiten
der Eltern u.a. aufgrund seiner großen Selbständigkeit in der Erledigung häuslicher
Pflichten zuteil wird. Darüber hinaus gewinnt er zunächst über die Demonstration
‘männlicher’ Verhaltensweisen wie Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben) Anerkennung
durch die Mitglieder seiner jeweiligen Cliquen und durch die sukzessive Zugehörigkeit zu
verschiedenen jugendkulturellen Gruppierungen ein gewisses Maß an Identität. Ab 1994
scheint er eher durch die Abkehr von eben diesem Verhalten Akzeptanz von seiner
Freundin, seinem Vater und ehemaligen Freunden, die sich von ihm ferngehalten hatten, zu
gewinnen.
4.
Zusammenfassung
Johannes zeigt sich als ein Junge, dessen - vermutlich durch das, aufgrund der spezifischen
Bevölkerungsstruktur seines Wohnumfeldes verursachte, fast ausschließliche
Zusammentreffen mit (jugendlichen) Ausländern in Freizeit, Nachbarschaft und Schule
bedingte - zahlreiche Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer im allgemeinen
sowie Asylbewerber und Aussiedler im besonderen von 1992 bis 1994 allmählich
abnehmen bzw. differenzierter werden, was u.a. dem Einfluss seiner ausländischen Freunde
und einer steigenden Mobilität geschuldet zu sein scheint, die ihm erlaubt, zunehmend über
sein engeres Wohnumfeld hinaus zu agieren und somit nicht mehr so häufig wie vormals in
alltäglichen Situationen mit Ausländern zusammenzutreffen. Auch seine anfänglich hohe
personale Gewaltakzeptanz im privaten Bereich, die anscheinend hauptsächlich aus einer
Orientierung an traditionellen, ‘harten’ Männlichkeitsidealen resultiert, läßt bis 1994
zumindest leicht nach, wahrscheinlich hauptsächlich aus kalkulatorischen Beweggründen
im Hinblick auf seine schulische und berufliche Zukunft und seine Reputation bei seinen
Eltern, seiner Freundin und seinen aktuellen Freunden, die seinen zunehmenden
Anpassungswillen positiv verstärken. Johannes’ großes Sicherheitsbedürfnis, das
anfänglich aufgrund seiner eher ‘schmächtigen’ Körperstatur aus Angst vor körperlichen
Übergriffen und ernsthaften Verletzungen, später aus der Angst vor Kriminalität respektive „amerikanischen Verhältnissen“ (vgl. 1994: 16;19 ff) - zu resultieren scheint,
begünstigt eine relativ gleichbleibende Billigung und Propagierung staatlicher (Polizei)Gewalt. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist wohl auch mit ursächlich dafür, dass Johannes
LXVIII
zwar (zumindest anfänglich) die im Cliquenzusammenhang aktiv aufgesuchten, bewußt
inszenierten Gewaltsituationen, in denen er über die Demonstration männlichen
Machtverhaltens Anerkennung von seiten der Freunde erlangen und Momente von Risiko,
Abenteuer und Spannung erleben kann, normalisiert und als harmlosen, fairen Wettkampf
unter Gleichgesinnten gutheißt, sich jedoch von kollektiven Gewaltdemonstrationen (z.B.
fremdenfeindlichen Anschlägen, Hooligans) im allgemeinen distanziert. Ein KostenNutzen-Kalkül zeigt sich in seiner Differenzierung zwischen privatem Gewaltverhalten, das
er verharmlosend als „Kinderstreit“ (1992: 40;31) bezeichnet, und Gewalttätigkeit im
schulischen und beruflichen Umfeld, von der er sich distanziert, weil sie negative
Konsequenzen für den Betroffenen nach sich ziehen könnte. Johannes’
Zukunftsorientierung und dem damit verbundenen Wille, einen möglichst akzeptablen
Schulabschluss zu machen und eine gute Lehrstelle zu bekommen, der Angst vor
Sanktionen seines Vaters sowie der Zurückweisung durch seine Freundin und nicht zuletzt
seiner nach eigener Einschätzung persönlichen Entwicklung (vgl. 1994: 14;38) scheint es
geschuldet zu sein, dass er sich 1994 aktiv um Anpassung bemüht.
Johannes’ 1992 eher nationalistische Einstellung gegenüber Ausländern (die vermutlich
von seiner intensiven Beschäftigung mit der NS-Politik mitbeeinflusst ist) und seine
Vorurteile im Hinblick auf Kulturdifferenz sind vermutlich hauptsächlich auf den Umstand
zurückzuführen, dass er in seinem direkten Wohnumfeld und seiner alltäglichen
Lebenswelt fast ausschließlich mit (jugendlichen) Ausländern zusammentrifft.
Möglicherweise entwickelt er aufgrunddessen Ängste im Hinblick auf Be- bzw.
Verdrängung und Überflutung des eigenen Sozialraumes bzw. Heimatlandes. Andererseits
scheinen aber die freundschaftlichen Kontakte mit Ausländern sowie eine wachsende
Mobilität (s.o.) - und womöglich auch die Anerkennung der Leistungen von ausländischen
Arbeitnehmern bei der Schaffung des deutschen ‘Wirtschaftswunders’ - in der Folgezeit zu
einem Abbau seiner diesbezüglichen Ungleichheitsvorstellungen zu führen. Die Betonung
der Wichtigkeit der Ausländer für die Wirtschaft Deutschlands ist aber durchzogen von
seinem eigenen Wohlstandsanspruch, der gefährdet werden könnte, wenn die Möglichkeit
einer Delegation minderwertigerer Arbeiten an Ausländer nicht mehr gegeben wäre.
Ebenso basieren seine Vorwürfe in Richtung Asylbewerber und Aussiedler anscheinend auf
diesem Wohlstandsanspruch einhergehend mit Neid auf die angebliche (womöglich mit
illegalen Mitteln erreichte) Wohlstandssituation dieser Gruppierungen und dem Empfinden,
in der Konkurrenz um wirtschaftliche Ressourcen ihnen gegenüber benachteiligt zu sein.
Möglicherweise ist zumindest 1992 der Kontakt zu der Gruppe von ‘Nazis’, die ebenfalls
den Treffpunkt der Clique aufsucht, auch enger als Johannes angibt, so dass von dieser
Seite eine Beeinflussung seiner Ansichten über Asylbewerber denkbar wäre. Die
zunehmende Relativierung seiner Vorurteile in bezug auf Asylbewerber und Aussiedler
scheint in einer Zunahme seines Reflexionsvermögens - das zumindest auch aus seinen
Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Angehörigen dieser Gruppierungen während eines
Praktikums in der Stadtgärtnerei und diesbezüglichem Erfahrungsaustausch mit seinem
Vater und näheren Bekannten, die ebenfalls dort tätig sind, (vgl. 1994: 44;1 ff) resultiert begründet zu sein, mit dessen Hilfe er die tatsächliche Situation dieser Gruppierungen in
Deutschland besser durchschauen und verstehen kann.
Larissa 1992 -1994
"Einfach nicht mehr so viele Asylanten reinlassen, weil die haben sich das alles selber
eingebrockt. Wenn sie dann Asyl wollen bei uns, dann sollen sie halt nicht so viel Scheiße
bauen in dem Land." (1992: 33;6-10)
LXIX
"Jetzt habe ich nichts mehr gegen Ausländer, weil ich akzeptiere jetzt die Menschen, so wie
sie sind" (1993: 35;5-6); "Was würden wir ohne Ausländer machen? Die Dreckarbeit würde
bestimmt kein Deutscher machen." (1993: 38;31-33)
"Wir sind nun mal alle auf einer Welt und müssen versuchen, mit den Leuten einfach klar
zu kommen. Das geht nicht mit Gewalt, das kann man mit Reden versuchen." (1994: 2; 810)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Larissa, geb. 1979, evangelisch, lebt mit ihren Eltern in einer mittelgroßen Stadt in
Süddeutschland.
Die Familie bewohnt ein Reihenhaus in einem ruhigen Randgebiet der Stadt. Larissa hat
ein eigenes Zimmer; ihre Schwester, die 1992 20 Jahre alt ist, ist 1990 ausgezogen, wohnt
aber in der Nähe.
Die Eltern Larissas haben beide Hauptschulabschluss. Der Vater ist Koch; die Mutter, eine
ausgebildete Friseurin, arbeitet nachmittags als Verkäuferin.
Die Familie lebt in materiell gesicherten Verhältnissen. Larissa besitzt ein eigenes FarbTV, einen Videorecorder und eine Stereoanlage. Als Haustier gehört ihr ein Hamster, um
dessen Versorgung sie sich allein kümmert. 1992 stehen ihr 35 DM Taschengeld zur
Verfügung; in den folgenden 2 Jahren erhöht sich der Betrag erst auf 45 DM und
schließlich auf 60 DM monatlich. Wenn diese finanzielle Zuwendung nicht ausreicht,
bekommt Larissa von ihren Eltern, meist von der Mutter, einen Nachschlag.
Über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg besucht sie eine Realschule im Wohnort.
2.
Politische Orientierung
2.1.
Allgemeine Orientierung
Larissa zeigt sich an aktuellen und politischen Themen im allgemeinen wenig interessiert.
Lediglich zu Asylfragen nimmt sie 1992 Stellung (vgl.2.2). 1994 könnte sie sich vorstellen,
bei einer Tierschutzorganisation mitzuarbeiten (1994: 11;32) und stuft "Umweltthemen" als
prinzipiell für Jugendliche interessantes politisches Betätigungsfeld ein (1994: 11;19).
Wenn sie wählen dürfte, würde sie nun die SPD wählen (vgl. 1994: 11;35-38).
1992 fühlt sie sich den Skinheads zugehörig, Heavy-Fans und Hooligans findet sie "ganz
gut", während sie Punker, Rocker und Grufties nicht "so gut leiden" kann (vgl. Fb. 1992).
Interessanterweise rechnet sie Skinheads 1993 zu den Gruppierungen, die sie nicht
akzeptiert. Dazu gehören auch neben Heavys Skater, Raper, Biker, Bundeswehrfans und
Rockern, rechte Jugendliche, Hooligans, Grufties, Streetfighter, Wehrsportgruppen und
deutschnationale Gruppen. Sie rechnet sich nun keiner Gruppe mehr zu, findet aber
Fußballfans "ganz gut" (vgl. Fb. 1993). 1994 gibt sie an, nach wie vor Skinheads, rechte
Jugendliche und Hooligans nicht "so gut leiden" zu können. Alle anderen Gruppierungen
sind ihr "ziemlich egal" (vgl. Fb. 1994). Sich selbst bezeichnet sie als "neutral, weder
rechts noch links" (1994: 19;15ff)
2.2.
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Larissa weist über den gesamten Erhebungszeitraum Ungleichheitsvorstellungen
Asylbewerbern gegenüber auf, die sie im Verlauf der Erhebung jedoch abschwächt. In
Zusammenhang damit steht sicherlich, dass sie sich nach der ersten Erhebung von der
rechtsextremen Clique, in der sie mit ihren Freundinnen zusammen - sie bezeichnen sich
als Reenee (vgl. 1992: 29;19) - quasi eine Untergruppe innerhalb der Clique bildet, ablöst
und ihre Ansichten mit zunehmendem Alter und zunehmender Reflexivität revidiert
(vgl.3.2.2).
LXX
1992 äußert sie Ungleichheitsvorstellungen gegenüber sogenannten Gastarbeitern, die sie
immer von der Gruppe der Asylbewerber absetzt, relativ unverbrämt. Sie argumentiert mit
kultureller Unverträglichkeit, mangelnder Anpassung, sexuellen Übergriffen durch
‘Ausländer’ und dem übersteigertem Geltungsdrang nichtdeutscher Mitbürger, um ihre
xenophobe Haltung zu legitimieren. In den folgenden Erhebungszeiträumen postuliert sie
vordergründig die Gleichheit aller Menschen, Kulturen, Nationalitäten und Ethnien. Es
finden sich aber noch Reste ihrer früheren Ungleichheitsvorstellungen, vor allem in ihrer
Darlegung des ‘Nützlichkeitsaspektes’ nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen innerhalb
deutscher Berufs- und Arbeitsstrukturen.
Larissa weist 1992 Ungleichheitsvorstellungen vor allem in Bezug auf Asylbewerber auf:
"also ich hab persönlich eigentlich nur was gegen die Asylanten, weil, also ich find `s nicht
gut, dass die dann alle zu uns kommen." (1992: 28;12-15)
Mit Asylbewerbern verbindet sie vor allem Themen wie Kriminalität und sexuelle
Übergriffe auf Frauen:
"dass halt dann mal eingebrochen wird und so, das ist dann schon vorprogrammiert, das
kann man schon sagen. Und dass man dann halt auch nicht mehr sicher ist auf der Straß` als
Mädle." (1992: 28;27-30)
Sie berichtet allerdings im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen nicht von
persönlichen Erfahrungen. Den in Deutschland lebenden Asylbewerbern wirft sie zudem
Überheblichkeit und mangelnden Anpassungswillen vor:
"Ich weiß nicht, aber die bilden sich manchmal ein, sie seien die Größten in unserem Land
und was weiß ich was, und das find` ich echt zum Kotzen, weil die sind ja eigentlich nur
Gast." (1992: 32;37-39) "Wenn sie dann Asyl wollen bei uns, dann sollen sie halt nicht so
viel Scheiße bauen in dem Land (Deutschland d.V.)." (1992: 33;8-9)
Sie führt hier auch die quasi moralische Verfehlung der Asylbewerber an, die ihrer Ansicht
nach das gewährte Gastrecht missachten und ihre Abschiebung selbst provozieren:
"Weil die sind ja eigentlich nur Gast und dann tun sie sich manchmal solche Sachen
erlauben, zum Beispiel aus dem Kaufhaus irgendwas rausklauen oder so, also dann
wundern sie sich noch, wenn sie abgeschoben werden." (1992: 32;40 ähnlich: 33;1-3)
Larissa fordert einen Zuzugsstopp für Asylbewerber und legitimiert diese Forderung mit
dem Hinweis auf die ihrer Meinung nach selbstverschuldeten politischen und
wirtschaftlichen Konflikten und Problemen in den Herkunftsländern der Asylbewerber:
"Einfach nicht mehr so viele Asylanten reinlassen, weil die haben sich das alles selber
eingebrockt." (1992: 33;6-8)
Von verschärften Gesetzen zur Eindämmung des Asylbewerberzuzugs und von größerer
Polizeipräsenz verspricht sie sich jedoch nur eingeschränkte Problemlösungsmöglichkeiten,
da ihr die ‘Überflutung’ Deutschlands mit "Asylanten" ziemlich unaufhaltsam erscheint.
Auf denkbare gesetzliche Wege angesprochen bemerkt sie:
"Ein Weg eigentlich nicht, weil sie setzen sich halt immer durch, aber das ist wenigstens
mal ein Anfang." (1992: 33;22-24)
In Bezug auf andere Nichtdeutsche äußert Larissa ebenfalls Ungleichheitsvorstellungen,
wenn sie auch zuerst bestimmte Nationalitäten davon ausnimmt:
"aber sonst, gegen die Türken und die Italiener und so, hab ich eigentlich gar nichts so
besonderes, nur grad gegen die Polen und Russen und so." (1992: 28;15-18)
Sie könnte sich aber aufgrund kultureller Unterschiede nicht vorstellen, einen
‘ausländischen’ Freund zu haben:
"Eigentlich nicht, weil die haben ja auch andere Sitten und Gebräuche und was weiß ich
was. Ich kann` s mir auch nicht vorstellen, mit einem Türken zu gehen, weil der tät` ja den
ganzen Tag immer nach Knoblauch und so stinken." (1992: 36;18-22)
Durch dieses kulturelle Differenzverhalten, das sie den Nichtdeutschen unterstellt aber
selbst noch nicht erfahren hat, fühlt sich Larissa auch als Frau gekränkt - "die fummeln
LXXI
einem am Arsch rum und sonst noch was, so eine richtig blöde Anmache halt" (1992: 39;78) - und lehnt das ‘Machogehabe’ ab:
"Grad` die Italiener und so, die wollen eigentlich nur ein Mädle für` s Bett." (1992: 34;40
u. ähnlich 35;1)
Sie fordert von Nichtdeutschen generell Anpassung an ihr Gastland und das Bewusstsein
für territorial bedingte Rangunterschiede:
"Also wenn ich kein Deutscher wäre und trotzdem in Deutschland leben würde, dann
würde ich mich zurückhalten und nicht so, irgendwie so großkotzig wär. Weil wenn man in
seinem eigenen Land geboren ist und wenn ich also deutsche Staatsangehörigkeit hab`,
dann kann man sich halt schon mehr rausnehmen als die anderen." (1992: 35;40; vgl. auch:
36;1-7)
1993 propagiert Larissa einerseits die Gleichwertigkeit aller Nationalitäten und Ethnien:
"Jeder Mensch ist irgendwie gleich, ganz egal welche Hautfarbe man hat. Jeder Mensch hat
irgendwie seinen eigenen Stil. Man soll niemandem einreden, nur weil du schwarz bist, bist
du ein Dreck." (1993: 35;19-23),
Die vorher behauptete Verantwortlichkeit der nichtdeutschen Mitbürger für die hohe
Kriminalitätsrate verneint sie nun, da ihrer Meinung nach Deutsche und Nichtdeutsche
gleich delinquent sind (vgl.1993: 52;25-33).
Bezüglich der sexuellen Belästigung durch Ausländer revidiert sie ihre Meinung
dahingehend, dass sie angibt, durch deutsche Männer in gleichem Maß wie durch
Nichtdeutsche "blöde Anmache" zu erleben:
"Die blöde Anmache meistens, gerade wenn man über den Bahnhof läuft, oder so und
abends alleine, dann kommen sie meistens, ‘oh, süße Dame’ und so, aber das ist bei den
Deutschen genau das gleiche." (1993: 38;22-25).
Sie befürwortet jetzt die doppelte Staatsbürgerschaft für Nichtdeutsche, von der sie "zwar
noch nichts gehört (hat), aber ich finde das okay." (1993: 36;39-40)
Andererseits stellt sie sich eine Freundschaft mit einem ‘Ausländer’ weiterhin aufgrund der
kulturellen Differenzen als "schwierig" (1993: 38;5) vor:
"Gerade so türkisch, ich weiß nicht, gerade wenn ich dann verheiratet wäre und ich müsste
ein Kopftuch tragen oder so etwas, das wäre nichts für mich." (1993: 38;15-18)
Konkret auf positive Aspekte der multikulturellen Gesellschaft angesprochen, betont sie die
Bedeutung nichtdeutscher Arbeitskräfte für bestimmte Arbeitsbereiche in der "Industrie"
(1993: 38;31), wobei jedoch Ungleichheitsvorstellungen im Hinblick darauf anklingen,
dass Nichtdeutsche vornehmlich in minderen Tätigkeitsbereichen eingesetzt werden:
"Was würden wir ohne Ausländer machen? Die Dreckarbeit, die würde bestimmt kein
Deutscher machen." (1993: 38;31-33)
Im Zusammenhang mit Asylbewerbern, vertritt sie die Meinung, dass asylberechtigt ist, wer
"wirklich staatlich verfolgt ist, oder auch wenn irgend so ein Krieg ist" (1993: 39;8-9).
Sogenannten ‘Wirtschaftsflüchtlingen’ sollte laut Larissa Deutschland im Hinblick auf die
erhöhte Konkurrenz am Arbeitsmarkt keine Unterstützung gewähren, um eine
Benachteiligung deutscher Arbeitskräfte zu vermeiden: "Weil wir haben nämlich selber
genug Arbeitslose, so denke ich mir das mal." (1992: 39;14-15)
Ihre Ungleichheitsvorstellungen in Bezug auf Asylbewerber zeigen sich auch in ihrer
Vorstellung von zu leistender Integration dieser Gruppierung:
"Da ist so eine Kaserne und da sind Asylbewerber drin. Ich persönlich habe da nichts
dagegen, so lange sie da unten bleiben." (1993: 39;3-5)
1994 hat sich Larissas Einstellung Nichtdeutschen gegenüber nicht geändert. Sie kann sich
nach wie vor ein relativ unproblematisches Miteinander unterschiedlich kulturell geprägter
Menschen vorstellen und sieht darin kein Problem (vgl. 1994: 12;11-12):
"Ich denk jeder Mensch hat seine eigene Kultur, wenn es niemand stört, denk ich, kann
doch jeder seine eigene Kultur verbreiten." (1994: 12;9-10)
LXXII
Sie selbst hat außerhalb der Schule keine Kontakte zu nichtdeutschen Jugendlichen (vgl.
1994: 12;17-18)
Als relevant für das gemeinsame Zusammenleben betrachtet sie nach wie vor, dass
Nichtdeutsche bereit sind, sich den Modalitäten ihres Gastlandes anzupassen, wobei sie in
Betracht zieht, dass trotzdem die eigene Identität gewahrt bleiben sollte:
"Man muss sich halt auch an die Menschen anpassen. Also an die Kultur. Wenn ich da
einfach hin geh` und sag, Leute, ich bin die und die und ich will von euch respektiert
werden, aber ich habe meinen eigenen Lebensstil. Ich muss halt versuchen, so gut wie es
geht, meine eigene Persönlichkeit beizubehalten, aber auch ein bißle von der Kultur von
dem Land mitzukriegen." (1994: 14;3-7)
In Bezug auf Asylbewerber weist Larissa auch 1994 noch Ungleichheitsvorstellungen auf,
die jedoch weniger pauschal erscheinen. Sie anerkennt die Asylbedürftigkeit der "wirklich"
Verfolgten, lehnt "Scheinheilige" jedoch nach wie vor ab:
"Ich denk mal, die die wirklich verfolgt werden, denen sollte man Asyl geben, aber
denjenigen die so scheinheilig tun, wo so tun als werden sie verfolgt, wo es aber gar nicht
stimmt. Wo also bloß aus dem Land raus wollen, weil es in Deutschland scheinbar so viele
Arbeitsplätze gibt." (1994: 16;28-32)
Dazu gehören für sie auch sogenannte ‘Wirtschaftsflüchtlinge’, die in ihrer Heimat
massiver Verelendung ausgesetzt sind. Zuständig für deren Problematik ist laut Larissa die
"Entwicklungshilfe" (1994: 16;38). Ihr scheint es also wichtig zu sein, dass
Zuwanderungstendenzen ‘vor Ort’ unterbunden werden, da sie Asylbewerber nach wie vor
als Konkurrenten am Arbeitsmarkt wahrnimmt.
2.3.
Gewaltakzeptanz
1992 berichtet Larissa kurz von einer "Schlägerei" zwischen Mitgliedern ihrer Clique und
"ein paar Türken", an der sie allerdings selbst nicht beteiligt war:
"Also bei mir ist das (Schlägerei d.V.) noch nicht vorgekommen, also bei mir und bei der
J.(Freundin), aber bei der S. ist das schon mal vorgekommen, dass sie dann mit ein paar
Türken eine Schlägerei angefangen hat." (1992: 30;23-26)
Weitere Angaben zum Hergang der gewalthaltigen Auseinandersetzung macht sie nicht. Sie
erwähnt in diesem Zusammenhang allerdings, dass sie aufgrund der zu befürchtenden
Sanktionen, von solchen ‘Aktionen’ Abstand nimmt:
"Nein, ich halt mich dann halt immer zurück, weil ich möchte nicht unbedingt eine Anzeige
wegen was weiß ich was kriegen." (1992: 30;38-40)
Sie wendet selbst keine Gewalt an, wenn man von ‘Keilereien’ mit ihrer älteren Schwester
absieht (vgl. 1992: 12;17-20), scheint aber die Faszination von Gewaltakten und
gewalthaltigen Auseinandersetzungen nachvollziehen zu können:
F: "Könnten die Jungs aus der Clique sich dann vorstellen, dass sie da jetzt auch hinfahren
(gemeint sind die Ausschreitungen in Rostock d.V.), wenn sie jetzt grad schulfrei hätten?"
L: "Ich glaub schon, dass es die fuchst irgendwie." F: "Was denkst du, was das ist, das sie
fuchst?" L: "Wahrscheinlich die Randale und auch dabei sein, sich groß fühlen, was weiß
ich was." (1992: 32;25-31)
Ihre Gewaltakzeptanz zeigt sich in ihrer gänzlich fehlenden Empathie mit den Opfern
dieser Ausschreitungen und ihrer Legitimation von Gewaltanwendung gegenüber
Asylbewerbern:
F: "Ja wenn du so überlegst, kriegst du da nicht manchmal Mitleid mit den Leuten, die da
vielleicht drunter leiden müssen?" L: "Nein." F: "Wieso nicht?" L: "Ich weiß nicht, aber die
bilden sich manchmal ein, sie seien die größten in unserem Land und das find ich echt zum
Kotzen." (1992: 32; 32-39)
Indem sie das schuldhafte Verhalten allein bei den Opfern konstatiert, stellt sie die
ausgeübte Gewalt als gerechtfertigte und logische Folge solchen Verhaltens dar und
entlastet damit die Täter, mit denen sie sich wohl aufgrund der politischen Ausrichtung
LXXIII
verbunden zu fühlen scheint. Diese Haltung gegenüber Gewaltanwendung gegen
Asylbewerber wird auch innerhalb Larissas Familie thematisiert. Zumindest mit ihrer
Mutter scheint sie die Vorkommnisse in Rostock kontrovers zu diskutieren, wobei sie die
Verbrechen gegen Asylbewerber verharmlost:
"Meine Mutter sagt zum Beispiel, ja die spinnen doch alle, ......wo so die Asylantenheime
so ein bißle durcheinander machen und so." (1992: 32;7-14)
Larissa äußert sich jedoch dahingehend, dass Gewalt gegen Asylbewerber, die sie jedoch
selbst legitimiert (s.o.) und wohl auch ansatzweise in der Diskussion mit ihrer Mutter als
anwendbare Strategie in Erwägung zieht - "aber wenn sie es danach begreifen, dass sie
wegbleiben sollen..." (ebd. 32; 14-16) - nicht zur Lösung der Situation beiträgt, sondern
"da wird` s nur noch schlechter." (1992: 33;27). Interessanterweise setzt sie die
Ausschreitungen in Rostock mit den Verbrechen des NS-Regimes gegen die jüdische
Bevölkerung gleich und grenzt sich auch hier von dieser Handlungsweise ab, wenngleich
Billigung oder Verharmlosung immer noch mitschwingen:
"Was da halt grad so zur Zeit (passiert), also die Asylantenheime und so dann, also
vergasen und so, persönlich find` ich es eigentlich nicht so gut, weil man könnte auch noch
mit den Leuten reden, dass sie raus sollen oder was weiß ich was." (1992: 29;25-30)
Sie scheint bei dieser Thematik im Interview 1992 keine eindeutige Position beziehen zu
können.
Larissa wurde selbst nicht Opfer von Gewalt, weder im familiären noch im schulischen
Kontext (vgl. dort) oder im Zusammenhang mit ihrer Clique.
1993 bezieht sie eindeutig Stellung und spricht sich gegen Gewaltanwendung, vor allem im
Zusammenhang mit Asylbewerbern aus:
F: "Denkst du denn, dass man gegen andere Menschen mit Gewalt vorgehen darf?" L:
"Nein." F: "Und gerade auch, wenn das Leute sind, die man nicht so hier haben will?" L:
"Nein."
Die Brandanschläge von Solingen verurteilt sie und spricht Personen aus ihrem sozialen
Umfeld, die diese Ausschreitungen begrüßen, Reflexivität und Empathie ab:
"Weil sie sich groß vorkommen wollen, einfach. Weil sie nichts im Kopf haben. Die
denken einfach nicht, was sie sagen. Was würden die sagen, wenn zum Beispiel jetzt ein
Ausländer bei denen das machen würde." (1993: 40;20-24)
Sie scheint hier ihre eigenen Erfahrungshintergründe aus der Zeit ihrer Zugehörigkeit zu
einer rechtsextremen Clique mit einzubeziehen und "Gruppenzwang, weil man halt
dazugehören will" (1993: 41;6-7) als Erklärung für solches Verhalten heranziehen.
Protestaktionen der Nichtdeutschen gegen die ausländerfeindlichen Anschläge in Mölln,
Solingen und Rostock befürwortet sie, weil "die Deutschen auch mal merken sollen, dass
sie das nicht mit den Leuten machen können, was sie wollen." (1993: 41;29-31).
Eigene Gewaltausübung billigt Larissa lediglich zur Selbstverteidigung, musste bislang
jedoch noch keinerlei Gewalt zur Gegenwehr anwenden (vgl. 1993: 42;5-10).
Auch 1994 lehnt es Larissa ab, "gegen die ganzen Ausländer halt mit Gewalt vorzugehen"
(2;8). Sie plädiert im Gegenteil dafür, verbale Konfliktbewältigung als Strategie
einzusetzen:
"Wir sind auf einer Welt und müssen alle versuchen, miteinander zu leben und mit dem
Anzünden von Häusern, das bringt einfach nichts. Wir müssen versuchen, mit den Leuten
einfach klarzukommen. Das geht nicht mit Gewalt, das kann man mit Reden versuchen."
(2;4ff)
Sie gibt an, keinerlei Gewalterfahrungen mehr gemacht zu haben und glaubt generell keine
Zunahme von Gewalt in unserer Gesellschaft ausmachen zu können. Gleichwohl meidet sie
jedoch aus Angst vor potentiellen Gefährdungen bestimmte Bereiche ihres Wohnumfeldes,
so zu Beispiel den Bahnhof, den sie als Schauplatz gewalthaltiger Auseinandersetzungen
rivalisierender Gruppierungen wahrnimmt:
LXXIV
"Zum Beispiel wenn es Abend ist, auf den Bahnhof, da würde ich nicht hingehen. Da
kommen dann halt die Skinheads auf die Ausländer zu und dann gibt es dann halt öfters
Schlägereien." (9;14ff)
Larissas Gewaltakzeptanz hat sich im Verlauf der Erhebung gewandelt. Die Gründe dafür
können in dem von ihr angeführten Gruppenzwang liegen, der die Mitglieder der Clique
um der Zugehörigkeit willen dazu bringt, ihre "persönliche" (1992: 29;26) Meinung hinter
cliquenkonformen Äußerungen und Verhaltensweisen zu verbergen (s.o.) und von dem sie
sich schon 1993 befreien konnte. Die Möglichkeit der Beeinflussung durch die anderen
Cliquenmitglieder scheint realistisch, wenn man den großen Altersabstand in Betracht
zieht: "Die (Anderen) waren manchmal 23, 25, so um den Dreh." (1993: 22;29)
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1.
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1. Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 gibt Larissa an, keine Probleme zu haben (vgl. Fb.1992). 1993 nennt sie als ihre
größten Probleme das Verhältnis zu ihrem Vater und ihre schulischen Leistungen
(vgl.Fb.1993). Sie fühlt sich von ihrem Vater "unterdrückt" und in der Gestaltung ihrer
Freizeit beeinträchtigt. Dies scheint aber die Gefühle von Geborgenheit, die sie in der
Familie erlebt, nicht maßgeblich zu stören (vgl. Fb. 1993).
Dass ihre mangelnden schulischen Leistungen sie hindern könnten, ihren Berufswunsch sie möchte eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten machen - zu
verwirklichen, wird ihr durch den dafür erforderlichen Notenschnitt (2,5 - 2,8) bewusst
(vgl.1993: 12;37). Sie versucht ihre Leistungen durch Nachhilfeunterricht zu steigern (vgl.
1993: 18;31-34). Obwohl es ihr bis 1994 gelingt, ihre Noten zu verbessern, erreicht sie den
geforderten Notenschnitt nicht. Sie entschließt sich, sich zur Friseurin ausbilden zu lassen
und möchte später den Friseursalon ihrer Eltern, den diese zur Zeit verpachtet haben,
übernehmen (vgl. 1994: 4;39-41). Sie scheint mit dieser Lösung zufrieden, da ihre Mutter
und ihr Großvater im selben Beruf tätig waren und sie damit quasi die Familientradition
fortsetzt (vgl. ebd.).
Larissas größte Problembelastung scheint 1994 die von ihr ausgegangene Trennung von
ihrem Freund zu sein. Die Beziehung zum Vater hat sich wieder entspannt (vgl.1994: 8;89).
3.1.2. Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Die Familie bietet Larissa über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg einen soliden
materiellen und emotionalen Rückhalt, obwohl Larissa vor allem nachmittags viel auf sich
gestellt ist (vgl.1992: 7;3-10) und früh Verantwortung für den Haushalt übernehmen muss
(vgl. 1992: 3;35-36). Sie fühlt sich vor allem zur Mutter hingezogen, mit der sich Larissa in
vielem identifizieren kann:
"Meine Mutter, mit der kommt eigentlich jeder gut aus, weil sie halt lustig ist, und ja, die
hört auch zu." (1992: 6;27-30)
"ich hab halt auch was von ihr, also dass ich die Wohnung immer sauber halt" (1992: 8;2122)
Als Vorbild sieht Larissa ihre Mutter trotzdem nicht, denn "in manchen Sachen ist meine
Mutter halt auch streng und ich möchte meinen Kindern halt ein bissle mehr Freizeit lassen,
weil meine Mutter die bindet mich manchmal immer so arg." (1992: 8;13-17). Probleme
bespricht sie mit ihrer Mutter (1992; 3;22-25), die problematische Situationen ihrer Tochter
"von selber" wahrnimmt (ebd. 4;24ff). Mit ihrer Mutter kommt es, im Gegensatz zum
Vater, "nie" (vgl. 1992: 9;40) zu Streitigkeiten. Bei Auseinandersetzungen mit ihrem Vater
erfährt Larissa Unterstützung durch die Mutter, die dann zwischen Vater und Tochter
vermittelt (vgl. 1992: 10;3-6). Ihren Vater erlebt sie als "eher strenger" (vgl. 1992: 6;18).
LXXV
Auseinandersetzungen mit ihm, wegen Larissas nächtlichen Unternehmungen, verlaufen
rein verbal:
"also, ich bin grad mit ein paar Freundinnen bin ich (..) abends mit zu einem 18jährigen,
der hat Geburtstag gehabt, da sind wir mit dem heim und haben was getrunken, das hat
mein Vater nicht verstehen wollen, (..) dann hat er mich halt wieder angeschrieen." (1992:
9;7-15)
Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen setzt sich Larissa verbal zur Wehr (vgl. ebd. 9;21)
bis der Streit darin endet, dass ihr Vater sie mit Nichtbeachtung straft:
"Der redet dann meistens mit mir nichts mehr und dann red ich halt wieder mit ihm, na ja,
und dann, nach ein, zwei Tagen ist alles wieder vergessen." (1992: 9;27-29)
Zur älteren Schwester, von der sie "total verschieden" (ebd. 13;1) ist, hat sie seit deren
Auszug von zu Hause einen guten Kontakt (vgl.1992: 12;11-14). Sie findet bei Problemen
auch Unterstützung und kann "jetzt immer zu ihr gehen" (vgl. ebd. 12;31-32). Frühere
geschwisterliche Rivalitäten und Streitigkeiten der beiden belasten das gegenseitige
Verhältnis nun nicht mehr:
"Sie hat alles immer besser wissen wollen und dann haben wir halt immer uns geschlagen
und alles. Ja, so richtig geboxt manchmal, aber seitdem sie ausgezogen ist, verstehen wir
uns eigentlich super." (1992: 12;17-24)
Larissa fühlt sich über den gesamten Erhebungszeitraum innerhalb des Familienverbandes
geborgen (vgl. 1992: 10;21) und von allen Familienmitgliedern akzeptiert. Sie ist sehr
selbständig, hat reale Mitverantwortung und unterstützt ihre Mutter "freiwillig, weil meine
Mutter sonst so viel um die Ohren hat." (1992: 3;31-32). Ihre Eltern wissen ihre große
Selbständigkeit zu schätzen und leisten im Gegenzug großen Vertrauensvorschub, wenn sie
die Tochter an Wochenenden, die die Eltern im Wochenendhaus verbringen, auf Larissas
Wunsch - "das ist langweilig halt" - allein in der elterlichen Wohnung zurücklassen
(vgl.1992: 2:1ff).
1993 bezeichnet Larissa die Familie als größtes Problem (vgl. Fb.). Ursache für diese
Einschätzung ist wohl ihr etwas gespanntes Verhältnis zum Vater. Sie empfindet, wohl
aufgrund altersspezifischer Abgrenzungs- und Loslösungstendenzen, ihre Familie
allgemein als für sie beengend (vgl.1993: 27;36-40) und ihren Vater im besonderen als
‘Unterdrücker’ (vgl. ebd.1;19-21). Der Kontakt zu Mutter und Schwester ist unverändert
gut.
1994 hat sich die familiäre Situation wieder entspannt. Das Verhältnis Larissas zu ihrem
Vater ist "viel besser" (1994: 8;8-9) geworden, sie fühlt sich von ihm nun wieder akzeptiert
und als Erwachsene ‘"respektiert":
"Ich werde jetzt mehr respektiert irgendwie. Früher hat es geheißen: Du bist noch jung, du
kannst nicht mitschwätzen und jetzt kann ich auch mal einen Kommentar zu irgendwas
abgeben." (1994: 8;14-16)
Larissa nimmt nun "so jedes Vierteljahr vielleicht" (ebd. 8;19) an den Ausflügen zum
Wochenendhaus in Norddeutschland teil und beteiligt sich gelegentlich an den
Freizeitaktivitäten der Eltern (ebd. 8;20).
Mit den schulischen Anforderungen kommt Larissa durchgängig im großen und ganzen
zurecht. Sie akzeptiert die Schule als Bildungsvermittlerin und als Vorbereitung auf den
Berufseinstieg; ja die Schule macht ihr sogar "Spaß" (1992: 17;1). Als sich 1993
abzeichnet, dass ihre Noten für den von ihr angestrebten Ausbildungsberuf nicht
ausreichend sind (vgl.ebd.12;37), versucht sie mit Nachhilfeunterricht den erforderlichen
Notendurchschnitt zu erreichen (vgl. ebd. 18;31), was ihr zwar nicht gelingt, aber zu keiner
Frustration führt, da sie sich inzwischen (1994) für eine Ausbildung zur Friseurin
entschieden hat und noch vor Ende der Schulzeit eine Lehrstelle findet (ebd. 4;39-41). Mit
ihren MitschülerInnen kommt sie durchgängig gut zurecht, wenn sie auch einige
Mädchengruppierungen in ihrer Klasse als "kindisch" (1992: 18;33) ablehnt und ihnen kein
Vertrauen entgegenbringt, da sie nicht "dichthalten" (1992: 19;8-9). Den Klassenverband
LXXVI
beurteilt sie positiv (vgl. 1992: 19;33-14). Die Attraktivität des Unterrichts macht sie von
den Lehrern abhängig (vgl.1992: 17;15-20), ist sich deren Verantwortung zur
Wissensvermittlung bewußt und fordert diese auch ein:
"grad wenn ich mal was nicht kapier, oder so, dann kann ich zu den Lehrern hingehen und
sagen, er soll mir` s noch mal erklären." (1992: 18;3-6)
Larissas "Spaß" an der Schule wird wohl vor allem auch durch den fast gänzlich fehlenden
Leistungsdruck seitens ihrer Eltern mitkonstituiert: ""Solang du` s noch schaffst und nicht
sitzenbleibst, ist` s eigentlich egal." (1992: 18;12-14).
1993 begeistert sie sich, vor allem in Hinblick auf ihre ehemalige Zugehörigkeit zur
"rechten Clique", im Geschichtsunterricht für die Thematik und Problematik des deutschen
Nationalsozialismus und beider Weltkriege:
"Ja und gerade, weil ich ja früher irgendwie zu den Rechten gehört habe, interessiert mich
das jetzt brutal, weil gerade mit dem Hitler und so, da erfährt man mal, wie das damals war
und auf was für einer Bahn (hier ist wohl ihre Clique gemeint; d. V.) man sich damals
bewegt hat irgendwie und das interessiert mich." (1993: 9;36-40)
"die (Zeit) wäre nichts für mich gewesen, weil ich bin eigentlich mehr ein Mensch, der
anderen hilft, aber damals, ich weiß nicht, das wäre keine Zeit für mich gewesen." (ebd.
10;18-23)
"Erschreckend, wie man mit Menschen einfach nur so umgehen kann, als ob sie nur Tiere
wären irgendwie, oder zweite Wahl." (1993: 11;4-6)
1994 erlebt Larissa die schulischen Anforderungen, bedingt durch das Lernen für die
Abschlussprüfungen, als belastend. Es gelingt ihr jedoch, durch Anstrengungsbereitschaft
ihre Leistungen zu verbessern. Entlastend wirkt sich hier der Umstand aus, dass sie bereits
eine feste Zusage für eine Ausbildungsstelle als Friseurin hat (vgl. ebd. 4;38ff).
1992 ist Larissa zusammen mit 2 Freundinnen Mitglied in einer rechtsextrem orientierten
Clique, die ca. zehn Jungen und Mädchen umfasst und nicht altershomogen ist - die Jungen
sind überwiegend ca. 18-25 Jahre alt, die Mädchen ca.14. Der Verbund scheint eher lose zu
sein; die Gruppe trifft sich nicht regelmäßig, sondern wenn es sich gerade so ergibt. Als
Treffpunkt fungiert z.B. ein Spielplatz oder sommers das Freibad (vgl.1992: 27;39ff u.
28;1-3). Larissa hat sich dem cliquentypischen Outfit 1992 nicht gänzlich angepasst, sie
trägt zwar ‘Doc Martens’, die Glatze als typisches Zugehörigkeitsmerkmal lehnt sie, anders
als ihre "beste Freundin" (ebd.26;22ff) J., die eine Glatze trägt (vgl. 1992:28;11-12), aus
Gründen der Eitelkeit jedoch ab:
"Nein, ich hab meine Haare seit der vierten Klasse wachsen lassen und will` s mir auch
nicht unbedingt schneiden lassen, ich häng sehr an meinen Haaren." (1992: 28;36-40 u.
29;1-2).
Wie sie 1993 berichtet, hat sie sich noch 1992 diesem Gruppenzwang gebeugt und sich
nach einem Fest, weil sie "irgendwie in der Stimmung" (11;25) ist und "getrunken" (11;24)
hatte, dem Cliquenoutfit anpassen lassen: "und dann haben die M. und die L. sie mir hinten
abrasiert." (1993: 11;25-26)
Da Larissa diese neue Haartracht "beschissen" und ihrem Aussehen abträglich findet - "das
war schlimm" (11;30) - lässt sie sich die Haare wieder wachsen.
Sie raucht jedoch und stellt dies auch als Anpassung an die Gruppennormen dar (vgl. 1992:
5;8). Die Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen ist für
sie nicht akzeptabel, da sie Sanktionen nicht in Kauf nehmen möchte (vgl. Abschnitt
Gewaltakzeptanz). Sie berichtet weder von Normübertretungen noch von gewalthaltigen
Unternehmungen der Clique, an denen sie teilgenommen hat: "also wir selber machen
eigentlich nichts" (ebd. 29;24).
Ihre Freundinnen scheinen für sie wesentlich wichtiger zu sein, als der Rest der Gruppe.
Sie bezeichnen sich 1992 als Reenee (vgl. ebd. 29;19) und bilden quasi eine Untergruppe
innerhalb der Clique (vgl. ebd. 26;7-8). Sie "halten zusammen" (1992: 27;27-33),
unterstützen sich gegenseitig bei Problemen - "grad wenn ich Liebeskummer hab, oder
LXXVII
Stress zu Hause, dass ich mich dann ausheulen kann und mit denen reden kann" (ebd.
27;17-20) - und gestalten gemeinsam ihre Freizeit (vgl. 1992: 26;12-17). Larissas beste
Freundin J. ist mit einem Jungen aus der Clique zusammen, was sich aber nicht störend auf
die Freundschaft auswirkt (vgl. ebd. 26;33-35 u. 27;3-5).
1993 ist Larissa nicht mehr Mitglied dieser Clique, "weil mich hat es mit der Zeit einfach
angekotzt, was die alles gemacht haben, und da habe ich gedacht, da muss ich jetzt nicht
länger dabei sein" (1993: 3;19-22). Sie legt nun mehr Wert auf soziale Akzeptanz, vor
allem im Hinblick auf ihr Verhalten ihren Eltern gegenüber und die negativen
Konsequenzen hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen:
"Alles, einfach der ganze Umgang mit denen. Ich bin auch auf einmal brutal schlecht in der
Schule geworden, seit ich mit denen zusammen war und dann auch meine Umgangssprache
und alles meinen Eltern gegenüber." (1993: 3;24-28)
Ausschlaggebende Motivation zum Ausstieg war nach ihren Angaben ihre persönliche
Betroffenheit und auch Entsetzen - "für mich war das eigentlich mehr ein Schock
irgendwie" (1993: 4;11) - über die ausländerfeindlichen Anschläge in Solingen:
"gerade mit den Brandanschlägen in Solingen, da habe ich gedacht, ja sag mal, das kann
doch wohl nicht sein, oder? Das muss irgendwann einmal ein Ende geben und dann habe
ich gedacht, nein, also ich will da nicht mehr dazugehören. Von einem Tag auf den anderen
war ich dann einfach nicht mehr eine Zeit lang zusammen (mit den anderen; d. V.)." (1993:
4;2-7)
Ihre Zugehörigkeit zur Clique erklärt sie mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit, Akzeptanz
und gemeinsamer Freizeitgestaltung, die sie die ideologische Ausrichtung der Clique hat
hinnehmen lassen und der sie sich angepasst hat:
"Bei mir war es damals echt nur Gruppenzwang. Alle waren halt rechts und dann will man
halt dazugehören, dass man da irgendwie nicht ausgeschlossen wird." (1993: 4;10-14)
"Ich habe zwar auch öfter mal so irgendwie was gesagt, aber so direkt gegen Ausländer
habe ich nie was gesagt." (1993: 5;15-18)
Dieser Versuch, den Grad ihrer Zugehörigkeit zu erläutern, zeigt sich auch in der
Schilderung ihres spezifischen "Rechtsseins":
"Das war, letztes Jahr war ich ja noch rechts, also rechtsradikal, so nicht direkt ganz, aber
ich bin halt dann auch aufmüpfig meinen Eltern gegenüber gewesen." (1993: 3;33-36)
Als sie schließlich die Clique verlässt, ist sie sehr erleichtert, wieder "auf dem geraden
Weg" (ebd. 3;30) zu sein. Über die Reaktion der Clique auf ihren Ausstieg berichtet sie nur
wenig differenziert:
"Am Anfang haben sie sich einzeln um mich gekümmert irgendwie und dann mit der Zeit
haben sie das dann einfach eingesehen, dass ich nicht mehr zu denen dazu gehören will.
Dann sind sie auch wieder neutral geworden." (1993: 20;36-40)
Über die Art und Dauer dieses "Kümmerns" geht aus dem Interview nichts hervor. Dass
rechtsextreme Cliquen ihren Mitgliedern den Ausstieg erschweren, weil sie Verrat von
Insiderwissen an die Polizei fürchten, ist Larissa bekannt - "es ist schwer, wieder
rauszukommen, für die, wo sehr tief drin waren" (ebd. 41;10-11) -, ob aus subjektiver
Erfahrung oder Beobachtung bei anderen, geht aus dem Interview nicht hervor.
Die Freundschaft der drei Mädchen bricht auseinander, da J. ebenfalls die Clique verlässt,
S. aber weiter dabei bleibt. Larissa und J. haben daraufhin keinen Kontakt mehr zu S. (vgl.
1993: 4;33-34) sind aber weiterhin miteinander befreundet.
1994 nennt Larissa als weitere Einstiegsmotivation in die rechte Clique die tendenzielle
rechtsextreme Orientierung eines Großteils ihrer Mitschüler: "viele in meiner Klasse waren
halt rechts damals" (vgl. 1994: 1;26). Larissa ist nun nicht mehr in einer Clique (vgl. ebd.
10;31).
Durch Ihren Freund, der aktiver Fußballer zu sein scheint (vgl.1993: 24,5-6), hat Larissa
1993 teilweise engeren Kontakt zu einer Clique, die jungendominiert ist (vgl. ebd. 22;1415) und die sich am "Sporti", einem Sportplatz, der als Treffpunkt für einige Jugendliche
LXXVIII
fungiert (vgl. 1993: 22;18-22), trifft. In dieser Clique scheint sie sich auch aufgrund der
homogenen Alterszusammensetzung wohl zu fühlen und - im Gegensatz zur früheren
Clique - als "gleichwertig" zu empfinden:
"Es ist halt einfach viel lustiger mit Gleichaltrigen, da komme ich mir halt irgendwie
genauso, gleichwertig komme ich mir da irgendwie vor." (ebd. 23;3ff).
Durch ihren Freund - "es war halt echt Liebe auf den ersten Blick" (ebd. 5;31) - fühlt sie
sich bestätigt und angenommen, "weil er mich einfach so nimmt, wie ich bin irgendwie"
(ebd. 29;32).
1994 beendet Larissa diese Beziehung, da sie sich durch die Eifersucht ihres Freundes
verletzt - "er hat hinter mir her spioniert (..) das war dann auch ein bisschen
Vertrauensbruch kann man sagen" (1994: 2;41 u. 3;10) - und sich durch seine Dominanz
zu sehr beengt fühlt (vgl.1994:2;37-40). Zudem wurden gemeinsame Freizeitaktivitäten
laut Larissa durch mangelnde finanzielle Mittel der beiden empfindlich beeinträchtigt (vgl.
ebd. 3;19-22) und der Treffpunkt am "Sporti" durch den Drogenkonsum der dortigen
Jugendlichen für das Paar - "ihn hat es auch angekotzt" (ebd. 3;30) - inakzeptabel: "Weil
die kiffen alle, das finde ich nicht so gut. Da halte ich mich lieber fern." (ebd. 3;27-28).
In ihrer Freizeit nutzt Larissa kommerzielle Freizeiteinrichtungen und singt 1992 u. 1993
in einer Gruppe (3 Personen), die bei schulischen Veranstaltungen auftritt (vgl. 1993: 9;115). Sie hat 1994 die Möglichkeit, bei einer etwas professionelleren Gruppe "vorzusingen",
d.h. sich um die Aufnahme bewerben (vgl. 1994: 7;5-10). Ihre Freizeit verbringt und
gestaltet Larissa 1992 mit ihrer in die erwähnte größere Clique eingebundene
Mädchenclique, 1993 größtenteils mit ihrem Freund im privaten Bereich (Dartspielen, vgl.
ebd. 5;36-38) und 1994 mit ihrer neuen Freundin, der Mitschülerin N. und ihrer Nachbarin
A. bei sportlichen Aktivitäten (Rad fahren, spazieren gehen; vgl. ebd. 4;8-13).
Larissas Nachbarschaft und Wohnumfeld ist geprägt von Einfamilienhäusern. Es handelt
sich um ein ruhiges Wohngebiet. In der Nachbarschaft wohnen hauptsächlich ältere
Menschen, darunter auch nichtdeutsche Familien (vgl.1992: 13;25-31). Larissa scheint sich
in ihrer Umgebung durchgängig wohl zu fühlen (vgl. 1992: 13;35) und könnte sich nicht
vorstellen, umzuziehen:
"da möchte` ich eigentlich noch bleiben, weil da kenne ich viele, ja und wenn wir dann
umziehen würden, dann müsste ich ja immer wieder neue Leute kennen lernen und wieder
alles hier lassen, meine ganzen Erinnerungen und so." (1992: 16;17-21)
In ihrem direkten Wohnumfeld gibt es keine Plätze, an denen sie sich bedroht oder unwohl
fühlt, abgesehen von dem (nicht nur) spezifisch weiblichen Gefühl der Gefährdung an
schlecht beleuchteten Plätzen, Straßen oder Unterführungen (vgl. 1992: 15;5ff).
3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Larissa gibt an, gemeinsam mit ihren Eltern die ‘Tagesthemen’ zu sehen und anschließend
über die Inhalte zu diskutieren (vgl. 1992: 11;15-17), zusätzlich liest sie "manchmal" die
BILD - Zeitung (vgl. Fb. 1992) und die örtliche Lokalzeitung (vgl. Fb. 1994). Die Auswahl
der von ihr rezipierten Medien richtet sich durchgängig jedoch hauptsächlich nach deren
Unterhaltungswert (vgl. Fb. 1992 -1994). Der NS-Unterricht in der Schule interessiert sie
1993 sehr, sie gewinnt neue Einsichten über den ideologischen Inhalt der rechtsextremen
Gruppierungen und ihren Zusammenhängen mit den NS-Ideologien und Verbrechen. Diese
Erkenntnisse kann sie um so leichter akzeptieren, als sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht
mehr der rechtsextremen Clique angehört und sich mit deren Ideologien nicht mehr
identifizieren muss.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Larissa könnte sich 1994 vorstellen, sich aktiv einer Gruppierung von Tierschützern
anzuschließen oder umweltpolitisch "in der Gemeinschaft" "Initiative" zu ergreifen (vgl.
LXXIX
1994: 11;25-32). In beruflicher Hinsicht möchte sie die Familientradition weiterführen und
den Beruf der Friseurin erlernen und später den Friseurladen ihrer Mutter, der bislang
verpachtet ist, übernehmen (vgl. 1994: 5;6ff). Neben diesen ‘bürgerlichen’
Berufsvorstellungen versucht Larissa ihren eigentlichen Wunsch, Sängerin zu werden,
weiter zu verwirklichen (vgl. 1994: 7;5ff).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Im ersten Erhebungszeitraum ist es für Larissa "wichtig", stolz auf ihre Nationalität zu
sein. Dies entspricht auch dem Grundtenor der rechtsextremen Clique (vgl.1992: 35;2325). Zudem wird anhand ihrer o. a. Ungleichheitsvorstellungen und
Ausgrenzungstendenzen in bezug auf Ausländer und besonders auf Asylbewerber deutlich,
dass sie Deutschland als kulturelle und ethnische Heimat begreift. Im Verlauf der Erhebung
baut sie ihre Schuldzuweisungen an Asylbewerber zunehmend ab und stellt die kulturellen
Differenzen zu Nichtdeutschen als weniger relevant dar. Welcher Nationalität jemand
angehört, macht sie jedoch durchgängig davon abhängig, dass der Betreffende und seine
Eltern in Deutschland geboren sind. Nationalität scheint für sie demnach durchaus stark
emotional besetzt zu sein und zur Abgrenzung zu anderen und zur Vorteilswahrung wichtig
zu sein. Der Aspekt der Ungleichbehandlung Nichtdeutscher relativiert sich 1994
dahingehend, dass Larissa unabhängig von der Dauer des Aufenthaltes nichtdeutschen
Mitbürgern gleiche Rechte einräumt (vgl.ebd.13;29-31). Sie gibt nun an, nicht mehr auf
ihre Nationalität stolz zu sein (vgl. ebd. 14;36-37).
Ihr regionaler und lokaler Sozialraum ließe die Möglichkeit zu, auch mit nichtdeutschen
Jugendlichen Kontakt haben zu können. Sie hält sich aber mit Ausnahme von 1993, als sie
mit der Clique ihres Freundes den Sportplatz - "auf dem Sportplatz sind viele Ausländer"
(ebd. 35;11) - als Treffpunkt frequentiert, von dieser Gruppierung fern.
Larissas Sozialstatus ist im gesamten Verlauf relativ hoch und gesichert. Sie sieht deshalb
‘Ausländer’ nicht als Konkurrenten am Wohnungsmarkt oder Arbeitsmarkt für die eigene
Person an. Asylbewerber werden von ihr jedoch als Konkurrenten am Arbeitsmarkt
wahrgenommen. Dies scheint zum einen durch ihre generelle Ablehnung dieser
Gruppierung und die ihr unterstellte Anspruchshaltung bedingt zu sein. Zum anderen ist ihr
Vater 1993 kurzfristig von Arbeitslosigkeit bedroht und dieser Umstand trägt wohl mit
dazu bei, dass sie diese Konkurrenz stärker realisiert. In der Erhebung 1994 kommt
Konkurrenzdenken um finanzielle Ressourcen auch im Zusammenhang mit der
Alimentation der neuen Bundesländer zum Ausdruck. Sie befürwortet Unterstützung
einerseits, "weil die haben ja damals echt nichts gehabt" (1994: 18;23), andererseits
verweist sie auf die Fürsorgepflicht des Staates den Bürgern aus den ‘alten’ Bundesländern
gegenüber, wo "noch viele Menschen auf der Straße sind und so" (vgl. 1994: 18; 27-28).
Ihre geschlechtliche Identität kann Larissa auch über die gute Beziehung zu und
Identifikationsmöglichkeiten mit ihrer Mutter ohne Probleme entwickeln. Sie nimmt
unterschiedliche Verhaltensweisen und -attribute der Geschlechter wahr. Dabei definiert sie
die der männlichen Jugendlichen als eher negativ (vgl. 1992: 34;1-2 u. 26-32) und fühlt
sich in gleichgeschlechtlichen Gesellungsformen wohler. In der jungen-dominierten
rechtsextrem orientierten Clique bildet sie mit ihren Freundinnen eine Untergruppe. Sie
scheint sich hier eine Nische in der Gruppe, der sie sich wohl aufgrund der ähnlichen
xenophoben Gesinnung zugewandt hat, geschaffen zu haben, in der sie die Beziehungen zu
ihren Freundinnen, die ihr sehr wichtig sind, relativ ungestört von den
Dominanzansprüchen der männlichen Jugendlichen leben kann. Auffällig ist zudem, dass
Larissa keine Beziehung mit einem Jungen aus der Clique hat, obwohl die Zugehörigkeit
und Akzeptanz weiblicher Mitglieder solcher Gruppierungen meist über die
‘Beziehungsschiene’ gelebt und gefestigt wird. Mit zunehmender körperlicher und
biographischer Entwicklung gewinnt die partnerschaftliche Beziehung zum anderen
LXXX
Geschlecht für sie an Bedeutung. Sie scheint die ihr von der Gesellschaft als Frau
zugeschriebene Rolle nicht prinzipiell in Frage zu stellen, kann sich jedoch in Bezug auf
Kindererziehung und Haushalt arbeitsteilige Lebens- und Partnerschaftsformen vorstellen
(vgl. 1993: 34;37-40).
Larissas während des Erhebungszeitraumes wechselnde jugendkulturelle Orientierungen
(1992: Reenee, 1993: Clique auf Sportplatz, 1994: keine Cliquenzugehörigkeit) scheinen
zumindest nach 1992 weniger ihre politischen Ansichten, als vielmehr ihren Wunsch nach
jugendkultureller Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Ihre Beziehungen im sozialen Nahraum beeinflussen ihre politische Orientierung
vermutlich in gewisser Weise. Sie scheint die rechtsextremen Tendenzen in ihrer Klasse
zumindest 1992 als Normalisierung ihrer eigenen Ungleichheitsvorstellungen zu erleben.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Larissas Toleranz gegenüber Ausländern allgemein und Asylbewerbern im besonderen,
nimmt bis 1994 allmählich zu. Sie erlebt diese Gruppierungen nicht als Konkurrenten am
Arbeits- oder Wohnungsmarkt (vgl. 1994: 13;3ff) und nimmt auch keine überzogenen
Anspruchshaltungen dieser Personen mehr wahr. Sie scheint die Gleichheit in der Differenz
zu propagieren und fordert mehr gegenseitige Toleranz (vgl. 1994: 15;8-12) für ein
friedliches Miteinander. 1994 nimmt sie einen Perspektivenwechsel vor und fordert
Gleichbehandlung aller in Deutschland Lebender, ungeachtet ihrer Nationalität:
"Würde ich keine Unterschiede machen. Weil sie wohnen ja schließlich auch hier. Ich
erwarte auch, dass wenn ich in ein anders Land ziehen würde, dass die mich dann genauso
akzeptieren würden wie ich die." (1994: 13;28-30)
Verweigert sie den Opfern der rechtsextremen Ausschreitungen von Rostock 1992 noch
jegliche Empathie, so gibt sie 1993 rückblickend an, dass gerade diese Vorfälle und die
Anschläge in Solingen sie "schockiert" und zum Austritt aus der Clique bewogen haben
(s.o.). Einfühlsam zeigt sie sich im familiären Bereich. So übernimmt sie freiwillig
Aufgaben im Haushalt, um ihre Mutter zu entlasten. Außerdem erkennt sie ausgehandelte
Regelungen z.B. das abendliche Zeitlimit, das ihre Eltern ihr setzen, an und kann
nachempfinden, dass ihre Eltern sich ängstigen, wenn sie diese nicht einhält (vgl. 1992:
6;21-22).
Larissas Reflexionsvermögen in der Beurteilung gesellschaftlicher und politischer
Zusammenhänge und vor allem eigener vormaliger Verhaltensweisen scheint bis 1994
zuzunehmen. Es scheint relevant für sie zu sein, ihre damalige Motivation zum Eintritt in
die Clique und die durch die später von ihr gewonnene Distanz bedingte Veränderung ihrer
Verhaltensweisen (vgl. 1993: 3;24ff) differenziert nachzuvollziehen - "ich bin irgendwie
ganz anders geworden. Früher war ich total aufmüpfig, alle gegenüber und total immer die
große Klappe gehabt, jetzt denke ich mir erst mal die Sache, bevor ich was sage"
(ebd.4;24ff) - und neu gewonnene Erkenntnisse über den Zusammenhang von
Nationalsozialismus und heutigen rechtsextremen Gruppierungen aufzuarbeiten. Diese
Auseinandersetzung führt auch zur Ausprägung moralischer Wertvorstellungen und
Kompetenzen, die sie schließlich jegliches Gewalthandeln zwischen Menschen ablehnen
lassen.
Ihre Fähigkeit, Konflikte verbal auszutragen, scheint das familiäre Konfliktverhalten
widerzuspiegeln. Sie kann Konflikte mit ihrem Vater aktiv mit austragen, vor allem in der
Sicherheit, dass ihr Vater seine körperliche Überlegenheit nicht gegen sie einsetzt:
"wenn ihn was aufregt, dann schreit er halt gleich rum, aber schlagen tut er mich nicht, der
hat mich noch nie geschlagen." (1992: 6;31-33)
Larissa ist bereit, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Dies zeigt
sich in der Unterstützung ihrer Mutter in häuslichen Angelegenheiten und in ihrem
Verhalten ausgegrenzter Mitschüler gegenüber, deren Integration sie mit fördert (vgl. 1992:
19;37-39), sowie in ihrem erfolgreichen Bemühen um bessere schulische Leistungen.
LXXXI
Larissa präsentiert sich durchgängig als sehr selbstbewusst. Ihr Selbstwertgefühl basiert
zum einen auf ihrer großen Selbständigkeit und der Akzeptanz wie dem Vertrauen, die ihr
aufgrund dessen von ihren Eltern entgegengebracht werden. 1993 erfährt sie zudem in der
Beziehung mit ihrem Freund körperliche Akzeptanz und Unterstützung bei der Festigung
ihres Selbstwertgefühls: "Es ist eigentlich schon positiver geworden.(...)Ich kam mir so
dick vor, aber er gibt mir irgendwie Selbstwertgefühle."(ebd. 31;23ff). Sie glaubt zudem,
ihr Leben selbstbestimmt führen, ihre Wünsche (Sängerin) realisieren und Schwierigkeiten
eigenverantwortlich (bessere Leistungen in der Schule) lösen zu können. Sie hat vor allem
1994 verstärkt Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten (Schule und Singen) und
Eigenschaften (vgl. ebd. 11;6-9) und ist auch mit ihrem Aussehen zufrieden. Als "größte"
Veränderung nennt sie 1994 rückblickend den Wandel ihrer "politische Einstellung" (ebd.
1;12ff). Sie ist nun "echt zufrieden" (ebd. 11;6) und ihre sozialen Kontakte zu Anderen sind
durch ihre "offene Art (..) mit allen voll super" (ebd. 11;6-7).
4.
Zusammenfassung
Larissa zeigt sich als ein Mädchen, dessen Ungleichheitsvorstellungen in Bezug auf
Ausländer und besonders Asylbewerber von 1992 bis 1994 allmählich abnehmen bzw.
differenzierter werden. Als Schlüsselerlebnis können die Geschehnisse in Solingen
angesehen werden; sie führen Larissa vor Augen, welche brutalen Formen
Rechtsextremismus annehmen kann. Sie prägt nun moralische Vorstellungen aus, aufgrund
derer sie ihre Ungleichheitsvorstellungen im Verlauf der Erhebung relativiert - wenn auch
nicht gänzlich abbaut - und zudem keinerlei Gewaltanwendung mehr befürwortet. Ihre
Gewaltakzeptanz, die in der ersten Erhebung durchaus in Bezug auf Asylbewerber
vorhanden war, fand ihren Ausdruck nie in eigener Gewaltanwendung, teils aus Angst vor
Sanktionen, aber wohl auch dadurch begründet, dass sich ihre familiäre Sozialisation laut
Larissa völlig gewaltfrei vollzog. So erscheint ihre Gewaltakzeptanz vordergründig als
Übernahme des Cliquenkonsenses und weniger als eigenes, originäres Habitat. Die oben
genannten Entwicklungsschritte führen schließlich zu ihrem Ausstieg aus der Clique und
zur Abwendung vom rechtsextremen Gedankengut. Die Beschäftigung mit dem deutschen
Nationalsozialismus löst ergänzend bei Larissa Reflexionen über ihre eigene Haltung
gegenüber als ‘fremd’ definierten Gruppierungen aus, wodurch sie ihre
Ungleichheitsvorstellung gegenüber nichtdeutschen Mitbürgern wesentlich abschwächt.
Diesbezüglich ist die ‘Nützlichkeit’ ausländischer Arbeitnehmer in ihrer Funktion als
Anwärter für minderwertige Arbeitsbereiche bei Larissa jedoch immer präsent, weshalb sie
sie nicht als Konkurrenten um diese Ressource wahrnimmt. Durch ihre intensivere
Auseinandersetzung mit historischen Themen gelingt es ihr zunehmend, gesellschaftliche
und politische Zusammenhänge zu erkennen und politisch statt individuell geprägte
Handlungsmöglichkeiten zu sehen.
Leo 1992 - 1994
"Ich meine, die Asylanten sollte man sowieso schlagen, die sind wie Ausländer" (1992:
23;27-28)
"Die Russen und die Polen, die hasse ich sozusagen schon auf den Tod. Die kann ich
überhaupt nicht riechen." (1993: 22;12-14)
LXXXII
"Wäre mir auch recht, wenn sie es ein bißchen klären würden mit den Ausländern, aber die
Jugendlichen können eh’ nichts daran ändern eigentlich. Und immer in Streit mit irgend
jemand zu leben, habe ich auch keine Lust." (1994:35;30-33)
"Was soll es, ich will halt meine Jugend ein bißchen genießen, ja (LACHEN). Mich da jetzt
hinhocken und Zeitung lesen, das kann ich mit was weiß ich wie alt, mit 30 oder so."
(1994: 29; 24-27)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Leo, katholisch, ist wenige Tage vor der Ersterhebung 14 Jahre alt geworden und lebt in U.,
einem 10.000-Einwohner-Dorf im Großraum von Stuttgart, ca. 15 S-Bahn-Minuten von der
Innenstadt entfernt. Nach der zum Zeitpunkt des ersten Interviews ca. zwei Monate
zurückliegenden Scheidung der Eltern bewohnt Leo mit seinem Vater und seinem drei
Jahre älteren Bruder eine 4-Zimmer-Mietwohnung mit Balkon, die in einem Viertel von
Hochhäusern liegt. Er hat ein eigenes Zimmer und ist materiell gut ausgestattet. Er besitzt
persönlich außer Farb-TV, Stereoanlage, CD-Player, Videorecorder und (ab 1994)
Heimcomputer auch eine E-Baß-Gitarre.
Leos Vater hat Abitur und arbeitet beim Oberschulamt, seine Mutter hat den
Hauptschulabschluss und ist als Verkäuferin in einem Tabakwarenladen beschäftigt. Sein
Bruder befindet sich in der Ausbildung zum Versicherungskaufmann.
Leo besucht bis 1993 die ca. 3 km entfernte Realschule. 1994 macht er, um ein zweites
Sitzenbleiben zu vermeiden und weil er die Mittlere Reife nicht schaffen wird, extern in
einer Schulabschlussprüfung den Hauptschulabschluss und beginnt, ohne größere
Bewerbungsanstrengungen unternehmen zu müssen, eine Ausbildung zum Schreiner.
Während ihm bis 1993 noch 75,- DM Taschengeld (die er größtenteils für Kleidung,
Discothekenbesuche, Getränke und Zigaretten ausgibt) zur Verfügung stehen, erhöht sich
sein Einkommen mit Beginn der Ausbildung 1994 auf 850 DM monatlich.
Bis 1993 ist Leo Mitglied in einer Rockgruppe, zu der auch Enrik (siehe Interpretation
Enrik) gehört. Die Jugendlichen üben wöchentlich in einem Jugendzentrum in W. und sind
nach Auskunft der dortigen Sozialpädagogin sowohl durch den Musikstil und das
entsprechende Outfit, als auch aufgrund der Liedtexte als ‘rechts’ orientierter SkinheadNachwuchs zu bezeichnen. Die Band löst sich 1993 nach L.s Angaben wegen terminlicher
Unzuverlässigkeiten einiger Mitglieder, des Defekts der benutzten Musikanlage, aber auch
wegen "Meinungsverschiedenheiten" und der Warnung eines Onkels eines der
Mitspielenden, der Staatsanwalt ist, vor eventueller strafrechtlicher Verfolgung aufgrund
des verwendeten rechten Liedguts auf.
Der Junge ist kräftig gebaut und erscheint 1992 in skintypischer Kleidung und Frisur,
später äußerlich unauffällig zum Interview.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Nach seiner jugendkulturellen Orientierung ist Leo 1992 einer rechten, den Skinheads
nahestehenden Szene zuzuordnen. Er ist zu diesem Zeitpunkt Mitglied einer Clique, deren
Stil er selbst wie folgt beschreibt:
"ein rechter, also wir sind nicht radikal, wir machen nichts, außer wenn uns welche
anschreien, also wir fangen nie an, wenn irgend etwas los sein sollte." (1992:17;17-19)
Diese Einschränkung seiner Radikalität als ‘Rechter’ paßt zu Leos unentschiedenem
Statement im Fragebogen, in dem er sich nicht entscheiden kann, ob er die für ihn mit
einem rechten Image behafteten Skinheads nur "ganz gut" findet oder sich als zu dieser
Gruppe zugehörig fühlt (vgl. Fb 1992). Allerdings weist seine Sympathie mit Hooligans,
national eingestellten Gruppen und Bundeswehrfans (ebd.) sowie seine Mitgliedschaft in
einer ‘Nachwuchs-Skin-Band’ (Einschätzung der Sozialpädagogin im W.er Jugendzentrum,
LXXXIII
s.o.) eindeutig auf seine Zugehörigkeit zu einer recht(sextrem)en und gewaltbereiten
Jugendszene hin.
1993 zeigt sich eine allmähliche Distanzierung von der rechten Skinhead-Szene. Die
Rockgruppe hat sich mittlerweile aufgelöst. Nunmehr sympathisiert er zwar noch mit
Skinheads, findet auch rechte Gruppen noch immer "ganz gut", fühlt sich ihnen aber nicht
mehr zugehörig. Zwar meint er "nicht mehr so rechts" zu sein (1993:; 42,17f.), hält sich
aber für "ein kleines bißchen schon noch rechts" (ebd.). Dies macht er vor allem auch daran
fest, dass er gegen Punker, Grufties und Autonome eingestellt ist, weil das für ihn "alles
Linke" sind. In keinem Fall will er seine politische Selbstzuordnung parteipolitisch
verstanden wissen. Er ist also primär jugendkulturell rechts gestimmt. Auf mögliche RepSympathien angesprochen erklärt er : "Von Parteien halte ich gar nichts" (1993: 47;39). Er
rechnet sich nunmehr eher zu den Hooligans und Fußballfans (vgl. Fb 1993); auch zwei
seiner Freunde sind Hooligans (vgl.1993:12;25-26). Den politischen Orientierungswechsel
sieht er in einer Abschwächung der Ausrichtung seiner Gewaltakzeptanz (vgl. dazu unten)
auf eine spezielle Zielgruppe. An den Hooligans nämlich gefällt ihm "schon schlägern und
so, aber halt, es ist egal gegen wen" (1993: 43; 10f.). In den Gesprächen von 1993 und deutlicher noch von 1994 - distanziert sich Leo allerdings auch immer wieder von der
Hooligan-Szene, von der er sich aber eher räumlich als jugendkulturell - wie er selbst
angibt - aus taktischen Gründen fernhält, um nicht zwischen die verfeindeten Fans
unterschiedlicher Fußballvereine oder in Schwierigkeiten mit der Polizei zu geraten
(vgl.1992:29;24ff und 1993:12;33-34).
1994 hat Leo eine Ablösung von der ‘rechten’ Szene vollzogen: Obwohl er Hooligans nach
wie vor gut findet, hat er zu dieser Szene keinen Kontakt mehr (vgl.1994:21;33). Er zählt
sich nun zu den Techno-Fans (vgl. Fb 1994 und 1994: 25;36)). Auch die Gruppierungen
der Skater und Raper, die er zuvor noch ablehnte, sind ihm nun sympathisch (vgl. Fb), was
sich auch in seinen Musikpräferenzen niederschlägt..
Leos Antipathien gegenüber bestimmten Gruppierungen von Jugendlichen haben sich im
Laufe der Zeit eindeutig vermindert: Lehnte er 1992 und 1993 noch alle Jugendlichen ab,
die in Verbindung mit der ‘linken’ Szene stehen und bezeichnete Punker und Autonome als
Gegner (vgl. Fb 1992 und 1993), kann er sie zwar 1994 noch immer nicht gut leiden, hat
aber seine Feindbilder sichtlich abgebaut (vgl. Fb 1994). Während er seine politische
Verortung vorher über entsprechende Gegnerschaften vornahm, will er sich jetzt "nirgends"
politisch ansiedeln und resümiert: "Ich stehe für mich selbst." (1994: 24;10).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Leo zeigt über die Zeitspanne der Interviews hinweg eine deutliche Entwicklung: Stellt er
sich 1992 noch als ein von Fremdenfeindlichkeit geprägter Jugendlicher dar, entwickelt er
ab 1993 differenziertere Anti-Haltungen gegenüber Migranten und gibt 1994 zunehmend
tolerantere Einstellungen gegenüber Nichtdeutschen zu erkennen.
Leo präsentiert sich 1992 als ein Jugendlicher mit stark ausgeprägter Fremdenfeindlichkeit,
die in deutlichem und explizitem Zusammenhang mit seiner ‘rechten’ Orientierung steht.
Fremdenfeindlichkeit wird von ihm als das zentrale, diese Szene verbindende Element
bezeichnet (vgl.26;28ff). Sie äußert sich sowohl in verhaltensbezogenen kulturellen
Ungleichheitsvorstellungen, als auch in Ungleichbehandlungsforderungen, die er im
speziellen mit Argumenten wie persönlicher Bedrohung, der damit verbundenen Angst vor
Überfremdung durch nichtdeutsche Jugendliche oder mit anderen, für ihn alltagsferneren
und z.B. in den Medien kursierenden Deutungsmustern begründet.
Ausschlaggebend für Leos Antipathien gegenüber allen Ausländern scheinen (zumeist
verlorene) Territoriumskämpfe zu sein, die auf der Orientierung an traditionellen
Verhaltensmustern hegemonialer Männlichkeit (z.B. Dominanzstreben, Rangkämpfe)
beruhen und sowohl auf dem Schulgelände, als auch in der näheren dörflichen Umgebung
LXXXIV
bzw. zwischen ausländischen und deutschen Cliquen der umliegenden Dörfer ausgetragen
werden:
"Ausländer, also aus dem Nebendorf von uns, sind wie so ein kleiner Schlägertrupp,...also
wenn, dann kommen sie manchmal bei uns an der Schule vorbei und dann nehmen sie
einen und schlagen den eben, ohne Grund. Das sind eben Ausländer." (19;20-24).
Daher rührt offenbar sein Eindruck, dass
"die Ausländer eigentlich schon die Oberhand, nicht die Oberhand, will ich nicht gerade
sagen, die Jugendlichen eben, dass die da schon die Oberhand haben, die Jugendlichen.
(22;32ff).
Da Leos Clique zahlenmäßig - und er persönlich auch vom Alter her - den nach seinen
Angaben mit 20-40 Jugendlichen organisierten ausländischen Gegnern unterlegen ist,
trauen sich ihre Mitglieder nicht, sich bei angeblichen Provokationen zur Wehr zur setzten.
Diese schwache Position läßt Überlegungen zu Gegenwehr schnell als aussichtslos
erscheinen (vgl.1992:19;32-40 und 20;1-3). Die Ursachen für die Auseinandersetzungen
sucht Leo ausschließlich bei den ausländischen Jugendlichen.
"Bei Discos oder so, haben wir auch öfters Streit, aber wir fangen nie an, das sind immer
die." (1992:21;3-5).
Da er aus seiner Sicht nie mit dem Streit anfängt, sieht er sich kontinuierlich als Opfer, das
von ausländischen Gangs "niedergemacht" (23;1) wird.
Es kommt nach seiner Darstellung zu Übergriffen ausländischer auf deutsche Jugendliche
einerseits aufgrund deren nach seiner Meinung niedrigeren Bildungsgrades, da
"sie einfach blöd sind. Da sind fast die ganzen Hauptschüler und da sind eben der Hauptteil
Ausländer." (20;7-9)
und andererseits aus Vergeltung für Übergriffe auf Ausländer im übrigen Deutschland, die
sich zudem nicht an Fairneß-Regeln hält:
"Die suchen das, die denken wahrscheinlich, wir also Rostock-mäßig, überhaupt, und dann
suchen sie sich die Kleineren heraus." (20;9-11).
Für Leo sind folglich ausländische Jugendliche die "Hauptunterdrücker" (1992:21;26), die
sich "ihre Rechte erschlagen" (1992:19;26) und sich dann wie "die Größten" (1992:23;1)
fühlen, wobei für ihn fast alle Ausländer prinzipiell gleich sind: "Die sind eigentlich alle
gleich." (1992:22;2), nur "die Türken sind noch ein bißchen schlimmer." (1992:22;2-3). In
diesem Zusammenhang fällt die versächlichende Art ("so etwas") auf, in der Leo von
seinen Gegnern spricht: "Türken, Griechen, so etwas." (1992:19;29).
Leos Fremdenfeindlichkeit ist neben seiner Angst vor gewalttätigen Übergriffen
ausländischer Jugendlicher mit in weiten Teilen der (Erwachsenen-)Gesellschaft
kursierenden Deutungsmustern begründet. Er führt z.B. die in Medien veröffentlichten
Zahlen zu kriminellen Delikten von in Deutschland lebenden Ausländern heran und
pauschalisiert auf dieser Basis:
"Die meisten Ausländer sind auch kriminell, das sieht man auch an den Statistiken."
(26;11-12).
Dieses meint er auch mit einer eigenen einzelnen Erfahrung belegen zu können, denn:
"Das war auch so bei mir, Fahrräder klauen und solche Sachen." (26;20-21).
Aus Leos Blickwinkel passen sich die Nichtdeutschen den hiesigen Lebens- und
Umgangsformen insgesamt nicht genügend an. Er prangert z. B. an, dass Ausländer
"Sperrmüll auf die Straße werfen... das machen Deutsche nicht" (1992:26;9).
Im Laufe des Gesprächs überführt Leo seine Ungleichheitsvorstellungen in
Ungleichbehandlungsforderungen. Nachdem er etwas resigniert feststellt, dass man gegen
die Ausländer, die schon seit Jahren in Deutschland leben "auch nichts mehr machen kann"
(28;13), verlangt er:
"Aber trotzdem sollte man mal einschreiten, ... es werden langsam zu viele." (28;1-3)
und fordert einen Aufnahmestopp bzw. die Abschiebung von Asylbewerbern:
LXXXV
"Aber die, die erst neu gekommen sind, die auf jeden Fall, dass sie die auf jeden Fall
abschieben." (28;14-16),
denn sonst
"kommen immer mehrere, also nicht nur, dann werden es doppelt so viel. Dann haben wir
eigentlich gar keine, sagen wir mal, Chance mehr, ja, irgend etwas dagegen zu tun." (28;2124).
In diesem Zusammenhang ist Leos Affinität zum Nationalsozialismus zu nennen, dessen
‘Ordnungsprinzipien’ er sich teilweise zurückwünscht:
"Früher war ja auch irgendwie besser als heute. Also nicht mit dem Vergasen und so, dass
eben Ordnung her muss und alles." (27;3-6).
Er denkt zwar, dass Hitler "auch einige gute Seiten hatte" und dass manches "besser als
heute war, also nicht zu helfen den Ausländern" (27;16-17), kritisiert aber Hitlers
‘Lösungen’:
"Das mit dem Vergasen oder so, das war zum Beispiel schlecht, finde ich. Dann hätte Hitler
sie auch ausweisen können oder so etwas." (27;29-32).
Da Leo Nichtdeutschen allgemein und besonders im Rahmen der von ihm beschriebenen
Cliquenrivalitäten ausländischen Jugendlichen die Schuld für soziale Probleme und
Auseinandersetzungen zuweist, wäre für ihn eine Abschiebung aller in Deutschland
lebenden Ausländer eine willkommene und subjektiv logische Lösung, denn:
"Wenn es die Ausländer nicht geben würde, dann würde es auch keinen Streß geben... Bei
uns ist das eben so, dass alles von Ausländern beherrscht wird, also da machen die den
meisten Stunk." (33;25-29).
Realitätsbezogen glaubt er andererseits "das geht irgendwie auch nicht" und zeigt sich im
direkten Anschluss an diese Äußerung entsprechend verunsichert: "ich weiß nicht, wie es
noch weitergeht" (28;16)
1993 bezeichnet Leo sich selbst als "nicht mehr so arg rechts wie früher" (1993:1;8-9) und
begründet dies damit, dass er jetzt in seiner Freizeit mehr mit Ausländern zusammen ist.
Gastarbeitern billigt er inzwischen grundsätzlich einen Status als Deutsche zu, weil
"Gastarbeiter für mich etwas Deutsches sind halt so, dass sie mitgeholfen haben beim
Aufbau, sozusagen, wenn da einer für mich, also wenn seine Eltern Ausländer sind und er
ist hier in Deutschland geboren, dann ist da für mich ein Deutscher." (1993:19;15-20)
Sein Feindbild gegenüber Migranten schließt nun die ihm über neuerliche JugendzentrumsKontakte bekannten ausländischen Jugendlichen ausdrücklich aus und hat sich zu Haß
gegenüber Aussiedlern bzw. Osteuropäern gewandelt:
"Italiener und Jugoslawen, die sind eigentlich, also die ich kenne, ganz okay, aber die
Russen und die Polen, die hasse ich sozusagen schon auf den Tod. Die kann ich überhaupt
nicht riechen." (1993:20;12-14).
Wiederum sind es Cliquenrivalitäten, die zu Leos Ablehnungshaltungen führen. Die
Lagerverhältnisse haben sich mittlerweile geändert: In Leos Bekanntenkreis sind Deutsche
und Ausländer verschiedener Nationalitäten näher zusammengerückt und kämpfen nun
gemeinsam gegen den Feind "Aussiedler", der selbst cliquenförmig organisiert ist. Mit
Jugendlichen aus dem ehemaligen Ostblock hatte er öfter größere Schlägereien. Hierbei
handelte es sich zumeist um Auseinandersetzungen, die der Territoriumsverteidigung
dienten, wie z.B. der Verteidigung deutscher Mädchen:
"Dann haben sie, dann waren wir so eine Clique hier unten, da waren viele Ausländer dabei
und wir halt und dann hat ein Russe ein Mädchen von hier geschlagen, ohne Grund und
irgendwie Schlampe oder so gesagt und dann sind wir halt alle hin und dann gab es halt
schon mit Keulen und so ... da kamen aus U. die ganzen Ausländer, die kenne ich ja jetzt,
da waren wir halt geschwind 50 Leute oder so." (1993:20;22ff)
1994 ist in Leos Orientierung eine weitere Veränderung eingetreten. Die
Migrationsproblematiken bzw. Cliquenauseinandersetzungen berühren ihn (fast) nicht
mehr:
LXXXVI
"ich denke über sowas gar nicht mehr nach" (1994:38;32)
Er kleidet sich nicht mehr als "Rechter" (vgl.1994:20;35), hat sich von der Hooligan-Szene
zwar nicht von seiner jugendkulturellen Sympathie her, wohl aber alltagspraktisch
vollkommen gelöst (Fußball genießt er jetzt konsumorientiert; vgl.1994:21;33) und meidet
generell körperliche Auseinandersetzungen mit Migrantenjugendlichen:
"Ich lasse mich jetzt auch nicht mehr so anmachen, dann sage ich halt, was soll der
Kinderscheiß?" (1994:20;37-39)
Diese Verhaltensänderung ist zum einen der Auflösung der ‘rechten’ Clique zuzurechnen,
in der Leo zuvor Mitglied war, und die ihm genügend Schutz bei den
Auseinandersetzungen geben konnte:
"Ich halte mich ja nicht an den Orten auf, wo solche Leute sind" (1994:22;6-7)
Zum anderen begründet Leo selbst sie mit altersspezifischen "Reife"prozessen:
"man wird halt älter" (1994:35;14; s. auch oben "Kinderscheiß")
Er will keinen Streß mehr haben und hat seine Regenerations- und Freizeitinteressen
geändert:
"gehe halt lieber in Discos, habe meinen Spaß, gehe nach Hause und schlafe" (1994:24;3234)
Ob Leo seine ausländerfeindliche Einstellung wirklich abgelegt hat, bleibt fraglich.
Vielleicht ist er nur in seinen Äußerungen vorsichtiger geworden. Dafür würde auch seine
auf schulische politische Diskussionen bezogene und seit mindestens 1993 gültige Devise
sprechen:
"Lieber ein bißchen unauffälliger und seine Meinung für sich behalten" (1994:36;4-5),
"denn sonst heißt es dann wieder Nazi oder rechts" (1993:16;19f.)
Auch er selber räumt bezogen auf seine politische Orientierung der Vorjahre ein:
"ist ja noch immer ein bißchen was hängen geblieben, aber... es bringt halt nichts. Gut, ich
würde schon eher, wenn die jetzt hier mal ein bißchen was stoppen würden und so"" (1994:
35; 25ff.)
Seine Umorientierung scheint in jedem Fall eher auf Resignation und der Einsicht, als
Jugendlicher bzw. mit den von ihnen verwandten Mitteln (z.B. Gewalt) nichts ausrichten zu
können, zu fußen:
"Wäre mir auch recht, wenn sie es ein bißchen klären würden mit den Ausländern, aber die
Jugendlichen können eh’ nichts daran ändern eigentlich. Und immer im Streß mit irgend
jemand zu leben, habe ich auch keine Lust." (1994:35;30-34).
2.3
Gewaltakzeptanz
Leo sieht über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in der Anwendung von
Gewalt in Konfliktsituationen eine Verhaltensweise der Normalitätsstatus zuzusprechen ist
(besonders deutlich 1993: 22;30ff). Dabei weiß er sie (1993) vorrangig in der "rechten"
politischen Kultur zu verorten:
L.:"...Links ist ja meistens Anarchie, also was heißt Anarchie, gewaltfrei und was weiß ich"
F.:" Also von gewaltfrei hälst Du nicht viel, oder?" L.:"Nein." F.:"Denkst Du da kommt
man nicht weit, oder an was liegt das?" L.:"Gewalt gibt es immer und da muss man sich
damit auseinandersetzen. Drum herum kommt man nicht als Jugendlicher." (1993: 43;
37ff.)
Darüber hinaus ist sie für ihn ein probates Mittel, das ihm durch Notwehr legitimiert
erscheint. 1992 berichtet er wiederholt von Situationen, in denen er sich gemeinsam mit
seinen Freunden von einer Überzahl ausländischer Jugendlicher bedroht fühlt, so dass er
zusammenfaßt:
"Ich finde das nicht so gut, wenn man Angst hat, irgendwie auf die Straße zu gehen"
(1992:34;10-11).
Bei solchen Auseinandersetzungen waren, nachdem einzelne miteinander in Streit geraten
sind "gleich wieder 20 oder 30 Leute wieder da ..."(21;13-14).
LXXXVII
Leo beschreibt sich selbst dessen ungeachtet als "leicht reizbar, also ich werde schnell
wütend..." (1992:15;26). Er selbst besitzt "ein Gas, zur Verteidigung eigentlich." (20;15ff).
Dabei neigt er zur Verharmlosung seiner eigenen Gewalttätigkeit. Wie sich später (1993)
herausstellt, handelt es sich bei dem "Gas" nicht um ein Spray, sondern um eine Gaspistole
und über eine Auseinandersetzung mit einem Türken, mit dem er bei einer
Sperrmüllsammlung vor der eigenen Wohnung aneinandergeriet, berichtet er:
"Kommt zu mir her und knallt mir einfach eine, dann bin ich also ausgerastet, ausgerastet
würde ich nicht sagen, aber ich habe ihn zusammengeschlagen." (1992:20;34-37).
Verharmlosungen der Folgen von Gewalt und über das selbstausgeübte Gewaltniveau
hinausreichende Gewaltphantasien betten seine diesbezüglichen Orientierungen ein. Die
Beobachtung der Ausschreitungen bedeutet für Leo eine willkommene Abwechslung in
seinem alltäglichen Einerlei. Es trifft ihn nicht besonders, wenn ein Ausländer einen
Überfall deutscher Jugendlicher mit dem Leben bezahlen muss:
"Okay, wenn einer umkommt, ist das schon ein bißchen hart, aber sonst passiert ja nichts,
sonst ist immer das Gleiche, sonst ist jeden Tag das Gleiche." (1992:23;33-35).
Entsprechend träumt er von der ‘großen Rache’ an den ausländischen Cliquen:
"Da sollte man mal mit den Autos hinfahren oder so oder mit sämtlichen Autos oder so,
dass da eben gut gebaute Leute darin sitzen, die die mal richtig verklopfen, dass die auch
mal wissen, wie das ist." (1992:22;20-24).
Zu Hause bei den Kämpfen mit den ‘etablierten’ Ausländern eher zu den Unterlegenen
gehörend, wäre Leo gerne nach Rostock gefahren, um sich an den Überfällen auf die
Unterkünfte von Asylbewerbern zu beteiligen. Damit hätte er seiner Ansicht nach
zumindest ein Signal gesetzt und an der Durchsetzung seiner fremdenfeindlichen Ziele
mitgewirkt:
"da musste ja mal irgendwas passieren, denke ich." (1992:23;19-20);
"die Asylanten sollte man sowieso schlagen, die sind wie Ausländer." (1992:23;27-28).
Einzig seine Angst vor Schwierigkeiten mit der Polizei und vor Sanktionen hat ihn davon
abgehalten, selbst nach Rostock zu fahren:
"Na ja, das ist dann schon blöd mit der Polizei und so, also in meinem Alter. Wenn ich
dann schon ins Gefängnis komme oder so, nein, da habe ich keine Lust darauf."
(1992:23;12-16).
Bis einschließlich 1993 rechtfertigt Leo Gewalt überhaupt und insbesondere gewalttätige
Übergriffe auf Migrantenjugendliche als das einzige ihm zur Verfügung stehende Mittel,
um sich gegen Territoriumsverluste und Überfremdung zu wehren. Dies gilt sowohl für
Schlägereien in der Schule, bei denen es sich hauptsächlich um Auseinandersetzungen mit
Jugendlichen aus den Parallelklassen handelt (vgl.1993:11;9ff), als auch für Kämpfe mit
Nichtdeutschen, die der Verteidigung von ‘Heimat-Territorien’ dienen. U.a. ausdrücklich
mit dem Effekt der Vorbereitung auf seine Schlägereien trainiert Leo zu Hause am Boxsack
("das mache ich nur so aus Spaß, und bei Schlägereien und so kommt dann halt die
Erfahrung"; 1993:15:21-23) und geht auch mental vorbereitet in die Auseinandersetzungen
(vgl. 1993:14:35-37).
Bei den Auseinandersetzungen, an denen Leo beteiligt ist, wird allerdings auf
Eskalationsgrenzen Wert gelegt. Es handelt sich um "kleinere Schlägereien, so Blut nicht
unbedingt" (1993: 12;37f.), denn:
"zu brutal darf`s auch nicht sein." (1993: 11;21)
Von ihm werden keine Waffen eingesetzt, obwohl er davon ausgeht, dass seine Gegner mit
Messern, bzw. die Älteren auch mit Pistolen bewaffnet sind. Seine Grenze liegt bei
"Cowboystiefel ins Gesicht, das würde ich nicht machen" (1993:14;34-35).
Er genießt es freilich, als Mitglied seiner Clique in der Schule furchteinflößend zu sein:
"Vor uns hat jeder sozusagen Angst, aber das nutzen wir nicht unbedingt aus."
(1993:13;15-17).
LXXXVIII
Ursächlich für die relative Gewaltzurückhaltung, die Leo sich 1993 im Vergleich mit dem
Vorjahr attestiert sind nach seiner eigenen Auskunft Befürchtungen, sich durch soziale
Auffälligkeit möglicherweise Zukunftsoptionen zu verbauen:
"ich habe aber keine Lust drauf so mit Polizei, und wenn ich mal im Knast bin, dann ist
einfach meine ganze, dann kann ich meinen Beruf eh vergessen. Wo ich, lieber will ich in
den Beruf, also die Lehrstelle und dann vielleicht..." (1993:44;32ff.)
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Leo trotz seiner teilweisen Orientierungsrevision
gegenüber Ausländern auch noch 1993 den Ereignissen von Rostock, Mölln und Solingen
mehr relativierend als verurteilend begegnet. Zu den Anschlägen auf
Flüchtlingsunterkünfte meint er:
"Rostock, da ist keiner umgekommen sozusagen. Aber ich hätte nicht unbedingt was
dagegen, das kann man auch nicht sagen." (1993:18;37-39)
Außerdem "(wolle) er nicht wissen", wieviele "Rechte" bereits in Auseinandersetzungen
"umgekommen" seien (vgl.1993:17;28-29). Für sich selber findet er aber "schlägern o.k.,
aber keine Überfälle" (ebd:17;6). Der Grund für seine Zurückhaltung ist auch im Bereich
explizit politischer Gewalt neben dem Kennenlernen ausländischer Jugendlicher, wenn
nicht sogar vorrangig, im wesentlichen die Angst vor möglicher Stigmatisierung und
Sanktionierung. Darauf angesprochen, dass bei fremdenfeindlichen Anschlägen "Leute
umgekommen sind" läßt er sich ein:
"Deswegen hat sich ja auch wahrscheinlich meine Meinung ein bißchen geändert, dass ich
mich ein bißchen von dem distanzieren wollte, weil wenn man heutzutage noch als Rechter
herumläuft, also Docs und rasiert, dann hat man nur Ärger. Und jetzt kenne ich ja die
ganzen Leute. Also Ausländer, rechte, komme ich eigentlich gut aus" (1993:17;10ff.)
1994 erfolgt eine deutlichere Distanzierung von Gewaltanwendung. Zwar räumt Leo
durchaus für seine Person eine weiter bestehende Lust an der Provokation ein ("Wenn mal
man einen sieht und der paßt einem schon vom Aussehen her nicht... vielleicht gehe ich
mal zu ihm hin...`Du Idiot` oder was weiß ich.. ein bißchen fertigmachen... das ist eine
Sache der Laune"; 1994:2o;1ff.), mit der Auflösung von Band und Clique verringert sich
aber die Häufigkeit der körperlichen Auseinandersetzungen. Bezogen auf die früheren
Massenprügeleien mit Gruppen ausländischer Jugendlicher betont Leo jetzt:
"das ist jetzt nicht mehr so schlimm, würde ich sagen" (1994:18;12f.); "Ich gehe dem Streß
jetzt eher aus dem Weg. (1994:21;11-12)
Auch bzgl. seiner Streitereien mit Aussiedlerjugendlichen vermerkt er:
"ist mir alles so nebensächlich" (1994:22;8)
An Hooliganismus ist er ebenfalls nicht mehr sonderlich interessiert ("ich kümmere mich
da nicht mehr so drum"; 1994:21;38), so dass er resümiert:
"Das ist halt nicht mehr wie früher, es ist uns zu blöd geworden herum zu rennen und wer
hat wen angemacht, das war uns zu blöd" (1994:17;39ff)
Er sieht diese Veränderung wohl als Ergebnis eines Reifungsprozesses, den er mit dem
wachsenden Alter zusammenbringt:
"was soll der Kinderscheiß?" (ebd.;20;39)
Anstatt sich weiterhin an Älteren zu orientieren, "dass was los ist", "ist man nun selber ein
bißchen älter und jetzt macht man selber was." (1994:35;39ff.)
Einschlägige Situationen ergeben sich auch seit seinem Wechsel auf die Berufsschule nicht
mehr so häufig (vgl.1994:18;12-17). Gleichwohl ist er nach wie vor in Schlägereien mit
schwerwiegenden Folgen verwickelt. Im Interview kommen an zwei Stellen Schlägereien
zur Sprache, in denen Nasenbeinbrüche - einmal bei seinem Freund Enrik, einmal bei
einem Konfliktgegner in der Schule - die Folge waren (vgl.1994:9;16ff). Dennoch beginnt
er seine Taten zu reflektieren und sogar zu bereuen:
"Da habe ich mich mit ihm geprügelt, das hätte ich nicht machen sollen." (1994:19;11-12)
Dabei muss jedoch offen bleiben, ob diese Reue wiederum nur aus der Angst vor bzw. der
Erfahrung von Sanktion herrührt.
LXXXIX
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Obwohl Leo im Fragebogen von 1992 nicht explizit persönliche Probleme benennt, lassen
sich durch die Gesprächsauswertung neben der schon oben erwähnten, von ihm
empfundenen existentiellen Bedrohung seiner körperlichen Unversehrtheit durch
ausländische Jugendliche zwei Problembereiche ausmachen: zum ersten die Scheidung der
Eltern, zum zweiten die vom Erwartungsdruck an seine Schulleistungen geprägte
Beziehung zum Vater,
In Leos Familie sind der plötzliche Auszug der Mutter und die Scheidung der Eltern
anscheinend nur am Rande thematisiert worden, denn Leo erzählt von den Ereignissen
mehr oder weniger aus der Perspektive des ‘stillen Beobachters’, der gemeinsam mit
seinem Bruder um das Verhältnis seiner Mutter mit einem anderen Mann wußte, somit
"zwischen den Stühlen stand" (vgl.1992:9;5ff), aber sein Wissen dem Vater nicht mitteilte.
Leo entscheidet sich nach der Trennung der Eltern, weil er der Mutter für die Zerrüttung
der Familie die Schuld gibt, für ein Leben bei dem Vater, was zur Folge hat, dass Leo
dessen Ansprüchen bezüglich schulischer Leistungen genügen muss, damit es nicht zu
häuslichen Spannungen kommt. Wohl nicht zuletzt auch aufgrund seines eigenen
schulischen Werdegangs und seiner beruflichen Stellung beim Oberschulamt legt Leos
Vater großen Wert auf Schulnoten (vgl.1992:15;13) und versucht diese durch tägliche
Hausaufgabenbetreuung seinerseits zu verbessern. Leo wiederum ist eher ein
leistungsschwacher Schüler, der um seinen Realschulabschluss bangen muss.
Ab 1993 bessert sich Leos Beziehung zu seinem Vater. Dieser hat nun eine Freundin, mit
der er die meiste Zeit und vor allen Dingen die Wochenenden verbringt (vgl.1993:27;2932). Infolge dieser Beziehung verringert sich der Kontakt mit dem Vater. Leo hat kein
besonders gutes Verhältnis zu der Freundin seines Vaters, so dass die beiden oft wegen
Geringfügigkeiten aneinandergeraten (vgl.1993:29;2) und er sich nicht vorstellen kann, mit
ihr zusammenzuwohnen (ebd.).
Sieht er sich dennoch von familiären Problemen im Vergleich zum Vorjahr eher entlastet,
so sind Probleme mit seiner weiteren Lebensplanung neu hinzugekommen. Er kann nun
absehen, dass er den Realschulabschluss vielleicht nicht schaffen wird und muss deshalb
eine Verunsicherung seiner beruflichen Aussichten gewärtigen. Dabei ist der Beruf für ihn
"das Wichtigste für die Zukunft" (49). Er tröstet sich allerdings mit der Hoffnung "wird
schon irgendwie klappen" (1993:3;32f.).
1994 ist er dieser Sorge durch seinen Lehrstellenantritt fürs erste erledigt: "mache mir um
die Zukunft keine Gedanken. Hat ja gleich alles geklappt" (10). Jetzt gibt er als
Problembelastung "zu wenig Zeit" und "Ärger mit anderen Jugendlichen" an. Die
erstgenannte Belastung hängt offenbar mit dem Beginn seiner Lehre und die damit
verbundene zeitliche Einspannung zusammen. Dass "Ärger mit anderen Jugendlichen"
ausgerechnet im Jahre 1994 von ihm angegeben wird, wo dieser doch im Vergleich zu den
Vorjahren der Häufigkeit nach abzunehmen scheint (vgl. oben), mag auf den ersten Blick
erstaunen. Er bezieht ihn allerdings auf den zum Interviewzeitpunkt erst kurz
zurückliegenden Vorfall, bei dem seinem Freund Enrik das Nasenbein gebrochen, also eine
Eskalationsstufe erreicht wurde, die vorher nach seinem Bekunden nicht gegeben war und
hat dabei wohl auch mögliche Rachezüge im Sinn.
Gibt L. noch 1992 und 1993 keine ihn besonders antreibenden Interessenlagen zu
erkennen, so äußert er 1994 wiederholt und ausdrücklich den Wunsch, seine "Jugend ein
bißchen (zu) genießen"(1994:29;25). Er möchte gar "jede Minute genießen" (1994:34).
Nicht zufällig fallen diese Äußerungen in einer Sequenz, in der er ein Loblied auf den von
ihm begonnenen Haschischkonsum singt, den er "ziemlich besser als Alkohol" findet, weil
XC
man danach "keinen dummen Kopf" hat und halt "viel lockerer alles" sieht (alle Zit.
1994:29). Allerdings hat er sich schon eine polizeiliche Verfolgung als Dealer (auf dem
Schulhof der Berufsschule) eingehandelt, die ihn aber nicht sonderlich zu belasten scheint,
denn "mit dem Handel konnten sie mir halt nichts nachweisen" (31;38)
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Leos Darstellung seiner Familiensituation ist von der Scheidung der Eltern und damit von
der Spaltung der Familie geprägt.
Neben den aus der Entscheidung zwischen zwei Elternteilen resultierenden anfänglichen
Loyalitätsproblemen bereitet Leo seine gespannte Beziehung zum Vater Probleme. Er stuft
das Verhältnis zu ihm zwar insgesamt als "eigentlich gut" und normal ("Den normalen
Ärger eben"; 1992:3;16) ein, fühlt sich aber vom Vater oft auch kontrolliert
(vgl.1992:2;13ff), wobei hier die Sorge des Vaters um die Schulleistungen eine große Rolle
spielt. Leo findet seinen Vater zu streng und beurteilt ihn als "Spießer. Also ein
ordentlicher Mensch, also er will alles immer ganz genau machen und so, jetzt mit meinem
Ohrring zum Beispiel, da hat er gemotzt..." (1992:3;23-27). Desweiteren scheint sein Vater
nicht zufrieden mit Leos "rechtem" Lebensstil zu sein, denn Leo berichtet von Differenzen
bezüglich seiner jugendkulturellen Orientierung. Diese resultieren aus dem Wunsch des
Vaters, dass Leo nicht in der Öffentlichkeit auffällt und "nicht so viel Scheiße baut"
(1992:13;1-2). Auch auf politischer Ebene sind Vater und Sohn unterschiedlicher
Meinung, was dazu führt, dass Leo es aufgegeben hat, zu Hause seine rechte Position
(bezüglich z.B. der Ausschreitungen in Rostock) zu verteidigen: "Es ist sinnlos, mit ihm
darüber zu reden." (1992:13;38-39). Trotz solcher Differenzen ist sich Leo sicher, dass sein
Vater hinter ihm steht, wenn er in ernsten Schwierigkeiten ist (vgl.1992:14;26). Er fühlt
sich auch von ihm akzeptiert und bei ihm geborgen.
1993 hat sich Leos Beziehung zu seinem Vater "gebessert", denn "er erlaubt mir sozusagen
mehr" (27;21ff.). Innerfamiliäre Gespräche gibt es "jetzt in jedem Fall mehr":
"Wir setzen uns dann meistens manchmal ins Wohnzimmer und dann redet mein Bruder
manchmal mit mir, alles mögliche, ob Schule, alle Themen überhaupt, das haben wir früher
nie gemacht." (29;25)
Auch politisch ist man sich nach der Einschätzung von Leo nähergekommen. Auch der
Vater kommt inzwischen im Rahmen seiner Tätigkeit beim Oberschulamt mit Ausländern
in Kontakt und "regt sich über die auf". Bezogen auf ihn und seinen Bruder glaubt er:
"nicht unbedingt, dass sie rechts wären, sie denken eher rechts, aber sie sind nicht genug
rechts" (30;7ff.). Immerhin meint er zu wissen, dass sein Vater "mal die Republikaner
wählen wollte" (ebd;34).
1994 sieht L. die Beziehung zum Vater auf "gleiche(m) Stand", sogar "ein bißchen besser
vielleicht" und begründet es mit dem Umstand: "Ich bin ja nicht mehr so oft Zuhause."
(27,21ff.)
Die Mutter besucht Leo über den Erhebungszeitraum hinweg gelegentlich. Sie ist für ihn
keine verlässliche Anlaufstelle, da er sie zu selten sieht (vgl.1992:10;8-9 und 1993:32;6ff).
Geborgenheit bezieht er bei ihr zunächst nicht. Aber über persönliche Probleme redet er
mit ihr, nicht mit seinem Vater, weil sie ihm für seinen jugendlichen Lebensstil, u.a. seinen
Alkohol- und Zigarettenkonsum, mehr Verständnis entgegenbringt (vgl.1992:6;4-11). Das
Lob der Mutter wird aber im Kern von Leos Schwierigkeiten mit den ‘Maßregelungen’ des
alleinerziehenden Vaters bestimmt, der nach dem Auszug seiner Frau in Zusammenhang
mit einem fast ‘mütterlichen’ Rollenbild dafür zu sorgen versucht, dass sein Sohn
‘ordentlich’ gekleidet, in ‘guter Gesellschaft’ und leistungsfähig in der Schule ist. Die
Beziehung zur Mutter wird durch deren neuen Freund, der auch den Anlass zur Scheidung
abgab, erschwert. Dieser ist Spanier, spricht "kaum einen deutschen Satz" (1993;33) und
liegt insofern auch quer zu den politischen Vorstellungen Leos.
XCI
Leos Beziehung zu seinem Bruder - anders als er selbst ein "Stubenhocker" (1992:13;20) stellt sich anfangs ähnlich dar wie die zum Vater. Er hat das Gefühl, dass "wenn man mit
ihm redet, dann kann man nicht so die Umgangssprache benutzen, man muss alles so
professionell ausdrücken und so." (1992:5;13-15). Ebensowenig wie sein Vater erfüllt Leos
Bruder zu diesem Zeitpunkt eine Vorbildfunktion für ihn (vgl.1992:5;6-9). Später bessert
sich die Beziehung zum Bruder (s.o. und 1993: 31;16), 1994 vor allem, weil dieser Leo
abends auch schon mal mit dem Auto mitnimmt (vgl.1994:14;35-40).
Leos Lernschwierigkeiten und die damit zusammenhängenden schulischen Probleme
bilden bis zum Beginn seiner Berufsausbildung ein Konfliktpotential zwischen seinem
Vater und ihm (s.o.). Leo scheint für sich akzeptiert zu haben, dass er ein schlechter
Schüler ist und gibt sich damit zufrieden, gerade so eben ‘durchzukommen’. Sein
Quartalslernen scheint wenig selbstbestimmt und eher vom Druck des Vaters und der
großen Angst abhängig zu sein, auf die Hauptschule mit einem großen Ausländeranteil
abzurutschen. Er hat zwar 1993 noch den Realschulabschluss im Visier, findet aber jetzt
schon die Schule "viel zu stressig" und bekennt: "Schule kann ich nicht mehr aushalten"
(1993:4;6 u. 8). Am Ende schafft Leo tatsächlich nur den Hauptschulabschluss und beginnt
eine Lehre. In der Berufsschule, die er nun besucht, kann er nicht mehr auf seine alten
Kumpels zählen. Er sieht sich nun in einem Klassenumfeld, in dem "Normale" und Linke
("rote Schnürsenkel, Palästinenserschal") die Mehrheit sind. Da ihn aber Politisches
ohnehin nicht mehr sonderlich umtreibt, läßt ihn dieser Umstand relativ kalt.
Die rechte Clique, der Leo angehörte und die ihm in einer schwierigen Zeit des familiären
Umbruchs auch einen emotionalen Halt schenkte, der so umfassend von keinem Elternteil
bezogen werden konnte (vgl. Fb.), löst sich ab 1993 auf. 1994 lassen auch seine Besuche
im Jugendzentrum nach, über die er auch "ab und zu" mit ausländischen Jugendlichen
zusammen war. Sie weichen Leos neuer Freizeitclique im Fitneßcenter, wo er sich ab 1994
mit mehreren Jugendlichen täglich für mehrere Stunden trifft, um gemeinsam mit ihnen,
u.a. Kickboxen, zu trainieren (vgl.1994:2;27). Hierbei handelt es sich um eine lockere
Clique von sieben Jugendlichen, die sich auch in Kneipen und Diskotheken treffen
(vgl.1994:5;11-13). Aus ‘alten Zeiten’ übriggeblieben ist seine Freundschaft mit Enrik, mit
dem er noch immer auch außerhalb des Fitneßcenters viel Zeit verbringt (vgl.1994:13;36).
Mit diesem Wandel ändern sich auch die Bezugspunkte und Interessenlagen seiner
Freizeit. 1992 verbringt er seine Freizeit vor allem außerhäusig, übt in seiner Rockband
"einfache Musik, so deutsch, so heavy, also nicht so schnell, eben nur deutsch"
(1992:15;16), hält sich auf öffentlichen Plätzen in relativ großen Gruppen von
Jugendlichen auf (tagtäglicher Treff: Bushaltestelle, "weil man von da aus gut alles im
Blick hat"), beschreibt seine Wochenendvergnügen mit "auf Parties gehen, etwas zu trinken
kaufen... Musik hören" (17;11ff.), wobei er neben Metal-Rock vor allem Rechtsrock
präferiert, konsumiert bereits erheblich Alkohol und raucht Zigaretten und setzt sich damit
deutlich als Frühentwickler in Szene:
"wenn ich da an die anderen Jugendlichen in meinem Alter denke, die noch mit 8jährigen
Fußball spielen oder so. Und daheim Zuhause sitzen am Samstagabend, das könnte ich
nicht aushalten, also da bin ich eigentlich schon härter und so." (1992:35;22ff.)
1993 stehen seine Vergnügungsaktivitäten ganz im Vordergrund. Über Politik
nachzudenken, weist er von sich:
"zur Zeit denke ich halt immer an Discos oder sowas. Party, trinken. habe halt irgendwie
keine Lust mehr auf diesen ganzen Streß. Ich will irgendwie raus" (1993:48;23ff.)
Besucht er zu dieser Zeit noch das Jugendhaus, entwickelt er 1994 "andere Interessen" und
sind ihm die Jugendhaus-Besucher "zu jung". Das Fitneßcenter und "Weggehen" in
kommerzielle
Vergnügungsstätten
(v.a.
Diskotheken)
werden
jetzt
seine
Hauptbeschäftigungen in der Freizeit.
Damit löst er auch seine Bezogenheit auf sein Wohnumfeld, die abgesehen von den BandProbeterminen in W. noch 1992 und durch die Jugendzentrumsbesuche auch noch 1993
XCII
vergleichsweise hoch war, auf. Die Mobilität, die ihm über seinen Bruder gewährt wird,
kommt ihm dabei entgegen.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Leos rechte Orientierungen resultieren erkennbar nicht aus einer Rezeption rechtslastiger
Medien oder einer Beeinflussung durch Lehrpersonen oder Eltern. Am ehesten erscheinen
sie aus zwei medialen Quellen gespeist: einerseits dem über die Massenmedien verbreiteten
öffentlichen Diskurs über das sog. "Ausländerproblem" und andererseits dem Rechtsrock.
Ersteres läßt sich dort vermuten, wo er in völlig unkritischer Weise "Statistiken" (über
Ausländerkriminalität) als `Beleg` seiner Ungleichheitsvorstellungen anführt, letzteres
erscheint aufgrund seiner Musikpräferenzen offensichtlich. Beide Einflussfaktoren haben
allerdings allenfalls Bestärkungsfunktion für die Deutung eines Zusammenhangs, der ihn
viel deutlicher bewegt: die gewalthaltigen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen, die
unter ethnischen Vorzeichen interpretiert werden.
Auch für den Rückgang seiner Rechtsorientierungen kann man Einflüsse der genannten
Sozialisationsinstanzen nur sehr beschränkt verantwortlich machen. Der Eindruck einer
Annäherung des Vaters an rechtspopulistische Positionen, der sich für Leo 1993 ergibt,
hätte - simple Verführungsthesen unterstellt - ja eher zu einem Anwachsen als zu einer
Abschwächung seiner Rechts-Inszenierung führen müssen. Die Medienberichterstattung
über ausländerfeindliche Übergriffe hat bei L. letztlich aus Angst vor Stigmatisierung der
eigenen Person als "Rechter" zu kaum mehr als äußerlicher Distanzierung von "zu
brutalen" Gewalttaten geführt. Der schulische Unterricht über den Nationalsozialismus hat
zwar "ein paar Punkte, die ich halt noch nicht so kannte" (1994;37;18) vermittelt, aber an
der rechten Orientierung von Leo nichts geändert, denn "ich wußte auch schon früher, wie
es war"(ebd.). Es waren eben nicht an historischen Vorbildern ausgerichtete
Indoktrinationen, die ihn haben anfällig werden lassen, sondern Konstellationen seines
Alltags. Insofern resümiert er in Bezug auf den historischen Unterricht und gewichtet
dabei:
"es hat nichts daran geändert irgendwie an der Meinung... (man) ist älter geworden und so,
was anderes erleben und andere Freunde suchen vielleicht, ein bißchen mehr Spaß haben
und ein bißchen weggehen."(1994:37;30ff.)
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Leo übt nicht deshalb rechte Gewalt aus, weil er einen Mangel an geeigneteren politischen
Beteiligungsformen wahrnähme und deshalb zur Gewalt als ultima ratio griffe. Vielmehr
stehen seine Gewaltaktionen im Kontext maskuliner Territorialkämpfe und darin zu
beweisender Selbstbehauptungskompetenz. Gewalt ist für ihn kein letzter Ausweg, sondern
Normalität. Allerdings erkennt er ab 1993, dass er mit ihr politisch nichts auszurichten
vermag. Wohl weil er dies feststellt, gleichzeitig aber keine alternativen Teilhabechancen
zu erblicken vermag, zieht er sich in ein immer unpolitischer werdendes, von
kommerziellen Freizeitvergnügungen und Drogenkonsum bestimmtes Leben zurück.
Charakteristisch dafür ist seine Traumvorstellung von 1994, in einem südlichen Land zu
leben - jetzt nennt er sogar Spanien, das Herkunftsland des von ihm nicht gelittenen
Freundes seiner Mutter -, wo er nur "Spaß, Sonne, da gibt es solche Probleme (sog.
Ausländerprobleme) gar nicht" erwartet (1994:42;12f.)
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Deutscher Nationalität zu sein, ist für Leo 1992 sehr wichtig. Aus der Perspektive als
Deutscher baut er seine Feindbilder gegenüber Ausländern auf. Zwar ist er nicht "stolz"
darauf, Deutscher zu sein, denn "ich kann doch nichts dafür, dass ich hier geboren bin"
XCIII
(1992;25/26). Doch auf Deutschland läßt er nichts kommen. Als er 1992 auf dem
Schulranzen eines Mitschülers den Aufkleber "BRD ich hasse Dich" entdeckte schlägt er
sich deswegen mit dem Betreffenden.
Auch 1993 hält er die Selbstverliebtheit mancher Deutscher in Deutschland als eine starke
Nation und Nationalstolz aus dem gleichen Grund für "dummes Geschwätz" (1993:47;25).
Von einem Bezug auf "Rasse" und "Blut" hält er explizit gar nichts.
1994 erscheint ihm gar "alles so spießig in Deutschland" (26;17f.). Er träumt von einem
"lockeren" Leben unter südlicher Sonne, am liebsten in Jamaika (s. seinen
Haschischkonsum).
Der regionale und lokale Sozialraum erscheint für den Affinitätsaufbau insoweit
mitverantwortlich als durch den Mangel an Angeboten der Jugendarbeit, der bis 1993
bestand ( siehe auch Interpret. Enrik), Jugendliche im Alter von L. in ihrer Freizeit
weitgehend alleinegelassen wurden. Ein "Abhängen" "auf der Straße" lag da für Jungen mit
außerhäusigen Freizeitvorlieben in der Phase des Absetzens vom kindlichen Spiel ("nicht
mehr Fußball mit 8jährigen" s.o.) nahe. Leos und E.s Beispiele zeigen, dass durch das
einfache Zusammenkommen mit ausländischen Jugendlichen im Rahmen von Jugendarbeit,
manche (nicht alle) Vorbehalte gegen Migranten aufgelöst werden können. Noch stärker
aber scheint die spätere Umorientierung von Leos Zeitplan zu wirken: Zeitknappheit und
gestiegene Mobilität entheben ihn zeitlich und räumlich den vormaligen Zwistigkeiten um
Raum. Und er lernt darüber auch z.T., Beziehungen neu zu konfigurieren (z.B. zum
Bruder).
Soziale Status-Fragen sind für L. scheinbar wenig relevant. Bemerkenswert ist aber doch,
dass er sich von den (ausländischen) Hauptschülern dadurch abzusetzen sucht, dass er
ihnen eine erhöhte Aggressivität zuschreibt. Insofern er selber einsehen muss,
leistungsmäßig schließlich eher auf Hauptschul- als auf Realschul-Niveau zu liegen, er
selber äußerst gewaltakzeptierend ist und dabei auch seine Provokationslust eingestehen
muss, erscheint die ethnische Absetzung fast paradox. Sie kann u.U. als Versuch der
Ablenkung von der eigenen Problematik mittels Projektion gedeutet werden
Geschlechtsspezifik, also hier: Maskulinität, als Bezugspunkt der sozialen Identität
entfaltet dort ihre Wirkung, wo Gewaltorientierungen zum Vorschein kommen. Territoriale
Kämpfe und sonstige gewalthaltige Konfliktlösungen sind an der Tagesordnung. Über sie
verschafft man(n) sich Respekt, demonstriert seine Stärke und Kumpelhaftigkeit.
Dies steht in deutlicher Verbindung mit einer jugendkulturellen Orientierung, innerhalb
derer Maskulinität in politisch rechter Tönung lebbar erscheint. Offenbar ist sie das
wesentliche Deutungskriterium, an dem Leo politische Verortung festmacht, sowohl seine
eigene als auch die anderer Gleichaltriger. Es sind die jugendkulturellen Signets (Kleidung,
Frisur Musikgeschmack usw.) und nicht politische Vorstellungen oder gar Ideologien im
eigentlichen Sinne, die die Fronten bestimmen. Gleichzeitig werden darüber die
Gewalthändel mit einem vorgeblichen Sinn ausgestattet, der ihnen nicht ohne weiteres
zukäme, würden sie nur als bloße Rauferei im Sinne eines Kinderstreits ausgetragen: In den
Streit der Jugendkulturen verwickelt zu sein, attestiert den Beteiligten die Überwindung der
Kindheits-Phase; Die Auffassung, einen politischen Streit auszufechten, umgibt die
Kämpfe gar mit dem Flair des Ernsthaften, des über den unmittelbaren Kontext hinaus
Wichtigen und suggeriert Anschluss an gesellschaftliche Praxen, die in der
Erwachsenengesellschaft Bedeutung haben bzw. wahrgenommen werden.
Die Beziehungen Leos im sozialen Nahraum erscheinen in Hinsicht auf vor allem zwei
Aspekte für den Verlauf von politischen Orientierungen und Gewaltakzeptanz bei ihm
bedeutsam:
Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Dissoziation der Familienstruktur
und der über den Vater weitergegebene schulische Leistungsdruck sich auf L. so
auswirkten, dass er nach Halt und Verständnis außerhalb der Familie suchte. Mit seinem
Freund E. steht er darüber hinaus in allen seinen Verlaufsbewegungen im Einklang.
XCIV
Anzunehmen ist also, dass diese Freundschaft erhebliche wechselseitige Beeinflussungen
mit sich bringt, sowohl bzgl. der Gewaltakzeptanz als auch bzgl. rechter Inszenierungen,
anfänglich in Richtung auf sie, später in Richtung auf deren Abschwächung.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Leo zeigt sich in den Interviews als durchaus reflexionsbereiter und -fähiger Jugendlicher
(vgl. auch Interviewer-Memo). Seine Rechtsorientierung zeigt sich nicht im bloßen
Wiederkäuen aufgeschnappter einschlägiger Parolen. Er versucht seine Haltungen zumeist
mit eigenen Erfahrungen zu untermauern. Allerdings bricht seine Reflexivität an zwei
entscheidenden Stellen ab, nämlich zum einen dort, wo er seine eigenen Erfahrungen zum
allgemeingültigen Maßstab einer Zustandsbeschreibung multikultureller Konfliktlagen
erhebt, zum anderen dort, wo er für seine Person die Unerläßlichkeit gewaltsamen Agierens
gegeben sieht und sich selbst gegenüber über die Angemessenheit seines Handelns keine
Rechenschaft mehr ablegt. Seine Schwierigkeit, interethnische Konflikte nicht reflektierter
beurteilen und verbal angehen zu können, hängt unabhängig von der Brisanz der akuten
Bedrohungssituation, in der er sich wähnt, sicherlich damit zusammen, dass er - wie 1993
deutlich wird - sich nicht in der Lage sieht, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen:
"Ich kann mich nicht in die Lage von denen setzen." (19;34f.)
Bei solchen Voraussetzungen ist erst recht keine Empathie zu erwarten.
Seine Unfähigkeit, prinzipiell gewaltfrei zu handeln bzw. mindestens gewaltfrei zu
reagieren, ist im Zusammenhang der (nicht nur) von ihm im Rahmen des männlichen
Violenzmusters vorgenommenen Normalisierung von Gewaltanwendung zu sehen. Sie wird
beispielsweise in der folgenden Sequenz deutlich:
"Wenn mich zum Beispiel einer anrempelt, absichtlich zum Beispiel, dann weiß ich, jetzt
geht es bestimmt gleich los. Nun muss ich mich darauf gefaßt machen, dass er mir gleich
eine geben kann. Und das muss man jetzt halt wissen. Wenn man halt so dabei ist, dann
lernt man das halt. Was heißt lernen? Dann weiß man das." (1993:22;31ff.)
1994 kommt er über seine bisherige innere Widerständigkeit, die er seinem Vater wegen
dessen Zumutungen ihm gegenüber entgegengebracht hat, über die bisher von ihm
gesetzten Relevanzen und in diesem Zusammenhang auch seine Gewaltakzeptanz (vgl.
nochmals 1994:19;11f.) ins Grübeln. Der Tod eines nahen, mit dem Auto verunglückten
Freundes (s.a. Enrik) hat ihn "nachdenklich" werden lassen, ob sich Aufregungen über
"Kleinigkeiten" überhaupt lohnen oder es nicht eher darauf ankommt "Spaß" im Leben zu
haben (vgl. 1993:30).
In dieser Hinsicht ist er geneigt, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Darin ist
allerdings nicht eingeschlossen, sich von Normalitäts-Mustern vereinnahmen zu lassen. Er
träumt vom großen Ausbruch ("irgendwie raus", z.B. durch Auswanderung) und scheint ihn
alltagseingebunden z.Zt. mit seinem Drogenkonsum schon mal ausprobieren zu wollen.
Speiste sich Leos Selbstwertgefühl 1992 und auch noch 1993 spürbar durch körperliche
Kraft, Mut und Geschicklichkeit in gewalthaltigen Auseinandersetzungen, so resultiert es
1994 eher aus dem Wissen, diese Phase hinter sich gelassen und dabei viele auch heute
noch relevante Fähigkeiten gewaltsamer Durchsetzung und Gegenwehr erworben, aber
auch inzwischen neue Orientierungen für Beruf und Zukunft entwickelt zu haben.
4.
Zusammenfassung
Leo ist ein Jugendlicher, bei dem über den gesamten Zeitraum der Untersuchung hinweg
fremdenfeindliche Orientierungen bestehen. Sie haben freilich dahingehend abnehmende
Tendenz, dass sie für ihn an Bedeutung und an gewaltbezogener `Ladung` verlieren.
Die Existenz dieser Orientierungen beruht offenbar im wesentlichen auf dem
Vorhandensein von Konkurrenzsituationen mit Migrantenjugendlichen, vor allem im
Umfeld maskulin konnotierter Territorialkämpfe im lokalen öffentlichen Raum. Sie werden
- wohl von beiden Seiten - als interethnische Konflikte wahrgenommen und von Leo
XCV
entsprechend jugendkulturell inszeniert. L. ist wohl u.a. deshalb in sie verwickelt, weil ihm
Schule und Familie keinen tragfähigen Rückhalt für seine Identitätsentwicklung zu bieten
vermögen und er in seiner Freizeit auf Suche nach Orientierungsmarken für den Erwerb
sozialer Anerkennung und Bestätigungsmöglichkeiten ist. Eine Reduktion ihrer subjektiv
empfundenen Brisanz ergibt sich durch einen Wechsel der Freizeitorte, an denen die
meisten dieser Konflikte angesiedelt sind. Er wiederum wird 1993 durch ein neues (s.
Interpr. Enrik) jugendarbeiterisches Angebot eingeleitet. Darüber (und über eine vielleicht
zufällige, vielleicht aber auch erwartbarem Sanktionsdruck vorbeugende Auflösung seiner
Skin-(Band-)Orientierung) verlieren sich die Kontakte zur rechten Szene allmählich, und es
kommen auch positive Kontakte mit ausländischen Jugendlichen zustande, die für L. das
Weiterverfolgen einer undifferenzierten Fremdenfeindlichkeit dissonant machen, so dass er
sich gezwungen sieht, die ihm persönlich bekannten ausländischen Jugendlichen von
seinen Ungleichheitsvorstellungen auszunehmen, insgesamt bereits lange in Deutschland
lebenden "Gastarbeitern" und ihren Familienangehörigen Anciennitätsrechte zuzugestehen
und seine Gewaltakzeptanz von diesen Zielgruppen wegzunehmen, um sie auf
Neuankömmlinge, wie z.B. Spätaussiedler(jugendliche) zu übertragen. Sie sind nämlich
genauso cliquenförmig in jungentypische Kämpfe hegemonial-maskulinen Zuschnitts
verwickelt. Diese Übertragung auf deutsche Staatsangehörige kann ihm auch deshalb
gelingen, weil seine Fremdenfeindlichkeit nie rassistisch, nicht einmal i.e.S., trotz
stellenweiser Relativierung der NS-Herrschaft, nationalistisch (im Sinne einer Aufwertung
der deutschen Nation) begründet war und seine politische Positionierung insgesamt
weniger rationalen Überlegungen folgte als auf jugendkulturellen Attitüden und
Präferenzen (Enrik spricht auch von "Moden") beruhte.
Durch das Verblassen des interethnischen Konflikts als Lebensabschnitts-Thema werden
auch die im Zusammenhang damit stehenden Gewalterfahrungen seltener und drängen sich
ihm entsprechende Gewaltphantasien weniger auf. Er kann nun deren Prävalenz als ein
durchlaufenes Entwicklungsstadium ("Kinderscheiß") bewerten und eben daraus auch
Selbstwertgefühl ziehen. An der prinzipiellen Gewaltakzeptanz Leos hat dies aber nichts
geändert (s. z.B. sein hooliganismus), ja das Gewaltniveau scheint sich sogar bis 1994
gesteigert zu haben; möglicherweise eine Folge der der Dauerhaftigkeit von
Gewaltanwendung innewohnenden und kaum zu stoppenden Eskalationstendenz. So sieht
es jedenfalls L., wenn er an mehreren Stellen der Interviews die eingesetzte Brutalität in
Abhängigkeit vom Alter setzt.
Nichtsdestoweniger hält ihn anscheinend die Angst vor Sanktionierung und einer
Verdüsterung seiner Zukunftsoptionen von auffälligem Gewaltverhalten ab. Da er trotz
schlechter schulischer Voraussetzungen noch einen ganz ordentlichen Schulabschluss
geschafft (Note: 2,4) und sofort problemlos eine Lehrstelle gefunden hat, will er die sich
damit bietende Normalitäts-Perspektive nichts aufs Spiel setzen. Zu dieser Deutung paßt
auch sein im letzten Erhebungsbogen niedergeschriebener Spruch: "Glück im Unglück".
Außerdem hat er schlicht keine Zeit und Energie mehr dazu, sich an Orten aufzuhalten, wo
Konflikte gewaltförmiger Natur vorprogrammiert sind. Hinzu kommt, dass Vater und
Bruder ihn in dieser Hinsicht bestärken, ohne dass er sich dem vormaligen Leistungsdruck
ausgesetzt sieht, vor allem aber, dass er inzwischen neue apolitische Lebensvorstellungen
und
individualisierte
Lebensweisen
(kommerzielle
Vergnügungsorientierung,
Haschischkonsum) entwickelt hat, die ihn den alten Konflikten entheben, seine
Ungleichheitsvorstellungen ohne gründliche Aufarbeitung in die Latenz verdrängen und
ihn "alles lockerer" sehen lassen, zumal er keine politischen Durchsetzungschancen für sich
sieht. Insofern sein über die Jahre hinweg "bester Freund" Enrik einen nahezu gleichen
Verlauf zeigt, ist auch von einer gegenseitigen Bestärkung der beiden auszugehen.
Lisa
1992 - 1994
XCVI
"Wir haben eigentlich ganz schön viele Ausländer in der Clique und auch Deutsche und so,
die verstehen sich ganz gut." (1992: 29;26 ff)
"Jeder Mensch ist genauso wie der andere, also es gibt für mich keine Unterschiede."
(1993: 42;30 ff)
"Wenn jemand hierher kommt und wirklich hier auch absahnen will, dann finde ich das
auch nicht richtig, schließlich arbeiten wir für, auch für die Asylbewerber." (1994: 53;26 ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Lisa, 1992 13 Jahre alt, katholisch, deutsch, lebt mit ihrer polnischen Mutter seit neun
Jahren in einem Vorort einer süddeutschen Großstadt. Vorher lebte sie in einer
mittelgroßen Stadt im Ausland.
1992 bewohnt sie mit ihrer Mutter und derem deutschen Freund eine 2-ZimmerSozialwohnung in einem Hochhaus. Zu ihrem leiblichen deutschen Vater hat sie keinen
Kontakt mehr. Die Mutter und der Freund haben beide Abitur und sind als Buchhalterin
bzw. technischer Zeichner tätig. 1993 trennt sich die Mutter von ihrem Freund und lernt
einen neuen Mann kennen, der aber nicht mit in der Wohnung wohnt. Lisa hat ein eigenes
Zimmer, und die Familie ist durchschnittlich materiell ausgestattet (vgl. Fb.). Lisa bezieht
zunächst 50 DM Taschengeld, 1994 hat sie aufgrund eines Nebenjobs 300 DM im Monat
zur Verfügung.
Sie besucht bis zum Ende der Untersuchung eine Realschule.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Lisa zeigt sich politisch interessiert und beklagt 1992, dass ihre Eltern sie mit dem Hinweis
auf zu erbringende schulische Leistungen bei Gesprächen über aktuelle Themen
ausschließen:
" ...das ist viel wichtiger, ob da jemand weiß, was in der Welt passiert, als nur hier in der
Schule zu sitzen über den Heften und Büchern. Ich finde, was hier passiert, ist eigentlich
viel wichtiger" (1992: 15;1 ff)
Sie würde 1994 sofort wählen gehen, wenn sie dürfte: "wenn ich nicht wähle, dann kann
ich nichts verändern" (1994: 52;5 f).
1992 rechnet sich Lisa selbst keiner jugendkulturellen Stilrichtung zu, bezeichnet aber
Skinheads, Hooligans, Hausbesetzer und national eingestellte Gruppen als "Gegner". Ab
dem folgenden Jahr bezeichnet sie sich selbst als "linke", d.h. für sie (gewaltfrei) "gegen
Nazis" (1994:23;16) eingestellte Jugendliche, während zu den letztgenannten
Gruppierungen noch Bundeswehrfans und rechte Jugendliche hinzu kommen. 1994
benennt sie keine Gruppierung explizit als "Gegner" und fühlt sich selber den Technos
zugehörig. Für sie gilt nun das Motto: "Jeder akzeptiert das, was der andere hört und mag"
(1994: 26;27 f).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Lisa zeigt durchgängig viele Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer, vermutlich
auch dadurch bedingt, dass ihre Mutter Polin ist und sich 1992 und 1994 in ihrer jeweils
aktuellen Clique auch Ausländer befinden: "wir haben eigentlich ganz schön viele
Ausländer in der Clique und auch Deutsche und so, die verstehen sich ganz gut" (1992:
29;26 ff). Durchgängig betont sie auch die positive Möglichkeit des kulturellen
Austausches zwischen Deutschen und Ausländern - "ja, man erfährt total viel, erstens über
XCVII
die Länder oder über die Sprache oder über Kultur" (1993: 45;25 ff) und schreibt
Ausländern (hier Engländern, die sie bei einem England-Besuch kennen gelernt hat) ebenso
grundsätzlich positive Attribute zu: "die Leute waren total freundlich, und sie haben einen
angenommen ..." (1994: 45;33 f).
Obwohl Lisa 1993 schon Angst vor zukünftiger Arbeitslosigkeit verspürt, hegt sie
korrespondierend mit ihrer Selbsteinschätzung als "links" keine Wegnahme-Theorien in
bezug auf Ausländer: "...wir denken jetzt nicht so, wie viele uns eigentlich einreden wollen,
dass es vielleicht zu viele Ausländer gibt ..." (1993: 30; 38 ff), sondern sucht die Gründe
eher in der wirtschaftlichen Konkurrenz anderer Länder oder finanziellen
Fehlentscheidungen der verantwortlichen Politiker (ebd.). Weiterhin unterstellt sie
Ausländern keine erhöhtes Kriminalitätspotential: "...es sind bestimmt nicht die Ausländer
(...), die einbrechen oder sonst was machen" (1993: 50;21 ff). Sie macht keine Unterschiede
zwischen Deutschen und Ausländern, weil sie der Meinung ist, dass "jeder Mensch
genauso ist, wie der andere" (1993: 42;30 ff). Die deutsche Staatsbürgerschaft sollte ihrer
Einschätzung nach jeder bekommen, der sie "möchte" (vgl. 1993: 43;24 ff), außerdem
sollte jeder Ausländer das Wahlrecht haben (ebd., 46;29 f). Als Gründe für die
Einwanderung nach Deutschland erkennt sie Flucht vor Folter, Schutzsuche und Armut an.
Als Grund für eine schlechtere Behandlung von Asylbewerbern im Vergleich zu anderen
Ausländergruppierungen (z.B. Aussiedlern) sieht sie die von deutschen Bürgern
vorgenommene Unterstellung "die wollen nur Geld haben" (1993: 44;2) an. Des weiteren
nimmt sie generelle Andersartigkeit und damit Auffälligkeit (z.B. dunkle Hautfarbe) als
Ursache für Ausgrenzung wahr (ebd.). Sie plädiert für einen anderen Umgang mit
Asylbewerbern, indem die Fehler nicht nur bei dieser Gruppierung, sondern auch im
eigenen Lande gesucht werden sollen und somit Veränderungen vorgenommen werden
können (1993: 46;34 ff). Allerdings glaubt sie, dass gegenseitige Akzeptanz nur freiwillig
erfolgen kann und Zwang keinen nachhaltigen Erfolg tätigen würde (ebd., 1 ff). Eine
absolute gesetzliche Gleichstellung der Ausländer hält sie hinsichtlich einer
möglicherweise daraus resultierenden unwilligen Reaktion der deutschen Bevölkerung für
problematisch.
Obwohl sie sich einen Ausländer als Freund vorstellen kann, äußert sie Vorbehalte
hinsichtlich eines "angeberischen" und "machohaften" Verhaltens von männlichen Türken
und Italienern. Dies kann sie mit eigenen Anmach-Erfahrungen begründen: "... dann wird
man irgendwie angepöbelt oder dann wird nachgepfiffen" (1993: 44;40 ff).
1994 bezeichnet Lisa sich explizit als "gegen Nazis oder Republikaner" (1994: 15;2). Für
sie äußert sich ‘Links-Sein‘ nicht im Tragen eines bestimmten Outfits oder der
gewalttätigen Konfrontation mit "Rechten", sondern darin, dass man "alle Leute tolerieren
können (muss), und das ist irgendwie egal, was für eine Nationalität und was für eine
Hautfarbe der hat" (ebd., 23;24). Obwohl sie selbst nicht alle Ausländer "liebt", plädiert sie
dafür, sie nach ihren individuellen Qualitäten und nicht nach ihrer Nationalität zu
beurteilen: "Ich finde es ganz ok, wenn man sagt, ja, ich kenne den, und ich mag den nicht
(...), ich habe irgendwie was dagegen, wenn man sagt, oh, das Gesicht gefällt mir nicht"
(1994: 24;12 ff).
Noch immer fordert Lisa, dass Verfolgten geholfen werden muss. Allerdings spricht sie
sich erstmals gegen ‘Asylbetrug’ aus und begründet dies mit Steuerzahler-Argumenten:
"Wenn jemand hierher kommt und wirklich hier auch absahnen will, dann finde ich das
auch nicht richtig, schließlich arbeiten wir für, auch für die Asylbewerber" (1994: 53;26 ff).
Hinsichtlich kursierender Annahmen über eine erhöhte Ausländerkriminalität verwehrt sie
sich gegen eine Sündenbock-Suche der Deutschen, weil diese nicht minder kriminell seien.
Jedoch benennt sie als "typische" Ausländerkriminalität "Autoschmuggel",
"Drogenverkauf" und "Prostitution" und fordert höhere Bestrafungen und die Abschiebung
kriminell gewordener Ausländer (1994: 54;10 ff). Dies begründet sie mit einer
Anpassungsforderung an deutsche Gesetze und Sitten: "Wenn jemand hier auch leben will,
XCVIII
und man ermöglicht ihm das auch, dann soll man sich auch irgendwie dementsprechend
verhalten" (ebd., 28 ff).
2.3
Gewaltakzeptanz
Lisa zeigt 1992 eine hohe Akzeptanz von staatlicher und fremdausgeübter Gewalt und
nimmt auch selber gelegentlich aktiv an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen
Jugendlichen teil. Sie verurteilt jedoch die in Rostock und Solingen erfolgten Übergriffe
gegen Ausländer. Im Laufe der Erhebung nimmt ihre personale Gewaltakzeptanz anders als
die Forderung nach einer stärker reglementierenden gesetzgebenden Gewalt sehr stark ab.
1992 äußert sie implizit Kritik an den Übergriffen in Rostock, indem sie die Äußerung ihrer
Eltern, "es gäbe zu viele Ausländer in Deutschland" kritisiert: "... dann haben sie sich
aufgeregt (...), das sind doch zu viele Ausländer, dann habe ich gesagt, ihr seid doch
eigentlich auch welche, wenn man eigentlich so beurteilt, müsste ja halb Deutschland raus,
weil sie entweder nicht richtig deutsch sind oder Ausländer, und ich finde, was soll das
eigentlich..." (1992: 14;18 ff). Vermutlich aus Angst vor sexuellen Übergriffen (vgl. 1992:
20;22 ff) fordert sie eine "straffere" Gangart in Deutschland (vgl. Fb.).
Hinsichtlich der gewalttätigen Konflikte zwischen ihrer "Spielplatz-" und anderen Cliquen
zeigt sie Billigung sowie Normalisierungs- und Verharmlosungstendenzen: "... dann gibt es
manchmal schon Zoff, und dann fangen die eben an, komm, schlagen wir uns und so, und
dann prügeln sie sich ein bisschen herum und so" (1992: 27; 14 ff). Auch sie selbst war
schon aktiv an zumindest einer Schlägerei beteiligt, wobei der Auslöser für sie war, "wie
sie über andere Leute und über mich herzogen" (ebd., 27;36 f). Vermutlich begründet
durch den restriktiven Erziehungsstil des Stiefvaters (s.u.), gegen den Lisa sich nicht
wehren kann und den sie als belastend empfindet, scheint sie Gewalt als eine Möglichkeit
der Abreaktion zu nutzen:
"...man braucht so etwas, sich irgendwann mal zu prügeln." (1992: 28;9 ff)
Zudem scheint sie Gewalt zum einen als eine Art ‘Kräftemessen’ - "es ging nicht um
Siegen oder Verlieren (...), wenn der eine am Boden war, dann hat man gesagt, siehst du,
ich bin der Stärkere, (...) man hat einfach losgelassen" (ebd., 3 ff) -, zum anderen als
Erziehungsmaßnahme zu verstehen: "wenn es Leute sind, die einfach nichts kapieren und
die über nichts reden wollen, dann ist der einzige Weg nur Prügel" (ebd., 20 ff). Bei
solchen Auseinandersetzungen werden keine Waffen benutzt (vgl. ebd., 33;35 ff).
Innerhalb der "Spielplatz"-Clique hält Lisa aus Angst vor gewalttätigen Reaktionen der
Cliquenmitglieder ihre eigene Meinung häufiger zurück (vgl. ebd., 29;6 ff).
Vermutlich aufgrund des aus der Trennung der Mutter von ihrem Freund resultierenden
wesentlich verbesserten Verständnisses zwischen Mutter und Tochter (s.o.), der
Abwendung von ihrer gewaltbereiten Spielplatz-Clique (s.u.) und der Einsicht "es bringt
nichts (...), wenn man jemand mit Gewalt begegnet, das kommt auch irgendwie wieder
zurück" (1993: 47;23 ff), distanziert sich Lisa 1993 eindeutig von der Anwendung
personaler Gewalt. Sie plädiert - auch unter Hinweis auf den Anschlag von Solingen - für
friedliche Wege der Konfliktlösung. Als Gründe für das Handeln der jugendlichen Täter
sieht sie Mitläufertum und das unreflektierte Übernehmen von Hetzparolen ( vgl.1993:
47;9 ff).
Für die aggressive Reaktion der jugendlichen Türken zeigt sie Verständnis, weil sie deren
Betroffenheit nachvollziehen kann: "Ich denke mal, dass die so eine richtige Wut hatten,
(...) Mensch, wir leben doch hier (...), dann tut ihr uns das an. Wir sind doch keine
schlechteren Menschen" (ebd., 33 ff).
Lisa hält die Polizei im Hinblick auf die hohe Kriminalitätsrate in Deutschland für
"machtlos". Jedoch sieht sie in einer von den Nationalitäten her gemischten Polizei eine
sinnvolle Maßnahme, um wachsender Kriminalität zu begegnen, weil ausländische
Polizisten sich besser in die jeweilige Mentalität ihrer Landsleute hineinversetzen und
somit etwas zur Verbrechensbekämpfung beitragen könnten.
XCIX
1994 hält Lisa den Einsatz von Gewalt für unter ihrem "Niveau" (1994: 9;22) und sieht als
Grund für ihre vormalige Gewaltbereitschaft einen die "Langeweile" vertreibenden "Kick"
(1994: 9;34 ff), den ihr die Teilnahme an Schlägereien verschafft habe. Sie kann ihre
Interessen mittlerweile ohne den Einsatz von körperlicher Gewalt durchsetzen:
"...wenn ich irgendwelche Interessen habe, dann sage ich das, und dann mache ich die
auch, ich meine, ich muss mich vor keinem rechtfertigen, und ich muss auch gar keine
Gewalt ansetzen." (1994: 10;4 ff)
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 gibt Lisa als Problembelastungen "das Verhältnis zu den Eltern" und "schulische
Probleme" an. Das Verhältnis zu ihrem kontrollierenden Stiefvater belastet sie aufgrund
seiner Dominanz, eines von ihr empfundenen Vertrauensmangels und einer starken
Leistungsorientierung, welche zu einem erhöhten schulischen Leistungsdruck bei ihr führt.
Zudem fürchtet sie, dass sich der Stiefvater negativ auf ihr Verhältnis zu ihrer Mutter
auswirkt. Weiterhin gibt Lisa "Ärger mit älteren Jugendlichen" an, womit sie vermutlich
auf die in der "Spielplatz-Clique" (s.u.) vorherrschende Gewalt anspielt. 1992 und auch
1993 hat sie zudem "Schwierigkeiten, einen Freund" zu finden. 1993 gibt sie o.a.
Problembelastungen nicht mehr an, jedoch belastet sie ihre "weitere Lebensplanung". Lisa
hat ein Praktikum als Sekretärin absolviert und macht sich Gedanken über evtl. spätere
Arbeitslosigkeit. Zudem ist sie sich über ihre Berufswahl noch nicht im klaren. 1994 gibt
sie als einzige Belastung "zu wenig Zeit" an. Sie lernt im Hinblick auf ihre
Abschlussprüfung sehr viel für die Schule, jobbt zur Aufbesserung ihres Taschengeldes in
einer Boutique und hat einen recht großen Freundeskreis, so dass sie sich die ihr zur
Verfügung stehende Zeit sehr gut einteilen muss.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
1992 stellt sich Lisas familiäre Situation für sie vor allem durch das stark angespannte
Verhältnis zu ihrem Stiefvater als ziemlich belastend dar: "mit meinem Vater habe ich
eigentlich jeden Tag Zoff" (1992: 6;4), "der ist nie liebevoll" (ebd.; 31) . Sie empfindet ihn
als kontrollierend, "streng" und "notengierig" (ebd.: 2;6 f) und wirft ihm mangelndes
Vertrauen, vor allem auch in ihre Freundeswahl, und emotionale Oberflächlichkeit vor. Sie
fürchtet um ihre Beziehung zur Mutter, weil diese dem Stiefvater in vielen Dingen nachgibt
und sich seiner Meinung anschließt. Zu ihrem leiblichen Vater hat Lisa aufgrund der
Tatsache, dass ihre Mutter sie vor die Wahl ‘sie oder der Vater’ gestellt hat, zu ihrem
Bedauern keinen Kontakt mehr. Nach der Trennung der Mutter von ihrem Freund
verbessert sich ihr Verhältnis zur Mutter wesentlich hin zu einer verständnisvollfreundschaftlichen Beziehung. Sie kann nunmehr mit der Mutter sowohl private als auch
aktuelle Probleme besprechen und unternimmt viel mit ihr, so dass diese Beziehung für sie
einen subjektiv für ausreichend empfundenen emotionalen Rückhalt darstellt. Den
Leistungs- und Anpassungsforderungen der Schule zeigt sich Lisa gewachsen, obwohl sie
1992 - vermutlich hauptsächlich durch die Leistungsorientierung der Eltern - "die wollen
einfach nur Leistung sehen. Da interessiert die nicht, wie ich das fertig bringe" (1992: 5;15
ff) -, respektive des Stiefvaters, - unter einem starken Leistungsdruck steht und befürchtet,
den Anforderungen nicht gerecht zu werden. In der Folge verbessern sich ihre Leistungen
zu ihrer eigenen Zufriedenheit. In die Klassengemeinschaft scheint sie durchgängig gut
integriert zu sein. Sie trifft sich auch privat mit ihren KlassenkameradInnen. 1993 nimmt
sie das Amt der Klassensprecherin wahr. Während des gesamten Erhebungszeitraums hat
Lisa wechselnde Freundeskreise bzw. Cliquen. 1992 bewegt sie sich in einer "vertrauten"
Klassenclique und in einem größeren, offeneren Cliquenverband, der sich auf einem
C
Spielplatz des Ortes trifft. Diese Clique ist altersheterogen und setzt sich aus Deutschen
und Ausländern zusammen, die untereinander nach ihrem Bekunden "gut" miteinander
auskommen. Innerhalb der Clique herrschen altersbedingte Hierarchien. Mit anderen, u.a.
um den Treffpunkt konkurrierenden, Cliquen kommt es häufiger zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen. 1993 hat Lisa sich aufgrund neuer Freizeitmöglichkeiten (Billard
im Schulgebäude; Mitnahme zum Tanzkurs durch ältere Mitschülerinnen) von dieser
Clique gelöst und ist mit vier Klassenkameradinnen befreundet. Diese Mädchengruppe löst
sich bis 1994 wegen interner "Eifersüchteleien" auf. Lisa ist weiterhin mit einem Mädchen
aus dieser Gruppe befreundet und hat sich u.a. über den Besuch einer Tanzschule eine
größere Clique erschlossen, die aus Ausländern und Deutschen verschiedener
jugendkultureller Stilrichtungen besteht. Diese trifft sich vornehmlich an den
Wochenenden in verschiedenen Discotheken oder Kneipen. Obwohl Lisa aufgrund
persönlicher Bindungen ihre Nachbarschaft bzw. ihr Wohnumfeld nicht verlassen
möchte, würde sie doch lieber in einem eigenen Haus wohnen. Zu ihren Nachbarn hat sie
ein distanziertes Verhältnis, weil sie "ihre Ruhe" haben möchte. Insgesamt befindet sie ihre
Umgebung als zu "trist". Aufgrund schlechter Straßenbeleuchtungen und wachsender
Kriminalität entwickelt sie Ängste in Richtung auf sexuelle Übergriffe und zeigt in Folge
Vermeidungsverhalten, z.B. sich nicht im Dunkeln alleine draußen aufzuhalten. 1994
bewegt sie sich im Rahmen ihrer neuen Clique über die Grenzen ihres Wohnortes hinaus.
In ihrer Freizeit unternimmt Lisa etwas mit ihren Freunden, z.B. Schwimmen oder
Bummeln gehen. Zunehmend bewegt sie sich in Discotheken und kommerziellen
Freizeiteinrichtungen. Außerdem besucht sie einen Tanzkurs und möchte in einem Verein
Volleyball spielen. Das örtliche Jugendhaus besucht sie von Anfang an selten, weil sie
einen "schlechten Einfluss" der dortigen älteren Jugendlichen z.B. im Hinblick auf
Drogenkonsum fürchtet.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Obwohl sich Lisas Auswahl der von ihr rezipierten Medien vornehmlich nach deren
Unterhaltungswert richtet (vgl. Fb.), zeigt sie sich doch sehr interessiert an aktuellen
Themen. Ab 1993 bespricht sie aktuelle Themen mit ihre Mutter und weiß sich mit ihr in
ihrer Ablehnung von Rechtsextremismus in Übereinstimmung. Besonders schätzt sie
Diskussionen, weil sie daraus lernen kann, "irgendwie die Meinungen von anderen zu
akzeptieren" (1994: 14;32 f). Auch ihre Klassenkameraden und jeweiligen FreundInnen
beschreibt sie als vornehmlich "links".
Mit der Schule hat sie den Landtag besucht. Besonders hat sie die Reaktion ihrer
Klassenlehrerin beeindruckt, die sich hinsichtlich der Anschläge in Solingen und Mölln bei
einem türkischen Klassenkameraden "im Namen des Volkes" entschuldigt hat. Mit
Interesse hat sie den NS-Unterricht in der Schule verfolgt und kommt zu dem Schluss, dass
sich die Deutschen ihrer Vergangenheit schämen müssen und dass jeder Deutsche, der
damals dabei gewesen ist, Verantwortung gegenüber den NS-Opfern trägt. Dennoch zeigt
sie Verständnis für das Verhalten der damaligen "manipulierten" Bürger, die ihrer Ansicht
nach wegen der Bedrohung ihres eigenen Lebens bzw. das ihrer Familien keine andere
Wahl hatten.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Obwohl Lisa sich persönlich nicht in Initiativen o.ä. engagiert, begrüßt sie die Aktivitäten
von z.B. Amnesty International und Umweltschutzinitiativen. Sie selber hat angefangen, ihr
Konsumverhalten nach Umweltschutz-Gesichtspunkten auszurichten. Hinsichtlich ihrer
beruflichen Zukunft möchte sie weiter die Schule besuchen, um später evtl.
Betriebswirtschaft studieren zu können. Entsprechend groß ist 1994 ihr schulischer Einsatz.
Möglicherweise bedingen ihre Ängste vor späterer Arbeitslosigkeit und die damit
CI
verbundene Leistungsorientierung die bei ihr 1994 erstmals auftauchenden - vermutlich
dem öffentlichen Diskurs entlehnten - Vorbehalte in bezug auf "Asylbetrüger", die
‘unberechtigterweise’ staatliche Leistungen ‘erschleichen’ (vgl. Kap. 2.2).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Lisa hat keine explizit positive oder negative Einstellung zu ihrer deutschen
Nationalitätszugehörigkeit. "Heimat" ist für sie dort, wo sie sich "wohlfühlt" und wo sie
Menschen hat, die sie "leiden" können. Sie kann sich vorstellen, eine zeitlang in England
zu leben, weil sie die "freundliche" und "offene" Mentalität der Engländer im Rahmen einer
Klassenfahrt kennen- und schätzen gelernt hat. Hauptsächlich scheint sie ihr Deutsch-Sein
als kulturelle Einbettung zu verstehen, weil sie immer wieder die Wichtigkeit des
kulturellen Austausches und die damit verbundenen Lern- und Verständnismöglichkeiten
zwischen Ausländern und Deutschen betont. Ihr regionaler und lokaler Sozialraum
scheint aufgrund seiner Bevölkerungszusammensetzung dazu beizutragen, dass sie
vermehrt auch im privaten Bereich mit Ausländern zusammentrifft und sie daher
individuell nach ihren persönlichen Qualitäten einschätzt. Ihr Sozialstatus als Tochter einer
Polin, die wie viele Ausländer in einer Sozialwohnung lebt, scheint dazu beizutragen, dass
Lisa sehr viel Sensibilität für die Probleme von Ausländern zeigt und
Ungleichheitsvorstellungen im großen und ganzen nicht entwickelt. Lisa nimmt ihre
Geschlechtsrolle bewusst wahr und identifiziert sich mit ihrer Meinung nach typischen
weiblichen Eigenschaften, wie z.B. Einfühlungsvermögen. Allerdings sieht sie sich aber
aufgrund mangelnder körperlicher Stärke und männlicher Aggressivität auch als
potentielles Opfer sexueller Übergriffe. Zumindest in der erwähnten "Spielplatz"-Clique
scheint sie sich noch 1992 als junges Mädchen der männlichen Dominanz häufig zu fügen.
Obwohl sie in bezug auf Ausländer keine Kriminalitätstheorien vertritt, scheint ihre Angst,
als Frau ein potentielles Opfer von Gewalt zu sein, doch eine Sensibilisierung gegenüber
Kriminalität und somit ihre Forderung nach Anpassung der Ausländer an deutsche Gesetze
und Sitten und bei Nichtbeachtung nach deren Ausweisung zu bedingen. Zudem zeigt sie
aufgrund eigener Erfahrungen Ressentiments hinsichtlich des "Macho-Gehabes" und
"Angebertums" männlicher italienischer und türkischer Jugendlicher.
Lisas jugendkulturelle Orientierung richtet sich auf "linke" Positionen, wobei sie aber die
Verwendung von entsprechenden äußerlichen Attributen ablehnt. Ihre Beziehungen im
sozialen Nahraum scheinen ihre politischen Ansichten zu unterstützen, weil sie sich
sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihren Klassenkameraden und jeweiligen
(ausländischen) FreundInnen zumeist in Übereinstimmung weiß. Hinsichtlich ihrer
anfänglich hohen Gewaltakzeptanz scheint sich zum einen das gespannte Verhältnis zum
Stiefvater auszuwirken, aufgrund dessen sie anscheinend Gewalt ab und zu als "Ventil"
benutzt. Zum anderen bieten sich im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu der "Spielplatz"Clique Möglichkeiten zur Teilnahme an kollektiven gewalttätigen Auseinandersetzungen,
die im Hinblick auf Konkurrenz- und Territorialverhalten mit anderen
Jugendgruppierungen ausgetragen werden.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Lisa zeigt Ausländern gegenüber ein hohes Maß von Toleranz, die sich in
Gleichheitsvorstellungen ihnen gegenüber und der Achtung bzw. Wertschätzung fremder
Kulturen und Mentalitäten niederschlägt. Ebenso beweist sie Reflexionsvermögen
hinsichtlich aktueller Probleme, der Situation der Ausländer in Deutschland und ihrer
familiären Situation. Besonders ihrer Mutter und der Situation von Asylbewerbern in ihren
Herkunftsländern bringt sie ein ausgeprägtes Empathievermögen entgegen. Dies
korrespondiert mit ihrer Einschätzung, dass Mädchen und Frauen grundsätzlich mehr
Einfühlungsvermögen als Jungen und Männer besitzen. Lisas Konfliktfähigkeit steigert
CII
sich zunehmend dahingehend, dass sie ihre Meinung verbal durchsetzen und daher auf
personal-physische Gewalt verzichten kann. Sie schätzt Diskussionen, weil sie bewusst die
Mechanismen verbaler Auseinandersetzungen präferiert und weiter erlernen will. Ihre
persönlichen Wünsche kann sie zurückstellen, wenn sie einsieht, das diese die (z.B.
finanziellen) Möglichkeiten der Familie übersteigen. Lisa zeigt Bereitschaft,
Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sei es in der Schule als
Klassensprecherin oder auch als Bürgerin Deutschlands, die zur Verteidigung der Rechte
ausländischer Mitbürger an "Lichterketten" oder friedlichen Demonstrationen teilnehmen
würde (vgl. 1994: 56;20 ff). Lisas zunehmend ausgeprägtes Selbstwertgefühl resultiert aus
dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, auch komplizierte
Sachverhalte reflektiert beurteilen zu können. Ihre individuellen Kompetenzen befähigen
sie zunehmend, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese begründet darstellen und
gegebenenfalls gewaltfrei durchsetzen zu können. Die Anerkennung und Akzeptanz, die sie
von ihrer Mutter und ihren jeweiligen FreundInnen bezieht, auf deren konstruktive
Meinung bzw. Kritik an ihr sie sehr viel Wert legt, untermauern ihr Selbstbewußtsein.
4.
Zusammenfassung
Lisa präsentiert sich als ein Mädchen, dass sich - vermutlich hauptsächlich aufgrund der
polnischen Nationalität ihrer Mutter und des freundschaftlichen Umgangs mit
AusländerInnen, die sie anhand ihrer individuellen Qualitäten beurteilt - durch die
Ausbildung vieler Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer auszeichnet, die
allerdings von Ressentiments hinsichtlich eines selbst erfahrenen "Macho-Gehabes" und
"Angebertums" jugendlicher männlicher Türken und Italiener und 1994 erstmals augenscheinlich nicht zuletzt resultierend aus der Angst vor Arbeitslosigkeit und einer
damit einhergehenden starken Leistungsorientierung in der Schule - von Vorbehalten im
Hinblick auf "Asylbetrüger", die sie mit Steuerzahler-Argumenten begründet, durchsetzt
sind. Durchgängig distanziert sich Lisa von der Anwendung politisch motivierter
personaler Gewalt an Ausländern. Ihre eigene, 1992 recht hohe, personale Gewaltakzeptanz
baut sich bis 1994 ganz ab. Lediglich die Propagierung und Billigung von staatlicher
(Polizei-)Gewalt zur Verhinderung von Kriminalität ist gleichbleibend, wenn nicht gar
nach 1994 hin zunehmend, weil sie hier erstmals explizit die Ausweisung kriminell
gewordener Ausländer fordert.
Im einzelnen zeigt sich Lisas Gewaltakzeptanz 1992 in der Billigung von Gewalt Dritter,
wobei sie diese im Cliquenrahmen z.B. durch "Anfeuern" zu verstehen gibt. Sie selbst wird
zumindest bei einer Cliquen-Schlägerei selbst aktiv. Die Anwendung von Gewalt scheint
dabei für sie als "Ventil" für Spannungen zu fungieren, die wohl vornehmlich aus dem
belasteten Verhältnis zum Stiefvater und einem hohen schulischen Leistungsdruck
resultieren. Lisa, die ihren Stiefvater als kontrollierend, "notengierig" und launisch
empfindet, kann sich gegen ihn nicht durchsetzen, zumal ihre Mutter bei
Auseinandersetzungen eher zu ihrem Freund hält und ihr keinen Beistand leistet. Daher
fürchtet Lisa, auch die Zuneigung ihrer Mutter zu verlieren, wenn sie sich zu Hause zu sehr
auflehnt. Da sie sich - wie erwähnt - z.T. mit von ihr für typisch gehaltenen MädchenEigenschaften wie z.B. Einfühlungsvermögen und körperliche Unterlegenheit identifiziert,
scheint ihr kollektives Gewaltverhalten im schützenden Cliquen-Zusammenhang als
willkommene Maßnahme zum Ausbruch aus der zu Hause gezeigten Anpassung und zum
Abreagieren von Spannungen zu dienen. Daneben stellt Gewalt für Lisa eine Art
"Erziehungsmittel" dar, wenn verbale Auseinandersetzungen nicht mehr fruchten. Hier
scheint sie cliquen-interne Mechanismen von Dominanz und Durchsetzung aber auch
eigener Unterlegenheit zu übernehmen. Denn innerhalb der alters -, geschlechts- und
nationalitätsheterogenen Spielplatz-Clique leidet Lisa selbst unter der Dominanz einzelner
(männlicher) Mitglieder, so dass sie aus Angst vor gewalttätigen Repressalien häufig auf
die Äußerung ihrer eigenen Meinung verzichtet. Durchgängig zeigt Lisa Angst vor
CIII
sexuellen Übergriffen und fühlt sich als Frau als potentielles Opfer. Diesem Umstand
scheint geschuldet zu sein, dass sie eine reglementierende Gesetzgebung bzw.
Polizeigewalt propagiert und billigt und dass sie aus eigener Erfahrung o.a. Ressentiments
gegen Türken und Italiener zeigt.
Mit der Trennung der Mutter von ihrem Freund verbessert sich Lisas Verhältnis zu ihr hin
zu einer verständnisvoll-freundschaftlichen Beziehung ("ganz arg toll", 1993: 8;32), in der
sie emotionalen Rückhalt, mehr Verantwortung und Anerkennung erhält. Gepaart mit dem
Wachsen ihrer persönlichen Kompetenzen und ihres Selbstbewusstseins als Frau - "ich
akzeptiere mich eigentlich wie ich bin" (1993: 35; 26 f) - sowie der anscheinend damit
verbundenen freiwilligen Abgrenzung von der "Spielplatz"-Clique scheinen diese
Entwicklungen in ihrem Lebensalltag und ihrer Persönlichkeit dazu zu führen, dass sie in
der Folge Gewalt nicht mehr als Lösungsmittel für Konflikte ansieht und sich deshalb
konsequent davon distanziert. Zudem hat sie schon 1993 ihr Freizeitverhalten aufgrund
neuer Angebote dahingehend verändern können, dass sie nicht mehr pure "Langeweile" hat,
die sie im nachhinein als einen wichtigen Grund für ihre ehemalige "Spielplatz"Cliquenzugehörigkeit und das damit verbundene Gewalthandeln erkennt. Dazu kommt
1994 eine über die Grenzen des Ortes hinausgewachsene Mobilität: Lisa bewegt sich nun
im Rahmen einer stilungebundenen, heterogenen Clique bei ihren Freizeitunternehmungen
in Discotheken und Kneipen, in denen sie nicht mehr mit Mitgliedern der "Spielplatz"Clique zusammentrifft.
Die Teilnahme an einem Praktikum als Sekretärin bedingt bei ihr, dass sie sich vermehrt
Gedanken über ihre berufliche Zukunftsplanung macht und damit verbunden auch Ängste
in Richtung späterer Arbeitslosigkeit entwickelt. Dies und der Wunsch zu studieren
scheinen bei ihr eine erhöhte Leistungsorientierung und -bereitschaft zu verursachen.
Möglicherweise ist hier ein entscheidender Grund dafür zu suchen, dass Lisa 1994 erstmals
Vorbehalten in bezug auf "Asylbetrüger" entwickelt. Die zur Begründung herangezogenen anscheinend dem öffentlichen Diskurs entlehnten - Steuerzahler-Argumente deuten darauf
hin, dass sie Leistung und Anpassung an hiesige Normen, die sie selbst erbringen muss,
auch von Flüchtlingen verlangt.
Mickey 1992 - 1994
"Die, welche einfach nur so hierher kommen, die Asylanten, und viel Geld kriegen und so,
gegen die habe ich auch schon was. Meine Eltern arbeiten, und die bekommen das Geld
und dürfen umsonst Bus fahren, dürfen umsonst ins Freibad, klauen Fahrräder, die Polizei
macht nichts." (1992: 36;12 ff)
"Mir ist das egal (Anschlag in Solingen; d.V.). Hier gibt es ja eh jeden Tag Schlägerei."
(1993: 26;20 f)
"Ja, links schon mal nicht, Kommunismus, nein danke, ja, mehr rechts. Also in
Deutschland würde ich nicht sagen, aber wenn ich in Kroatien wäre, dann schon rechts. (...)
Ich bin ja Ausländer, da kann ich nicht sagen, hier bin ich rechtsradikal und scheiß
Ausländer." (1994: 38;22 ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
CIV
Mickey, geb. 1979, Kroate, katholisch, lebt mit seinen Eltern in T., einer Gemeinde mit ca.
9.000 Einwohnern im Ballungsraum Stuttgart. Die Eltern sind ebenfalls kroatischer
Nationalität und leben seit geraumer Zeit in Deutschland. Mickey ist in Deutschland
geboren und zweisprachig aufgewachsen. Er hat noch zwei ältere Brüder, von denen der
eine zunächst mit seiner Familie in Kroatien im Haus des Vaters lebte, später nach
Deutschland zurückzog und nun wie der andere Bruder in Stuttgart wohnt.
Mickeys Mutter arbeitet in einer Wäscherei, der Vater "auf dem Bau". Der zweitälteste
Bruder ist Kfz-Mechaniker. Die Familie bewohnt eine 3-Zimmer-Mietwohnung in einem
Mehrfamilienhaus mit sechs Wohneinheiten. Mickey verfügt über ein eigenes Zimmer. Die
Familie ist durchschnittlich gut materiell ausgestattet, wobei Mickey z.B. im Hinblick auf
Kleidung überdurchschnittlich gut von seinen Eltern versorgt wird. Als Taschengeld stehen
ihm zunächst 50 DM, später 100 DM im Monat zur Verfügung.
Bis zum Schuljahreswechsel 1993/94 besucht er die in eine größere Jugendhilfeeinrichtung
integrierte Tagesgruppe in der ca. 15 km entfernten Stadt W. sowie die ebenfalls dort
angeschlossene Förderschule. Danach besucht er wieder eine Hauptschule in seinem
Wohnort. Dort ist er durchgängig Mitglied in einem Fußballverein.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Mickey ist an deutscher Politik explizit nicht interessiert. 1994 zeigt er jedoch gemessen an
seinem sonstigen politischen Informations- und Interessestand ein beachtliches Wissen und
Interesse von und an der kroatischen Geschichte und Politik. Hier interessieren ihn
besonders die Ustascha (nationalistische kroatische Organisation, 1929 gegr.; unter A.
Pavelic, 1941-45 in Kroatien herrschend) und deren Zusammenarbeit mit den deutschen
Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sowie der HSP, einer gegenwärtig bestehenden
nationalistischen Partei Kroatiens und deren Armee (HOS). Zudem hat er Kenntnisse von
deutschen rechten Vereinigungen z.B. von der Deutschen Liga und Wiking-Jugend.
1992 rechnet Mickey sich selbst zu den Fußball- und Heavy-Fans, Fans von Musikgruppen
und Hooligans. "Gegner" sind für ihn Rapper, Biker, Bundeswehr-Fans, Rocker und DiscoFans. 1993 fühlt er sich nur noch den Fußball-Fans zugehörig, zu den "Gegnern" kommen
noch linke Jugendliche, Grufties und Autonome hinzu. 1994 rechnet er sich wieder zu den
Hooligans und neu zu den Technos, explizite "Gegner" benennt er nicht mehr (vgl. Fb.).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
1992 sind Mickeys Orientierungen in bezug auf (Un-)Gleichheitsvorstellungen hinsichtlich
Ausländern stark von einem Zwiespalt geprägt, der sich aus seiner Zugehörigkeit zu einer
rechtslastigen Clique einerseits und seinem Status als Ausländer in Deutschland
andererseits ergibt. Obwohl sich in seiner alters-, nationalitäts- und stil-heterogenen Clique
mehrere rechtsorientierte Skins befinden, rechnet er sich selber zu den "Heavies" (vgl.
1992: 11;1 ff) und schätzt sich als "eher mehr links eben" (ebd. 23;35) ein. Als Definition
für diese Richtung benennt er das subkulturelle Kriterium "linke Musik eben hören" (ebd.
37), wenngleich er ebenfalls Musik von den rechtsorientierten Gruppen ‘Störkraft’,
‘Endstufe’, und ‘Kahlkopf’ hört (vgl. 1992: 1;6 ff). In der Folge begründet er seine
Einstellung aber auch tiefergehend mit einem Argument, das seine eigene Betroffenheit
angesichts der aktuellen ausländerfeindlichen Gewalttaten widerspiegelt:
"Ich finde es eben Scheiße. Angenommen, du kommst jetzt als Fremder in ein Land (...)
und wirst dort zusammengeschlagen oder so etwas, und deine Eltern werden umgebracht."
(1992: 23;38 ff)
Zwar distanziert er sich einerseits von den Skins in seiner Clique, weil "die blöd (sind), die
blicken das auf keinem Auge.(...), weil sie Mitläufer sind" (ebd. 13;4 ff), andererseits kann
er jedoch deren ausländerfeindlichen Aktionen auch etwas Gutes abgewinnen, weil dadurch
CV
"vielleicht die Ausländer, die einfach nur so hierher kommen und Geld verdienen" (ebd.
13;29 f) abgeschreckt werden. Anscheinend um die Diskrepanz zu überbrücken, die sich
zwischen seiner trotz seines geringen Alters führenden Rolle (s.u.) in seiner tendenziell
rechtsorientierten Clique und seinem Status als Ausländer ergibt, differenziert er Ausländer
in zu akzeptierende, da schon länger ansässige und sich selbst versorgende Gastarbeiter "ja, meine Eltern arbeiten" (1992: 36;19) - sowie "Flüchtlinge" (ebd. 37;11) und in nicht zu
akzeptierende, "zurückzuschickende" (ebd. 37;16) Asylbewerber: "die bekommen das Geld,
und die dürfen umsonst Bus fahren, dürfen umsonst ins Freibad, klauen Fahrräder, die
Polizei macht nichts" (ebd. 36:19 ff). Hier greift er sowohl auf in der Öffentlichkeit
kursierende ‘Scheinasylanten’-Argumentationen und Fehlinformationen über die
Versorgung von Asylsuchenden als auch auf den Vorwurf einer erhöhten Kriminalität
zurück. Bei letzterem kann er auf die eigene Erfahrung des Diebstahls seines Fahrrades
durch einen "Albanier oder Araber" (ebd. 36;36) verweisen.
Obwohl Mickey 1993 von sich behauptet, dass ihm Asylbewerber "egal" sind, solange sie
ihn "in Ruhe lassen" (1993: 29;12) und er als Gründe für Asylgewährung politische
Verfolgung, Krieg im Herkunftsland und Armut anerkennt (vgl. ebd. 33;38 ff), vertritt er
nach wie vor die ‘Scheinasylanten’-Argumentation, wobei er allerdings zwischen seiner an
den eigenen Aufenthaltsstatus gebundenen Meinung als Ausländer und der davon
unabhängig eher latent individuell vorhandenen differenziert:
"Das kann ich nicht sagen, ich bin ja selber Ausländer. Wenn ich Deutscher wäre, würde
mich das natürlich schon ankotzen." (ebd. 30;6 ff)
Zusätzlich argumentiert er nun auch mit Wegnahme-Theorien: "Weil sie herkommen und
hier Geld machen wollen und die Deutschen vielleicht keine Wohnung kriegen und keine
Arbeit" (ebd. 14 ff). Weiterhin macht er Asylbewerbern (hier Albanern) den Vorwurf,
"Freundinnen anzubaggern" (ebd. 29;16), ein Vorfall, der ihm von den betroffenen
Mädchen berichtet wurde. Sein o.a. Rollenkonflikt als Ausländer in einer tendenziell
rechtsgerichteten Clique äußert sich noch immer, z.B. einerseits in der Einlassung, bei
gewalttätigen Auseinandersetzungen ‘gezwungenermaßen’ eher zu den Türken zu halten "ich muss ja den Türken helfen" 1993: 28;25) - und die (rechtsorientierten) Skins zu
"hassen" (ebd. 46;26). Andererseits nimmt er aber die Mitglieder seiner Clique aus der
Definition "Skins" heraus, vermutlich um trotz seines vorhandenen Feindbildes konfliktfrei
mit ihnen zusammensein zu können: "Nein, das sind ja auch nicht richtige Skins, also die
haben also mehr was gegen Asylanten, nicht gegen Ausländer" (ebd. 28;32). Auf diese
Weise kann er sich über die gemeinsamen Vorurteile gegen Asylbewerber mit den seiner
Meinung nach eher "rechten Jugendlichen" (vgl. ebd. 29;2 f) arrangieren (und bis zu einem
gewissen Grad wohl auch identifizieren), ohne sich als Ausländer von ihnen bedroht fühlen
oder die Offensive gegen sie ergreifen zu müssen.
1994 sind Mickeys Orientierungen neben den noch immer o.a. Ungleichheitsvorstellungen
in
bezug
auf
Asylbewerber
von
einem
starken
kroatischen
Nationalitätszugehörigkeitsgefühl und einem großen Nationalstolz sowie der traditionellen
Feindschaft zwischen Kroaten und Serben geprägt. Noch immer differenziert er zwischen
politischen Ansichten, die er als Ausländer in Deutschland vertritt und solchen, die er als
Einheimischer in Kroatien vertreten würde. Er selbst schätzt sich nun "mehr rechts" ein:
"Links schon mal nicht, Kommunismus, nein danke, ja, mehr rechts. Also in Deutschland
würde ich nicht sagen, aber wenn ich in Kroatien wäre, dann schon rechts. (...) Ich bin ja
Ausländer, da kann ich ja nicht sagen, hier bin ich rechtsradikal und scheiß Ausländer."
(1994: 38;22 ff)
Als Konsequenz der im Zweiten Weltkrieg erfolgten Zusammenarbeit der deutschen
Nationalsozialisten mit dem damaligen faschistischen Führer der Kroaten, den Mickey
bewundert (vgl. ebd. 23;34 ff), beurteilt er "Nazis" und "Skins" im Gegensatz zu den
Vorjahren jetzt eher neutral: "Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich die Nazis gut finde, weil
sie nach Kroatien gegangen sind, weil sie den Kroaten helfen, und ich kann nicht sagen, ja,
CVI
die Nazis finde ich schlecht, weil sie Ausländer rausscheuchen" (ebd. 35;31 ff). "Ich kenne
nur Skins, die nichts gegen Kroaten haben" (ebd. 36;23 f).
Obwohl er der Ansicht ist, dass die Deutschen sich für Hitler "schämen" müssen (ebd.
20;40), weil dieser "die ganze Welt erobern wollte" (ebd. 24;16), ist er auf den damaligen
kroatischen Führer Pavelic eher "stolz", weil dieser nur für Kroatien gekämpft und "alle
Serben umgebracht" habe (ebd.). Das im damaligen Kroatien auch Juden und Zigeuner
getötet wurden, "war nur eine Nebensache, der Hauptsinn war nur mit den Serben" (ebd.
29;4 ff).
Im nachhinein scheint der Umstand, dass Mickey in den Vorjahren explizit mehrmals
Albaner ("das ist Serbien", 1992: 31;26) als Zielgruppe seiner Ungleichheitsvorstellungen
benannte, zumindest auch der vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt latent empfundenen
traditionell-nationalistischen Feindschaft zwischen Kroaten und Serben geschuldet zu sein.
2.3
Gewaltakzeptanz
Mickey zeigt 1992 sowohl auf personaler als auch auf politischer Ebene eine hohe
Gewaltakzeptanz. Cliquen-intern weiß er sich mit Gewalt den nötigen Respekt zu
verschaffen, wenn er in seinem Status als Ausländer angegriffen werden sollte:
"Also die wissen ganz genau, wenn sie das vor mir machen, dann gibt es Dresche." (1992:
12;6 f)
Die Bereitschaft, die Gewaltoption einzuschlagen, wird für ihn durch die verschiedenen
Erfahrungen im Cliquenzusammenhang erleichtert, in denen sich diese Art der direkten
Konfrontation bisher bei Schlägereien mit anderen (türkischen) Jugendlichen bewährt hat.
Hier sieht er sich zum einen in der Opferposition, weil die türkischen Aggressoren ein
Cliquenmitglied zusammengeschlagen haben (vgl. 1992: 14;1 ff), zum anderen fühlt er sich
der Regel ‘den Freunden helfen zu müssen’ (vgl. 1992: 19;15 ff) verpflichtet. Letzteres
scheint der Orientierung an bestimmten ‘Männlichkeitsidealen’, z.B. Kraftprotzerei,
Kumpelhaftigkeit und Verlässlichkeit unter Männern, geschuldet zu sein. Obwohl während
dieser Auseinandersetzung auch Gaspistolen benutzt und Messer mitgebracht wurden, die
aber nicht zum Einsatz kamen, scheint diese Art von Auseinandersetzungen zwischen den
einzelnen Jugendgruppierungen eher jugendkulturell als ideologisch begründet zu sein,
wobei Gewalt als ritualisierte Form des Kräftemessens eingesetzt wird. Wenngleich es zu
schwereren Verletzungen bei einzelnen Teilnehmern kam, konnte der Streit durch eine
Entschuldigung des Gegners beigelegt werden und führte nicht zu einer dauerhaften
Verfeindung der beiden Gruppen. Im Rahmen der Clique kommt es häufiger zu mehr oder
weniger großen Normüberschreitungen (z.B. Herumspielen mit einem Feuerlöscher in einer
Tiefgarage, vgl. 1992: 21;30 ff), weswegen die Jugendlichen schon polizei-bekannt sind
(vgl. ebd. 22;2 f). Inwieweit Mickey selber aktiv an diesen Aktionen beteiligt war, bleibt
unklar, zumindest scheint er sie aber zu tolerieren, wenn nicht zu billigen. Obwohl Mickey
eine "straffere Gangart" in Deutschland befürwortet (Fb. 1992), "juckt" es ihn aufgrund der
negativen Erfahrungen mit der Polizei und des Erlebnisses der Untätigkeit der Polizei bei
Fahrraddiebstählen (vgl. ebd. 37;1 ff) "eigentlich weniger", dass Jugendliche in Rostock
Gewalt gegen die Polizei angewandt haben (vgl. ebd. 16;9). Gewalt fungiert für ihn nicht
nur als jederzeit einsetzbares Mittel der Einschüchterung bzw. Bedrohung gegenüber
konkreten Provokationen, sondern auch als kollektives Machtinstrument zur Vergeltung
nicht tolerierbarer (politisch motivierter) Übergriffe. So vertritt er z.B. im Hinblick auf
rassistische Gewalttaten wie in Mölln eine harte und offensive Linie und propagiert ein
Bündnis aller Ausländer gegen Rechtsorientierte:
"Hoffentlich passiert mit den Skins und mit den Nazis dasselbe, was mit den drei Frauen
passiert ist. Ich meine: dass die ganzen Ausländer zusammen gegen die Skins gehen."
(1992: 35;32 ff)
Trotzdem kann er als Gründe der Täter für die ausländerfeindlichen Übergriffe
Problemdruck und Abschreckungsfunktionen nachvollziehen (vgl. 1992: 6;20 ff).
CVII
Obwohl Mickey 1993 von sich behauptet, "insgesamt ruhiger geworden" zu sein (1993:
2;28) und meint, "dass man Probleme ohne Gewalt lösen kann" (ebd. 1;20), scheint seine
Gewaltakzeptanz sowohl im politischen als auch im personalen Bereich weiter angestiegen
zu sein. Besonders auf ausländerfeindliche Übergriffe reagiert er jetzt im Gegensatz zum
Vorjahr sehr indifferent und neigt dazu, diese politisch motivierte Gewalt aufgrund von
alltäglich gemachten Gewalterfahrungen zu verharmlosen und zu normalisieren: "Mir ist
das egal (Solingen; d.V.). Hier gibt es ja eh jeden Tag Schlägerei" (ebd. 26;20). Noch
immer sieht er Gewalt u.a. als Mittel zur Gegenwehr an. Daher kann er die gewalttätigen
Aktionen der Türken als Wut- und Rache-Reaktion auf den Anschlag in Solingen auch gut
verstehen und macht zudem die Einlassung, dass er als Betroffener ebenso reagieren würde
(vgl. ebd. 34;23 ff). Auch seinen momentan besten Freund, der schwarzhäutig ist, würde er
mit Gewalt verteidigen: "Sollen sie doch herkommen, wenn sie was wollen" (ebd. 32;19).
Einen anderen wesentlichen Aspekt seiner hohen Gewaltakzeptanz stellt die Möglichkeit
dar, über violentes Verhalten Männlichkeitsideale wie Wehrhaftigkeit und
Dominanz(streben) zu demonstrieren und damit verbunden Risiko, Spannung und
Abenteuer zu erleben. Dies wird deutlich an seinen Äußerungen über die Reaktion der
Türken sowie die Anwendung von kollektiver Gewalt der Hooligans im Fußballstadion:
"Das ist geil" (ebd. 36;2). Obwohl Mickey sich gegen Waffengebrauch und allzu brutale
Vorgehensweisen ausspricht (vgl. 1993: 35;35 ff) und Gewalt in diesem Zusammenhang
eher als ritualisierte Form des Kräftemessens ansieht - "wenn sie sich so schlagen mit
Fäusten, ja" (ebd.) - billigt er doch den Einsatz von Waffen (z.B. Kampfhunde) bei
kollektiven Hooligan-Auseinandersetzungen. Ein Hool, der seine Rottweiler auf seine
Gegner losläßt, scheint für Mickey zudem eine Art Vorbildfunktion zu haben ("einer, wo
Power hat", 1993: 37;18), ein Zeichen für die große Faszination, die diese Aktivitäten auf
ihn ausüben. Obwohl er sich - wahrscheinlich aufgrund seines geringen Alters - bei den
Auseinandersetzungen zwischen Skins und Türken sowie bei Hool-Schlägereien noch mehr
als Zuschauer betätigt, kann er sich vorstellen mitzumachen, wenn er älter ist (vgl. ebd.
36;23 ff). Insgesamt wird gerade die Hooligan-Gewalt von Mickey vollkommen
verharmlost und normalisiert, so dass er sie nicht mehr als solche, sondern eher als festen
Bestandteil eines Fußballspiels wahrnimmt: "Das ist normal beim Fußball (und keine
Gewalt; d.V.)" (36;32), "erst das Spiel angeschaut und danach die Schlägerei angeschaut"
(38;12 f), "das brauchen wir, die einfach. Die Mannschaft unterstützen" (37;30 f). Der
Umstand, dass es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen Hools und Ausländern kommt,
scheint weniger ideologisch als jugend- bzw. konsumkulturell bedingt zu sein: "Hooligans
tragen halt Prince-System-Sachen, Replay-Sachen, Markensachen halt (...), was die
(Ausländer; d.V.) sich nicht leisten können. So sagen sie es" (1993: 39;15 ff).
Während 1994 Mickeys Akzeptanz personaler Gewalt im privaten Bereich eher gleich
bleibt - wenn nicht sogar nach seiner eigener Einschätzung abnimmt - nimmt sie im
Hinblick auf politisch motivierte staatliche und personale Gewalt stark zu. Obwohl es
zwischen den unterschiedlich jugendkulturell ausgerichteten Gruppierungen in seinem
Umfeld noch immer häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, hält er sich
persönlich aus diesen Konflikten heraus, weil es ihn "nichts angeht" (1994: 42;2) oder weil
er vor bestimmten Gruppierungen "Muffe" hat (ebd. 47;15). Auslöser für eigene
Gewalttätigkeit ist hauptsächlich ‘Anmache’: "Dann mache ich dumm an zurück oder setze
ihm gleich eine" (ebd. 42;7 f). Insgesamt scheint es aber besonders in seinem direkten
Wohnumfeld ruhiger geworden zu sein. Dies führt Mickey auf eine entwicklungsbedingte
Reifung der Jugendlichen zurück: "die sind z.T. auch älter geworden" (ebd. 41;19). Einen
weiteren Grund für die Abnahme gewalttätiger Konflikte sieht er darin, dass er nicht mehr
häufig mit seiner vormaligen Clique zusammen ist (vgl. ebd. 46;1 ff) und in dem Einfluss
seines Sportvereins und seiner momentanen Freunde (vgl. ebd. 53;1). Nichtsdestoweniger
besucht er aber noch immer mit Freunden das Fußballstadion und beteiligt sich mittlerweile
auch aktiv an Hooligan-Schlägereien (vgl. ebd. 47;36 ff). Obwohl für ihn bei solchen
CVIII
Auseinandersetzungen noch immer bestimmte Fairness-Regeln gelten (vgl. ebd. 49;9 ff),
verharmlost und normalisiert er doch den Gebrauch von Waffen: "Das sind doch keine
Waffen (Butterfly, Wurfstern, Tschakkos; d.V.). (...) das sind ja Kindersachen" (ebd. 50;1
ff). Er selbst distanziert sich aber letztendlich aufgrund der o.a. Regeln vom Gebrauch
tödlicher Waffen:
"Einen abstechen (...) ist feige. Genauso mit einer Waffe jemanden erschießen, das finde
ich auch Blödsinn. Wenn man eine Schlägerei macht, dann macht man es ohne Waffen."
(ebd. 14 ff)
Im Bereich politisch motivierter Gewalt propagiert er zumindest für Ex-Jugoslawien
militärische Intervention ohne Rücksicht auf Verluste, wenn nur der Erreichung des
politischen Ziels gedient wird: "Das ist schon schlimm, wenn Leute sterben und so, aber
das ist halt Nebensache, Hauptsache sind eigentlich nur die Serben" (ebd. 31;2 ff).
Demzufolge wäre er auch bereit, für Kroatien in den Krieg zu ziehen (vgl. ebd. 22;36).
Neben seinem stark ausgeprägten Nationalgefühl scheint auch seine hohe Gewaltakzeptanz
zu einer absoluten Bewunderung der Ustascha und ihrer anscheinend recht brutal
vorgehenden Anhänger (s.u., vgl. ebd. 25; 28 ff) zu führen, ebenso wie zu einer
Propagierung des ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’-Gedankens: "der macht uns nichts, wir
machen ihm auch nichts" ( ebd. 31;39). In Weiterführung dieses Gedankens billigt er auch
aus politischer Motivation heraus begangene Gewalt von Privatpersonen an Privatpersonen,
wobei noch ein hohes Maß an Faszination damit einherzugehen scheint: "Da waren vier,
fünf Männer, die haben den (einen vermeintlich verräterischen Serben in Kroatien; d.V.)
dann, eines nachts haben sie ihn überrascht, und dann haben sie ihm die Finger
abgeschnitten, Zehen und das intime Teil, die haben dem alles mögliche abgeschnitten, und
dann haben sie ihn verbrannt. (...) Richtige Ustascha-Fans halt" (ebd. 31;19 ff). Obwohl
Mickey diesen Serben persönlich gekannt hat, weil er sein Nachbar in Kroatien war, zeigt
er keinerlei Mitleid mit dem Opfer. Dies läßt darauf schließen, dass er weniger reflektiert
denn fanatisiert nationalistische Gedankengänge wiedergibt, die für seine ohnehin
vorhandene Gewaltakzeptanz eine anscheinend legitime politische Begründung bieten.
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 gibt Mickey als Probleme "die Beziehung zu gleichaltrigen Freunden" und "Ärger mit
älteren Jugendlichen" an. Letzteres ist wahrscheinlich auf gruppeninterne und
Intergruppen-Konflikte zurückzuführen, die er als eines der jüngsten Mitglieder mit seiner
Clique erlebt (s.o.). Die Zugehörigkeit zu dieser Clique sowie der Wechsel in eine Schule,
die nicht in seinem Heimatort liegt und die aus Zeitgründen fehlende Möglichkeit,
weiterhin am Fußballtraining in seinem Sportverein teilzunehmen, scheint zu einem
Mangel an Kontakten mit gleichaltrigen Jugendlichen zu führen. 1993 gibt er an, "keine
Probleme" zu haben, obwohl er zunächst im Fragebogen "Stress in der Nachbarschaft"
angekreuzt hatte. Dieser könnte aus den erwähnten Normübertretungen der Clique, die
zumindest teilweise bei der Polizei bekannt ist, resultieren. Sein Wunsch, wieder seine
vorherige Hauptschule besuchen und die Tagesgruppe verlassen zu können, ist
möglicherweise ursächlich für seine Zurückhaltung in diesem Bereich, weil seine Eltern
seinem Wunsch entsprechen wollen, wenn er sich angemessen verhält. 1994 hat Mickey
"zu wenig Geld". Dies scheint vor allem seinen hohen Ansprüchen im Hinblick auf
Markenbekleidung geschuldet zu sein.
3.1.2
Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
CIX
Mickeys Familie bietet ihm ausreichende materielle Versorgung und emotionalen
Rückhalt. Dabei kann er sowohl auf seine Eltern als auch auf den in Stuttgart ansässigen
Bruder zählen. Vor allem angesichts seiner überdurchschnittlich guten Ausstattung mit
verschiedenen hochwertigen Sachgütern (Kleidung, Konsumgüter, vgl. 1992:38;6 ff) wird
der Eindruck eines fast schon verwöhnten Jungen geweckt, der als einziger von drei
Brüdern noch zu Hause bei den Eltern wohnt und deshalb deren ungeteilte Zuwendung
erfährt. Trotz des anscheinend guten Verhältnisses zu seinen Eltern versucht Mickey,
vermutlich um Sanktionen zu vermeiden, brenzlige Situationen (z.B. Schlägerei 1992) zu
Hause zu verschweigen. Sorgenpunkte der Eltern ihn betreffend sind trotzdem wohl neben
seiner zumindest bis 1994 eher unbefriedigenden Schulsituation seine scheinbar nicht
seltenen Verwicklungen in Normverletzungen im Cliquenzusammenhang.
Ab ca. fünf Monate vor dem ersten Gesprächstermin bis zum Schuljahreswechsel 1993/94
besuchte Mickey die Förderschule einer Jugendhilfeeinrichtung in W. sowie das daran
angeschlossene Tagesgruppenangebot. Grund für den Wechsel waren neben
Lernschwierigkeiten wohl auch Verhaltensauffälligkeiten. Obwohl Mickey sich in der
Tagesgruppe wohlfühlt und sich mit den anderen Jugendlichen dort versteht, äußert er 1993
doch den Wunsch, wieder auf die Hauptschule in seinem Wohnort zu wechseln. Ursächlich
scheint dafür die fehlende Zeit zu sein, mit seinen Freunden am Wohnort zusammentreffen
zu können. Die Eltern stellen ihm einen Wechsel in Aussicht, wenn seine Leistungen und
sein Verhalten entsprechend gut bzw. unauffällig sind. Daher scheint Mickey sich bei
Äußerungen über evtl. (mit)begangene Normverletzungen ziemlich bedeckt zu halten, um
negative Konsequenzen zu vermeiden. Zu Beginn des Schuljahres 1993/94 gelingt ihm
dann die Versetzung zurück an seine ursprüngliche Schule. Seine Leistungen sind
zufriedenstellend, wenn auch etwas schlechter als in der Förderschule, weil er jetzt nicht
mehr soviel Zeit zum Lernen aufwendet.
Mickeys Freundeskreis wird 1992 und ‘93 wesentlich von einer größeren Clique geprägt.
Diese ist ein lockerer Zusammenschluss von "15 - 20 Leuten" und setzt sich hinsichtlich
des Geschlechts, des Alters und der Nationalität - "Deutsche, polnisch, französisch und ich
kroatisch halt" (1992: 3;38) - heterogen zusammen. Die Jugendlichen gehören
unterschiedlichen Stilrichtungen an: "Heavy, ein paar von uns gehen in die Skin-Phase. Ein
paar von uns sind Skater" (1992: 11;1 ff), "Es gibt auch ein paar Linke bei uns. Die hören
eben linke Musik, und die haben sich schon öfters geschlagen mit denen (Rechten; d.V.)"
(ebd. 12;7 ff). Eine gewisse cliqueninterne Dominanz der rechten Jugendlichen zeigt sich
über die von ihnen vorgenommene Benennung der Clique als "Cash Money Brothers" (vgl.
1992: 23;28 ff). Dieser Name verweist über den Geldbegriff auf ein wesentliches Kriterium
der Gruppe: das Tragen von Markenkleidung (vgl. ebd. 38;27 ff). Obwohl Mickey zwei bis
drei Jahre jünger als die meisten Jugendlichen der Clique ist, hat er eine durch Abstimmung
abgesicherte Führungsrolle in der Gruppe inne (vgl. 1992: 17;24 ff), worüber er
Anerkennung und Bestätigung erfährt. Auf diese Position ist er dementsprechend stolz und
begründet für sich seine Wahl mit seinen Eigenschaften Vertrauenswürdigkeit und
Verlässlichkeit (vgl. ebd. 18,13 ff). Allerdings sind mit dieser Führungsrolle auch
Anforderungen im Hinblick auf Standfestigkeit und Verantwortungsübernahme verbunden:
Aufgrund der Heterogenität der Clique und damit einhergehender Differenzen unter den
einzelnen Jugendlichen sowie vielfach begangener Normübertretungen (Schlägereien,
Sachbeschädigungen, Vandalismus, Konfrontation mit der Polizei) im öffentlichen Raum
und dem damit verknüpften ‘einschlägigen’ Ruf der Gruppe wird er vermutlich häufig in
den Status eines Anstifters oder Hauptbeteiligten gedrängt. Im Gespräch ist Mickey
bemüht, sich mit z.T. widersprüchlichen Aussagen von den auffälligen Erscheinungsformen
und Begebenheiten zu distanzieren. Vermutlich sind ihm die für ihn möglichen negativen
Konsequenzen durchaus bewusst, so dass er nach außen hin versucht, seine
Unbescholtenheit zu demonstrieren. 1994 trifft er wohl aufgrund altersbedingt veränderter
Freizeitinteressen seitens der älteren Cliquenmitglieder nicht mehr mit dieser Gruppe
CX
zusammen: "Das hat sich irgendwie mal mit der Zeit gelegt. Also die kümmern sich um ihre
Sachen, und wir kümmern uns" (1994: 46;1 ff). Seine Freizeit verbringt er jetzt mit seinem
z.Zt. besten Freund, seiner Freundin und ein paar anderen Jugendlichen sowie mit einigen
Klassen- und Mannschaftskameraden.
Bis 1993/94 ist Mickeys Freizeit an den Nachmittagen weitgehend reduziert durch den
Aufenthalt in der Tagesgruppe. In den Abendstunden und an den Wochenenden verbringt
er seine Zeit hauptsächlich mit seiner Clique aufgrund fehlender Angebote an öffentlichen
Plätzen, z.B. in der örtlichen Gemeindehalle oder der darunter liegenden Tiefgarage. Ab
und zu besucht er eine nahegelegene Eisbahn und im Sommer ein Freibad. Einmal pro
Woche besucht er eine kirchliche Jugendgruppe. An den Wochenenden werden häufig
Parties veranstaltet. Ab und zu darf Mickey mit älteren Jugendlichen eine Disco besuchen.
Ab 1993 nimmt er wieder zweimal wöchentlich am örtlichen Fußballtraining teil. 1993 und
94 besucht er in Zusammenhang mit der Hool-Szene häufiger Fußballspiele. 1994 verbringt
er die meiste Zeit mit nachmittäglichem Fußballspielen oder bei seinem Freund zu Hause.
Dort schaut er mit mehreren Freunden häufig Videos an.
Mickeys Nachbarschaft und Wohnumfeld stellt seine Heimatgemeinde T. als Hauptort
der aus noch vier weiteren Dörfern bzw. Siedlungen gebildeten Kleinstadt U. mit insgesamt
ca. 30.000 Einwohnern dar. Speziell in T. als größtem und zentralen Gemeinwesen
existieren keinerlei offene Jugendarbeitsangebote, so dass er sich als Verbesserung
wünscht: "einen Jugendraum einrichten, damit sich dort Jugendliche treffen können" (1992:
8;18 f).
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Mickey läßt sich bei der Auswahl der von ihm rezipierten Medien von deren
Unterhaltungswert leiten. Obwohl er angibt, nicht mit seinen Eltern über aktuelle Probleme
zu reden, weiß er sich doch 1992 in der Verurteilung ausländerfeindlicher Übergriffe mit
ihnen in Übereinstimmung. Auch im Hinblick auf sein 1994 stark ausgeprägtes
Nationalitätszugehörigkeitsgefühl zu Kroatien lässt sich ein zumindest indirekt prägender
Einfluss der Herkunft bzw. des Elternhauses vermuten. 1992 ist ein Bruder des Vaters im
Jugoslawien-Krieg gefallen. Zudem gibt er an, dass in seiner Familie eine nationalistisch
ausgerichtete Tradition besteht (vgl. 1994: 25;26 ff). Ein Einfluss seiner kroatischen
Verwandten und Bekannten, die er jedes Jahr in den Sommerferien in Kroatien besucht,
lässt sich ebenfalls vermuten. Z.B. hat er einen Bekannten, der seinen Angaben nach
Mitglied der HOS, einer fremdenlegionsähnlichen Armee in Kroatien, war. Diesen
Bekannten scheint er aufgrund des Geheimnisvollen, das ihn umgibt, sehr zu bewundern
(vgl. 1994: 26;12 ff). Nicht zuletzt hat Mickey sich selber über Bücher und Zeitschriften
Informationen über die kroatische Geschichte und Politik angelesen (vgl. ebd. 24). Mit
bekannten Skins hat er über die Verknüpfung von Nationalsozialisten und Kroaten im
Zweiten Weltkrieg gesprochen. Durchgängig hört Mickey auch rechte Musik, z.B. die
Gruppen ‘Störkraft’ und ‘Endstufe’. Dies scheint aber weniger ideologisch als
jugendkulturell bedingt zu sein, weil ihm "egal (ist), was die für Texte machen" (1994:
48;22) und er auch das Lied ‘Schrei nach Liebe’ von der eher linksorientierten Gruppe ‘Die
Ärzte’ "geil" findet (ebd.).
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Abgesehen von dem Besuch einer kirchlichen Jugendgruppe und des Fußballvereins hat
Mickey in seinem Wohnort mangels Angeboten keine weiterreichenden Möglichkeiten
gesellschaftlicher Teilhabe. 1992 gibt er als ihm wichtiges Anliegen den Umweltschutz an
(vgl. 1992: 39;5). 1994 steht seine Teilnahme an einem zweigeteilten Berufspraktikum
bevor, das er als Einzelhandelskaufmann und als Kfz-Mechaniker absolvieren wird.
Obwohl er durchgängig als Berufswunsch ‘Metzger’ angibt, weil ihm das "Schlachten"
CXI
gefällt, "das ist halt geil" (vgl.1994: 54;32 ff), hatte er sich nicht selbst um einen Platz in
einer Fleischerei gekümmert, so dass ihm Plätze zugewiesen wurden. Auf keinen Fall kann
er sich vorstellen, Kfz-Mechaniker zu werden, weil er nicht "immer dreckig" sein will (vgl.
ebd. 20;18).
!994 stellt er sich hinsichtlich seiner Zukunftsplanung vor, in Deutschland die Lehre zu
machen, eine Weile hier zu arbeiten und zu sparen, um dann in Kroatien ein Lokal zu
eröffnen (vgl. ebd. 19;10 ff).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Mickeys politischen Ansichten werden wesentlich von seiner kroatischen Nationalität
geprägt. Während er 1993 noch Deutschland aufgrund engerer persönlicher Bindungen und
besserer Verdienstmöglichkeiten als seine Heimat bezeichnet, zeigt er 1994 einen stark
ausgeprägten kroatischen Nationalstolz und nationalistische Orientierungen. Er benennt
demzufolge Kroatien als seine Heimat, in die er später zurückkehren will. Deutschland
scheint er nunmehr lediglich als Wohlstandsstaat, in dem es bessere Arbeits- und
Verdienstmöglichkeiten gibt, und somit als Sprungbrett für seine Zukunft zu betrachten
(vgl. 1994: 5;5 und 19;10 ff). Weder möchte er einen deutschen Paß, noch will er in
Deutschland das Wahlrecht haben (vgl. 1994: 14;35 ff und 16;5 ff). Seine Vorstellungen
vom Leben in Kroatien scheinen hauptsächlich aus seinen häufigen Urlaubserfahrungen in
diesem Land zu resultieren (vgl. ebd. 18;10 ff). 1992 und ‘93 versucht er den scheinbaren
Widerspruch zwischen seinem Status als Ausländer in Deutschland einerseits und der
Mitgliedschaft in einer tendenziell rechtsorientierten Clique andererseits durch die
Konstruktion eines gemeinsamen Feindbildes ‘Asylsuchende’ zu beseitigen, wodurch
zumindest die ihm bekannten Rechtsradikalen vermittels dieses Identifizierungs- bzw.
Solidarisierungsmechanismus an Bedrohlichkeit verlieren. Sein regionaler und lokaler
Sozialraum trägt aufgrund des Mangels an Angeboten für Jugendliche dazu bei, dass
Mickey und seine Clique dazu gezwungen sind, sich vornehmlich an öffentlichen Orten
aufzuhalten. So unterliegen sie der gesellschaftlichen Kontrolle und werden wegen
begangener Normverletzungen häufig mit gesellschaftlichen Sanktionen konfrontiert.
Zudem bewirkt der Mangel an Angeboten vermutlich auch, dass es zwischen den einzelnen
Jungendgruppierungen zu Konkurrenz- und Territorialverhalten kommt. Sein Sozialstatus
als ausländischer Jugendlicher trägt zu o.a. Widersprüchlichkeiten in seinen Orientierungen
bei. Mickeys geschlechtsspezifischen Orientierungen an Männlichkeitsidealen wie
Wehrhaftigkeit, Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit scheinen ursächlich für sein
violentes Verhalten im Cliquen- und Hool-Zusammenhang. Einerseits kann er so (als
jüngeres Mitglied) die Anerkennung und Akzeptanz seiner Clique erlangen und bewahren,
andererseits lassen sich über die kollektiven Gewalterlebnisse im Stadion Wünsche nach
dem Erleben von Abenteuer, Risiko und Spannung erfüllen. Ab 1993 hat Mickey
verschiedene Freundinnen, die mehr oder weniger in seinen Freundeskreis integriert
werden. 1993 gibt er als einen Grund für seine zunehmende Zurückhaltung seine Freundin
an (vgl. 2;23). Seine jugendkulturelle Orientierung tendiert zumindest 1992 und ‘93 nach
rechts. Die Zugehörigkeit zu einer markenbewussten, konsumorientierten, tendenziell
rechts ausgerichteten Clique, das Hören von Musik entsprechender Stilrichtungen (z.B.
Heavy-Metal, Oi-Musik), Pogo-Tanzen und die Zugehörigkeit zu den Hooligans deuten
daraufhin, dass Mickeys Orientierungen weniger ideologisch als jugendkulturell besetzt
sind. Seine Beziehungen im sozialen Nahraum prägen seine Ansichten in
unterschiedlicher Weise. Die Eltern, die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zwar
verurteilen, scheinen zumindest latent einflussnehmend auf seine 1994 geäußerten
nationalistischen Ansichten in bezug auf Kroatien zu sein. Seine rechtsorientierten
Bekannten bewirken mit ihren Ansichten vermutlich seine diffuse Einstellung zu Skins und
anderen rechten Gruppierungen. Während er einerseits ausländerfeindliche Übergriffe
CXII
verurteilt und angibt, Skins zu hassen (s.o.), hebt er doch die Zusammenarbeit rechter
Gruppierungen mit kroatischen Nationalisten hervor.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Mickey äußert sich über andere Bevölkerungsgruppierungen zumeist intolerant. Dies wird
besonders deutlich bei der undifferenzierten, pauschalierenden ‘Begründung’ seiner
Abneigung gegen Punks ("Schwachsinnige, diese Idioten, diese Doofen. Das ist doch kein
normaler Mensch", 1993: 46;37 f), Linke ("schon allein, wie die herumlaufen, voll dreckig
und stinken", 1994: 43;37 f) und ‘Ökos’ ("behämmert irgendwie", ebd. 44;4). In der Regel
scheint er - vermutlich auch aufgrund seines geringen Bildungsniveaus - nicht in der Lage
zu sein, Gedankengänge oder bekundete Meinungen kritisch zu hinterfragen oder zu
reflektieren. Dies zeigt sich u. a. bei seiner Reaktion auf komplexere oder nachhakende
Fragen, auf die er häufig sehr schnell abblockend mit "egal" oder "was weiß ich" o.ä.
antwortet. Auch in seiner Beurteilung rechtsradikaler Gruppierungen argumentiert er eher
emotional und oberflächlich als sachlich überlegt (s.o.). Während er 1992 wenigstens
ansatzweise die Fähigkeit zur Empathie zeigt, indem er Ausländerfeindlichkeit verurteilt,
weil er nachvollziehen kann, wie es sein muss, in einem fremden Land bedroht und
angegriffen zu werden (s.o. und vgl. 1992: 23;37 ff), wird in den Folgejahren besonders an
seinem mangelnden Mitleid mit Opfern von Gewalttaten - z.B. dem ihm bekannten Serben,
der zu Tode gefoltert wurde (s.o.) - deutlich, dass seine Empathiefähigkeit, wenn
überhaupt, dann nur sehr schwach ausgeprägt zu sein scheint und sich jedenfalls nicht auf
Situationen erstreckt, in denen er selbst in der Rolle des Mächtigen ist. Obwohl Mickey auf
vermeintliche oder reale verbale oder körperliche Übergriffe in der Regel violent reagiert,
vermutlich um seine männliche ‘Ehre’ zu schützen und vor seinen Freunden bestehen zu
können, zeigt er doch z.B. 1992 auch die Fähigkeit, Konflikte verbal zu lösen. So ist es als
Anführer seiner Clique u.a. seine Aufgabe: "Wenn es dann Schlägerei oder so etwas gibt,
dass wir dann zuerst mit denen sprechen oder so, wenn es irgendwo Streit gibt mit
Erwachsenen" (1992: 17;33 ff). Dies und auch sein Vermögen, seine Lern- und
Verhaltensweisen dahingehend zu verändern, dass er 1993/94 wieder auf seine vorherige
Hauptschule wechseln kann, sind u.a. Anzeichen für seine Bereitschaft, unter bestimmten
Bedingungen Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen.
Trotz seiner im großen und ganzen schwach ausgebildeten individuellen Kompetenzen
zeigt Mickey ein recht starkes Selbstwertgefühl. Dieses scheint sich vor allem auf die
Anerkennung und Akzeptanz zu gründen, die ihm von den meist älteren Mitgliedern seines
Freundeskreises als Anführer und von seinen Mannschaftskameraden als guter
Fußballspieler in einer höheren Altersklasse entgegengebracht wird. Nicht zuletzt kann er
auch über seine überdurchschnittlich gute materielle Versorgung und dabei besonders über
das Tragen von Markenkleidung und 1994 über sein gewachsenes Nationalitätsgefühl
Identität und somit im Freundeskreis bzw. in der kroatischen Verwandt- und Bekanntschaft
Anerkennung erlangen.
4.
Zusammenfassung
Mickey stellt sich als ein Junge dar, dessen diffuse und z.T. widersprüchliche politische
Orientierungen zunächst wesentlich von seinem Status als Ausländer in Deutschland
einerseits und der Mitgliedschaft in einer tendenziell rechtsorientierten Clique andererseits
geprägt werden, zu der er ab 1994 nicht mehr gehört. Zu diesem Zeitpunkt entwickelt er ein
starkes Nationalitätsgefühl für Kroatien und ist explizit an einer nationalistischfaschistischen (und in entsprechende historische Traditionen eingebettete) Politik seines
Heimatlandes orientiert, so dass sich der Zwiespalt zwischen den offiziell als Ausländer in
Deutschland geäußerten Gleichbehandlungsinteressen und den als Kroate in Kroatien
vertretenen
mit
rassistischen
Ressentiments
geladenen,
rigorosen
Ausgrenzungsbestrebungen gegenüber ethnischen Minderheiten (Slowenen und v.a.
CXIII
Serben) weiter fortsetzt. Seine hohe personale Gewaltakzeptanz resultiert bis 1993
hauptsächlich aus seiner Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen wie
Wehrhaftigkeit, Dominanz(streben) und Kumpelhaftigkeit, über deren Demonstration er
Anerkennung und Akzeptanz im Freundeskreis gewinnen, sowie - besonders im kollektiven
Rahmen der Hool-Szene - Bedürfnisse nach dem Erleben von emotionalen Höhepunkten in
Richtung auf Action, Spannung und Risiko befriedigen kann. Während seine personale
Gewaltakzeptanz bis 1994, vermutlich durch den Wechsel des Freundeskreises und
verändertes Freizeitverhalten - leicht abnimmt, steigt - anscheinend im Zusammenhang mit
seiner nationalistischen politischen Ausrichtung - die Akzeptanz von politisch motivierter
staatlicher und personaler Gewalt.
Im einzelnen richten sich Mickeys Ungleichheitsvorstellungen hauptsächlich gegen
Asylbewerber. Er begründet sie mit der ‘Scheinasylanten’-Argumentation und dem
Vorwurf erhöhter Kriminalität und sexueller Konkurrenz sowie mit Wegnahme-Theorien.
1994 äußert er zusätzlich Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Slowenen und Serben.
Gewalt bedeutet für ihn ein alltägliches Mittel zur Gegenwehr sowohl im privaten als auch
im politischen Rahmen. Ein weiterer Aspekt von Gewalt stellt für ihn die ritualisierte Form
des Kräftemessens bei Auseinandersetzungen unter Jugendlichen dar, bei denen (noch ?)
gewisse Fairness-Regeln gelten. Obwohl er selbst sich eher vom Gebrauch von Waffen
distanziert, scheint er ihren Einsatz bei bestimmten Auseinandersetzungen aber zu
tolerieren, wenn nicht zu billigen oder aber als unabänderlich hinzunehmen.
Bis 1994 ist Mickey Mitglied in einer tendenziell rechtsorientierten alters-, geschlechts-,
nationalitäts- und stilheterogenen Clique, in der er trotz seines geringen Alters eine
Führungsposition innehat. Obwohl er zumindest 1992 ausländerfeindliche Übergriffe
explizit verurteilt, kann er doch immer auch Verständnis für die Täter aufbringen. Die
Skins aus seiner Clique bezeichnet er als ‘nur’ gegen Asylbewerber eingestellt, so dass er
sich selbst als Ausländer nicht von ihnen bedroht fühlen muss und sich über seine eigenen
Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber mit ihnen zumindest vordergründig
solidarisieren kann. So kann er einerseits seine Integrität als Ausländer wahren und
andererseits weiterhin Mitglied der Clique bleiben, ohne in größere Rollenkonflikte zu
geraten. Aufgrund mangelnder Angebote für Jugendliche in seinem Wohnort sind die
Jugendlichen gezwungen, sich weitgehend an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, wo sie
gleichzeitig der gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen sind. Immer wieder kommt es zu
Normverletzungen durch Mitglieder der Clique, wodurch sie einen ‘berüchtigten’ Ruf
innehat. Mitbedingt durch die unterschiedlichen vorherrschenden Stilrichtungen kommt es
cliquen-intern häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Des weiteren wird die
Gewaltoption auch bei Konfrontationen mit anderen (türkischen) Jugendgruppierungen
gewählt, so dass sie für Mickey zur alltäglichen Erfahrungswelt wird. Aufgrund dessen
verharmlost und normalisiert er Gewalt, besonders im Zusammenhang mit der Hool-Szene.
Diese Auseinandersetzungen scheinen hauptsächlich durch die unterschiedlichen
jugendkulturellen Orientierungen der einzelnen Gruppierungen bedingt zu sein, z.B. Musik
und Kleidung (s.o.). 1994 ist Mickey - obwohl er sich noch immer in der Hool-Szene
befindet - insgesamt seltener gewalttätig. Dies resultiert zum einen daraus, dass er
vermutlich aufgrund veränderter Freizeitinteressen seitens der älteren Cliquen-Mitglieder
nicht mehr mit diesen zusammentrifft und sich nunmehr mit anderen Freunden vornehmlich
im häuslichen und Vereinsbereich aufhält. Zum anderen gibt Mickey selbst eine
altersbedingte Entwicklung als Grund dafür an, dass er "ruhiger" geworden ist. Nicht
zuletzt wird auch zunächst der Wunsch nach einem und dann der tatsächlich erfolgte
Wechsel zu seiner ursprünglichen Hauptschule Anpassungstendenzen bei ihm
hervorgerufen haben, weil er das (erreichte) Ziel nicht durch unangepasstes Verhalten
gefährden möchte. 1994 führt vermutlich seine nationalistisch-faschistische politische
Ausrichtung, die zumindest indirekt durch seine Familie und seine Verwandten und
Bekannten in Kroatien mitbeeinflusst scheint, zu einer ansteigenden Akzeptanz politisch
CXIV
motivierter Gewalt. Hierbei propagiert er zum einen staatlich-militärische Intervention ohne
Rücksicht auf Verluste, wenn nur dem politischen Ziel gedient ist. Zum anderen billigt er
auch Gewalt, die unter diesem Vorzeichen von Privatpersonen an Privatpersonen begangen
wird (s.o.). Hierbei lässt er sich weniger von reflektiert-sachlichen Gedankengängen als
vielmehr von diffus emotional-fanatischen Impulsen leiten. Möglicherweise kann er durch
diese Politisierung seine ohnehin vorhandene Gewaltakzeptanz vor sich selber und vor
anderen besser legitimieren.
Norbert 1992 - 1994
"Jetzt gerade mit dem Rostock, mit den Ausländern ... so brutal muss es nicht sein, aber
irgendwie kann man die Jugendlichen verstehen. Also ich weiß auch nicht. Ha ja, mit
diesen Wohnungen, das ist ja knapp und dass das alles teuer ist. Ich habe zwar nichts gegen
Ausländer, aber, ich weiß auch nicht, sie sind doch in diesem Land und dann. Ja, jetzt zum
Beispiel, die vom Krieg, das sieht man ein, dass die da her kommen. Aber nur so, weil sie
denken, in Deutschland ist es schön und da bekommt man alles und da, dass die da
kommen müssen, ich weiß auch nicht, das sehe ich eigentlich nicht so ein."
(1992 : 20; 1-11)
" Die wo Asyl, also die wo arbeiten, die sind doch ganz normal, oder die wo Flüchtlinge
sind, und dann mal wieder später gehen, vielleicht von Jugoslawien, aber die wo nichts
haben und einfach hier her kommen und etwas wollen, das ist nicht so ganz toll." (1993 :
45; 38 ff)
" Wie ich dem, da müsste ich, weil ich halt auch sehe, dass die in der Überzahl, Ausländer
allgemein in der Überzahl sind, also zu viel in Deutschland, viel zu viel gegenüber anderen
Ländern, Schweiz und so." (1994 : 41; 1-4)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Norbert, katholisch, ist 13 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern sowie seinem leicht
behinderten 17jährigen Bruder in F., einem ehemals landwirtschaftlich geprägtem Dorf in
einer schwach strukturierten Region der Schwäbischen Alb. Die Familie wohnt im Ortskern
in einem eigenen 6-Zimmer-Einfamilienhaus mit Garten und Terrasse, in dem Norbert ein
eigenes Zimmer hat.
Die Berufstätigkeit der Mutter als Näherin in einer Textilfabrik und der trotz Ruhestands
noch arbeitende Vater, der zuvor bei einer Standortverwaltung der Bundeswehr angestellt
war, lassen auf eine mindestens durchschnittliche finanzielle Versorgung der Familie
schließen. 1992 erhält Norbert noch 40 DM Taschengeld im Monat, die er "viel zu schnell"
(1992:13;15) "für Eis und Süßigkeiten" (ebd.;18) ausgibt. Er besucht zunächst die
Hauptschule in F.. 1994 beginnt er eine Lehre zum Feinmechaniker und wechselt auf die
Berufsschule in der nächstgrößeren Stadt. Zu diesem Zeitpunkt stehen ihm monatlich 800,DM zur Verfügung, die er insbesondere in teure Markenkleidung investiert (1994:19;1736). Norbert spielt aktiv Fußball, sowohl in einem Verein, als auch ‘auf der Straße’.
Er besitzt einen Hamster, für dessen Pflege er alleine zuständig ist.
2.
2.1.
Politische Orientierung
Allgemeine Orientierung
CXV
Norbert zeigt keinerlei politisches Interesse. Er erhofft zwar für die Bundestagswahlen
1993 einen allgemeinen Stimmenzuwachs der Republikaner (vgl. 1993:49;16-25), diese
Äußerung ist jedoch im Kontext seiner Fremdenfeindlichkeit zu verstehen (siehe 2.2.).
1994 bekundet Norbert sogar ein generelles Desinteresse an Politik, das sich u.a. dadurch
zeigt, dass er selbst dann nicht wählen ginge, wenn das Wahlberechtigungsalter auf 16
Jahre herabgesetzt würde (vgl. 1994:32;27 ff).
Er zählt sich kontinuierlich zu den Fußballfans, Skatern und Heavies, wobei er sich 1992
seinem Musikgeschmack nach nur zögerlich als ‘Heavy’ bezeichnet (vgl. 1992:38;23).
1994 sympathisiert er mit den Rapern, die er 1993 zu seinen Gegnern zählte. Im Gegensatz
zu 1993, als ihm Bundeswehrfans und Skinheads noch gleichgültig waren, gibt Norbert
1994 an, diese Gruppierungen abzulehnen. Als gleichbleibend "egal" schätzt er auch 1994
Punker, rechte Jugendliche, Hooligans, Wehrsportgruppen, Autonome und
deutschnationale Gruppen ein. An ‘Streetfightern’, zu denen er sich 1993 noch hingezogen
fühlte, hat Norbert 1994 das Interesse verloren.
2.2.
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Norbert zeigt das Bild eines von fremdenfeindlichen Einstellungen geprägten Jugendlichen,
dessen schon anfangs vorhandene Ungleichheitsvorstellungen im Laufe der Zeit durch
Ungleichbehandlungsforderungen ergänzt werden.
Obwohl Norberts Aussagen im allgemeinen einige Widersprüchlichkeiten beinhalten, sind
seine Stellungnahmen bei Ausländerfragen durchgängig als zumindest tendenziell ‘rechts’
zu bezeichnen. Er selbst beschreibt sich als "ein bißchen rechts" und erklärt diese
Einschätzung mit seiner Abneigung gegenüber Ausländern (vgl. 1994 : 40;30 ff). Trotz
dieser Antipathien lehnt Norbert Brandanschläge wie in Rostock oder Solingen entschieden
ab. Rechtsradikal ist für ihn "... immer Türken verfolgen und eben Ausländer, und denen
ihre Häuser kaputt machen und so." (1992:22;12-13). Hiervon versucht sich Norbert
abzugrenzen: "Manche sind ja ganz recht; die sind in Ordnung. Die arbeiten auch und
machen keinen Krach. Dann kann man das nicht sagen, dass wir rechtsradikal sind, finde
ich." (ebd:22;14-17).
Zielgruppe seiner Ressentiments sind zumindest primär (männliche) Türken, 1994 auch
Albaner. Weniger Abneigung bringt er Aussiedlerfamilien und Flüchtlingen aus
Kriegsgebieten entgegen, obwohl sich seine vehemente Kritik an der deutschen
Aufnahmepolitik zwangsläufig auf die Aufgenommenen überträgt (vgl. 1994:33;34 ff).
Norbert zeigt zwar an verschiedenen Stellen Verständnis für Kriegsflüchtlinge ("Die,
welche vom Krieg kommen aus Jugoslawien und so, das sieht man ja ein, dass sie zu uns
kommen. Wir haben auch einen in der Klasse, da denken wir eigentlich auch nichts."
1992:20;34-37), wobei diese Duldsamkeit auf zwei Aspekten zu beruhen scheint: Sowohl
das Erscheinungsbild der Kriegsflüchtlinge in Form von Familienverbänden, als auch deren
nur temporäre Anwesenheit in Deutschland unterscheiden Flüchtlingsfamilien in ihrer
Bedrohlichkeit für Norberts territoriale Ansprüche von den in Deutschland lebenden
‘Gastarbeitern’ und deren Söhnen. Diese stellen für ihn einerseits eine Konkurrenz auf dem
Arbeits- und Wohnungsmarkt dar, andererseits unterstellt er Ausländern generell - ohne
ihren Anwesenheitsstatus in Deutschland zu differenzieren - mangelnde Arbeitsmotivation
bei gleichzeitiger Versorgung durch öffentliche Stellen (mit z.B. Wohnungen):
"Die welche wo arbeiten, das finden wir eigentlich auch gut, aber die Anderen kommen
auch bloß so, die wollen nichts tun oder so, das gibt es auch. (...) Da gibt es eben Türken,
die tun nichts, die wollen nicht arbeiten. Die kommen zu uns und dann haben sie eben
Wohnungen." (1992:20;37 ff).
Er betont wiederholt die Not Deutscher, die es vorrangig zu beheben gälte (vgl.1993:46;3740) und argumentiert weiter mit den Kosten, die ‘Ausländer’ seiner Meinung nach
verursachen: "Uns zieht man es ab und denen gibt man es." (1993:45;32). Ein anderes von
CXVI
Norbert häufig genanntes Argument für seine Fremdenfeindlichkeit ist die in seinen Augen
mangelnde Anpassungsfähigkeit von Ausländern. Er akzeptiert zwar Krieg oder politische
Verfolgung als Asylgründe (vgl. 1993 : 23 ff), fordert aber im Gegenzug, dass (alle)
Ausländer sich wie ‘Gäste’ benehmen sollen (vgl. 1994 : 33;34 ff).
1992 und 1993 erzählt Norbert von häufigen, manchmal gewalttätigen
Auseinandersetzungen mit türkischen Jugendlichen. Diese geschehen zumeist in der
Schule. Im Rahmen dieser Zusammenstöße fühlt sich Norbert von den Lehrern ungerecht
behandelt. Er betont wiederholt, dass es die ausländischen Mitschüler seien, die die
Konflikte auslösen und empört sich darüber, dass diese auch noch von den Lehrern in
Schutz genommen und seine Freunde und er als ‘rechtsradikal’ tituliert würden. (vgl.
1992:22;1ff). 1994 tritt eine Veränderung in der Art und Häufigkeit von Zusammenstößen
ein: Zum Teil aus Angst vor Waffengewalt, aber auch wegen der von ihm angegebenen
Überzahl und des starken Zusammenhaltes türkischer Jugendlicher auf der von ihm
besuchten Berufsschule geht Norbert sowohl ausländichen Mitschülern als auch den aus
der Konfrontation entstandenen Konfliktsituationen aus dem Weg ("Was will man sagen,
ich weiß, wie die Jungs sind, da sage ich lieber nichts zu." 1994:34;30-31).
Bis zuletzt nennt Norbert als das dringendste zu lösende Problem in Deutschland ‘die
Ausländer’ (vgl. 1994:33;27ff).
2.3.
Gewaltakzeptanz
Bei Norbert ist ein physisches Gewaltpotential festzustellen. In seinen Darstellungen läßt
sich im Laufe der Jahre jedoch eine deutliche Abnahme gewalttätiger
Auseinandersetzungen mit ausländischen Jugendlichen ausmachen.
1992 noch in Schlägereien verwickelt, gibt er 1993 an, die Handgreiflichkeiten seien
seltener geworden (vgl.1993:40;32-32). Trotzdem erzählt er von einem Vorfall, bei dem
alle Jungen dem einzigen Türken der Klasse gemeinsam "eine gegeben haben" und er selbst
ihm "die Leviten gelesen hat" (vgl.1993:41;24-27).
1994 hat sich Norberts Gewaltbereitschaft dahingehend verändert, dass er ‘nur’
zurückschlagen würde, wenn ein anderer anfängt. Seine Reaktanzschwelle siedelt er selbst
entsprechend hoch an: "Wenn er mal handgreiflich wird, wenn der zuschlägt, dann schlage
ich auch zurück, aber den ersten Schlag machen, tu ich nicht." (1994:36;36-38). Zwei
Ursachen spielen hier eine Rolle: In der ersten Phase der Rückentwicklung der Übergriffe
kam es weniger zu einer bewußten Abnahme von Gewaltbereitschaft, als zu einer
Reduktion potentieller Gegner in Norberts direktem Umfeld. In seiner Schulklasse, die
primärer Austragungsort von Schlägereien zwischen ihm und Ausländern war, gab es 1993
nur noch einen türkischen Mitschüler und in seinem Heimatort lebten ohnehin wenig
Ausländer. Mit Norberts Schulwechsel von der Haupt- auf die Berufsschule stellt sich seine
Situation schlagartig anders dar: "Berufsschule ist keine Überlebenschance, da hat es mehr
Ausländer als Deutsche." (1994: 37;3-4). Der Abbau seiner Gewaltbereitschaft ist im
Kontext der empfundenen Bedrohung zu verstehen: Norbert sieht sich mit seinem zuvor
nur vereinzelt aufgetretenem Feindbild ‘Ausländer’ nun in Gestalt von
zusammengeschlossenen und teilweise bewaffneten Cliquen konfrontiert und scheint
angesichts dessen notgedrungen ruhiger auf Konfliktsituationen zu reagieren oder sich
sogar zurückzuziehen. Norbert erwägt selbst nicht, sich eine Waffe zuzulegen. Seine
konstant stabile Position in der heimatlichen Clique stützt sicherlich diese Entwicklung, da
er sich nicht durch Gewaltrepräsentation einen Führungsplatz in einer neuen Gruppe
erkämpfen muss.
3.
3.1.
3.1.1
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
CXVII
Norbert gibt außer dem ‘Ausländer-Problem’ keinerlei durchgängige Probleme an.
Auffällig ist aber sein Verhältnis zu den Eltern, die ihm mit gewisser (Für-)Sorglosigkeit,
wenn nicht Gleichgültigkeit begegnen. Norbert macht aber nicht den Eindruck, dass diese
Beziehung ihn belastet.
3.1.2. Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Norbert gibt an, Akzeptanz, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung in seiner Familie
zu erhalten, seine Probleme jedoch zu Hause nicht besprechen zu können (Fb.1-3).
Norberts Bruder ist aufgrund einer Behinderung nur am Wochenende zu Hause. Ihr
Verhältnis ist zunächst von Streitereien geprägt (vgl.1992:15;2ff), die später nachlassen
(vgl.1993:15;6ff). Die Beziehung zwischen Norbert und seinen Eltern entwickelt sich im
Laufe der Jahre mehr zu einem Nebeneinanderherleben, was sich in Norberts häufiger
Abwesenheit von zu Hause und der zunehmenden Gleichgültigkeit der Eltern manifestiert
(vgl.1993:13;33-36). Norbert muss zwar die üblichen Haushaltsarbeiten übernehmen, wird
aber von Jahr zu Jahr von mehr Familienpflichten wie z.B. dem Kirchgang entbunden.
Dementsprechend groß sind seine Freiheiten, er kann abends lange fort bleiben und die
Eltern fragen nicht nach, solange er "nichts Schlimmes tut" (vgl.1992:9;34-37). Norbert
schätzt an seinem Vater dessen Fleiß (vgl.1992:11;6-11). Wie auch an anderen Stellen zeigt
sich hier Norberts starke Verinnerlichung des Wertes ‘Arbeit’. Die von Norbert
angegebenen Unterstützungsressourcen scheinen mehr auf materiellen und funktionalen
Leistungen der Eltern (z.B. ‘Fahrdienste’ des Vaters) und weniger auf Verständnis,
Interesse oder Besorgnis für ihr Kind zu beruhen. Das relativ hohe Alter des Vaters scheint
ebenfalls ein Umstand, der die Beziehung belastet und diesen für Norbert als möglichen
Ansprechpartner nicht in Frage kommen läßt. Norbert beschreibt seine Eltern als
"altmodisch" (1992:10;33). Als Konsequenz distanziert er sich vom familiären Klima durch
Abwesenheit, ohne sich aber mit den zugrundeliegenden Motiven auseinanderzusetzen.
1993 hat Norbert eine feste Freundin, bei der er Akzeptanz und Unterstützung findet und
mit der er Probleme besprechen kann (Fb.2).
Die Schule stellt für Norbert kein Problem dar. Er beschreibt sich selbst als
‘Quartalsarbeiter’, der ohne viel Arbeitsaufwand durchschnittliche Noten erzielt. Besonders
die lebensweltliche Dimension, zu der z.B. Abwechslung und Treffen von Gleichaltrigen
und Freunden gehören, verleiht der Schule in Norberts Augen einen gewissen Anreiz.
Während des letzten Hauptschuljahres bekundet Norbert Langeweile an schulischen
Inhalten. Relativ lustlos hat er ein Schulpraktikum beim Gipser im Ort absolviert. Probleme
mit Lehrern resultieren aus seiner Einstellung zu Ausländern und den daraus folgenden
Vorwürfen der Parteilichkeit der Lehrer zugunsten ausländischer Mitschüler und der
Stigmatisierung seiner Person und seiner Freunde. Mit Beginn seiner Lehre 1994 scheint
Norbert der Berufsschulalltag zu frustrieren. Er klagt über den hohen Ausländeranteil und
die Anonymität der großen Schule. Er fügt sich jedoch in den Klassenverband gut ein und
scheint keine Probleme auf der Leistungs- oder sozialen Ebene zu haben.
Trotz des Schulwechsels bleibt für Norbert der verlässliche Bezugsrahmen seiner Clique
bestehen. Die Gruppe von Jugendlichen aus dem Dorf, mit der er sich nach der Schule und
an den Wochenenden trifft, ist relativ geschlossen. Es gibt einen harten Kern, zu dem auch
Norbert gehört, und einige weniger gebundene Mitglieder. Norbert beschreibt die
Einstellungen der Freunde als den eigenen ähnlich: Die Gruppe scheint von
Fremdenfeindlichkeit geprägt und gerade auch diesbezüglich in Gesprächen einer Meinung
zu sein. Die Gemeinsamkeit der Freunde ist das Fußballspielen, sowohl im Verein, als
auch in der Freizeit auf einem Bolzplatz im Ort. Ein weiterer Treffpunkt ist 1992 eine
Disco, die auch nachmittags geöffnet ist, sowie ein Jugendraum der Kirche, der 1993
vorübergehend geschlossen wurde. 1994 ändert sich das Freizeitverhalten in der Weise,
dass an den Wochenenden Alkohol eine zunehmende Rolle spielt (vgl.1994:52;22ff). Alle
Cliquenmitglieder sind Fans der ‘Böhsen Onkelz’.
CXVIII
Es ist anzunehmen, dass ein Zusammenhang zwischen Nachbarschaft und Wohnumfeld
einerseits, und Norberts politischen Ansichten andererseits besteht. Da es in dem sehr
schwach strukturierten ländlichen Raum, in dem Norberts Heimatort liegt, kaum
Freizeitangebote für Jugendliche gibt und keinem seiner Freunde besonders viel
Taschengeld zur Verfügung steht, trifft sich Norberts Clique abwechselnd zu Hause.
Phasenweise werden gemeinsame Fahrten zu umliegenden Discos unternommen. Während
der Zeit, in der der Jugendraum geschlossen war, blieb Norberts Clique nur der Bolzplatz
als Treffpunkt, wo es allerdings zeitweise zu Beschwerden eines Anwohners kam. In
keinem der Treffpunkte gibt es erwachsene Aufsichtspersonen oder Sozialarbeiter, die mit
den Jugendlichen diskutieren und ihnen alternative Sichtweisen zeigen. Es ist anzunehmen,
dass die Diskussionen, die die Jugendlichen z.B. über Ausländer führen, einseitig und
fremdenfeindlich verlaufen (vgl. 1992:19;23ff). Die beschriebene Isolation der
Jugendlichen ist als Verstärker fremdenfeindlicher Einstellungen einzuordnen.
3.1.3. Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Norbert liest weder die Tageszeitung, noch sieht er Nachrichten oder informiert sich auf
anderem Wege über politische Ereignisse. Er sieht sehr viele TV-Sportmagazine und kauft
sich hin und wieder die ‘Bravo’. Seine Lieblingsgruppe sind die ‘Böhsen Onkelz’, von
denen er alle CDs besitzt und deren Texte er auswendig kennt. Er bestreitet ausdrücklich
einen rechtsradikalen Charakter der Texte (vgl. 1993 : 24;29 ff). Vielleicht ist so teilweise
erklärlich, dass zu seinen weiteren Lieblingsgruppen ‘Die Ärzte’ und ‘Die Toten Hosen’
zählen, Bands, die als (eher) ‘links’ gelten. Der scheinbare Widerspruch, der im
gleichzeitigen Konsum von ‘rechten’ und ‘linken’ Liedern liegt, scheint darin verankert zu
sein, dass beide Richtungen einen sehr ähnlichen, dem Punk entlehnten Musikstil pflegen.
Er bildet den kleinsten aber auch für ihn wohl wichtigsten gemeinsamen Nenner seiner
Lieblingsgruppen.
3.1.4. Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Als wichtigstes Element gesellschaftlicher Teilhabe ist Norberts Einstieg in das
Berufsleben einzuordnen. Mit den durch zunehmendes Alter steigenden Anforderungen
seiner Umwelt an ihn und der damit verbundenen Übertragung von Verantwortung scheint
Norbert mit seinem Leben zufriedener zu werden, was sich in größerer ‘Gelassenheit’
äußert. Unter anderem durch sein Engagement wurde der Jugendraum wieder geöffnet und
Norbert trägt nun aufgrund seines Alters ein Stück Verantwortlichkeit für die jüngeren
Besucher des Jugendtreffpunktes (vgl.1994:3;5ff).
3.2.
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1. Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Norberts Nationaltätsbewußtsein beruht auf der Gewißheit, in einem reichen Land zu
leben und dem Bestreben, diesen Reichtum zu erhalten und von ihm zu profitieren. Als
potentielle Angreifer auf die deutsche Wohlstandsgesellschaft sieht er die ‘Ausländer’, die
seiner Meinung nach nur nach Deutschland kommen, um es ‘besser zu haben als in ihrer
Heimat’, dafür aber keine ausreichende Gegenleistung erbringen. Ein weiteres
Qualitätsmerkmal Deutschlands ist für Norbert die Abwesenheit von kriegerischen
Unruhen.
Der regionale und lokale Sozialraum wirkt verstärkend auf Vorurteile, die bei Norbert zu
einem großen Teil auf Unkenntnis bestimmter Zusammenhänge beruhen. Norbert ist es
gewöhnt, dass jeder im Ort den anderen kennt; er hat mit Neuartigem nicht umzugehen
gelernt. Auch die Flucht der Jugendlichen in private Treffen der Clique ist in ihrer
Aktionalität defensiv und bietet nicht die Möglichkeit, andere Eigenschaften wie z.B.
Neugier oder Interesse für Unbekanntes zu wecken.
CXIX
Norbert äußert keine Unzufriedenheit über seinen sozialen Status, in seiner Clique scheint
seine finanzielle Situation durchschnittlich bis gehoben zu sein. Die Freunde treffen sich
gerne bei ihm zu Hause, da er über einen eigenen Kabelanschluss, eine gute Stereoanlage,
Fernseher, einen Computer und zahlreiche CDs verfügt. Von seinem Lehrgeld, das ihm zur
alleinigen Verfügung steht, kauft er sich vorzugsweise Markenkleidung, die im Dorf
niemand trägt.
Bei Norbert läßt sich auf den ersten Blick keine ausgeprägte Geschlechtsspezifik seiner
Denk- und Verhaltensweisen feststellen. Er akzeptiert ohne Probleme in seiner
Lehrwerkstatt ein Mädchen als Auszubildende in einem typischen Männerberuf und hat
auch ansonsten ein seinem Alter entsprechendes Verhältnis zu Mädchen. Deutlich
geschlechtsspezifisch sind aber seine Gewaltbereitschaft sowie seine ablehnende
Einstellung gegenüber ausländischen Jungen und Männern einzuordnen, die er als
Bedrohung seiner ‘territorialen Ansprüche’ sieht.
Sein Interesse für Sport, u.a. amerikanische Sportarten, Fußball und Skateboardfahren,
lassen auf eine relativ unauffällige jugendkulturelle Orientierung schließen. Abgesehen
von Norberts Vorliebe für die ‘Böhsen Onkelz’ ist auch sein favorisierter Musikstil
‘Heavy’ nicht außergewöhnlich. Die von ihm konsumierte Musik könnte Mittel im Prozeß
der Ablösung vom Elternhaus sein.
Norberts Beziehungen im sozialen Nahraum sind von Konstanz geprägt. Trotz
Schulwechsels und Berufseinstiegs bleibt seine Clique als stärkste Bezugsgruppe bestehen.
Es findet keine Umorientierung oder der Aufbau eines neuen Freundeskreises statt.
3.2.2. Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Norberts Toleranzschwelle gegenüber Ausländern ist sehr niedrig. Es besteht eine
besonders starke Voreingenommenheit gegenüber Türken und Albanern, denen er gehäuft
mangelnde Anpassungsbereitschaft, Leistungsmißbrauch und Gewaltbereitschaft vorwirft.
Norbert zeigt innerhalb seiner Bezugsgruppe aber auch andere Seiten, zum Beispiel wenn
von dem sehr rücksichtsvollen Umgang mit jüngeren Cliquenmitgliedern erzählt, wegen
deren Alters alle auf Discobesuche verzichten. Das unterschiedliche Ausmaß seiner
Toleranz gegenüber anderen ist zu einem großen Teil auf seine eingeschränkten
empathischen Fähigkeiten zurückzuführen: Norbert kann sich zwar in jüngere Freunde
hineinversetzen und Verständnis für deren Bedürfnisse entwickeln, ihm fehlt aber die
grundlegende Fähigkeit, die Motivation ausländischer Jugendlicher oder Familien
nachzuempfinden, wenn diese sich nicht Norberts Normen- und Wertemuster entsprechend
verhalten.
In den Interviews zeigt Norbert nur geringe Tendenzen, sein Verhalten reflexiv zu
beobachten. Er berichtet zwar, dass seine Übergriffe auf ausländische Mitschüler negative
Reaktionen bei Lehrern auslösen, reflektiert aber nicht sein Verhalten oder stellt es gar in
Frage; er wälzt vielmehr die Schuld für die Auseinandersetzungen auf die Ausländer und
die Stigmatisierungsfolgen für ihn auf die Lehrer ab.
Norberts feste Eingebundenheit in seine Clique und sein in geordneten Bahnen
verlaufendes Leben vermitteln ihm Sicherheit und tragen zu seinem Selbstwertgefühl bei.
Er ist in der Lage und auch dazu bereit, Verantwortung für andere, insbesondere jüngere,
zu übernehmen. Ein Teil seines Engagements ist hierbei dem kleinen Heimatort Norberts
zuzuschreiben, denn besonders in schwach strukturierten Gegenden wachsen die
Jugendgenerationen näher beieinander auf als in städtischen Gebieten.
4.
Zusammenfassung
Norbert erweckt den Eindruck eines politisch und sozial nicht oder wenig interessierten
Jugendlichen, der darauf bedacht ist, sein Dasein in möglichst geordneten Verhältnissen zu
verbringen. Norberts Entwicklung von einem durchaus gewaltbereiten zum eher
streitmeidenden Jugendlichen basiert weniger auf einem grundsätzlich gelernten Prinzip
CXX
von Gewaltlosigkeit o.ä., sondern vielmehr darauf, dass er sich aus Angst vor Niederlagen
mit den in Cliquen formierten ausländischen Mitschülern nicht anlegen will. In seinen
Denk- und Verhaltensweisen verfestigt sich das Feindbild ‘Ausländer’, das für viele
sozialpolitische Probleme wie etwa Wohnungsnot oder Abgabenlast der Steuerzahler
herhalten muss.
Während er 1992 noch nur Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Ausländern äußert, diese
aber noch nicht explizit in Ungleichbehandlungsforderungen überführt, hält er ab 1993 sein
Patentrezept ‘Deutsche zuerst’ parat. Norberts Ressentiments entspringen offenbar relativ
unreflektiert übernommenen allgemein kursierenden Deutungsmustern, die in seiner Clique
anscheinend auf Nährboden stoßen. Dafür spricht auch, dass Norbert sich gesellschaftliche
Brennpunkte zu Argumentationszwecken sucht, die sein Leben nur am Rande betreffen: Da
er auch weiterhin zu Hause wohnen möchte, leidet er weder unter der im ländlichen Raum
ohnehin schwächer ausgeprägten Wohnungsnot, noch drückt ihn als Auszubildenden eine
wie auch immer geartete Abgabenlast.
Im Laufe der Jahre löst sich Norberts Fremdenfeindlichkeit zwar von seiner zuvor
manifesten Gewaltakzeptanz, diese Mäßigung nimmt seinen anfangs noch auf der
Erfahrung körperlicher Auseinandersetzung beruhenden Antipathien gegenüber
potentiellen Leistungsbetrügern jedoch nicht die Schärfe. Er legt großen Wert auf
materiellen Wohlstand und sieht in zumindest gleichbleibendem Maße in Ausländern eine
Bedrohung deutscher und damit auch seiner eigenen Besitzstände. Mit diesem Argument
rechtfertigt er seine verbalen Angriffe (in der Form von Ungleichheitsvorstellungen und
Ungleichbehandlungsforderungen) auf Ausländer im allgemeinen, während seine tätlichen
Angriffe auf männliche ausländische Jugendliche als Verteidigung des von ihm in
Anspruch genommenen Territoriums, nämlich seiner näheren Umgebung, zu verstehen
sind.
So ist als weiterer Grund für die Abnahme direkter gewalttätiger Konfrontationen mit
ausländischen Jugendlichen Norberts über die Jahre gewachsenes und gesichertes soziales
‘Nest’ anzuführen, um das keine Verteidigungskämpfe geführt werden müssen. Die
schwache Sozialstruktur seines Heimatortes mit wenig adäquaten Freizeitangeboten für
Jugendliche, mangelnde elterliche Aufmerksamkeit und eine feste Clique politisch rechts
orientierter Jugendlicher verstärken Norberts Ungleichheitsvorstellungen zusätzlich.
Dass Norbert sich auf der Berufsschule mit einer Überzahl ausländischer Mitschüler
konfrontiert sieht und in diesem Zusammenhang seine Gewalttätigkeit nachgelassen hat,
bedeutet jedoch keine unbedingte Entwarnung für die Zukunft. Nur solange er sich in
seinem Lebensradius nicht zu sehr eingeschränkt oder bedroht fühlt und er die
wirtschaftliche und soziale Sicherheit, in der er lebt, weiterhin aufrecht erhalten kann, ist
anzunehmen, dass er nicht mehr versucht, seine Ungleichheitsvorstellungen mit Gewalt
durchzusetzen.
Oswin 1992 - 1994
"Was mich halt wahnsinnig aufregt ist, wenn irgend jemand mit irgendwelchem NaziGequatsche herkommt. Ich meine, ich habe zwar gegen manche Ausländer was, aber was
mit Nazi zu tun hat und sonst, ‘Heil Hitler’ und so, also da könnte ich echt durchdrehen."
(1992: 21;8 ff)
"Ja, was heißt, ‘Störkraft’ ist rechtsextreme Musik, aber mir gefällt sie halt. Ich meine, man
kann sagen, ich bin auch ein bisschen rechts, also ich bin nicht gerade links, also auf
‘Rotfront’ oder so. Aber ich gehe nicht einfach zu einem Ausländer hin und sage, du bist
CXXI
ein Ausländer, also schlage ich dir jetzt eine rein. (PAUSE) Aber wenn sie sich benehmen
wie die Axt im Walde, dann wird es schon ein wenig happig." (1993: 22;28 ff)
"Und ich habe auch die Berichte von Dings gesehen, von Rostock-Lichtenhagen und im
nachhinein kann man, neulich ist noch eine Reportage gekommen, warum die Anwohner so
stark dagegen plädiert haben, und wo ich das dann gesehen habe, dann habe ich echt zum
Schluss sagen müssen, da hätte ich wahrscheinlich auch mitgemacht. (PAUSE) Dass sie in
den Park geschissen haben, dass sie alles haben herumliegen lassen." (1994: 40;2 ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Oswin, geb. 1979, lebt mit seinen Eltern und seiner vier Jahre älteren Schwester in dem
Dorf T., das in einem gut strukturierten ländlichen Raum des Albvorlandes gelegen ist. Die
Familie bewohnt ein eigenes 10-Zimmer-Haus mit Terrasse und großem Garten in einem
Randbezirk des Dorfes, der vorwiegend durch relativ neuerbaute Einfamilienhäuser geprägt
ist. Die Familie ist relativ wohlhabend. Der Vater hat Hauptschulabschluss, ist
Industriekaufmann und besitzt ein Geschäft für Markenkleidung in einer Großstadt in den
neuen Bundesländern. Die Mutter hat Realschulabschluss und arbeitet ebenfalls im
familieneigenen Geschäft.
Oswin besucht ein Gymnasium im acht Kilometer entfernten F., wobei er die achte Klasse
wiederholen musste. Während er zu Beginn der Erhebung sehr aktiv im örtlichen Sportund Schützenverein ist, betätigt er sich in den folgenden Jahren eher mehr im
evangelischen Jugendkreis sowie im Jugendgemeinderat des Dorfes.
Zu den Befragungen macht er einen durchweg gepflegten Eindruck, der durch die von ihm
getragene Markenkleidung unterstützt wird. Er ist nicht übermäßig groß, dafür aber kräftig
gebaut und trainiert durchgängig diverse Kampfsporttechniken und Kraftsport.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Obwohl Oswin explizit kein politisches Interesse zeigt, wird 1994 deutlich, dass er
grundsätzlich nicht sehr weit von der FDP-orientierten Linie seiner Eltern entfernt ist. In
seiner Kommentierung der Bundestagswahl betont er, dass er eine CDU-geführte
Koalitionsregierung der SPD vorzieht (vgl. 1994: 38;11 ff).
Während er sich anfänglich zu den Heavies und Bikern rechnet und mit Rockern und
rechten Jugendlichen sympathisiert, zählt er sich 1994 nur noch zu den Heavies und
rechnet u.a. rechte Jugendliche, Skinheads, Hooligans, Wehrsportgruppen und deutschnationale Gruppen zu seinen Gegnern (vgl. Fb.).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Bis 1994 zeigt Oswin zahlreiche Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer. Den
Hauptgegner stellen für ihn besonders türkische Jugendliche dar, denen er das alleinige
Aggressionspotential bei gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Verwicklung in
kriminelle Machenschaften zuschreibt. Zwischen diesen Jugendlichen und Oswins Clique
kommt es häufig zu Konkurrenz- und Bedrohungssituationen, die sich vornehmlich an
Orten, die beide Gruppen in ihrer Freizeit nutzen (z.B. Disco), abspielen. Dieses explizite
Feindbild bedeutet jedoch nicht, dass Oswin sich auf die Ablehnung von jugendlichen
nichtdeutscher Nationalität beschränkt. Auch Aussiedlerjugendliche aus Russland versieht
er mit den Prädikaten des Gewalttätigen und Provokativen (vgl. 1993: 17;12 ff), und
schwarzhäutigen Asylbewerbern wirft er erhöhte Drogenkriminalität vor (vgl. 1993: 47;15
ff). Die Antipathie gegenüber Ausländern nimmt eine zentrale Position innerhalb der
Selbstzuordnung als rechter Jugendlicher - "ich bin auch ein bisschen rechts" (1993: 22;30)
- ein, wobei Oswin betont, dass es sich nicht um eine generelle Ablehnung handelt, sondern
CXXII
um eine Haltung, die aus seiner Sicht zwischen ‘gut’ (= angepasst, gut situiert,
leistungsbereit) und ‘böse’ (= rabiat, anmaßend, unverschämt) unterscheidet.
Die Begründungen seiner nicht auf negative Eigenerfahrungen gestützten Ressentiments
gegenüber Asylbewerbern sind an verschiedene, allgemein kursierende Deutungsmuster
angelehnt. Zum einen hält er die Anzahl der in Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge
für zu hoch, wobei er mit der Überflutungsmetapher argumentiert. Zum anderen verwendet
er Steuerzahler-Argumentationen mit dem Hinweis auf die damit einhergehenden hohen
Belastungen für den Sozialstaat und wirft einigen Asylbewerbern Asylbetrug vor.
"Scheinasylanten" sind für ihn diejenigen, "wo halt Arbeit haben (...), und dann kriegen sie
noch Asylhilfe" (1993: 47;14 f). Obwohl Oswin Hunger und Verarmung durchaus als
Asylgrund gelten läßt, fordert er doch eine rigidere Handhabung der Asylvergabe, was er
u.a. mit dem Vorwurf der Selbstverschuldung von Notlagen in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge sowie mit der Forderung nach Anpassung an das ‘Gastland’ begründet.
1994 distanziert er sich vom rechten Standpunkt und schätzt sich selbst nun als "eher links"
(1994: 39;9) ein. Allerdings kann er diese politische Positionierung kaum offensiv und
inhaltlich füllen. Lediglich eine weitgehend passive und gleichgültige Haltung gegenüber
Migranten sowie der von ihm als positives Beispiel dargestellte Einzelfall des Aufbaus
einer unterstützenden Beziehung seiner Familie zu einer ehemals im Haushalt tätigen
Putzfrau dienen ihm zur Veranschaulichung des ‘Linksseins’. Daneben ist es vor allem die
Verurteilung neonazistischer Gruppierungen, die für die Relativierung bzw. Revidierung
der früheren Position herangezogen wird. Obwohl er Ungleichheitsvorstellungen in bezug
auf Ausländer und andere Immigranten nunmehr ablehnt - "ich hab zwar gegen manche
Ausländer was, aber was mit Nazi zu tun hat und sonst ‘Heil Hitler’ und so, also da könnte
ich echt durchdrehen" (1994 b: 21; 12 ff) -, zeigt sich mit seinem einschränkenden Hinweis
auf "manche" Ausländer seine jetzt stärker differenzierende Einstellung zu dieser
Problematik. Trotz der Distanzierung von deutlich wahrnehmbaren rechtsextremen
Phänomenen benutzt Oswin in der inhaltlichen Diskussion, etwa bei der Einschätzung der
‘drängendsten Probleme in Deutschland’, weiterhin einige der auch im rechten Diskurs
gängigen Argumentationsmuster: "Ausländerstrom, würde ich sagen, immer noch" (1994:
39;38 ff). Neben dem Gebrauch eindeutiger Metaphern (z.B. "Ausländerstrom") kommt als
wesentliches Orientierungsmuster nach wie vor die Anpassungsforderung an die
Einwanderer zum Tragen. Mit Hilfe des Grades der Angleichung an die herrschenden
Werte (Arbeits- und Leistungswillen, Selbstversorgung) bzw. des Ausmaßes des Verstoßes
dagegen werden die Migranten in akzeptierte und (aktiv) auszuschließende Gruppen
eingeteilt. Hinsichtlich der Konsequenzen für die negativ bewertete Gruppierung legt er das
Schwergewicht auf das Einklagen eines kontroll- und sanktionsbereiten Staates.
2.3
Gewaltakzeptanz
Dominierendes Thema innerhalb Oswins Orientierungsmuster ist bis 1994 der Komplex
‘Gewalt’ mit all seinen Facetten und individuell bedeutsamen Aspekten. Gewalt ist dabei in
seiner Wahrnehmung zum einen selbstverständliche Handlungsform im Alltag, mit deren
Hilfe Konflikte nach dem Stärkeprinzip sowohl in der Schule als auch innerhalb der Clique
gelöst werden können. Um daran angelehnten Anforderungen der Jungen-Sozialisation wie
Dominanz und Wehrhaftigkeit genügen zu können, trainiert Oswin durchgängig
verschiedene Kampfsportarten und -techniken sowie Kraftsport. Innerhalb der Clique
erscheint Gewalt nicht nur als Sanktion, sondern fast schon als selbstverständliches
Erziehungsmittel:
"...dann schlägt man dem eine rein, bis er das dann einsieht." (1993: 30; 33 ff)
Zum anderen betrachtet Oswin Gewalt als unumgängliches Mittel des Widerstandes und
der Notwehr z.B. gegenüber türkischen Jugendlichen. Sowohl abgeleitet aus
entsprechenden Erfahrungen von Auseinandersetzungen mit dieser Gruppierung als auch
zur Legitimation für eine offensiv-aggressive Haltung ihr gegenüber fungiert sie als
CXXIII
Hauptgegner. Begründet wird dies mit Provokations- und Anmaßungsvorwürfen, mit der
Verteidigung von vermeintlich den deutschen Jugendlichen streitig gemachten Territorien
sowie mit Beschützermotiven hinsichtlich der deutschen Mädchen. Obwohl Oswin eher
Anhänger einer ‘handfesten’, traditionsgeleiteten Gewaltmoral ist, bei der bestimmte
Fairness-Regeln gelten und eingehalten werden, sieht er sich anhand der Umstände
gezwungen, eine Waffe (Butterfly-Messer) bei sich zu tragen, was für ihn mit einem
gewissen Fatalismus als ‘Normalität’ hingenommen wird: "das ist normal geworden. Mir
tut es eigentlich ein wenig leid, dass es so geworden ist, aber ich kann nichts dagegen
machen" (1993: 41;30 ff).
Momente der Billigung von Gewalt Dritter und eigener Gewaltbereitschaft werden
insbesondere in seinen Kommentierungen zu den Geschehnissen in Rostock und Solingen
deutlich. Zwar folgt er in seiner Verurteilung der Morde in Solingen zunächst der
allgemeinen Empörung und kritisiert vor allem die Tatsache, dass es sich bei den Opfern
des Anschlages um Arbeitsmigranten mit langer Aufenthaltsdauer in Deutschland und
damit um seiner Meinung nach voll integrierte Personen handelte, doch befürwortet er
direkte Übergriffe auf die Gruppierung der Flüchtlinge zur Maßregelung ("die scheißen in
den Garten ...", 1993: 42; 31), solange sie unter der Schwelle extremer Ausformungen
bleiben:
"...man muss die Leute nicht gleich umbringen, aber wenn sie mal wirklich einen auf den
Deckel bekommen, dann könnte ich sagen, ich habe nichts dagegen." (1993: 42, 33 ff)
Mehr noch bezüglich der Ausschreitungen in Rostock bringt er Verständnis für die
jugendlichen Täter auf, wobei er das wahrgenommene Aggressionspotential als Beleg für
Ursachen, die unausgesprochen der Opfergruppe angelastet werden, bewertet:
"...das war ja wirklich nur noch geballter Hass, so was muss sich irgendwie bilden, so was
kommt nicht von einem Tag auf den anderen." (1993: 43;8 ff)
Hier kommt bei seiner rückblickenden Einlassung "da hätte ich wahrscheinlich auch
mitgemacht" (1994: 40;8 f) eindeutig seine trotz vordergründiger Verurteilungen der
Gewalttaten noch immer zumindest ambivalente Einstellung zur Frage der Legitimität von
Gewalt gegen Ausländer zum Tragen. Zwar distanziert er sich von organisierter
Gewaltanwendung bis zu einer bestimmten Grenze ("Umbringen"), jedoch würde er - evtl.
aufgrund seiner hinsichtlich seiner beruflichen Zukunftsplanung selbst zu erbringenden
Anpassungsleistungen - selber bis zu einem gewissen Grad Gewalt gegen
normüberschreitende (z.B. gegen "Sauberkeit" verstoßende) Immigranten anwenden.
Einhergehend mit der seiner Ansicht nach geänderten politischen Einstellung (s.o.) äußert
Oswin sich 1994 kritisch über die vormalige eigene Gewaltbereitschaft. Trotz einer
mehrfach beteuerten Abkehr von harten und brutalen Gewaltformen in der
Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen zeigt er aber immer noch seine Bereitschaft,
bei entsprechenden Anlässen wie z.B. Gegenwehr bei körperlicher oder verbaler
‘Anmache’ oder bei Beleidigungen seiner ‘männlichen’ Ehre, aktiv gewalttätig zu
reagieren. Obwohl u.a. bedingt durch ein verändertes Freizeitverhalten - Oswin verbringt
mehr Zeit mit seiner Schwester und anderen Erwachsenen - in den vorhergehenden
Monaten die Notwendigkeit zu massiveren und kollektiven Gewaltdemonstrationen nicht
mehr bestand, hat er mit dem Einüben einer neuen Kampftechnik (Verwendung von
Würgehölzern) dennoch individuell weiter aufgerüstet. Der Umstand, dass es für Oswin
keine konkreten Probleme mehr mit ausländischen Jugendlichen gibt, könnte allerdings
eher als einem grundlegenden Wandel seiner eigenen Einstellungen Ausländern gegenüber
der Tatsache geschuldet sein, dass er und seine Clique sich in der Vergangenheit durch ihr
gewalttätiges Auftreten eine solchermaßen respektierte, wenn nicht gefürchtete Stellung
geschaffen haben, dass andere Jugendliche eine direkte Konfrontation scheuen.
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
CXXIV
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Oswin selber gibt durchgängig ‘schulische Probleme’ an (vgl. Kap. 3.2.1 Abschnitt
‘Schule’). Latent scheint für Oswin auch die häufige beruflich bedingte Abwesenheit der
Eltern belastend zu sein. Obwohl er selber seine Eigenständigkeit betont und auch die
Eltern Wert auf eine Erziehung zur Selbständigkeit zu legen scheinen, klingt in den
Gesprächen an mehreren Stellen sein Wunsch an, häufiger etwas mit den Eltern gemeinsam
zu unternehmen bzw. sie öfter zu sehen.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Die Familie stellt für Oswin durchgängig einen unbelasteten, weitgehend
zufriedenstellenden sowie vor allem hinsichtlich der materiellen Ressourcen
überdurchschnittlich gut ausgestatteten Bereich dar. Obwohl er die beruflich bedingte
häufige Abwesenheit der Eltern implizit bedauert, fungieren sie wie auch die Schwester als
soziale und emotionale Bezugspersonen, der Vater in einigen Aspekten (bewegte
Jugendzeit, beruflicher Erfolg) zudem als Vorbild. Bestätigung gewinnt er durch die im
Alters- und Geschlechterdurchschnitt übermäßige Inpflichtnahme in der Haus- und
Gartenarbeit sowie die frühzeitige Einbindung in die berufliche Sphäre der Eltern. Quasi
als ‘Belohnung’ gewähren ihm die Eltern weitestgehende Freiräume, wobei Oswin durch
seine bereitwillige Hilfe und damit bewiesene Eigenständigkeit aber auch für sich das
Recht ableitet, sich Freiräume gegebenenfalls auch ungefragt zu nehmen. Mit seinen
zumindest anfänglich rechtslastigen Ansichten und seiner Gewaltbereitschaft befindet er
sich nicht in Übereinstimmung mit seinen Eltern, so dass er diese Themenbereiche sowie
von ihm begangene Normüberschreitungen (z.B. Alkohol- und gelegentlicher
Drogenkonsum) zur Vermeidung eines Konfliktes bei den sonst eher offenen und
verständnisvollen Gesprächen mit den Eltern ausspart. Die häufige Abwesenheit der Eltern
und die damit einhergehende fehlende Kontrolle mögen ein Grund mit für Oswins z.T.
recht auffälliges Verhalten sein.
In der Schule kommt es 1992 und 1993 vor allem aufgrund Oswins eigenen unangepassten,
"angeberischen" und nicht-integrativen Verhaltens häufig zu gewalttätigen Konflikten mit
seinen Mitschülern. Dementsprechend macht er auch schlechte Erfahrungen mit den
Autoritätspersonen der Institution, bei denen er angesichts einiger normabweichender
Verhaltensweisen (Schlägereien, Rauchen, Widerstandshandlungen) einen umstrittenen Ruf
innehat. In der Folge verschlechtern sich seine Leistungen so, dass er 1993 in der achten
Klasse nicht versetzt wird. Aufgrund eigener Einsicht in vormaliges Fehlverhalten und
einer damit einhergehenden Verhaltensänderung verbessert sich Oswins Verhältnis zu den
Schülern seiner ehemaligen Klasse, und sein Leistungsstand pendelt sich um den
Durchschnitt herum ein. Die Schüler seiner neuen Klasse hält er für ‘infantil’ und weit
hinter seinem eigenen Entwicklungsstand zurück, so dass sein Verhältnis zu ihnen eher
zwiespältig ist. Einerseits distanziert er sich von ihnen, andererseits genießt er aber auch
die Bewunderung, die ihm als ‘erfahrenem Wiederholer’ von ihnen entgegengebracht wird
und füllt das ihm verliehene Klassensprecheramt engagiert aus. 1994 versucht er, sich in
der Schule möglichst nichts zuschulden kommen zu lassen, um sein Ziel, in der Zukunft
einmal Betriebswirtschaft und/oder Jura studieren zu können (s.u.) zu erreichen und nicht
durch unangepasstes Verhalten zu gefährden.
Während Oswin 1992 noch in eher wechselnden sozialen Zusammenhängen verkehrte,
stellt ab 1993 seine Clique für ihn einen durchgängig emotional verlässlichen
Bezugsrahmen dar. Merkmale dieser ausschließlich aus mehr oder weniger
rechtsorientierten deutschen Jungen seines Heimatortes bestehenden Gruppe sind ein
starker Zusammenhalt, gemeinsam durchgemachte Erfahrungen und Aktivitäten im Bereich
von Grenzüberschreitungen (Alkohol, Sexualität, Gewalt) sowie die ebenfalls geteilte
Affinität zu politisch einschlägigen Musikgruppen (s.o.) bzw. entsprechenden Haltungen.
CXXV
Ein zentraler Konnex wird durch die Verständigung über Gewaltbejahung und
Kampfbereitschaft (z.B. Bewaffnung, individuelle Kampffähigkeiten) gebildet, wobei als
Anforderung an die einzelnen Mitglieder auch intern wirksame gewaltförmige Momente
(Konfliktbereinigung, Auseinandersetzungsformen) zum Tragen kommen. Zum einen kann
Oswin über die Demonstration von ‘männlichen’ Eigenschaften wie Dominanz(streben)
und Wehrhaftigkeit Anerkennung von Seiten seiner Freunde erhalten und bewahren, zum
anderen kann die Gruppe als solche über die Inszenierung als gewalttätige und rechte
Clique und die ausgetragenen gewalttätigen Konflikte mit vornehmlich ausländischen
Jugendgruppierungen ihren Status als zu respektierende, gefährliche Gruppe, mit der nicht
zu spaßen ist, ausbauen und bewahren. 1994 distanziert sich Oswin zwar von der seiner
Einschätzung nach noch immer bestehenden rechten Ausrichtung der Clique, ist aber
weiterhin mit ihr zusammen. Räumlich verändertes Freizeitverhalten (s.u.) und eine
weniger als provokativ empfundene Umwelt (s.o.) führen dazu, dass die Clique insgesamt
nicht mehr so häufig in gewalthaltige Auseinandersetzungen verwickelt ist.
1992 betätigt Oswin sich intensiv im Leistungssportbereich zweier örtlicher Vereine, muss
dieses Engagement aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. In der Folge bilden neben
regelmäßigen Treffen im ev. Jugendkreis und wöchentlichem Training mit dem Luftgewehr
im Schützenverein gesellige Zusammenkünfte mit seiner Clique den Schwerpunkt seines
Freizeitverhaltens. Die Jugendlichen treffen sich zu Hause, auf öffentlichen Plätzen sowie
zunehmend in zwei Gaststätten des Ortes. Wesentliches Moment bei diesen Treffen stellt
zum einen der gemeinsame, z.T. exzessive Konsum von Alkohol dar. Zum anderen bieten
die Aufenthalte an öffentlichen, auch von ausländischen Jugendlichen genutzten Orten
immer wieder auch Anlass und Gelegenheit zu mit Territorialansprüchen begründeten
körperlichen Auseinandersetzungen mit diesen Jugendgruppierungen. 1994 verändert sich
Oswins Freizeitverhalten dahingehend, dass er an den Wochenenden vermehrt mit seiner
motorisierten Schwester unterwegs ist. Ein konkreter Anlass zu o.a. Auseinandersetzungen
ist aufgrund des Besuches anderer Discotheken bzw. Kneipen daher nicht mehr gegeben.
Ein direkter Zusammenhang zwischen Oswins Nachbarschaft und Wohnumfeld und
seinen politischen Ansichten und seiner hohen Gewaltakzeptanz erscheint nicht gegeben.
Er nutzt einige der für ihn attraktiven dörflichen Strukturen und Angebote, ohne dass er
sich von diesem Rahmen eingeschränkt fühlt. Darüber hinaus kann er sich aufgrund der
Mobilität der Schwester zunehmend außerhalb der dörflichen Umgebung bewegen.
Lediglich das eingeschränkte Angebot für Jugendliche könnte dazu beitragen, dass sich die
einzelnen Jugendgruppierungen nicht ausweichen können, sondern immer wieder an
bestimmten Plätzen zusammentreffen, was wiederum territorialen Auseinandersetzungen
Vorschub leistet.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Oswin liest mit steigender Tendenz regelmäßig die Tageszeitung und manchmal den
‘Stern’. Im Fernsehen verfolgt er "oft" die Nachrichten, Jugendmagazine, Reportagen und
Dokumentarfilme (vgl. Fb.). Während er zunächst neben anderen Musikrichtungen
hauptsächlich die Musik seiner Lieblingsgruppe ‘Böhse Onkelz" und der Gruppen
‘Tonstörung’, "Störkraft" und ‘Endstufe’, über deren rechtsradikalen Inhalt er sich bewusst
ist und den er befürwortet, bevorzugt, distanziert er sich 1994 etwas von dieser
Stilrichtung mit dem Hinweis "die Texte gefallen mir halt nicht mehr" (1994: 2;14). Mit
seinen Eltern bespricht er die meisten Themen ziemlich offen, allerdings verschweigt er
eigene Gewalterlebnisse, begangene Normüberschreitungen und Ansichten über Ausländer
in Vorwegnahme und zur Vermeidung eines Dissenses zu der eher liberalen politischen
Einstellung der Eltern und ihrer Erwartung eines angepassten Verhalten seinerseits.
Durchgängig erlebt er sich in seinen Ansichten und seiner Gewaltakzeptanz in
Übereinstimmung mit seiner Clique, wobei die Tendenz nach seiner eigenen Einschätzung
CXXVI
1994 zumindest bei ihm in Richtung "links" und - aufgrund ruhigerer Lebensumstände weniger Gewaltakzeptanz geht.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Oswin ist für die Erreichung von für ihn lohnend erscheinender Ziele durchaus bereit, sich
in Gremien o.ä. zu engagieren. Im Rahmen seines 1994 bestehenden Klassensprecheramtes
versäumt er keine SMV-Sitzung in der Schule und versucht, dem Amt so gut wie möglich
gerecht zu werden. 1993 wird er in den örtlichen Jugendgemeinderat gewählt. Konkrete
Motivation ist für ihn hierbei die Eröffnung eines Jugendkellers. Auch bei von diesem
Gremium (mit-) veranstalteten Festen steht er seinen ‘Mann’ in der Planung und
Ausführung und opfert dafür bereitwillig seine Freizeit. Hinsichtlich seiner beruflichen
Zukunftsplanung ist er zunehmend bereit, Anpassungsleistungen (z.B. in der Schule) zu
erbringen, um ein angestrebtes Studium und eine spätere selbständige Tätigkeit im
kaufmännischen Bereich nicht zu gefährden.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Oswin hat kein übersteigertes Nationalitätsempfinden, er scheint Deutschland vornehmlich
als Wohlstandsstaat zu begreifen. Die momentan gute materielle Versorgung und sein Ziel,
auch in der Zukunft mit einem eigenen Betrieb möglichst viel Geld zu verdienen, scheinen
ein Grund dafür zu sein, dass er seine Ablehnung von Ausländern u.a. mit SteuerzahlerArgumenten begründet. Seine eigene Leistungsorientierung ist vermutlich Kriterium für die
Akzeptanz arbeitender, für sich selbst sorgender Ausländer sowie die grundlegende
Ablehnung von Gruppierungen wie die Asylbewerber, die - womöglich noch als
"Scheinasylanten" - vom Staat Leistungen beziehen. Oswins regionaler und lokaler
Sozialraum scheint - wenn überhaupt - nur dahingehend Einfluss auf seine Ansichten und
seine Gewaltbereitschaft zu haben, dass es aufgrund mangelnder Angebotsvielfalt häufig zu
vornehmlich gewalttätig ausgetragenem Konkurrenz- bzw. Territorialverhalten in bezug auf
die vorhandenen Freizeitressourcen zwischen den einzelnen Jugendgruppierungen kommt.
Sein Sozialstatus als materiell gut versorgter Gymnasiast scheint hauptsächlich seinem
Anspruchs- und Leistungsdenken Vorschub zu leisten, wodurch vermutlich die
Ausgrenzung der Asylbewerber, die nicht für sich selber sorgen können und sich zudem
noch "fordernd" oder "unangepasst" verhalten, begünstigt wird. Ausschlaggebend für
Oswins hohe Violenz scheint die Geschlechtsspezifik seines Verhaltens zu sein. Die
Orientierung an gängigen Standards der Jungen-Sozialisation bringt mit sich, dass er über
die Demonstration von ‘typisch’ männlichen Eigenschaften - wie z.B. Kampfbereitschaft,
Dominanz(streben) und Wehrhaftigkeit - Anerkennung von Seiten der Freunde gewinnen
und bewahren kann. Seine jugendkulturelle Orientierung als rechtsgerichteter Heavy-Fan
führt zu einer Gegnerschaft zu ausländischen - vornehmlich türkischen - Jugendlichen.
Über die Inszenierung als gewalttätige, rechtsgerichtete Gruppe kann die Clique ihren
Zusammenhalt demonstrieren und einen bei anderen Jugendlichen gefürchteten Status
erlangen. Zudem müssen türkische Jugendliche unter dem Deckmantel der als berechtigt
empfundenen Vorwürfe ihnen gegenüber als ‘Feinde’ und somit als willkommene
Zielscheibe für Gewalt und die damit erlebte Faszination sowie für das Ausleben von
Risiko- und Abenteuerwünschen herhalten. Seine sonstigen Beziehungen im sozialen
Nahraum wirken sich nicht explizit fördernd auf seine politischen Ansichten und seine
Gewaltbereitschaft aus. Die Eltern sind eher liberal eingestellt und zeigen weder für das
eine noch für das andere Verständnis. Lediglich ihre häufige Abwesenheit und die damit
einhergehende fehlende Kontrolle könnten seinem Verhalten Vorschub leisten.
3.2.2
Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
CXXVII
Oswin zeigt für Ausländer wenig Toleranz, insbesondere dann, wenn sie sich seiner
Meinung nach ihrem hiesigen Status nach unangemessen oder an die vorherrschenden
Sitten unangepasst verhalten. Er ist in der Lage, im nachhinein eigenes Fehlverhalten
reflexiv zu betrachten (z.B. in der Schule) und die Folgen des eigenen Handelns im
Rahmen eines Kosten-Nutzen-Kalküls abzuwägen, jedoch fehlt es ihm in der Beurteilung
aktueller Orientierungs- und Verhaltensmuster sowie herrschender Mechanismen von
Gewalt und Gegengewalt entweder an der Fähigkeit oder an der Bereitschaft zu kritischem
Hinterfragen. Empathie zeigt er den Belangen der Eltern und der Schwester gegenüber, in
Ansätzen kann er sich in verfolgte oder hungernde Minderheiten einfühlen. Trotzdem
revidiert er diese Einsicht z.T. durch den Vorwurf der Selbstverschuldung, zumindest der
Politiker dieser Herkunftsländer, wieder. Seine Konfliktfähigkeit beschränkt sich
zumindest 1992 und 1993 vornehmlich auf das - z.T. rein emotional gesteuerte gewalttätige Reagieren auf vermeintliche Angriffe oder Beleidigungen. Auch innerhalb der
Familie verschweigt er lieber kritische Themen, als es zu einer verbalen
Auseinandersetzung kommen zu lassen. 1994 zeigt er sich in seinen Reaktionen etwas
gemäßigter, die Schwelle zum Einsatz von Gewalt scheint - evtl. aus reinem KostenNutzen-Kalkül hinsichtlich seiner schulischen und beruflichen Zukunft - gestiegen zu sein.
Oswin ist durchaus dazu bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Dies
belegen seine Tätigkeiten als Klassensprecher und als gewähltes Mitglied des
Jugendgemeinderates. Sein Selbstwertgefühl scheint zunächst hauptsächlich auf dem
Aufbau einer Selbstgewissheit zu basieren, die er als rechter, kampferprobter Jugendlicher
in einer rechtslastigen, gewaltbetonenden, jungendominierten Clique gewinnt. Zunehmend
gewinnt er aber auch Selbstbewusstsein aus dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die
ihm z.B. Anerkennung von seiten der Eltern (Hilfe im Haushalt, Erledigen von
geschäftlichen Aufgaben) oder anderen Jugendlichen und Erwachsenen für seinen Einsatz
als Klassensprecher oder im Jugendgemeinderat zuteil werden lassen. Vor diesem
Hintergrund wird es ihm 1994 auch im Hinblick auf die Erreichung zukünftiger Ziele
möglich, sich zumindest vordergründig vom rechten Standpunkt zu distanzieren und auch
auf vermeintliche Angriffe oder Beleidigungen etwas gelassener zu reagieren.
4.
Zusammenfassung
Oswin bietet das Bild eines Jungen, das sich zunächst sowohl durch eine - wohl aus
eigenem Leistungs- und Anspruchsdenken sowie seiner jugendkulturellen Orientierung
resultierenden - von Ungleichheitsvorstellungen geprägte Ausländerfeindlichkeit als auch
durch - vornehmlich durch seine Orientierung an gängigen Standards der JungenSozialisation bedingte - hohe Akzeptanz von Gewalt jeglicher Couleur kennzeichnet. 1994
relativiert er - vermutlich hauptsächlich vor dem Hintergrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls
hinsichtlich seiner schulischen und beruflichen Zukunft - zumindest vordergründig seine
vormals rechtslastige Einstellung in Richtung "linker" Positionen und zeigt sich aus den
gleichen Gründen auch weniger gewaltbereit. Hier könnte noch hinzukommen, dass sich
Oswin mit seiner Clique durch das vorangegangene Verhalten bei den anderen
Jugendlichen einen so gefürchteten Status erworben hat, dass diese eine direkte
Konfrontation scheuen und Provokationen vermeiden. Außerdem trifft Oswin durch ein
räumlich verändertes Freizeitverhalten nicht mehr so häufig mit konkurrierenden
ausländischen Jugendgruppierungen zusammen. Das Ausgehen mit der motorisierten vier
Jahre älteren Schwester scheint darauf hinzudeuten, dass Oswin vermutlich
entwicklungsbedingt zu diesem Zeitpunkt neue, evtl. ältere Freunde und Bekannte sucht
und seine Clique somit zunehmend an Bedeutung für ihn verliert.
Im einzelnen beziehen sich seine Ungleichheitsvorstellungen zum einen auf die als
‘Hauptgegner’ wahrgenommenen türkischen Jugendlichen, mit denen es immer wieder zu
gewalttätigen Konfrontationen kommt. Ihnen, aber auch jugendlichen Einwanderern aus
Russland, macht er den Vorwurf einer gewalttätigen und provokativen Haltung sowie einer
CXXVIII
z.T. gesteigerten Kriminalität(sbereitschaft). Hinsichtlich der Gruppierung der
Asylbewerber argumentiert er eher mit im öffentlichen Diskurs gängigen
Argumentationsmustern wie Überflutungsmetaphern und Steuerzahler-Argumenten, wobei
er zwischen zu akzeptierenden, weil arbeitenden, sich selbst versorgenden, angepassten und
integrierten
Einwanderern
und
nicht
akzeptablen,
weil
anmaßenden,
ungerechtfertigterweise Leistung beziehenden "Scheinasylanten" differenziert.
Oswins Violenz äußert sich sowohl in der Verwendung von Gewalt als alltäglichem Mittel
zur Konfliktlösung in Schule und Clique als auch als unabwendbarem Mechanismus zur
‘Gegenwehr’ bei körperlichen Übergriffen und vermeintlichen Beleidigungen seiner
‘männlichen’ Ehre sowie zur Maßregelung ausländischer, respektive türkischer,
Jugendlicher bzw. zur Verteidigung beanspruchter Ressourcen. Beinahe fatalistisch nimmt
er die Notwendigkeit, Waffen mitzuführen, als Normalität hin. Obwohl er die Übergriffe in
Solingen und Rostock zunächst verurteilt, gibt er doch die Billigung von Gewalt Dritter
unter gewissen Umständen zu erkennen. Zudem äußert sich seine eigene vorhandene
Ambivalenz hinsichtlich der Anwendung von Ausgrenzungs-Gewalt in seiner Einlassung,
zur Not auch selber bis zu einem gewissen Grad ("auf den Deckel geben", 1993: 42;33 ff)
Gewalt einzusetzen, um die Anpassung der Migranten an hiesige Sitten und Gebräuche zu
erzwingen (s.o.).
Ausschlaggebend für Oswins Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Asylbewerber
scheint seine Identifikation mit Deutschland als Wohlstandsstaat, den er durch
leistungsbeziehende Einwanderergruppierungen gefährdet sieht, sowie sein eigenes hohes
Anspruchs- und Leistungsdenken zu sein. Da ihm durch seine bereits gewonnenen
Einblicke in das Geschäftsleben des Vaters bewusst ist, dass materieller Wohlstand in der
Regel hart erarbeitet werden muss und dass er bereits jetzt gute schulische Leistungen
erbringen muss, um seinen späteren Berufswunsch zu erfüllen, kann er nur Einwanderer
akzeptieren, die ihrerseits selber für sich sorgen können und sich den gegebenen
Umständen anpassen. Da er sich selber keinen ‘Müßiggang’ und kein normabweichendes
Verhalten erlauben kann, will er seine Ziele erreichen, gesteht er dies auch nicht den seiner
Meinung nach auszugrenzenden, alimentierten und unangepassten Asylbewerbern zu. Seine
Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf türkische Jugendliche sowie seine
Gewaltbereitschaft ihnen gegenüber sind zum einen hauptsächlich seiner jugendkulturellen
Orientierung als rechter Heavy-Fan, bei der die Feindschaft zu dieser Gruppierung als
traditionell und somit als ‘normal’ empfunden wird, zum anderen seinen
Maskulinitätsinszenierungen und somit der Orientierung an gängigen Standards der
Jungen-Sozialisation geschuldet. Im Rahmen des Cliquenzusammenhaltes können über die
Inszenierung als rechtsgerichtete, gewalttätige Gruppe durch das gewalttätige Austragen
von Territorial- und Konkurrenzkonflikten Bestrebungen nach Machterlebnissen, Risiko
und Abenteuer ausgelebt werden, für deren Erfüllung die türkischen Jugendlichen in ihrer
Funktion als traditioneller Hauptgegner herhalten müssen. Über die Demonstration von
männlichen Eigenschaften wie Dominanz, Wehrhaftigkeit und Kampferprobung kann
darüber hinaus auch innerhalb der Clique und anderer Lebensbereiche Anerkennung von
Gleichgesinnten erlangt und bewahrt werden.
Da Oswin ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hat und der Vater z.T. Vorbildfunktion für
ihn innehat, er sich mit seinen politischen Ansichten und seiner Gewaltakzeptanz aber nicht
in Übereinstimmung mit ihnen befindet, scheint er aus Angst vor Auseinandersetzungen
brisantere Themen zu Hause zu verschweigen. Eventuell gibt ihm aber die häufige
Abwesenheit der Eltern und die damit einhergehende mangelnde Kontrolle sowie die von
den Eltern forcierte Selbständigkeit ihres Sohnes den nötigen Freiraum für seine z.T.
normüberschreitenden Aktivitäten. Da Oswin trotz alledem seine berufliche Zukunft nicht
aus den Augen verliert und er sich mit seiner Clique 1994 einen allseits gefürchteten Status
geschaffen zu haben scheint, passt er sich - wahrscheinlich aus reinem Kosten-NutzenKalkül und in Ermangelung von durch verändertes Freizeitverhalten und fehlende
CXXIX
Provokationen seitens der türkischen Jugendlichen bedingten Gelegenheiten zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen zumindest vordergründig allgemeinen
Verhaltensregeln wieder mehr an, indem er sich vom rechten Standpunkt distanziert und
auch in potentiellen Konfliktsituationen gelassener reagiert.
Paul 1992 - 1994
„Ich habe eigentlich keine Angst vor dem Streit, aber wenn ich weiß, ich bekomme eine
aufs Maul, mein Gott, dann trete ich einmal zu, dann bekomme ich eine aufs Maul, dann ist
der Kampf vorbei...so richtig krankenhausreif geschlagen habe ich noch keinen.“ (1992:
28; 7ff)
„Wenn er am Boden liegt, dann warte ich erst mal, und wenn er dann irgendeinen falschen
Muckser macht, das macht mir nichts aus, er liegt immer noch am Boden, dann kann es
sein, dass ich ihn krankenhausreif schlage.“ (1993: 21;28 ff)
„Schläger, das habe ich mir mehr oder weniger abgewöhnt." (1994: 1;4 f)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Paul, anfangs der Studie 13 Jahre alt, evangelisch, lebt mit seinen Eltern und seinem ein
Jahr älteren Bruder im Stadtteil Pf. (ca. 4.200 Einwohner) der ca. 2 km entfernten und in
einem ballungsgebietabgewandten, strukturstarken ländlichen Raum im Albvorland
liegenden Kleinstadt G. (ca. 8.000 Einwohner; die Gesamtstadt mit allen Stadtteilen hat
ungefähr 18.000 Einwohner).
Die Familie bewohnt ein eigenes Haus mit 5 Zimmern, Garten und Terrasse sowie einer
derzeit ungenutzten Einliegerwohnung in einem Gebiet, das in der direkten Nachbarschaft
ebenfalls durch Einfamilienhäuser geprägt ist. Paul verfügt über ein eigenes Zimmer.
Im Haushalt sind zwei Autos, Farb-TV, Stereoanlage, Videorecorder, Spülmaschine etc.
vorhanden; an 1993 auch ein Videogerät. Paul selbst besitzt eine Stereoanlage mit CDPlayer, ein Skateboard und ein Keyboard, seit 1993 auch einen PC und ein Mountainbike,
ab 1994 eine neue Skiausrüstung. An Taschengeld stehen ihm zunächst 40 DM im Monat
zur Verfügung; 1993 gibt er an, diese Summe würde durch zusätzliche Zuwendungen
seiner Eltern faktisch auf etwa 100 DM aufgestockt; 1994 bezieht er 60 DM.
Der Vater arbeitet als selbständiger Architekt im ca. 20 km entfernten F., die Mutter ist
ebenfalls dort seit kurzer Zeit wieder in einem Büro beschäftigt. Die mittelgroße Stadt F.
war bis vier Jahre vor Beginn der Studie auch der Wohnort der Familie.
Paul besucht 1992 und 1993 die Hauptschule in Pf., ab 1994 eine soz.-hauswirtsch. Schule,
um dort den Realschulabschluss zu erwerben. Seine Bruder - in den ersten Jahren mit ihm
in einer Klasse - hat seitdem eine Maurerlehre begonnen.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Paul zeigt sich über den Untersuchungszeitraum hinweg politisch nicht sehr interessiert
und/oder informiert, jedoch macht er sich zu bestimmten Themen (u.a. zu
Rechtsextremismus; s.u.) durchaus eigene Gedanken.
Er selbst rechnet sich 1992 zu den Heavy-Fans, Bikern und Fans von Musikgruppen. „Ganz
gut“ findet er zu diesem Zeitpunkt Skater, Rapper, Bundeswehrfans und Disco-Fans.
National eingestellte Gruppen kann er „nicht so gut“ leiden, und Skinheads und Hooligans
bezeichnet er als „Gegner“ (vgl. Fb. 1992). Während die letztgenannten Abneigungen
CXXX
bestehen bleiben, rechnet er sich ab 1993 zusätzlich zu den Rappern, linken Jugendlichen
und Streetfightern (dies nur 1993) und geriert sich auch entsprechend (s.u.).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Paul äußert in den beiden ersten Jahren (fast) keine Ungleichheitsvorstellungen in bezug
auf Ausländer. Vermutlich, weil er viele ausländische Freunde hat - „die meisten von
meinen Freunden sind ja Ausländer“, (24;21 f) - betont er die Gleichheit aller Menschen
und verurteilt ausländerfeindliche Angriffe: „Menschen sind doch Menschen, oder?“ (23;6
ff).
Lediglich bei der Analyse der Gründe für die Vorkommnisse in Rostock klingen
„Steuerzahler-Argumente“ bezüglich der finanziellen Belastungen durch Asylbewerber an,
jedoch entkräftet er diese Argumentation bewusst selber, indem er anführt, dass
Asylbewerber in Deutschland zunächst gar nicht arbeiten dürfen:
„Wir Deutschen unterhalten ja die Ausländer, die Asyl suchen und so, aber wieso, man
lässt ja die Ausländer gar nicht arbeiten, die Asyl suchen, (...) ich meine, wieso lässt man
sie nicht arbeiten? Dann würde es wieder heißen, die nehmen den Deutschen die
Arbeitsplätze weg.“ (24;37 ff)
Der Umstand, dass Paul den ‘Teufelskreis’ zwischen Schuldzuweisungen im Sinne von
‘Alimentierung’ bzw. ‘Leistungserschleichung’ einerseits und ‘Wegnahme der
Arbeitsplätze’ andererseits erkennt, zeigt, dass er sich eingehender mit der Situation der
Asylbewerber befasst hat. Konsequenterweise distanziert er sich von Rechtsextremen, die
er explizit als „Gegner“ bezeichnet (vgl. 24;21 und Fb. 1992), indem er sich kritisch über
ihr Verhalten (vgl. Kap. 2.3) und ihr Äußeres äußert (vgl. 24;1 ff).
Vermutlich beeinflusst durch seinen noch immer zum großen Teil von ausländischen
Jugendlichen gebildeten Freundeskreis (vgl. Abschnitt ‘Clique’) charakterisiert er 1993
seine eigene Einstellung noch deutlicher als:
„Linksradikal und mit Ausländern zusammen sein, (...) also nichts gegen Ausländer haben,
(...) was mit Ausländern unternehmen.“ (38;35 ff; ähnlich: 1994: 44;24ff; 55;27ff)
Paul setzt sich weiterhin vehement von „rechtsradikalen“ Gruppierungen ab, die er als
„Nazis“ bezeichnet. Als Gründe hierfür gibt er demonstrierte Gruppenstärke, deren
Bedrohlichkeit und moralisch ungerechtfertigten Hass auf andere (vornehmlich
ausländische) Menschen an:
„Der Hass auf Ausländer, das heißt, nicht gerade auf Ausländer, sondern der Haß auf
andere Menschen, die meisten Nazis, die wissen gar nicht, warum sie so was machen. Die
sind halt dabei, weil sie genau wissen, da bist du in einer Gruppe, da bist du stark. Ich
meine, gegen einen Nazi legt sich keiner an. Ich hasse Nazis, die gehen einfach auf Leute
los, die gar nichts gemacht haben, bloß weil sie jetzt aus einem anderen Land kommen, das
ist der totale Schwachsinn.“ (37;32 ff)
Obwohl er zeigt, dass er die hier herrschenden (faschistoiden) Gruppenmechanismen von
kollektiver Stärke und Bedrohung erkennt, wird ihm anscheinend nicht klar, dass er in
seinem Freundeskreis oftmals ebenfalls gewissen Anpassungszwängen unterworfen ist (vgl.
Abschnitt ‘Clique’). Zudem wirft Paul den „Rechtsradikalen“ vor, dass sie aus Dummheit
mit den Ausländern die falschen Adressaten für ihre ‘Unmutsbekundungen’ und
Aggressionen auswählen:
„...die Leute sind so dumm, da bauen sie Wohnungen, da z.B. hier die Sozialwohnungen,
gerade für die Leute, die wirklich nichts haben, kein Geld und so, und da sollte man
eigentlich auch stolz drauf sein, aber dann kommen Rechtsradikale und sagen, scheiß
Ausländer, wieso sagen sie dann nicht, scheiß Regierung.“ (41;12 ff)
Obwohl Paul sich 1994 weiterhin als „linksradikal, (...) gegen Nazis“ (44;24 ff) einschätzt
und der Meinung ist, „ein Mensch ist ein Mensch, ob er jetzt schwarz ist, ob er Türke ist“
CXXXI
(55;27 ff), klingen in dieser Befragung doch erstmals einige Ungleichheitsvorstellungen in
Richtung bestimmter Ausländergruppierungen an.
Paul hält es zwar für richtig, dass für bedürftige Menschen Sozialwohnungen gebaut
werden (vgl. 42;16 ff), spricht sich aber gegen eine ‘Zwangsumwandlung’ von
leerstehenden Gebäuden in Wohnraum für Ausländer und eine oftmals damit
einhergehende Überbelegung aus, wobei er in der daraus resultierenden Zentrierung
implizit einen Grund für wachsende Kriminalität zu sehen scheint:
„... ein Freund von mir, der hat so einen Bauernhof da, der soll auf einmal die Scheune
umbauen, um Wohnungen daraus zu machen, also irgendwann hört es doch mal auf. (...) in
Pf. da ist so ein (...) Haus, mit sechs, sieben Zimmern vielleicht, und da wohnen 30
Zigeuner drin, also irgendwo ist doch das, in G. und überall klauen sie die Fahrräder hier
und machen und tun.“ (41;18 ff)
Bei dieser Behauptung kann Paul allerdings auf eigene Erfahrungen zurückgreifen:
„Ich habe einmal einen erwischt, so einen Zigeuner, mit meinem BMX damals noch, habe
ich mich auch nicht mehr bremsen können. Und meinem Bruder haben sie das
Mountainbike geklaut, dann fahren wir nach F., und dann fährt auf einmal rechts neben der
Straße, dann ist mein Bruder ausgestiegen und hat ihn vom Fahrrad heruntergezogen ...“
(41;27 ff).
Darüber hinaus scheint er den „Zigeunern“ („Jugoslawen, Sinti, da ist eigentlich alles
dabei, halt die jetzt gerade aus den Krisengebieten und so“, 42;8 ff) eine für ihren hiesigen
Status unangemessene Anspruchshaltung vorzuwerfen:
„... die benehmen sich halt irgendwie, wie jetzt wären sie die Kings.“ (42;5 f)
Er versucht, seine (Vor-)Urteile mit seiner ansonsten nicht vorhandenen
Ausländerfeindlichkeit in Einklang zu bringen, indem er sich gegen Generalisierungen
ausspricht:
„Also ich habe gewiss nichts gegen Ausländer, aber man kann Ausnahmen machen, zwar
soll man das nicht gleich verallgemeinern, dass alle Zigeuner, jetzt sagen wir mal,
Arschlöcher sind, oder was weiß ich, es gibt halt schon ein paar, gerade die aus Pf. oder so,
die führen sich auf wie die Irren.“ (42;33 ff)
Erstmals äußert Paul explizit eine gewisse Konsumorientiertheit und unter Hinweis auf die
von ihm getragene Kleidung ein damit einhergehendes Markenbewusstsein - „die Jacke
hier kostet 180 Mark, die Hose 120, die Schuhe 260“, 11;14 f). In diesem Zusammenhang
grenzt er sich indirekt von seinen sozial schwächeren Freunden und Bekannten, unter
denen noch immer viele Ausländer sind, ab:
„ ... ich wohne ja nicht gerade in schlechten Verhältnissen, im Gegensatz zu denen, weil
das sind ja alles Sozialwohnungen da ganz hoch, ich meine, die können sich gerade nicht
so ein Fahrrad leisten wie ich oder mein Kumpel.“ (39;29 ff; ähnlich 40;29 ff)
Da aber auch Paul sich nicht alles leisten kann, was er möchte, - „ich war auf meinen Vater
angewiesen, der hat mir eben auch nicht nur alles gekauft, was ich gerade mal wollte ...“ (39;1 ff) scheint er ein gewisses Unverständnis für und Missgunst gegen den
Lebensstandard der „Zigeuner“ zu hegen, was er mit Steuerzahler-Argumenten zu
rechtfertigen sucht:
„... dann gehen wir an so einem Zigeunerhaus vorbei, und dann, was steht da, ein BMW,
ich meine, woher sollen die sich einen BMW leisten können, wer zahlt das, denke ich mir
dann auch.“ (42;25 ff)
In der Abschlussformulierung schwingt aber auch der indirekte Vorwurf mit, dass sich
diese
Bevölkerungsgruppierung die Mittel für ihren ‘Wohlstand’ auf illegale Weise (z.B. durch
Verkauf von gestohlenen Waren) beschafft. Dennoch distanziert Paul sich nach wie vor
von "rechtsradikalen" Gruppierungen, für deren Handlungsweisen er absolutes
Unverständnis zeigt (vgl. 45;12 ff). Diese Verurteilung "rechtsradikalen" Denkens basiert
anscheinend noch immer hauptsächlich auf einer durch seine Freundschaft mit
CXXXII
ausländischen Jugendlichen hervorgerufenen Betroffenheit aber auch auf der Reflexion und
der darausfolgenden Ablehnung gängiger Argumentationsmuster.
2.3
Gewaltakzeptanz
Paul distanziert sich 1992 noch von jeglicher Anwendung personaler politischer Gewalt. Er
fordert aber eine rigidere staatliche Gewalt und zeigt Bereitschaft, selber Gewalt im
privaten Umfeld der Gleichaltrigen einzusetzen, wenn er sich beleidigt fühlt oder
körperlich angegriffen wird.
Korrespondierend mit seiner Ausländer’freundlichkeit’ distanziert er sich konsequent von
rechtsradikalen Gewaltaktionen gegen Ausländer, um die er aus dem Fernsehen und seinem
Wohnumfeld weiß (vgl. 23;18 f u. 23;31 ff).
Paul selbst fühlt sich schon 1992 selbst von „Rechten“ bedroht, wobei er auf konkrete
Erfahrungen zurückgreifen kann. Er versucht, konfliktträchtigen Situationen mit rechten
Jugendlichen aus dem Weg zu gehen:
„Wir saßen da, in G. bei der Feuerwache dort, (...) dann sind sie (Skinheads, d. V.) einfach
von hinten gekommen und haben irgend etwas geredet von Schlagen und so, dann sind wir
gleich geflüchtet. Das haben wir erst gar nicht darauf ankommen lassen.“ (35;31 ff; ähnlich
24;10 ff)
Vermutlich auch im Hinblick auf die geschilderte Problematik wünscht er sich in
Deutschland eine „straffere Gangart“ (vgl. Fb. 1992).
Innerhalb der Familie kommt es gelegentlich bei bestimmten Anlässen (vgl. Abschnitt
‘Familie’) zu körperlichen Züchtigungen Pauls und seines Bruders durch den Vater. Paul
erachtet allerdings z.B. die Schläge, die er angesichts des Stehlens einer Schachtel
Zigaretten aus einem Supermarkt bekommen hat, als „verdient“ (vgl. 6;24 f), greift aber
auch vermittelnd ein, wenn der Vater den Bruder anlässlich erfolgter Normübertretungen
schlägt (vgl. 1992: 10;27 ff) .
Im Freundes- und Bekanntenkreis zeigt eine sehr hohe Bereitschaft, Gewalt auch selber
anzuwenden:
„Ja, doch, es gibt schon manchmal Schlägereien. Ich meine schon, manchmal haut man
dem anderen eine aufs Maul, dann bekommt man wieder eine aufs Maul.“ (26;20 ff)
Die Eskalation solcher Zwischenfälle erscheint in seinen Schilderungen als Automatismus
und somit als ‘normal’:
„Herumschubsen, dann bekommt man mal einen Tritt. Dann tritt man zurück. Dann
bekommt man meistens eine ins Gesicht, dann ist die Kappe sowieso schon aus. Dann
schlägt man manchmal zurück und so.“ (26;32 ff)
Die Anlässe sind - auch im Kreise der ‘Kumpel’ - oft geringfügiger Natur, wobei Paul in
dieser Art der Konfliktaustragung keine negativen Folgen für die Beziehungen
untereinander sieht:
„Also, mit meinem Kumpel habe ich noch nie Streit gehabt. Außer einmal, da hat einer
mein Fahrrad umgeworfen, und dann ist fast etwas kaputt gegangen. Dann hab’ ich gesagt,
he, von dir laß’ ich mir doch nicht mein Fahrrad kaputtmachen und irgendeinen Ausdruck
gesagt, ich weiß nicht mehr. Dann hab’ ich eine gefangen bekommen, zurückgeschlagen,
und dann war der Kampf aus. Am nächsten Tag haben wir uns wieder vertragen.“ (26;38 ff)
Die schnelle Abfolge von körperlicher Auseinandersetzung und Versöhnung wird wie die fast schon ein Ritual beschwörende - Erklärung „bei uns trägt man so einen Kampf aus,
dann war es gewesen“ (27;7 f) als Beleg für die Harmlosigkeit dieser Gewaltformen
genommen. Diesem ‘Faustrecht-Prinzip’ entspricht, dass keine Waffen im Spiel sind. Paul
schließt Waffengebrauch zunächst für sich gänzlich aus, auch weil er sich neben der
Einhaltung der ‘Kampfregeln’ - vermutlich aus Angst vor negativen Konsequenzen in
anderen Lebensbereichen - auch Sorgen um seinen Leumund macht (vgl. 1992: 27; 22f).
Nichtsdestoweniger trägt er schon 1992 aus Angst vor körperlichen Übergriffen ein Messer
bei sich, wenn er abends alleine unterwegs ist:
CXXXIII
„Bisher habe ich das noch nie benutzt. Ich habe eigentlich auch nie die Idee, das zu
benutzen, also so zum Abschrecken oder so. Ich habe viel zu viel Schiss, das Messer zu
benutzen, aber ich meine, wenn einer mich angreift und mich vergewaltigen will oder sonst
etwas, es gibt ja solche Typen, vielleicht in den Schenkel oder so, aber umbringen, nein.
Ich meine, ich kenne auch ein bisschen Verteidigung und so, ich könnte mir schon helfen,
aber wenn es gar nicht mehr geht, dann Messer.“ (46;13 ff)
Neben der durchaus berechtigten Angst vor gewalttätigen Übergriffen (vgl. Abschnitt
‘Wohnumfeld’) fällt auf, dass Paul sich als Junge vor sexuellen Angriffen fürchtet.
Inwieweit diese Angst aus konkreten Anlässen oder aus der Sorge um die Verletzlichkeit
der für die Jungen-Sozialisation gängigen Standards von sexueller Potenz und
Selbstbestimmtheit resultiert, bleibt zu klären. Der Hinweis auf seine Kenntnisse von
Selbstverteidigungsstrategien weist zudem auf das subjektive Bedürfnis nach männlicher
Durchsetzungskraft und Invulnerabilität hin. In den ‘ritualisierten’ Kämpfen unter
‘Freunden’ wird „zugeschlagen auf Teufel komm raus“ (27;11), wobei Paul in solchen
Situationen mehr Zutrauen in seine körperlichen Fähigkeiten setzt als bei potentiellen
Auseinandersetzungen mit "Rechtsradikalen":
„Krankenhausreif geschlagen hab’ ich noch keinen. So ein blaues Auge, ja. Das schon mal,
aber ich haue einmal zu oder auch zweimal, und die sitzen dann auch meistens.“ (26;23 ff)
Er vertuscht nicht die Gewalthaltigkeit solcher Auseinandersetzungen, betont aber deren
Unausweichlichkeit, die zum großen Teil in der Bewahrung bzw. Herstellung der
‘männlichen’ Ehre, z.B. bei vermeintlichen Angriffen oder Beleidigungen des
Selbstwertgefühls, fußt:
„Wenn einer so irgendwie einen herausfordert, das ist schon Gewalt. Aber was will man
machen, ich meine, man lässt sich ja auch nicht alles gefallen. (...) Ich meine eben, wenn
einer ‘Hurensohn’ sagt oder ‘Bastard’ oder so, solche Sachen halt, und das mehrfach. Dass
ich ihn zuerst verwarne, hör auf, sonst bekommst du eine drauf. Wenn er das immer noch
macht, dann gibt’s halt eine.“ (27;29 ff)
Dazu gehört auch, nicht vor heiklen Situationen zu kneifen, und - selbst wenn die eigenen
Gewinnchancen eher schlecht sind - eigene Kampfbereitschaft zu demonstrieren:
„Ich habe keine Angst vor dem Streit. Aber wenn ich weiß, ich bekomme eine aufs Maul,
mein Gott, dann trete ich einmal zu. Dann bekomme ich eine aufs Maul, dann ist der
Kampf vorbei.“ (28;7 ff)
Das eigene Engagement hinsichtlich dieser rauhen Umgangsformen erscheint demzufolge
schon als ‘unvermeidbares’ Schicksal - quasi als ‘Härtetest’ der Tauglichkeit für die im
Alltag als selbstverständlich erlebten personalen Gewaltphänomene. Größere Schlägereien
zwischen seinen Bekannten und anderen Gruppierungen hat es Pauls Schilderung nach
bisher noch nicht gegeben. Er könnte es sich aber vorstellen, gemeinsam mit seinen
ausländischen Freunden eine Gang zu gründen und mit ihnen gegen „Rechtsradikale“
vorzugehen (vgl.48;5 ff).
Während Paul 1993 weiterhin die Anwendung politischer Gewalt auf Ausländer verurteilt,
zeigt er selbst mittlerweile Bereitschaft, zumindest z.T. politisch motiviert gewalttätig auf
Rechtsradikale zu reagieren, wie nicht nur an der folgenden Situation deutlich wird:
P:" ...kam er an und hat mich so von der Straße weggeschubst, ich soll von der Straße
runter, dann habe ich gesagt, warum, ich darf ja hier wohl noch stehen, dann hat er gesagt,
du scheiß Ausländer, dann habe ich ihm die Fresse poliert."
F: "Und woher weißt du, dass das ein Nazi war?"
P: "Wenn man zu mir sagt, komm doch her, scheiß Ausländer und so, ich hasse dich (...),
dann geht man schon davon aus, dass er ein Nazi ist. Der hat dann auch gesagt `Sieg Heil`.“
(38;12 ff)
Zudem billigt und propagiert er unter bestimmten Umständen von Ausländern angewandte
politische Gegengewalt. Allerdings befürchtet er in diesem Fall negative Konsequenzen in
CXXXIV
der Hinsicht, dass dann auch die „normale“ Bevölkerung der gesellschaftlichen Mitte gegen
Ausländer aufgebracht wäre und zur Gewalt greifen könnte:
„Das finde ich richtig, weil die Ausländer, die sollten sich auch wehren, bloß ich meine,
das können die nicht, sonst werden die, also die Linksradikalen oder die nicht links, nicht
rechts sind und bloß ein normaler Mensch sind, sagen wir so, die schlagen dann auch die
Ausländer zusammen. Ich meine, die Ausländer, die können sich nicht wehren, die müssen
sich das gefallen lassen, sage ich mal so, und das finde ich irgendwo den totalen Hammer.“
(1993: 43;21 ff)
Hinsichtlich fremdausgeübter Gewalt propagiert er jetzt - wohl aus dem Erkennen einer
gewissen Ohnmacht des Staates/der Polizei gegenüber steigender Kriminalitätsraten heraus
- nicht mehr eine straffere Staatsgewalt, sondern eher eine von den Bürgern selbst initiierte
Bürgerwehr (vgl. 1993: 45; 15f)
Pauls Bereitschaft, personale private Gewalt anzuwenden, ist seit dem letzten
Erhebungszeitraum beträchtlich gestiegen. Er schreckt weder bei eher ritualisierten, nach
bestimmten Regeln ablaufenden ‘Massenschlägereien’, noch bei anderen gewalttätigen
Konfrontationen vor dem Einsatz von Waffen (speziell eines Messers) zurück (vgl. 17; 30).
Andererseits distanziert er sich von früher, als er Gewalt z.T. noch aktiv gesucht hat (vgl.
26;16 ff) und betont, dass es nie vorkommt, dass „wir Streit suchen“. Er führt die
zwingende Notwendigkeit von Gewalt an, will man nicht als ‘Opfer’ dastehen:
„...ich bin in der Hinsicht gewalttätig, weil ich gewalttätig sein muss, (...) sonst bekommt
man immer eine auf das Maul.“ (25;38 ff)
Mit Hinweis auf diese Ausgangssituation versucht er, sein Verhalten zu rechtfertigen:
„Also eine Schlägerei ist einfach immer eine Notwehr, kann man sagen, oder halt aus Jux
und Laune mal einen zusammenschlagen, (...) so etwas kommt bei mir nicht vor.“ (26;6 ff)
Seine Hemmschwelle für die Anwendung von Gewalt ist eher niedrig:
„...also wenn mein Blut kocht, dann kenne ich nichts.“ (24;5 ff)
Noch wenn das Opfer schon am Boden liegt, schlägt er weiter zu, wenn er sich provoziert
fühlt (vgl. 1993: 21;28 ff). Vermutlich aufgrund eines an Standards der Jungensozialisation
orientierten ‘Ehrenkodex’ schlägt Paul keine Jüngeren und keine Mädchen, obwohl er sich
einlässt, einmal ein Mädchen körperlich angegriffen zu haben:
„Hurensohn und Wichser und so, dann habe ich ihr mal eine Ohrfeige gegeben.“ (22;4 ff)
Auch hier wird seine Orientierung an ‘männlichen’ Werten wie sexuelle Attraktivität und
Potenz deutlich, weil er bei deren vermeintlicher Verletzung auch gegen seine
selbstgesetzten Regeln verstößt.
Lediglich die wohl aus traditioneller Gewaltmoral abgeleiteten Regeln, keine Mädchen,
Jüngeren, Betrunkenen und unter Drogen stehenden Personen zu schlagen, läßt er für sich
gelten (vgl. 1993: 21; 2ff). Das häufige Erleben gewalttätiger Konflikte sowohl im Rahmen
von Cliquenauseinandersetzungen als auch im ‘Zweikampf’ ziehen bei Paul
Normalisierungstendenzen nach sich, die sich u.a. am automatisierten Ablauf gewalttätiger
Konfrontationen ablesen lassen.
„...wenn ich jetzt mit meinem Bruder und ein paar Leuten, Clique z.B. in einer Schlägerei
bin, dann fängt irgendeiner irgendwo anders an, der bekommt halt eine auf das Maul, das
ist kein Problem, aber wenn zwei kommen, die bekommen dann auch eine aufs Maul, aber
wenn es plötzlich 10 oder 11, dann geht es richtig los (...), bis irgend jemand mal aufhört.
Bis einer geht, dann geht der zweite, weil sie dann immer weniger werden, dann geht der
dritte, und dann ist es vorbei.“ (18;29 ff)
Bei solchen eher ritualisierten Massenschlägereien werden bestimmte Regeln eingehalten:
„Entweder jeder hat eine Waffe, oder keiner hat eine Waffe.“ (18;18 f)
Solche Schlägereien werden denn oftmals auch eher als Wettkampf angesehen, bei dem
möglichst alle Beteiligten die gleichen ‘fairen’ Chancen haben sollten:
„In der Schule gibt es nur ein paar, die gut sind, also die schlagen können und die anderen,
die lassen wir halt in Ruhe. Ich meine, von denen will man ja dann auch nichts.“ (24;17 ff)
CXXXV
Obwohl für Paul Gewalt anfängt, „wenn es Schmerzen gibt“ (25;25 f), setzt er sich selbst
wenig Grenzen hinsichtlich ihrer Anwendung, „wenn einer blutet, ach was, dann geht es
erst richtig los“ (18;26). Sieben- bis achtmal im Jahr gerät Paul nach seinen Angaben in
eine private Schlägerei, wenn er sich provoziert fühlt. Typisch für Einstiegsrituale ist: „der
schaut mich die ganze Zeit an, dann habe ich gesagt, hast du noch nie einen Menschen
gesehen, habe ich gesagt, komm doch raus, schlagen wir uns ...“ (19;38 ff). Allgemein
schwankt Paul zwischen ‘Stolz’ auf seine hohe Gewaltbereitschaft (s.o.) und der
Distanzierung vom ‘Schlägertum’, was an der Reaktion der Clique auf die Angst anderer
Eltern, ihre kleineren Kinder auf den Spielplatz zu schicken, auf dem sich die Clique immer
traf, deutlich wird:
„Nein, Schläger wollen wir keine sein, weil wir haben das auch zu den Eltern gesagt, weil,
die Eltern haben Angst gehabt, wir machen den kleinen Kindern was, dann haben wir
gesagt, nein, das stimmt nicht, wir machen so was nicht ...“ (28;7 ff)
Möglicherweise differenziert Paul zwischen unterschiedlichen Verhaltensanforderungen
innerhalb der gewaltbetonten, an Standards der Jungensozialisation wie Invulnerabilität,
Durchsetzungskraft und Wehrhaftigkeit orientierten Clique auf der einen Seite und der eher
gewaltverurteilenden Erwachsenengesellschaft auf der anderen Seite. Um einerseits
Anerkennung von Seiten der Clique zu erhalten und zu bewahren, andererseits aber auch
gesellschaftlich negative Konsequenzen für sich zu vermeiden, zieht er sich auf das
Einhalten eines Ehrenkodexes zurück, zu dem auch gehört, Jüngere nicht anzugreifen.
1994 hat sich hinsichtlich seiner Gewaltakzeptanz wenig verändert. Noch immer verurteilt
er politische Gewalt an Ausländern, propagiert (Gegen-)Gewalt an "Rechtsradikalen" und
sucht auch selber direkte gewalttätige Konfrontationen mit seiner Ansicht nach „rechten“
Jugendlichen.
„...also zwei kleinere Farbige bei uns, als er einen von denen geschlagen hat, sind wir halt
dem auch hinterher, dann hat er auch Prügel bekommen. (...) die Schnauze polieren, bis er
was in die Birne bekommt.“ (47;4 ff)
Seinem Bruder hat er vor längerer Zeit das angebliche „Nazi-Sein“ mit „Schlägen
ausgetrieben“ (vgl. 56;12 ff).
Im privaten Umfeld zeigt er noch immer eine hohe Reaktanz, obwohl er sich selber als
„ruhiger“ geworden einschätzt (vgl. 1994: 16;23; 27;28ff). Möglicherweise versucht er sich
einerseits über Anpassung in die Erwachsenengesellschaft zu integrieren, ist aber
andererseits den gängigen Leitbildern der Jungen-Sozialisation aufgrund seines aktuellen
Entwicklungsstandes noch zu sehr verhaftet, als dass er im Kontakt zu anderen
Jugendlichen von Wehrhaftigkeit und Dominanz demonstrierendem Verhalten abweichen
könnte. So stellen z.B. verbale Angriffe, die sich auf seine sexuelle Potenz bzw.
Attraktivität oder seine (moralisch ‘einwandfreie’) Herkunft beziehen, für ihn einen Grund
zur körperlichen Gegenwehr dar:
„...wenn ein Kumpel zu mir sagt, du Arschloch, du Wichser, dann ist es o.k., weil ich weiß,
dass er es aus Spaß meint, aber ich meine, wenn er sagt, du fickst deine Mutter oder du
Hurensohn ...“ (29;13 ff)
Hier reagiert er auch aggressiv, weil er die Ehre der Mutter schützen will:
„Weil das nicht nur mich betrifft, sondern auch meine Mutter. Ich meine, meine Mutter ist
keine Hure, denke ich mal, dass ich kein Hurensohn bin...“ (29;37 ff)
Desweiteren greift er als ‘Kumpel’ ein, wenn seine Freunde angegriffen werden:
„Ja, zählen, rechnen kann man mit mir immer, wenn es hart auf hart kommt.“ (30;27 f)
Zudem hat er einen ‘Ruf’ zu verteidigen:
„Nein, bevor ich als Feigling dastehe, also das möchte ich auch nicht gerade, weil, das bin
ich auch keiner. (...) Ich bin ja bekannt bis zu F. und dann da hoch und überhaupt.“ (31;11
ff)
CXXXVI
Zwischen den einzelnen Rapper-Cliquen aus der Umgebung kommt es immer wieder
einmal zu Massenschlägereien, wobei es vor allem um die Verteidigung des Territoriums
und um die Konkurrenz um das gefährlichste Image zu gehen scheint:
„Die (O.er Rapper; d. V.) ziehen vor uns den Schwanz ein. (...) Da gab es halt auch mal
eine Massenprügelei, dann haben die halt den Kürzeren gezogen. (...) Das hat sich nach
und nach aufgebaut, dann kamen halt sechs von denen, sieben von hier, und dann wieder
einzeln, immer haben die Oer das Maul voll bekommen. Bis auf einer, (...) der ist der
bekannteste in O., der hat auch gemeint, er müsste hierher kommen, prompt hat er halt das
Maul voll bekommen.“ (34;30 ff);
„Da standen halt, wo ich das nächste Mal da war, gleich 15 da, ich meine, dann bin ich halt
geschwind wieder nach Hause gegangen, und dann stand ich halt auch mit 15 da. (...) Die
Pf.er Rapper, die sind mehr oder weniger bekannt, weil wir schon in der Zeitung stehen, als
‘Little Chicago’ oder so was.“ (32;14 ff)
Noch immer gelten für solche (z.T. ritualisierte) Schlägereien Auslöse-Automatismen (vgl.
1994: 31;36ff) und - wenn auch wenige - Regeln (vgl. 30,39 ff; 31;6 ff; 33;5 ff)
Der herrschende Gruppendruck und die Angst, als Feigling dazustehen und dadurch evtl.
die Anerkennung der Freunde zu verlieren, scheint bei Paul größer als die Angst vor
Verletzungen oder anderen negativen Konsequenzen, die aus dem Waffengebrauch
resultieren könnten, zu sein. Die Jugendlichen aus seiner Clique benutzen „Gaspistolen und
so was, CS-Gas. Ja, nicht gerade, wo man einem die Zähne damit ausschlägt, (...) ich hatte
eine Zeit lang auch ein Springermesser mit mir rumgetragen, aber das liegt jetzt nur noch
bei mir zu Hause, ich schaue das gar nicht an. Ich hätte auch nie die Klinge rausgemacht,
sondern bloß die zwei Zacken, die da vorne dran sind, die hätte ich vielleicht benutzt, aber
mehr auch nicht. Die einzige Waffe, die ich habe, das ist mein Schlüssel. (...) da ist halt so
eine Kette dran. Ich habe ihn noch nie (als Schlagring, d.V.) gebraucht, aber kann ja schon
mal vorkommen.“ (33;9 ff)
Aber auch ohne Zusammenhang mit der Clique hatte Paul in letzter Zeit Probleme
hinsichtlich seiner Reaktanz. Einem Jugendlichen hat er eine Platzwunde beigebracht,
denn:
„Da hat einer gemeint, er müsste über mich lästern, der mich gar nicht kennt, und dann bin
ich halt zu ihm hingegangen, habe geklingelt, und der kam raus (...) gleich, wo er
rausgekommen ist, und dann habe ich zu ihm gesagt, jetzt möchte ich wissen, wer hier das
Arschloch ist, weil der mich voll abgelästert hat, dann hatte er hier so eine Platzwunde ...“
(12;17 ff)
Es ist zwar nicht zu einer Verhandlung wegen Körperverletzung gekommen, aber die
Jugendlichen haben sich im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs darauf geeinigt, dass
Paul dem Geschädigten 450 DM Schmerzensgeld zahlt (vgl. 12; 36 ff). Ausschlaggebend
für Pauls heftige Reaktion könnte u.a. der Umstand gewesen sein, dass der betreffende
Jugendliche in Pauls Abwesenheit vor seiner damaligen Freundin schlecht über ihn
gesprochen hatte, so dass Paul sich genötigt sah, seine ‘angekratzte’ Ehre vor ihr wieder
herstellen zu müssen (vgl. 13;10 ff). Gegenüber einer jugendlichen „Zigeunerin“ ließ er
sich sogar hinreißen, entgegen seines ‘Ehren-Kodex’ (vgl. 1993), keine Mädchen zu
schlagen, gewalttätig zu reagieren, als sie seine ‘Männlichkeit’ in Frage stellte, indem sie
ihn ohrfeigte. Er erzählt von einer Situation auf einer Wippe:
„... die setzt sich so, auf einmal geht halt meine Seite hoch, dann habe ich auch rüber
geschrieen, du fettes Tier, so aus Spaß an der Freud, auf einmal kam die halt an und gab
mir eine Ohrfeige. Ja, dann habe ich ihr halt auch eine gegeben und noch mal eine ...“ (43;3
ff)
3.
3.1
Zusammenhang der politischen Orientierung mit sozialen Erfahrungen und
Erfahrungsstrukturierung
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
CXXXVII
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Im Fragebogen benennt Paul sowohl 1992 als auch im Folgejahr als sein derzeit größtes
persönliches Problem den "Ärger mit älteren Jugendlichen" (Fb.1992). Als Indizien in
diese Richtung können im Gespräch von 1992 seine Äußerungen hinsichtlich einer
gewissen Problematik zwischen Älteren und Jüngeren im Jugendtreff sowie der Wunsch
nach mehr Freiraum für seine Altersgruppe (vgl. Abschnitt ‘Freizeit’) gewertet werden.
Vermutlich verbirgt sich aber dahinter als wesentlicherer Faktor schon 1992 das
Zusammentreffen und damit einhergehende Konflikte mit z.T. bedeutend älteren
Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen innerhalb eines - von Paul eher als ‘lose’
wahrgenommenen - Cliquenverbundes (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Hinzu kommen
wahrscheinlich die Bedrohtheitsgefühle, die er im Hinblick auf rechte Jugendliche und
‘unsichere’ Situationen an seinem Wohnort entwickelt (vgl. Kap. 2.3 und Abschnitt
‘Wohnumfeld’).
1993 kommt hinzu die - wenn auch eher implizit geäußerte - Belastung zu sein, die sich aus
einer Beteiligung einiger seiner (Cliquen-)Freunde und seines Bruders an einer Serie von
Autoaufbrüchen zu sein, an deren Folgen auch Paul indirekt zu leiden hat (vgl.1;9 ff).
Obwohl er selbst nicht beteiligt war, führte die Polizei auch bei ihm eine
‘Zimmer’durchsuchung durch und konfiszierte seine technischen Geräte zur Überprüfung
ihres legalen Erwerbs (vgl. 55;24 ff). Bis auf einen gestohlenen Photoapparat, den Paul
nach eigenen Angaben gefunden hatte, bekam er die Geräte zurück. Außerdem ist er mit
seiner Clique von der Polizei beim Haschisch-Rauchen erwischt worden, was zu einer
Befragung führte und - unter Androhung einer Anzeige der Eltern wegen Verletzung der
Aufsichtspflicht, da er noch nicht 16 ist - ein Verbot, den neuen Treffpunkt der Clique
(eine ‘Kneipe’) (vgl. Abschnitte ‘Freundeskreis’ und ‘Freizeit’) aufzusuchen, nach sich
zog. Da Paul sich an die Auflage hält, hat er kaum noch Gelegenheit, mit seiner Clique
zusammenzutreffen. Außerdem steht ihm noch ein Gespräch mit Mitarbeitern des
Jugendamtes bevor, das der Drogenaufklärung dienen soll. Auch in der Schule gerät Paul
schon 1993 zunehmend unter Druck: Sowohl seine Noten als auch sein Verhalten lassen zu
wünschen übrig (vgl. 51;6 ff und Abschnitt ‘Schule’). Da er eine Lehre als Koch beginnen
möchte und sein potentiell zukünftiger Chef eine Verbesserung der Noten für die
Einstellung zur Bedingung macht, sieht er sich gezwungen, mehr für die Schule zu arbeiten
und sich anzupassen.
1994 verstärken sich die „schulischen Probleme“. Hinzu kommt die Klage, „zu wenig
Geld“ zu haben (vgl. Fb. 1994).
Nach dem Schulwechsel fühlt Paul sich auf der neuen Schule, auf der er nach zwei
Schuljahren den Realschul-Abschluss machen könnte, nicht wohl. Er fühlt sich den
Mädchen der Klasse gegenüber ungerecht behandelt und kommt zudem mit den meisten
Lehrern nicht zurecht, was zunehmend zu Unangepasstheit und Lernverweigerung führt.
Mit Schülern eines an der Schule ebenfalls durchgeführten Berufsvorbereitungsjahres
kommt es immer wieder zu Konflikten, die durch verbale und körperliche Gewalt zu regeln
gesucht werden (s.u.). Die aus den angeführten Problemen resultierende Schulunlust
bedingt bei Paul den Wunsch, entgegen dem Willen der Eltern die Schule zum
Halbjahresende zu verlassen. Zu diesem ungünstigen Zeitpunkt lässt sich aber keine
Lehrstelle finden, so dass er über Beziehungen des Vaters versuchen will, eine
Praktikumsstelle zu finden.
Pauls Konsumorientiertheit und Markenbewusstsein sowie seine Orientierung an seinem
derzeit besten Freund, der sich sehr viel leisten kann (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’),
scheinen der Grund dafür zu sein, dass er mit seinem Geld nicht zurecht kommt.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Familie
CXXXVIII
Paul versteht sich noch 1992 „gut“ (vgl. 9;36) mit seinen Eltern und bekommt nach eigener
Einschätzung von beiden Elternteilen Geborgenheit, Akzeptanz, Vertrauen und tatkräftige
Hilfe (vgl. 21;6ff; 13;15ff; 13;36ff). Mit seinem Bruder kommt Paul „gut...sehr gut sogar"
(11;35) aus. Er fühlt sich insbesondere vom Vater verstanden und nennt hier typisch
‘männliche’ Themen wie „Mädchen eben, Hobby, alles solche Sachen“ (14;18). Auch die
eher für die Jungen-Sozialisation typischen Annäherungsformen wie „Spaßkämpfchen“
(19;9) praktiziert er gerne mit seinem Vater. Sogar bei einem für ihn doch eher negativen
Vorfall kann er den (gewalthaltigen) Reaktionen des Vaters noch die guten Seiten von
Reumütigkeit und ex-post-Sensibilität abgewinnen:
„Einmal hab` ich, das war da, wo ich geklaut habe, da hab` ich mit dem Gürtel
bekommen....Da ist mein Vater dann weggelaufen, und dann ist er in den Wald und hat voll
`rumgeschrieen. Das hat ihm wahrscheinlich mehr weh getan als mir....dann hat er sich
ausgeflennt und so.“ (10;8 ff)
Er kann sich mit den Eltern noch über private Probleme unterhalten (vgl. Fb. 1992) und
stimmt auch politisch mit ihnen überein(vgl. 23;17ff),
1993 betrachtet er die Beziehung zu seinen Eltern differenzierter: Vom Vater fühlt er sich
nach wie vor akzeptiert und meint, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung zu
bekommen, allerdings glaubt er nicht mehr, über persönliche Probleme mit ihm sprechen
zu können. Von der Mutter bekommt er seiner Ansicht nach lediglich Geborgenheit und
tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1993). Diese Einschätzung scheint mit der aus seinem
allgemein auffälligen Verhalten (und dem seines Bruders) resultierenden gespannteren
Familiensituation zu korrespondieren. Die Mutter scheint die Verhaltensänderung Pauls
vom im Gegensatz zu seinem Bruder eher angepassten Sohn in Richtung zunehmender
Aggressivität und Auffälligkeit nicht hinnehmen zu wollen (vgl. 30;12 ff). Gerade in
puncto ‘Schlägereien’ - „ach, das erzähle ich ihnen, weil ich auch mal mit einem blauen
Auge nach Hause komme oder so, dann bekommen die das schon mit“ (23;10 ff) - reagiert
sie ablehnend, während sich der Vater eher duldend, wenn nicht die ‘typische’
Männersozialisation unterstützend, gibt:
„Meine Mutter sagt immer, du kannst das nie lassen, nie kannst du das lassen. Mein Vater
sagt immer, hast du ihm dann wirklich eine auf das Maul gegeben ...“ (23;15 ff).
Die eher fördernde Haltung des Vaters geht auch daraus hervor, dass er mit den Söhnen zu
Hause „ein bisschen Kung Fu, und da ein bisschen Karate“ (20;17 f) übt. Zudem trainieren
die Söhne zu Hause Body-Building (ebd.). Implizit scheint Paul dementsprechend auch
dem Vater (oder anderen Erwachsenen ?) Inkonsequenz vorzuwerfen und zumindest eine
Teilschuld an dem aggressiven Verhalten des Bruders zu geben:
F: "Also das heißt, dein Vater, der findet das eher o.k., wenn du dich wehrst?“
P: „Ja, und mein Bruder sagt auch immer, weil der ist früher auch immer gekommen, weil
der wollte sich früher nie schlagen, den hätte jeder schlagen können, (...) und jetzt ist er
soweit dass sie sich schlägern, mal einer hat gesagt, wehr dich, wehr dich, jetzt ist er
soweit, dass er sich wehrt, und ich meine, der schlägt schon ordentlich zu, und jetzt sagen
alle, warum schlägst du denn jeden?“ (23;19 ff)
Zu seinem Bruder hat Paul noch immer ein gutes Verhältnis (vgl. 4;6). Paul bekommt von
ihm Akzeptanz und tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1993), wobei sich letztere wohl
vornehmlich in der Unterstützung bei Schlägereien äußert (vgl. 20;25 ff). Zumindest
hinsichtlich seiner Körperstatur und Wehrhaftigkeit ist der Bruder für Paul ein Vorbild:
„...wenn mein Bruder dabei ist, dann kann ich sicher sein, weil das ist schon ein harter
Brocken.“ (20;7 ff)
1994 gibt Paul an, dass sich sein Verhältnis zu den Eltern nicht verändert habe. Nach wie
vor fühlt er sich vom Vater akzeptiert und meint von ihm Geborgenheit sowie tatkräftige
Unterstützung zu bekommen. Im Gegensatz zum letzten Erhebungszeitraum fühlt er sich
von der Mutter jetzt ebenfalls wieder akzeptiert, jedoch meint er von ihr keine
Geborgenheit mehr zu bekommen, dafür aber tatkräftige Unterstützung (vgl. Fb. 1994).
CXXXIX
Er kritisiert zwar auch die Lässigkeit seiner Eltern bei der Erziehung (vgl. 1994: 22;4 ff;
22;33 ff)
Dennoch meint er, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater noch
verbessert hat („enger halt so“, 25;19) und es sich jetzt eher auf freundschaftlicher Ebene
abspielt (vgl. 25;15 ff):
„Also der ist nicht gerade so ein Gruftie, der von nichts eine Ahnung hat.“ (25;28f)
Dementsprechend spricht Paul auch mit seinem Vater über seine Probleme (vgl. 24;34 ff;
23;25 ff; 9;10 ff)
Obwohl Paul meint, der Bruder sei „jetzt auch ein bisschen normaler geworden“ (16;38),
scheint sein Verhältnis zu ihm nicht das beste zu sein. Entsprechend übt er denn auch
ziemlich viel Kritik an seinem Bruder:
„...er ist immer noch wegen jedem Scheißdreck eingeschnappt, seine Freundin hat auch
Schluss gemacht, der hängt jetzt auch bloß noch herum. (...) ihn regt alles auf.“ (17;3 ff)
Darauf angesprochen, dass er früher ‘braver’ war als sein Bruder, antwortet er allerdings:
„Jetzt bin ich eigentlich mehr oder weniger auf gleicher Ebene wie er. (...) Er kommt ein
bisschen hoch, ich komme ein bisschen runter.“ (21;26 ff)
Schule
Der Lebensbereich ‘Schule’ stellt Paul 1992 (noch) vor keine allzu großen Anforderungen
(„Dreier, Vierer; 18;20). Dies resultiert auch aus dem Umstand, dass er sich von seinen
Leistungsmöglichkeiten her unter seinem Level bewegt und eigentlich weiß, dass er im
Notfall durchaus noch etwas zulegen könnte („Ich bin zu faul zum lernen; 18;20).
Außerdem hat er in einigen Bereichen nach wie vor Erfolgserlebnisse.
Sowohl seine Klasse als auch der Großteil der Lehrer stellen für ihn weitgehend
befriedigende Rahmenbedingungen seines Schulalltags dar, zumal er generell eine eher
positive und teilweise durch das Erkennen von Sinn geprägte Einstellung zu dieser
Institution hat (vgl. 1992: 36 - 40)
1993 ist Paul zunehmend weniger in der Lage, den Anforderungsstrukturen der Schule zu
genügen und sich dem herrschenden Leistungs- und Anpassungsdruck zu beugen. Dies
äußert sich in schlechteren Noten, vor allem in den Bereichen Mitarbeit und Verhalten
(„also bloß Scheiß gebaut, was es zum Scheiße bauen gibt“; 51;23 f). So konnte Paul eine
Verwarnung und einen einwöchigen Schulverweis wegen einer Schlägerei gerade noch
verhindern (vgl. 25;18 ff). Lediglich das Wissen, dass er ein gutes Abschlusszeugnis
benötigt, um eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu haben, erzeugt bei ihm eine
gewisse Einsicht in eigenes Fehlverhalten und die Bereitschaft, mehr für die Schule zu
lernen und sich besser auf Lern- und Verhaltensanforderungen einzustellen. Während seine
Einstellung zu den verschiedenen Lehrern sehr unterschiedlich ist, scheint er in die
funktionierende Klassengemeinschaft („...alle haben zusammengehalten, also wir sind
schon eine besondere Klasse.“; 1993: 7;2 ff) trotz seiner Auffälligkeiten gut integriert zu
sein (vgl. 1993: 50 - 54).
1994, nach dem Schulwechsel, ist Paul den in der Schule herrschenden
Anforderungsstrukturen und dem Anpassungsdruck nicht mehr gewachsen. Das subjektive
Empfinden, in seiner Freiheit ‘eingeengt’ bzw. fremdbestimmt zu sein („das ist keine
Schule, das ist Knast“; 3;25f) und ungerecht behandelt zu werden, ein vorherrschendes
Misstrauen gegenüber den meisten seiner LehrerInnen, Konflikte mit Mitschülern
(„irgendwie das asozialste Volk“; 4;20) anderer Klassen („Auseinandersetzungen gab es
schon oft, da kommt ja immer ein Kleiner daher und sagt, hey, Arschloch und so, so ein
Grieche, ich meine, den beachte ich schon gar nicht mehr, weil ich genau weiß, wenn er mir
noch mal auf den Sack geht, dann fängt er halt auch mal eine.“ (8;13 ff) und nicht zuletzt
eine vermutlich vorhandene Angst, den Leistungsanforderungen auf die Dauer nicht
genügen zu können, führten bei ihm von Leistungsverweigerung über Störverhalten in der
Klasse bis hin zu aggressivem Verhalten den Lehrern gegenüber:
CXL
„Wenn sie angemotzt haben, zurückgemotzt, habe ich gesagt `halt doch dein Maul, was
willst du eigentlich von mir?` und lauter solche Sachen. Ich meine, mir ist das egal, mehr
als rauswerfen können sie mich nicht.“ (6;35 ff)
Diese anscheinend für ihn ausweglose Situation bedingte seine Entscheidung, die Schule
zum Halbjahresende gegen den Willen seiner Eltern verlassen zu wollen.
Freundes- und Bekanntenkreis
Zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis zählt Paul 1992 seinen besten Freund, seine
Freundin sowie eine größere Clique, in der die beiden erstgenannten Personen wie auch
sein Bruder ebenfalls verkehren.
Pauls bester Freund und seine Freundin gewähren ihm nach eigenen Angaben Akzeptanz,
Verlässlichkeit und Problemansprache ( vgl.Fb.1992).
Mit der erwähnten Clique kommt Paul vor allem auf dem vor Ort bekannten, zentral in Pf.
gelegenen Spielplatz „Däle" - „dann gehe ich zum Treffpunkt nach der Schule" (1;12 f) oder dann abends im städtischen Jugendtreff zusammen. Obwohl er diese Gruppe
regelmäßig und fast täglich trifft, sieht er sie nicht als „feste Clique" (33;37). Dies ist nicht
verwunderlich, da es sich um eine große und vor allem in gewissen Punkten heterogen
zusammengesetzte Gruppierung handelt, die ob der Offenheit und Unverbindlichkeit des
Versammlungsortes von einer gewissen Unstetigkeit geprägt ist. Pauls Freund Udo
beschreibt die Clique als einen Zusammenhang von über zehn z.T. älteren Jugendlichen,
die verschiedenen Stilen (Heavies, Rapper, Technos) anhängen. Zudem ist sie geprägt
durch die Dominanz nicht-deutscher Jugendlicher, z.B. aus Italien, Jugoslawien, Russland
und Rumänien. Den Anteil der Mädchen begrenzt er auf ca. vier. Diese Darstellung deckt
sich weitgehend mit der Beschreibung der Stadtjugendpflege von G., für die die
„Jugendlichen, die ins Däle kommen" ein fester und bekannter Faktor sind:
„Das 'Däle', genauer der Pavillon auf dem Spielplatz H., ist der Treffpunkt für ca. 30-40
Jugendliche im Alter von neun bis 27 Jahren, von denen die meisten aber 14 bis 18 Jahre
alt sind. (...) Die meisten der Jugendlichen, die ins Däle kommen, wohnen in einer
Sozialwohnung in der (unmittelbaren Umgebung; d.V.). Ebenso gehen fast alle auf die
Hauptschule bzw. waren dort und sind jetzt in der Lehre." (Aus: Feldanalyse Pf., April
1988, Stadtjugendpflege G., S.23)
Paul selbst erwähnt indirekt ein wesentliches Merkmal der Gruppe, wenn er angibt, dass die
meisten seiner Freunde Ausländer sind, z.B. aus „Italien, Jugoslawien" (vgl. 24;21 ff). Da
der Spielplatz für die Jugendlichen nicht viel an Anregungen bzw.
Betätigungsmöglichkeiten bietet, müssen sie sich mit dem Vorhandenen begnügen - „da ist
so eine Hütte, da sitzen wir dann drin und so" (1;21 f). Zum anderen sind sie auf der Suche
nach Erlebnissen, was dann nicht selten zu Konflikten untereinander, mit den Anwohnern,
Spielplatzbesuchern oder auch den Ordnungsbehörden führt (Auskunft des
Jugendarbeiters). Generell war und ist es (1992) vermutlich für P. wichtig, in diesem
Zusammensein mit zum größten Teil älteren Jugendlichen anerkannt zu sein und
dazuzugehören. Dafür, dass ihm dies zumindest nach subjektivem Empfinden auch gelingt,
spricht der Umstand, dass er im Fragebogen 1992 angibt, von der Clique „Geborgenheit“
zu bekommen. Die auf den ersten Blick alters- bzw. vor allem geschlechtstypische
Einbindung in eine jungendominierte und ansonsten heterogen zusammengesetzte Clique
beinhaltet im Falle Pauls aber eine Besonderheit: Die von ihm präferierte Gruppe wird fast
ausschließlich von Jugendlichen aus eher benachteiligten Verhältnissen gebildet, zu denen
auch sein bester Freund Udo gehört. Er selbst unterscheidet sich demnach, als Kind einer
äußerlich intakten Familie der gehobenen Mittelschicht mit Eigenheim und weiteren
materiellen Ressourcen, in diesem Punkt doch wesentlich vom Rest der Clique (mit
Ausnahme eben seines Bruders, der auch dabei ist). Erklären lässt sich dieser Widerspruch
wohl zum einen mit der Einbindung in das Wohnumfeld der Familie (vgl. Abschnitt
‘Wohnumfeld’) und dem Besuch der dortigen Hauptschule. Zum anderen stellt sich die
Frage, inwieweit gerade dieses „subkulturelle Milieu" (Bezeichnung der
CXLI
JugendarbeiterInnen) der „Däle-Clique" für ihn zu einem attraktiven Moment im Kontrast
zum Elternhaus wird, denn damit verbunden ist die Teilnahme sowohl an ‘jungentypischen’
Aktivitäten - „Streiche eben so, Klingeln putzen, an Fahrrädern Luft rauslassen“, (7;24 f)
als auch an gewaltträchtigen (vgl. Kap. 2.3) und z.T. normverletzenden bzw. aufregenden
Erlebnisformen und Aktionen, die für ihn Nachweis seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe
sind.
1993 scheint Pauls engste Bezugsperson außerhalb der Familie seine derzeitige Freundin zu
sein. Von ihr fühlt er sich akzeptiert und bekommt sowohl Geborgenheit als auch
tatkräftige Unterstützung. Auch kann er mit ihr über persönliche Probleme reden (vgl. Fb.
1993).
Obwohl Paul Udo noch immer als seinen besten Freund bezeichnet (vgl. 29;1), macht er im
Fragebogen keinerlei Angaben mehr zur Qualität ihrer Beziehung. Anscheinend trifft er
sich nicht mehr häufig mit ihm, weil Udo weiterhin den von Paul gemiedenen Treffpunkt
der Clique aufsucht. Aus diesem Grund kommt Paul auch nicht mehr mit seiner Clique
zusammen, die sich neuerdings in einer Kneipe namens Tee-Garten trifft. Zum einen hält er
sich an die Auflagen der Polizei (vgl. Kap. 3.1.1). Zum anderen scheint er sich aber auch
freiwillig von der Clique zu distanzieren, weil er selber nicht in kriminelle Machenschaften
hineingezogen werden und zudem mit Drogen nichts (mehr) zu tun haben will, da er glaubt,
dass sie einen schlechten Einfluss auf das Verhalten haben (vgl. 47;14 ff). Vor dem
Hintergrund, dass Paul aus gemachten Fehlern lernt, ist wohl auch zu verstehen, dass er
sich dem Einfluss der Jugendlichen, die ihn dazu überreden wollten, an den ca. 60
Autoaufbrüchen teilzunehmen, entziehen konnte. Obwohl Paul momentan nicht mehr mit
seiner Clique zusammentrifft, gibt er im Fragebogen an, dass er sich dort akzeptiert fühlt
und sowohl über Probleme reden kann als auch tatkräftige Unterstützung erwartet (vgl. Fb.
1993). Möglicherweise bezieht sich diese Einschätzung auf die Zeit vor der ‘Trennung’.
Paul schildert für diese Zeit hauptsächlich Party-Situationen und Situationen, in denen sich
die Cliquenmitglieder gegenseitig bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zur Hilfe kamen
(vgl. 27;12 ff). Den Kern der Clique bilden nach Pauls Angaben acht bis zehn Jugendliche.
Kommen alle zusammen, sind es 20 - 25 Jugendliche gemischter Nationalität und
verschiedenen Alters (vgl. 27;3 ff und 1992). Paul ist jetzt mehr mit seinem Bruder und
dessen Freunden zusammen (vgl. 29;15 ff).
1994 hat P. die Beziehung zu seiner Freundin „endgültig“ abgebrochen, weil er sich
anscheinend von ihr zu sehr bevormundet (vgl. 14;30 ff) und in seinen Beziehungen zu
seinen Freunden gestört fühlte (vgl. 37;17 ff). Nachdem eine Weile „Funkstille“ geherrscht
hatte, ist er jetzt häufig mit dem Jungen zusammen, der ihm früher einmal eine
Praktikumsstelle als Koch besorgt hatte und mit dem er schon mehrmals im Skiurlaub war.
Um ihn und andere Bekannte hat sich Paul nach der Trennung von seiner Freundin aktiv
bemüht (vgl. 37;25 ff). Den erwähnten Jungen bezeichnet er als „besten Freund“. Er
bekommt von ihm Akzeptanz und Geborgenheit und meint, sowohl über Probleme mit ihm
sprechen zu können als auch tatkräftige Unterstützung zu bekommen (vgl. Fb. 1994). Der
17jährige Freund, der seine Lehrstelle gekündigt hat und von den Leuten aus Pauls Clique
„nichts hält“ (vgl. 36;29 ff), scheint für Paul ein Vorbild zu sein, von dem er auch
Ratschläge beherzigt (vgl. 37;33 ff). Auch wegen anderer Eigenschaften scheint er seinen
Freund zu bewundern. So trägt dieser noch ein „bisschen teurere“ Kleidung als er (vgl.
38;35), hat Erfolg bei Mädchen - „was dem für Mädchen hinterher rennen, oh Gott, da
träume ich nur von“ (39;4 ff) - und im Kontakt mit anderen Jugendlichen - „der ist
irgendwo, und in zehn Minuten hat er 20 Kumpels um sich rum (...), und dann bekommt er
von dem was gezahlt und von dem, die kennt er alle gar nicht“ (39;14 ff).
Obwohl die Beziehung zu den wohl engeren Freunden aus der Clique (mit denen er
zwischenzeitlich wieder zusammen war, vgl. 1993) anscheinend auseinandergegangen ist
(vgl. 14;14 ff), gibt Paul im Fragebogen an, dass er sich bei der Clique geborgen fühlt und
tatkräftige Unterstützung bekommt. Letzteres scheint sich auf den Umstand zu beziehen,
CXLII
dass er die Jugendlichen bei anstehenden Konflikten mit anderen Jugendgangs (s.o.) mittels
einer Telefonkette noch immer mobilisieren kann (vgl. 33;1 ff). Trotz des schlechteren
Zusammenhalts besucht Paul - vermutlich aus Langeweile - weiterhin den Treffpunkt, der
jetzt wieder auf den Spielplatz verlagert worden ist, wenn er glaubt, dort Leute vorzufinden
(vgl. 32;32 ff). Zudem wird der Treffpunkt jetzt auch von Jüngeren besucht (neun- bis
zehnjährige), für die die Älteren nach Pauls Ansicht Vorbildfunktion haben (vgl. 48;7 ff).
Demzufolge übernimmt er auch schon mal die Beschützerrolle für die Jüngeren.
Freizeit
Paul verfügt über zahlreiche Möglichkeiten und Zugänge (Sportverein; Jugendhaus;
FreundIn; Clique), seine Freizeit zu verbringen. Diese werden von ihm genutzt, und es
erweist sich, dass er alles andere als ein träger, passiver Jugendlicher ist, der nicht weiß,
wie er seine freie Zeit verbringen soll. Paul zeigt eine Tendenz zu den eher unverbindlichen
Angeboten. Eine festere Einbindung z.B. in den Sportverein oder den Schritt hin zu einem
geregelten Musikunterricht hat er noch vermieden.
Obwohl Paul 1993 nicht mehr mit seiner früheren Clique zusammentrifft (s.o.), verfügt er
in seiner Freizeit noch über genügend Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese reichen über
sportliche, musikalische und (computer-)spielerische Betätigungen zu Hause über Fahrrad
fahren bis hin zu gemeinsamen Unternehmungen mit seiner Freundin oder seinem Bruder
und Freunden.
1994
äußert
sich
P.
wenig
begeistert
über
seine
derzeitigen
Freizeitgestaltungsmöglichkeiten („Ich hänge echt nur noch herum“; 16;15 ff). Die freie
Zeit verbringt er häufig mit seinem besten Freund. Außerdem besucht er noch häufig den
Treffpunkt der Clique. Im Kindergarten des Ortes stehen den Jugendlichen inzwischen zwei
Räume zur Verfügung, wo sie sich treffen und Musik hören können (vgl. 47;24 ff). Er treibt
keinen Sport mehr im Verein. Zu Hause trainiert er noch ein bißchen Kampfsport (vgl.
48;18 ff). Außerdem hat er sich eine „Home-Disco“ zusammengestellt, mit der er sich
beschäftigt, „weil man ja ständig probiert, jede Menge Lieder reinzumixen, das
aufzunehmen ...“ (18;34 ff).
Nachbarschaft/Wohnumfeld
Obwohl die Heimat von P. objektiv betrachtet nicht gerade ein für Jugendliche und generell
für die dort lebenden Menschen attraktives und gut ausgestattetes Gemeinwesen darstellt,
fühlt er sich 1992 nicht wesentlich beeinträchtigt durch seine nähere Umgebung. Bis auf
die aufsehenerregenden kriminellen Vorkommnisse im Stadtteil („Pf. wird auch 'KleinChicago' genannt. Autodiebstähle gibt’s zur Zeit, Einbrüche. (..) Da ruft auch einer abends
an, eins, halb zwei und schaut, ob die Leute schon schlafen oder nicht da sind. Dass sie
dann einbrechen können. War bei uns auch so. (...) Da kann man nichts unternehmen, weil
bisher noch keiner geschnappt worden ist von den Typen. (...) stand in der Zeitung, ein
Achtjähriger wurde überfallen. (...) das Geld weggenommen und zusammengeschlagen.
Von Größeren, 15-, 16-, 17-Jährigen."; 1992: 45;22 ff), die ihn immerhin zu gewissen
Vorsichtsmaßnahmen und zur Bewaffnung anhalten, ist ihm dieses Gebiet ob seiner
Einbindung in die dortigen, von Jugendlichen frequentierten Plätze und Einrichtungen
einigermaßen vertraut.
1993 äußert sich Paul weder positiv noch negativ über sein Wohnumfeld. Lediglich die
Schließung des Jugendtreffs für ältere Jugendliche wegen einer angeblichen Renovierung
bedauert er, u.a. auch wegen des langen - für ihn unverständlichen -Zeitraums der
Schließung (vgl. 56;38 ff). Besonders vor dem Hintergrund, dass er nicht mehr mit seiner
früheren Clique zusammentrifft, scheint ihm diese Möglichkeit der Freizeitgestaltung sehr
zu fehlen.
1994 schämt Paul sich - korrespondierend mit seiner Distanzierung von sozial schwächer
gestellten Mitbürgern (vgl. Kap. 2.2) - nunmehr erstmals wegen seines Wohnortes:
„Man geniert sich auch zu sagen, wenn man jetzt, sagen wir mal, einen trifft aus Pf. im
Skiurlaub, (...) und der sagt, wo wohnst du, und du sagst Pf., ich meine, ich sage auch nicht
CXLIII
Pf., ich sage G., weil ich genau weiß, da (sagt) die Hälfte darüber, das ist bloß Sozi, und
darüber sind die etwas besseren.“ (50;28 ff)
Er will zwar nicht umziehen (vgl. 51;4), dennoch stören ihn der schlechte Ruf des Stadtteils
(vgl. 50;37 f) und die mangelnden Angebote für Jugendliche. Um der Langeweile zu
entgehen, ist er auf die motorisierten älteren Jugendlichen angewiesen (vgl. 51;12 ff).
Interessant erscheint der Umstand, dass Paul sich wegen des schlechten Rufes des Stadtteils
schämt, wo er doch andererseits stolz auf das ‘gefährliche Image’ seiner Clique ist (s.o.).
Hier zeigt sich einmal mehr die Diskrepanz zwischen Anspruch bzw. Ansichten und
tatsächlichem Handeln und das damit vermutlich einhergehende Schwanken Pauls
zwischen der Anpassung an Erwachsenenstandards und dem Verhaftetsein mit
traditionellen Leitbildern der Jungen-Sozialisation.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Pauls Medienauswahl richtet sich durchgängig hauptsächlich nach ihrem
Unterhaltungswert. Relativ regelmäßig und viel sieht er fern. Nachrichten interessieren ihn
nur bedingt - „kommt drauf an, welche Themen eben“, (1992 22;39), wohl aber werden
häufiger Nachrichten oder aktuelle Berichte im Familienkreis gesehen. Dabei kommt es
dann auch zu Gesprächen zwischen Paul und den Eltern, wobei sie sich bei der negativen
Beurteilung von Fremdenfeindlichkeit einig sind (vgl. 1992: 23;1 ff; auch 1993: 41;1f und
1994: 54;1f)). Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierte liest er nach eigenen Angaben nicht
(vgl. Fb. 1992, 1993,1994). Macht er noch 1992 über evtl. für ihn relevante
Unterrichtsthemen in der Schule keine Angaben, so beteiligt er sich 1993 trotz seiner
Auffälligkeiten an für ihn interessanten Unterrichtsthemen, ein Arbeitsverhalten, das er
1994, aufgrund seines schulischen Unbehagens eingestellt hat. Seinen Musikkonsum (Rap,
und u.a. „Die Ärzte“) bringt er ab 1993 explizit mit seiner politischen Haltung als
Antifaschist in Verbindung (vgl. ebd. 36;32ff).
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Paul nutzt 1992 zwar die in seinem Wohnort gemachten Angebote für Jugendliche, z.B.
Sportverein und Jugendtreff, Interesse, sich in öffentlichen Initiativen oder in der SMV zu
engagieren, zeigt er aber nicht. Gründe für sein mangelndes Engagement in letzterer
könnten sein geringes Alter und der Umstand, dass er sich grundsätzlich wohl in der Schule
fühlt und infolgedessen nicht viel verändern möchte, sein.
Im Vergleich zum Vorjahr sind 1993 Pauls Teilhabewünsche und seine Bereitschaft, sich in
verschiedenen Bereichen zu engagieren, gestiegen. So beteiligt er sich trotz seiner
schulischen Probleme an der schulinternen Schülerzeitschrift (vgl. 52;20 ff). Ob er mit
diesem Engagement auch Einflussnahme auf schulische Bedingungen verbindet, äußert er
nicht.
1994 ist Paul, obwohl er nicht verbindlich in Gremien oder Initiativen mitarbeitet, doch
bereit, sich für Ziele, die ihm wichtig sind, zu engagieren. So nahm er z.B.- wie schon
erwähnt - an einer Gegendemonstration gegen die Republikaner teil. Auch in seinem
Wohnort arbeitet er an einem Projekt mit, das anscheinend ein Sozialarbeiter der
Kirchengemeinde ins Leben gerufen hat. Dabei werden den Jugendlichen am Wochenende
Freizeitangebote gemacht, um sie ‘von der Straße’ zu holen:
„Das macht man freitagabends. Ja, und dann habe ich mich halt auch eingegliedert und
habe gesagt, komm, jetzt machen wir dies, holen wir uns Dart-Scheiben, über den Katalog
besorgt und gemacht, ja, dann habe ich auch gesagt, jetzt machen wir mal eine
Weihnachtsparty, da habe ich meine Anlage da runtergeschleppt ...“ (50;1 ff)
Die daraus resultierende Integration von Jugendlichen aus verschiedenen Stadtteilen und
die darüber betriebene Entstigmatisierung seines Stadtteils findet Paul wichtig (vgl. 50;17
ff).
CXLIV
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
1992 hat Paul ein recht unbefangenes Verhältnis zu seiner Nationalität als Deutscher. In
der Annahme, dass jeder Mensch stolz auf seine Nationalität ist, äußert er „Stolz“ auf
Deutschland, weil es „ein schönes Land“ sei und es, solange er lebt, noch „keinen Krieg“
gegeben hat (vgl. 25;21 ff). Er definiert seine Heimat nicht explizit - wie viele andere
Jugendliche - als Wohlstandsstaat, was vermutlich mit ein Grund für das
Nichtvorhandensein von Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer (z.B.
Wegnahme-Theorien) ist.
Sein regionaler und lokaler Sozialraum, der von einem hohen Ausländeranteil an der
Bevölkerungszahl geprägte Vorort Pf., legt nahe, dass Paul im privaten Umfeld häufig mit
ausländischen Jugendlichen zusammentrifft. Die darüber geknüpften Freundschaften mit
einigen dieser Jugendlichen begünstigen ebenfalls 1992 das Fehlen von
Ungleichheitsvorstellungen sowie die vehemente Ablehnung politischer Gewalt gegen
Ausländer. Andererseits verursacht die relativ hohe Kriminalitätsrate in Pf. (vgl. Abschnitt
‘Wohnumfeld’) bei ihm aber auch Bedrohtheitsgefühle, so dass er aus Angst vor
Übergriffen eine hohe Gewaltakzeptanz entwickelt, die in der Bewaffnung mit einem
Messer gipfelt.
Pauls Sozialstatus als mittelständischer Hauptschüler scheint 1992 keinen Einfluss
dahingehend zu haben, dass er es für ‘unter seiner Würde’ hält, sich mit Jugendlichen, die
vermutlich großenteils zur Unterschicht gehören, zu treffen. Der Besuch der Hauptschule,
die vermutlich auch von vielen ausländischen Jugendlichen besucht wird, könnte ihn sogar
darin bestärken, sich seine Freunde in diesen Kreisen zu suchen.
Sein Geschlecht scheint ausschlaggebend für seine im privaten Umfeld hohe
Gewaltakzeptanz zu sein. Das mehr oder minder alltägliche Ausleben von gewaltträchtigen
Konflikten (vgl. Kap. 2.3) innerhalb einer jungendominierten Clique scheint in den
gängigen Standards der Jungen-Sozialisation zu fußen, die männliche Durchsetzungskraft,
die Bewahrung der ‘Ehre’, sexuelle Potenz und männliche Invulnerabilität propagieren.
Damit korrespondiert, dass für Paul die freundschaftliche Beziehung zu
gleichgeschlechtlichen Freunden von größerer Wichtigkeit ist als die Beziehung zu seiner
Freundin (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Auch sein inzwischen wegen seines geringen
Alters wieder abgebrochenes Body-Building-Training (vgl. 42;10 ff) und die Nennung der
Schauspieler Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger als Idole (vgl. 42;5 ff) belegen
seine Orientierung an Männlichkeitsidealen wie z.B. körperliche Stärke und scheinbare
‘Unbesiegbarkeit’.
Pauls jugendkulturelle Orientierung richtet sich einerseits über die Zugehörigkeit zu
seiner Clique 1992 auf das Erleben von Spaß, Abenteuer und Risiko aus. Dabei kann es vermutlich zum Zwecke der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und der Erhaltung und
Bewahrung von Akzeptanz und Zugehörigkeit im Peer-Rahmen - auch zu
Normüberschreitungen kommen (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Damit verbunden ist die
hohe Gewaltakzeptanz im Bekannten- und Freundeskreis. Diese Aktivitäten beinhalten
jedoch keinerlei rechtsgerichteten Tendenzen. Andererseits betätigt er sich, bestärkt durch
die Anerkennung, die er von seinen Eltern für diese Talente bekommt, sportlich und
musikalisch.
Seine Beziehungen im sozialen Nahraum scheinen ihn in seiner ‘Ausländerfreundlichkeit’
und nicht vorhandenen politischen Gewaltakzeptanz zu bestärken. So befindet er sich z.B.
in seiner Verurteilung der Vorkommnisse in Rostock, des Golf- und des
Jugoslawienkrieges in Übereinstimmung mit seinen Eltern (vgl. Abschnitt ‘Familie’). Auch
seine Freundschaft mit ausländischen Jugendlichen verhindert das Aufkommen von
Vorurteilen, die sich gegen Ausländer als Gesamtgruppierung richten. Anders verhält es
sich mit der Gewaltakzeptanz im privaten Umfeld. Wohl eher aus Resignation denn aus
CXLV
eigener Überzeugung dulden die Eltern Pauls gewalttätiges Verhalten und versuchen,
Schlimmeres zu vermeiden, indem sie ihm raten: „mach nichts mit Steinen herum, wirf auf
niemand und so, paß auf, wenn du schlägst, dass du nicht an solche kritische Stellen
triffst...“ (15;15 ff). Im Freundeskreis wird er in seinem Verhalten bestärkt, weil es für die
Selbstdarstellung der Jungen dazugehört, eine hohe Reaktanz zu zeigen, und sie u.a.
darüber ihre Anerkennung beziehen.
Während Paul 1992 noch recht unbefangen mit seinem Nationalstolz umging, sieht er
diese Problematik 1993 wesentlich differenzierter: So äußert er vor dem Hintergrund des in
Deutschland praktizierten Rechtsradikalismus:
„Auf Deutschland bin ich gewiß nicht stolz. Das heißt, auf das Land Deutschland schon,
aber nicht auf die Bevölkerung.“ (41;7 ff)
Abgesehen davon, dass er Deutschland als „schönes Land“ bezeichnet, scheint er sich
nunmehr auch mit ihm als ‘Sozialstaat’ zu identifizieren, auf dessen soziale Leistungen er
stolz ist:
„... da bauen sie Wohnungen, da z.B. hier die Sozialwohnungen, gerade für die Leute, die
wirklich nichts haben, kein Geld und so, und da sollte man eigentlich auch stolz darauf
sein...“ (41;13 ff)
Dieser Umstand führt neben anderen dazu, dass Paul keine Ängste entwickelt, Ausländer
könnten ihm ‘etwas wegnehmen’ und er infolgedessen auch keine diesbezüglichen
Ungleichbehandlungsvorstellungen in bezug auf diese Gruppierung entwickelt.
Nach wie vor trägt sein durch einen hohen Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung
geprägter regionaler und lokaler Sozialraum dazu bei, dass er viele ausländische Freunde
hat. Der private Umgang mit ihnen bewirkt, dass Paul nach menschlichen Qualitäten
differenziert. Der Umstand, dass anscheinend an den erwähnten Autoaufbrüchen nur ein
ausländischer Bekannter und sonst nur Deutsche beteiligt waren (vgl. 3;32 f), unterstützt
ihn vermutlich ebenfalls in seiner Vorurteilslosigkeit Ausländern gegenüber.
Pauls weiterhin materiell gut abgesicherter Sozialstatus als Mittelschichtskind hat keinen
Einfluss in Richtung Ausländerfeindlichkeit auf ihn. Vielmehr scheint ihn seine im
Vergleich zu den meisten seiner Freunde überdurchschnittliche materielle Versorgung vor
der Konkurrenz um materielle Ressourcen im Freundeskreis zu schützen und somit
Vorurteilen vorzubeugen. Da er noch immer die Hauptschule besucht, trifft er
wahrscheinlich auch in diesem Lebensbereich weiterhin auf Freundschafts- oder
Bekanntschaftsebene mit ausländischen Schülern zusammen.
Noch immer scheint seine Geschlechtsrolle einen prägenden Einfluss auf seine hohe
Reaktanz zu haben. Obwohl seine Freundin an Bedeutung für ihn gewinnt, scheinen doch
gleichgeschlechtliche Freundschaften bei der Freizeitgestaltung für ihn noch von größerer
Wichtigkeit zu sein (vgl. Abschnitt ‘Freundeskreis’). Im Rahmen dieser jungenorientierten
Freundeskreise werden die für dieses Alter gängigen Standards der Jungen-Sozialisation zu
Maßstäben des individuellen Wertes. Über die vorherrschende Gewaltförmigkeit, die
vornehmlich als Reaktion auf subjektiv wahrgenommene Verletzungen der männlichen
‘Ehre’ erfolgt, kann Wehrhaftigkeit, Dominanz, Invulnerabilität, Kumpelhaftigkeit etc.
demonstriert werden, womit Zugehörigkeit gelebt und Akzeptanz und Anerkennung von
seiten der Freunde erlangt und bewahrt werden kann.
Pauls jugendkulturelle Orientierung ist nach wie vor nach links gerichtet. Jedoch
distanziert er sich aus o.a. Gründen von seiner früheren Clique, so dass das Ausleben von
Spaß, Risiko und Abenteuer im schützenden und vermutlich auch anregenden Rahmen der
Großclique z.Zt. nicht abläuft. Während er während des letzten Erhebungszeitraums
Normüberschreitungen von Seiten der Clique - wahrscheinlich in Abgrenzung von der
Erwachsenenwelt - noch duldete, wenn nicht billigte und wenigstens einmal an ihnen
teilnahm (Haschisch-Rauchen), so grenzt er sich jetzt von solchen Unternehmungen teils
aus Einsicht, teils aus Kalkül bewusst ab.
CXLVI
Seine Beziehungen im sozialen Nahraum fördern über die politischen Ansichten der
Eltern und seiner ausländischen Freunde weiterhin seine positive Einstellung zu
Ausländern und seine Ablehnung politischer Gewalt an Ausländern. Möglicherweise
bedingen aber letztere über ihre eigene Betroffenheit seine zunehmende Bereitschaft,
politisch motivierte Gewalt an Rechtsradikalen zu propagieren oder sogar selber
anzuwenden. Während seine Mutter seiner Violenz ablehnend gegenübersteht und
versucht, diese durch Erziehungsmaßnahmen abzubauen, nimmt sein Vater - vermutlich,
weil er sich ebenfalls an gängigen Vorbildern für ‘Männlichkeit’ orientiert - diesbezüglich
eine eher tolerierende, fast fördernde Haltung ein. Da der Vater für Paul Vorbildfunktion
hat und eine verlässliche Bezugsperson für ihn darstellt, scheint sein Einfluss der
maßgeblichere zu sein. In der gleichen Richtung scheinen sein Bruder und seine Freunde
seine hohe Gewaltbereitschaft zu fördern (s.o.).
1994 ist Paul weder stolz auf seine deutsche Nationalität, noch schämt er sich ihrer (vgl.
58;9 ff). Trotzdem möchte er später „auf jeden Fall raus aus Deutschland“ (57;13),
irgendwohin, wo man billig leben kann („Mir geht es ums Zahlen, Steuern und so.“;
57;27). Im Gegensatz zu den vorangegangenen Erhebungen zeigt sich hier erstmals der
Einfluss einer starken Konsumorientiertheit. Diese Besorgtheit um den eigenen Wohlstand
scheint auch ursächlich für Pauls Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf „Zigeuner“ zu
sein, denen er den seiner Meinung nach ihrem hiesigen Status unangepassten Wohlstand
neidet, was er mit Steuerzahler-Argumenten zu rechtfertigen sucht. Obwohl er Deutschland
mittlerweile als Wohlstandsstaat zu definieren scheint, glaubt er, als Deutscher im Ausland
billiger und somit besser leben zu können. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Paul
sich aufgrund seiner schlechten schulischen Leistungen evtl. keine großen Chancen
ausrechnet, in Deutschland einen gutbezahlten Beruf erlernen zu können.
Pauls wachsende Konsumorientiertheit und ein damit verbundenes gestiegenes
Statusdenken scheint auch der Grund dafür zu sein, dass er sich 1994 erstmals seines
regionalen und lokalen Sozialraums, der durch einen hohen Anteil von
Sozialhilfeempfängern und somit von einer gewissen Armut geprägt ist, schämt. Über ein
stark ausgeprägtes Markenbewusstsein und die Demonstration des eigenen Wohlstandes
versucht er, sich von seinen sozial schwächeren (ausländischen) Freunden und Bekannten
abzugrenzen. Diese Distanzierungsversuche lassen auf Ungleichheitsvorstellungen in bezug
auf schlechter gestellte (aber nicht explizit auf ausländische) Bevölkerungsschichten
schließen. Damit verbunden gewinnt sein Sozialstatus als Kind einer materiell
abgesicherten Mittelschichtsfamilie an Bedeutung - „ich habe immer das bekommen, was
ich will, und ich meine, das wird sich wahrscheinlich auch kaum ändern, ich lege halt
darauf Wert, so im gehobeneren Stil“ (40;11 ff). Um keine Zweifel an seiner momentanen
gesellschaftlichen Stellung und der damit von ihm vermuteten einhergehenden Akzeptanz
von Seiten Gleichgestellter aufkommen zu lassen, verschweigt er sogar bei neuen (Urlaubs) Bekannten seinen genauen Wohnort. Diesem Kontext läßt sich vermutlich auch die
Bemängelung des ‘schlechten Rufes’ des Stadtteils, zu dem er mit der Teilnahme an
Schlägereien sicherlich auch selbst beigetragen hat, als Versuch, Akzeptanz über die
Anpassung an Standards der Erwachsenengesellschaft zu erlangen, zuordnen.
Für Pauls Gewaltsamkeit und die dabei zu Tage tretende hohe Reaktanz scheint nach wie
vor seine geschlechtsspezifische Sozialisation und die damit verbundene Orientierung an
gängigen Standards der Jungen-Sozialisation von großem Einfluss zu sein. Besonders dann,
wenn Paul sich in seiner sexuellen Potenz und Attraktivität, in seiner Eigenschaft als
Kumpel oder in seiner Wehrhaftigkeit und Dominanz in Frage gestellt fühlt, reagiert er mit
körperlicher Gewalt, um seine ‘Ehre’ wiederherzustellen und somit die Anerkennung und
Akzeptanz von seiten seiner hauptsächlich männlichen Freunde zu erhalten. Bei
Auseinandersetzungen der einzelnen Cliquen untereinander kommt noch der über
Konkurrenz- und Territorialverhalten zu demonstrierende Zusammenhalt der eigenen
Gruppe und die damit verbundene Selbstinszenierung von Stärke und Bedrohlichkeit hinzu.
CXLVII
Pauls jugendkulturelle Orientierung richtet sich nach wie vor nach links. Seine
tatsächlichen Freizeitunternehmungen spielen sich aber eher im privaten Rahmen mit
gelegentlichen Kneipen- und Discobesuchen ab.
Während seine Beziehungen im sozialen Nahraum von den Eltern bis hin zu seinen
ausländischen Freunden seine grundsätzliche Vorurteilsfreiheit gegenüber Ausländern eher
fördern, so scheint die relative Armut seiner meisten Freunde doch allmählich dazu zu
führen, dass er über seinen eigenen Wohlstand die o.a. Distanzierungsversuche unternimmt,
weil er sich seines Wohnortes und evtl. auch seiner Freunde schämt. Die Beziehung zu
seinem - materiell noch besser als er selbst gestelltem - besten Freund scheint diese
Tendenz zu unterstützen. Evtl. glaubt Paul, durch die Abgrenzung von seinen ärmeren
Freunden die Akzeptanz seines Freundes zu erlangen.
3.2.2
Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler
Identität
Pauls Freundschaft mit ausländischen Jugendlichen, seine nicht vorhandenen
Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und seine vehemente Ablehnung
politischer Gewalt implizieren 1992 eine besonders hohe Toleranzfähigkeit gegenüber
dieser Gruppierung. Basierend auf diesen Ansichten zeigt er jedoch keine Toleranz rechten
Gruppierungen gegenüber. Er bezeichnet sie als „Gegner“ und würde sie notfalls sogar mit
Gewalt bekämpfen (vgl. Kap. 2.3).
Reflexivität zeigt er zu diesem Zeitpunkt vor allem innerhalb der familiären Beziehungen
und im Hinblick auf eigene Verfehlungen. Resultierend aus der Einsicht, nicht stehlen zu
dürfen, zeigt er Verständnis für die auf die Tat folgenden Züchtigungsversuche des Vaters
und bezeichnet sie als „verdient“ (6;27). Als Grund für sein Fehlverhalten erkennt er seine
Zugehörigkeitswünsche zur Clique. Sein Bekunden, nicht wieder „klauen“ zu wollen oder
auch seine Äußerung, im Jugendhaus zwar „ein bißchen Scheiße zu bauen“, „aber nichts
kaputt(zu)machen“ (vgl. 29;5 f), zeugen von einer Einsicht in und einer Akzeptanz von
diesbezügliche(n) gesellschaftliche(n) Regeln. Auch seine Einsicht in die Situation der
Asylbewerber in Deutschland, die zum einen der ‘Leistungserschleichung’ bezichtigt
werden, obwohl sie nicht arbeiten dürfen, denen zum anderen aber der Vorwurf gemacht
wird, den Deutschen die Arbeitsplätze wegzunehmen, zeigt, dass er sich zu dieser
Problematik reflektiert Gedanken gemacht hat. Seine Verurteilung recht(sextrem)er
Gruppierungen basiert aber wohl eher auf einer - durch seine Freundschaften bedingten emotionalen Betroffenheit denn auf der kritischen Reflexion ihrer Ziele und Ideologien.
Gegenüber seinen Eltern zeigt Paul 1992 empathisches Verständnis gepaart mit einer für
sein Alter sehr weit entwickelten Fähigkeit, Konflikte verbal auszutragen bzw. beizulegen.
So führt er u.a. die häufig genervten bzw. ungeduldigen Reaktionen der Mutter auf deren
Streß im (neuen) Beruf und im Haushalt zurück (vgl. 13;28 ff). Auch seine o.a. Reaktion
auf das Verhalten des Vaters nach dem Diebstahl weisen auf sein Verständnis für die
Sorgen und Ängste des Vaters hin. Pauls Sorge um die Aufrechterhaltung des familiären
Status quo veranlassen ihn in Konfliktsituationen zu einem vermittelnden Eingreifen. So
intervenierte er erfolgreich bei einem ernsthaften Streit der Eltern untereinander, indem er
den Vater aufforderte, sich bei der Mutter zu entschuldigen, was wiederum auch als ein
Beleg für seine Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzudenken, gewertet werden kann.
Auch bei Konflikten zwischen dem Vater und dem Bruder konnte er vermittelnd und
gewaltvermeidend eingreifen (vgl. 10;26 ff). Im Freundes- und Bekanntenkreis reagiert
Paul gemäß o.a. geschlechts’typischer’ Verhaltensstandards in Konfliktsituationen eher
reaktant, während er versucht, potentiell gewalttätigen Konflikten mit z.B. fremden
(rechten) Jugendlichen aus dem Weg zu gehen (vgl. Kap. 2.3).
Er ist 1992 bereit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Dies zeigt seine
grundsätzliche Bereitschaft, in der Schule zu lernen oder auch - wenn nötig - zu Hause zu
üben (vgl. Abschnitt ‘Schule’). Als ein weiterer Beleg dafür kann angesehen werden, dass
CXLVIII
er zu dem begangenen Diebstahl gestanden hat und bereit war, auch die diesbezügliche
Strafe zu akzeptieren.
Pauls positiv ausgeprägtes Selbstwertgefühl basiert vornehmlich auf dem Vertrauen in die
eigenen Eigenschaften („...nett vielleicht, großzügig, nicht geizig“; 1992: 17;23f) und
Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte und Beziehungen im allgemeinen reflektiert
beurteilen zu können. Unterstützend kommt die grundsätzliche Akzeptanz seiner Person
und die Anerkennung seiner individuellen Fähigkeiten durch die Eltern hinzu.
Nichtsdestotrotz ist er zudem aber auch auf die Erlangung und Erhaltung von Akzeptanz
von seiten der Clique angewiesen, was er durch die o.a. Normabweichungen zu erreichen
sucht.
1993 zeigt Paul Reflexivität, gepaart mit empathischen Fähigkeiten, über das familiäre
Umfeld hinaus. Seine Mitleidensfähigkeit gegenüber den Eltern zeigt sich u.a. in seiner
Beschreibung ihrer Reaktion auf das Straffälligwerden des Bruders (vgl. 1993: 2;28 ff vgl.
auch: 3;21 ff). Auch bei seiner Beurteilung der Drogenproblematik (vgl. 47;21 ff) und des
Strafvollzugs äußert Paul relativ reflektierte Gedankengänge (vgl. 46;21 ff). Mit dieser
Einschätzung korrespondiert, dass er selber durchaus in der Lage ist, aus einmal gemachten
(als solche erkannten) Fehlern zu lernen. Seine Ablehnung von Drogen nach einmaligem
Haschischrauchen und Kriminalität nach einmaligem Zigarettendiebstahl scheinen auf
echter Einsicht in mögliche Konsequenzen solchen Handelns zu basieren, weil er von sich
aus bereit ist, sich von seiner Clique zu distanzieren, um nicht mit da hineingezogen zu
werden, selbst, wenn dieses für ihn Einschränkungen in seiner Freizeit bedeutet. Bei der
Beschreibung seines eigenen reaktanten Verhaltens zeigt Paul keine Reflexivität bzw.
erkennt ihre Notwendigkeit nicht. So scheint ihm die Diskrepanz zwischen seiner
ablehnenden Haltung zu Gewalt sowie seiner ‘caritativen’ Denkungsweise einerseits und
seines gewalttätigen Verhaltens andererseits nicht im Widerspruch zu stehen oder gar nicht
bewusst zu werden.
Die Fähigkeit zur Einsicht in bestimmte (gesellschaftliche) Mechanismen befähigen Paul
zunehmend dazu, Verantwortung für sich zu übernehmen. Dies äußert sich u.a. in der
erwähnten Distanzierung von der Clique, in seiner sehr umsichtigen Praktikumsplanung
und seiner bedingten Bereitschaft, sich für die Erlangung eines Ausbildungsplatzes in der
Schule wieder mehr anzustrengen und anzupassen. Zudem versuchte er, einen Freund vom
Haschischrauchen abzubringen (vgl. 47;5 ff).
Innerhalb der Familie ist Paul nach wie vor in der Lage, Konflikte verbal auszutragen,
wenngleich es auch scheint, als wären diese Gespräche nunmehr eher von Ungeduld und
‘Genervtsein’ seinerseits und nicht mehr von dem ernsthaften Bemühen, Streitpunkte
zwischen ihm und den Eltern gütlich beizulegen, geprägt.
Pauls Selbstwertgefühl basiert weiterhin auf dem Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten
und der Kompetenz, über die Reflexion bestimmter Sachverhalte Einsicht in
gesellschaftliche Mechanismen zu gewinnen und daraus Konsequenzen für sein eigenes
Verhalten zu ziehen. Dementsprechend fühlt er sich auch ‘reifer’ als andere Gleichaltrige.
Anerkennung und Akzeptanz von außen bekommt er einerseits über die Demonstration von
‘männlicher’ Stärke, andererseits über seine Eigenschaften als Freund (vgl. 1993: 22;19 ff).
Die Fähigkeit zu Reflexivität, gepaart mit Empathie, zeigt Paul 1994 weiterhin
hauptsächlich im familiären Umfeld. Wie schon während der letzten Interviewzeiträume
kann er sich in die Beziehung der Eltern (z.B. Vernachlässigung der Mutter durch den
Vater) hineindenken und versucht, vermittelnd einzugreifen. In den freundschaftlichen
Gesprächen mit dem Vater geht er auf dessen Probleme ein und versucht, ihn zu beraten.
Seine Kritik am Vater deutet darauf hin, dass er sich Gedanken über die Auswirkungen der
elterlichen Erziehung auf sein Verhalten macht. Seine Erziehungsversuche des Vaters
deuten darauf hin, dass er sich den Vater mehr als Respektsperson wünscht; vielleicht fühlt
er sich dadurch, dass ihn der Vater wie einen Erwachsenen behandelt und ihn
hauptsächlich eigenverantwortlich handeln lässt, doch etwas überfordert. Das Verhalten des
CXLIX
Bruders versucht er sich darüber zu erklären, dass er ein Typ ist, der alles „in sich
hineinfrisst“ (1994: 24;4). Um Streitigkeiten zu vermeiden, nimmt Paul dahingehend
Rücksicht, dass er seine Musikanlage gar nicht erst aufbaut, um sich so nicht vom Bruder
provozieren zu lassen. Auch aktuelle Themen kann er reflektiert bedenken, so z.B. die
allgemeine Situation der Ausländer in Deutschland. Noch immer ist er in der Lage, aus
Fehlern zu lernen und mögliche Konsequenzen seines Handelns vorwegzunehmen. Soweit
seine Einsichtsfähigkeit und Akzeptanz bestimmter gesellschaftlicher Normen auch
gediehen scheint, sie versagen meistens dann, wenn Paul sich in seiner ‘männlichen’ Ehre
angegriffen oder in seinen Selbstbestimmungsansprüchen gegängelt (z.B. Schule) fühlt.
Dann scheint er in seinen Reaktionen noch so auf die Erfüllung traditioneller Standards der
Jungen-Sozialisation fixiert zu sein, dass sie nur auf emotionale und reaktante Weise
erfolgen können.
Davon beeinflusst ist auch seine Fähigkeit, Konflikte verbal zu lösen. Während er im
familiären Bereich, in dem er keine (Mutter) oder kaum (Vater) Akzeptanz über die
Demonstration von Männlichkeit im erwähnten Sinne erlangen kann, durchaus dazu in der
Lage ist, scheint diese Fähigkeit im Freundeskreis aus o.a. Gründen weniger gefragt zu
sein, so dass er sie entsprechend auch nicht anwendet. Erstmals erwähnt er auch explizit
Ausländer als Gegenpart bei gewalthaltigen Auseinandersetzungen (Grieche im BVJ,
jugendliche Zigeunerin, Zigeuner, der das Fahrrad gestohlen hat).
Bedingt ist Paul dazu bereit, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen.
Obwohl er in der Schule keine Bereitschaft mehr zeigt, für einen höheren Schulabschluss
und somit für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt Anpassungsleistungen zu erbringen,
kümmert er sich doch um seine berufliche Zukunft. Als eine Freundin sich angeblich
umbringen wollte, blieb er die ganze Nacht mit einem Freund bei ihr und versuchte mit
Erfolg, es ihr auszureden (vgl. 1994: 16;6 ff). Für Jüngere, die den Treffpunkt besuchen,
übernimmt er bei Bedarf die Beschützerrolle, z.B. bei den beiden Schwarzen, die er mit
Freunden zusammen vor Übergriffen von einem rechten Jugendlichen bewahrte.
Pauls Selbstwertgefühl basiert noch immer vornehmlich auf dem Vertrauen in die eigenen
Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte reflektiert beurteilen und dementsprechend
reagieren zu können. Jedoch scheint es während dieser Lebensphase, als sei er mehr als
früher auch auf die Akzeptanz von außen angewiesen. Diese versucht er einerseits von
seinen Freunden und Bekannten über die bewährte Demonstration von ‘Männlichkeit’ zu
erlangen, erstmals scheint es andererseits aber auch so, dass er über äußere Attribute wie
Markenkleidung, Markenfahrrad und die damit implizit verbundene Distanzierung von
seinen sozial schwächer gestellten Freunden Akzeptanz von anderer Seite, z.B. von
Erwachsenen und seinem besten Freund, erlangen will. Ein Grund dafür sind
möglicherweise seine schlechten schulischen Leistungen und die damit verbundene
Erkenntnis, dass er - entgegen früherer Hoffnungen - den Realschulabschluss nicht schaffen
wird. Dies könnte zu Versagensängsten in diesem und anderen Bereichen führen.
4.
Zusammenfassung
Paul präsentiert sich als ein Junge, der sich einerseits - vermutlich hauptsächlich beeinflusst
von seinem liberal geprägten Elternhaus und dem täglichen freundschaftlichen Umgang mit
ausländischen Jugendlichen, die er aufgrund ihrer individuellen Qualitäten schätzt - durch
im 13ten und 14ten Lebensjahr durchgängig vertretene Gleichheitsvorstellungen in bezug
auf sowie eine vehemente Ablehnung von politischer Gewalt an Minderheiten wie
Ausländern und eine Verurteilung des Denkens und Handelns von Rechtsradikalen
auszeichnet, der aber andererseits - wohl aufgrund emotionaler Betroffenheit - zunehmend
politisch motivierte Gewalt an Rechtsradikalen propagiert und selber anzuwenden bereit ist
und auch im privaten Umfeld im ganzen gleichbleibend - allenfalls nach seiner
Selbstwahrnehmung zwischen 1992 und 1993 zunehmend, 1994 wieder leicht abnehmend mit einer hohen Reaktanz reagiert, wenn er sich in seinen - an gängigen Standards der
CL
Jungen-Sozialisation orientierten - selbst zugeschriebenen männlichen Eigenschaften wie
Durchsetzungskraft, Wehrhaftigkeit, Invulnerabilität, sexuelle Attraktivität etc. angegriffen
fühlt.
Im einzelnen zeigt Paul 1992 und 1993 keine nennenswerten Ungleichheitsvorstellungen
gegenüber Ausländern, während er 1994 erstmals Vorwürfe in Richtung der Gruppierung
der „Zigeuner“ erhebt, denen er auch aufgrund eigener Erlebnisse eine erhöhte Kriminalität
zuschreibt. Weiterhin unterstellt er ihnen eine ihrem hiesigen Status unangepasste
Anspruchshaltung und neidet ihnen einen seiner Ansicht nach ungerechtfertigten
Wohlstand. Zudem klingen implizit über die Betonung seines eigenen Wohlstandes und die
Kritik an seinem Wohnort, der durch einen hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und
Ausländern geprägt ist, Distanzierungsversuche von sozial schwächer gestellten
Bevölkerungsschichten an.
Gleichbleibend verurteilt Paul die Anwendung politischer Gewalt an Ausländern. Während
er 1992 noch vor der direkten Konfrontation mit rechten Jugendlichen zurückschreckt,
propagiert er in den folgenden Jahren zunehmend eine politisch motivierte, gewalttätige
Gegenwehr von Ausländern und ist auch selber bereit, Gewalt in der Auseinandersetzung
mit rechten Jugendlichen einzusetzen. Hinsichtlich staatlicher (Polizei-)Gewalt wünscht er
sich noch 1992 eine „straffere Gangart“ (vgl. Fb. 1992), während er 1993 - wohl aus dem
Empfinden einer gewissen Machtlosigkeit der Polizei gegenüber gesellschaftlichen Gewaltbzw. Kriminalitätsphänomenen heraus - eine Bürgerwehr nach amerikanischem Vorbild
propagiert. 1994 zeigt er sich gegenüber dem Einsatz von Polizei eher duldend und
verständnisvoll. Pauls von Anfang an hohe Violenz im privaten, jungendominierten Umfeld
steigert sich im Laufe der Jahre dahingehend, dass er - zumindest verbal - zunehmend
bereit ist, Waffen als Mittel der Gegenwehr einzusetzen. Zudem scheint seine
Hemmschwelle zum Einsatz von Gewalt immer weiter zu sinken, was zur Folge hat, dass
auch bei eher ritualisierten gewalttätigen Konfrontationen immer weniger ‘Fairness’Regeln eingehalten werden. Seine zunehmende Orientierung an Erwachsenen-Standards
scheint jedoch bei ihm eine veränderte Selbstwahrnehmung dahingehend nach sich zu
ziehen, „ruhiger“ und „zurückhaltender“ geworden zu sein sowie „nicht mehr gleich
loszugehen“. Damit einhergehend scheint das aktive Suchen von gewalttätigen Situationen
und somit die Frequenz eben dieser nachzulassen, so dass es wohl zu einer Abnahme der
Quantität, aber trotzdem zu einer Zunahme der Qualität von Gewalt im Ernstfall kommt.
Ausschlaggebend für weitgehende Gleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer und
Pauls gleichbleibende Ablehnung von politischer Gewalt gegen Ausländer sowie seine
Verurteilung von Rechtsradikalen scheint hauptsächlich der Einfluss seiner Eltern und
ausländischen Freunde - und damit verbunden, zunächst noch seines direkten
Wohnumfeldes - zu sein. Paul hat nach eigenem Bekunden ein gutes Verhältnis zu seinen
Eltern, demzufolge zunächst beide, später explizit noch der Vater, Vorbildfunktion für ihn
haben. Beide Elternteile scheinen liberal zu sein, und aktuelle Themen werden im
Familienkreis besprochen. So befindet sich Paul mit seinen politischen Ansichten in
Übereinstimmung mit seinen Eltern.
Sein Wohnort zeichnet sich durch einen hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern und
Ausländern an der Gesamtbevölkerung aus. Dies und der Umstand, dass Paul in direkter
Nähe eines Treffpunktes, an dem sich viele (ausländische) Jugendliche im mehr oder
weniger losen Cliquenverbund treffen, führten vermutlich dazu, dass er viele ausländische
Freunde hat. Da er diese nach menschlichen Qualitäten und nicht nach Nationalität
beurteilt und über Gespräche viel über ihre Situation in Deutschland erfahren hat, scheint
seine Ablehnung jeglicher Ausländerfeindlichkeit auf einer direkten Betroffenheit und
Anteilnahme am Alltag seiner Freunde zu fußen. Die daraus resultierende Sensibilisierung
gegenüber ausländerfeindlichen Andeutungen und Übergriffen und seine Verantwortung
als ‘Kumpel’ erklären vermutlich auch seine zunehmende Bereitschaft, selber gewalttätig
auf tatsächliche oder vermeintliche „Nazis“ zu reagieren.
CLI
Pauls hohe personale Violenz scheint hauptsächlich auf eine vermutlich
entwicklungsbedingt besonders ausgeprägte Orientierung an gängigen Inhalten und
Standards der Jungen-Sozialisation zurückzugehen. Über die Demonstration von
Dominanz, Wehrhaftigkeit, Invulnerabilität, Kumpelhaftigkeit und sexueller Attraktivität
und damit verbundene, vereinzelt begangene Normverletzungen (Diebstahl von Zigaretten
1992 und Haschischrauchen 1993) versucht er, Akzeptanz und Anerkennung von Seiten
seiner jungendominierten Clique zu erlangen und zu bewahren. Zudem wird über
(gewalttätiges) Konkurrenz- und Territorialverhalten anderen ‘Gangs’ gegenüber die
Zugehörigkeit zu und die Stärke der eigenen Gruppe inszeniert. Die Häufigkeit dieser z.T.
ritualisierten Konfrontationen führen zu einer Normalisierung sowie Automatisierung von
Gewalthandeln aber auch zu einer gewissen Unausweichlichkeit, will Paul den bei den
Jugendlichen und für sein Selbstbild geltenden Normen entsprechen. Demzufolge ist seine
Einstellung zu seiner eigenen Gewaltbereitschaft ambivalent: Einerseits zeigt er Stolz auf
seine Aggressivität, weil er sich aufgrund der ihm deswegen entgegengebrachten Akzeptanz
als ‘Schläger’ und somit als ‘männlich’ definiert, andererseits sieht er sich aber auch als
Opfer von gewaltsamer Bedrohung, dem zur Gegenwehr keine andere Möglichkeit bleibt,
als selbst gewalttätig zu werden. Korrespondierend damit zeigt Paul auch durchgängig
Diskrepanzen zwischen seinen allgemein eher gewaltverurteilenden und oft
gesellschaftliche Mechanismen reflektiert beurteilenden Ansichten, die auf seiner
Fähigkeit, aus begangenen Fehlern lernen und sein Verhalten vorausschauend planen und
modifizieren zu können, beruhen und seinem tatsächlich gezeigten Verhalten.
Möglicherweise versucht er einerseits, sich über die Anpassung an gesellschaftliche
Normen in die Erwachsenengesellschaft zu integrieren, um in naher Zukunft als
vollwertiges berufstätiges Mitglied an ihr teilhaben zu können, ist aber andererseits
aufgrund seines aktuellen Entwicklungsstandes noch zu sehr der Erfüllung der für ihn und
in seinem Freundesumfeld gültigen Standards der Jungen-Sozialisation und den damit
verbundenen Erfolgserlebnissen im Freundeskreis verhaftet, als dass er z.Zt. sein Verhalten
in Richtung Gewaltfreiheit wesentlich verändern könnte. Erschwerend kommt hier
vermutlich hinzu, dass Pauls Vater zum einen seinem diesbezüglichem Verhalten - evtl.
aufgrund eigener Orientierungen - eher duldend, wenn nicht teilweise sogar fördernd (vgl.
1993), gegenübersteht, und Paul ihn zum anderen weniger als (erwünschte) Respektsperson
denn als ‘Kumpel’, der seinerseits auf die Ratschläge seines Sohnes angewiesen ist,
wahrnimmt (vgl. 1994).
Die oben erwähnten - erstmals 1994 anklingenden - Ungleichheitsvorstellungen in bezug
auf „Zigeuner“ lassen sich vermutlich durch schlechte Eigenerfahrungen und vor dem
Hintergrund großer schulischer Schwierigkeiten Pauls erklären: Nachdem er den
Hauptschulabschluss absolviert hatte, wechselte er auf eine weiterführende Schule, die er
nach zwei Jahren mit dem Realschulabschluss hätte abschließen können. Eine subjektiv
empfundene Fremdbestimmtheit und seiner Meinung nach an ihm begangene
Ungerechtigkeiten führten bei ihm von Leistungsverweigerung über Störverhalten bis hin
zu aggressivem Verhalten Mitschülern und Lehrern gegenüber, so dass er 1994 die
Entscheidung trifft, die Schule gegen den Willen seiner Eltern zum Halbjahresende zu
verlassen. Paul muss die Hoffnung auf einen höheren Schulabschluss und die damit
verbundenen besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgeben. Die daraus vermutlich
resultierenden Selbstzweifel und Versagens- bzw. Zukunftsängste scheinen ursächlich
dafür zu sein, dass er mehr als in den Vorjahren auf Akzeptanz von außen angewiesen zu
sein scheint, um sein Selbstwertgefühl aufrechterhalten zu können. Über die Betonung
seiner eigenen Konsumorientiertheit und ein zur Schau getragenes Markenbewusstsein und
die ‘Scham’ über seinen Wohnort scheint er sich implizit von seinen sozial schwächer
gestellten Freunden distanzieren zu wollen, um so die Akzeptanz von gesellschaftlich
Gleichgestellten, respektive von seinem - materiell noch besser als er selbst gestellten besten Freund zu erlangen (vgl. 1994). Die Möglichkeit, dass er aufgrund seiner
CLII
beruflichen Chancen seinen - bisher als selbstverständlich empfundenen - Wohlstand später
nicht aus eigener Kraft erhalten bzw. vermehren könnte, ist vermutlich die Ursache dafür,
dass er Deutschland erstmals als einen Wohlstandsstaat definiert, der durch die ihm
unangemessen erscheinende Alimentierung einzelner Ausländergruppierungen - und damit
verbunden, durch von ihm angenommene, unberechtigterweise zu erfolgende
Steuerzahlungen der deutschen Staatsbürger - gefährdet sein könnte. Zudem könnte sich
der Umstand, dass Paul 1994 erstmals explizit einzelne ausländische Jugendliche als
Gegner bei Auseinandersetzungen benennt, fördernd auf die Ausbildung von
Ungleichheitsvorstellungen auswirken.
Insgesamt könnte für Paul die These aufgestellt werden, dass seine zunehmende
Orientierung an Erwachsenen-Standards dazu führt, dass die anfangs vorherrschende
Gewaltorientierung zunehmend von einer von der Gesellschaft tolerierten, wenn nicht
gewünschten Konsumorientiertheit als Stützpfeiler seiner Identitätsfindung ergänzt (und
unter Umständen später einmal abgelöst) wird. In aber eben dieser Konsumorientiertheit
scheint die Ausbildung von o.a. Ungleichheitsvorstellungen begründet zu sein, denn in
ihrem Rahmen kann Paul sich nur über die Abgrenzung von sozial schwächer gestellten
(ausländischen) Mitbürgern und den Eigenbesitz von materiellen Ressourcen definieren
und somit sein Selbstwertgefühl stärken.
Renate 1992 - 1994
" Gerade die Asylanten, welche einen so blöd ansprechen ... die soll man anzeigen und sie
sollen in ihr Land zurückgehen." (1992:19;29-32)
" Die Asylanten sollten weniger Geld bekommen, weil sie geben das gerne so zum Trinken
her und die kaufen sich gar nichts so zum Essen. Die machen sich eine schicke Frisur und
haben Super-Klamotten und wir geben das ganze Geld aus." (1993:36;33-37)
" Es gibt doch Asylanten hier, und die kriegen halt alles immer gleich. Wir müssen halt
immer arbeiten. Das ist unser Nachteil wahrscheinlich." (1994:18;10-13)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Renate, evangelisch, lebt seit ihrem fünften Lebensjahr zunächst mit ihren Eltern und ihrem
älteren Bruder in K., einer Kleinstadt in Süddeutschland, wo ihre Eltern eine Gaststätte
betreiben. Sie wohnt mit ihrer Familie in einer 4-Zimmer-Mietswohnung im Stadtkern, in
der sie sich noch ein Zimmer mit dem Bruder teilt. Renate besucht die 8. Klasse der
städtischen Förderschule.
1993 zieht sie mit ihren Eltern in ein Einfamilienhaus mit Terasse und Garten in eine von
K. weit abgelegene Kleinstadt, wo Renate jedoch nur die Wochenenden mit ihren Eltern
verbringt. Dort hat sie ein eigenes Zimmer. Während der Woche wohnt sie bei der Familie
einer Freundin in K., um dort weiterhin die Schule besuchen zu können.
1994 beginnt Renate eine Ausbildung zur hauswirtschaftstechnischen Angestellten in
einem Ausbildungszentrum, wo sie auch ihren Hauptschulabschluss machen möchte. Da
diese Schule 75 km von ihrem Heimatort entfernt in der Schwäbischen Alb liegt, wohnt sie
dort in einem Internat, in dem sie ein Zimmer mit einer anderen Schülerin teilt.
Als Taschengeld stehen Renate zunächst 35,-DM monatlich zur Verfügung; zudem steckt
der Vater ihr öfter noch etwas zu (vgl.1992:10;20-29), was aber meistens "gleich weg ist"
(1992:11;3-5). 1994 erhält sie wöchentlich 35,-DM von ihren Eltern, die sie vorwiegend
für Kleidung ausgibt. Renates Umgang mit Geld ist ein häufiger Konfliktpunkt zwischen
ihr und ihrer Mutter (vgl.1994:5;38ff).
2.
Politische Orientierung
CLIII
2.1
Allgemeine Orientierung
Renate hat außer ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Asylbewerbern (s.u.) kein explizit
politisches Interesse und gibt keine allgemeine politische Orientierung zu erkennen.
Ihre jugendkulturelle Ausrichtung konzentriert sich auf die Musikszene der ‘Raper’ und
Discofans, Skinheads zählt Renate durchgängig zu ihren Gegnern. Während sie noch 1993
rechte Jugendliche und Hooligans ablehnt, sind ihr diese 1994 gleichgültig geworden
(vgl.Fb).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Renate formuliert durchgängig sowohl Ungleichwertigkeitsvorstellungen als auch
Ungleichbehandlungsforderungen gegenüber Asylbewerbern.
1992 stehen bei ihren Äußerungen Verunsicherung und Angst vor sexueller Belästigung
seitens Asylbewerbern im Vordergrund ("Die sprechen immer Mädchen an und fragen sie
immer aus...da kam auch ein Asylant und hat gesagt, komm, jetzt wollen wir mal machen,
darum habe ich so Angst vor denen." 1992:18;14-29, vgl. auch 1992:17;25-40), die durch
Warnungen der Eltern ("Ich darf mich nicht mit solchen abgeben ... weil ich mich nicht so
gut wehren kann wie ein Junge."; 1992:19;1-7) und eines Freundes ("In dem Haus wohnen
Asylanten drin und die sind falsch."; 1992:18;11) verstärkt und bis 1994 verfolgt werden
können: "Da hat einer, da bin ich an der Telefonzelle vorbeigelaufen, da war so mittag um
vier ‘rum, da wollt ich meine Freundin abholen und nach E. ins Kino, da sagt einer zu mir,
willst du mit mir bumsen oder so was und seitdem will ich mit denen nichts mehr zu tun
haben." (1994:18;22-27). 1992 raten ihr die Eltern: "Wir sollen sie einfach reden lassen
und wenn sie etwas fragen oder soll ich zur Polizei gehen." (1992:18;37-38) und "Wenn
ich da vorbei laufe, soll ich auf der anderen Straßenseite laufen." (1992:19;16-17). Renate
sieht in Asylbewerbern Menschen, die nicht in ihre Umgebung gehören (vgl.1992:21;19).
Ein ausreichender Abschiebeanlass ist für sie die von ihr mehrfach angesprochene
Belästigung:
"Gerade die Asylanten, welche einen so blöd ansprechen ... die soll man anzeigen und sie
sollen in ihr Land zurückgehen." (1992:19;29-33)
Bereits zu diesem Zeitpunkt scheint Renates Unwissenheit über die Herkunft und
Beweggründe von Asylbewerbern in Deutschland einer der Gründe für ihre abweisende
Haltung zu sein. So glaubt sie beispielsweise, ‘Kurden’ kämen aus Jugoslawien
(vgl.1992:21;15-26). 1993 greift Renate das in ihrer Familie und Schule kursierende
Vorstellungsbild von ‘Wirtschaftsflüchtlingen’ auf (s.u.). Sie ist der Meinung, dass
Asylbewerber nach Deutschland kommen, "weil bei denen nicht so viel Arbeit wie hier,
und in Deutschland, da bekommt man halt alles." (1993:39;18-19). Renate gibt an, nie von
der Existenz von Kriegsflüchtlingen gehört zu haben, sie hat somit kaum oder keine
Kenntnis von politischem Asyl (vgl.1993:39;26-32).
1993 haben sich Renates Unsicherheitsgefühle gegenüber Asylbewerbern verfestigt:
"So Asylanten stehen immer an der Telefonzelle abends, dann machen sie einen halt blöd
an und da habe ich ein bißchen Angst." (1993:13;38-40).
Sie macht in ihrer gewohnten Umgebung (z.B. in ihrer Schulklasse) ansonsten kaum
Unterschiede zwischen ‘Ausländern’ und Deutschen (vgl.1993:36;18), solange diese sich
ihren Vorstellungen entsprechend verhalten:
"...dass nicht wie wenn türkische Väter ihre Töchter nie rauslassen. An den türkischen
Sitten, sie sind nämlich in Deutschland, da sollten sie sich schon an deutsche Sitten halten."
(1994:17;21-24).
1994 hat Renate "eigentlich nur ausländische Freunde. Türken hab’ ich, Italiener hab’ ich
ein paar und Deutsche. Aber meistens nur Türken. Ich weiß nicht, mit denen bin ich halt
meistens zusammen." (1994:17;34-37). Hier spielt sicherlich die Schule eine prägende
Rolle, da in Renates Klasse von insgesamt dreizehn Mitschülern zehn Schüler
CLIV
ausländischer Herkunft sind. Renate unterscheidet in ihren Bewertungen ‘Ausländer’ von
‘Asylbewerbern’:
"Ich habe nichts gegen Ausländer, aber gegen solche schon." (1992:19;26-27).
Sie sieht es als Vorteil der Anwesenheit von erwerbstätigen Ausländern in Deutschland an,
"dass die Deutschen nicht mehr so viel arbeiten müssen, die arbeiten ja auch alle mit uns."
(1994:18;7-9). Dementsprechend sieht sie als Nachteil der Asylbewerber:
"Nachteil, wie soll ich das sagen, es gibt doch Asylanten hier, und die kriegen halt immer
alles gleich. Wir müssen halt immer arbeiten. Das ist unser Nachteil wahrscheinlich."
(1994:18;9-13).
Auffällig ist hier Renates Tendenz zur Generalisierung ("...die kriegen halt") sowie
quantitativen ("alles") und qualitativen ("immer gleich") Überdramatisierung staatlicher
Unterstützungsleistungen für Asylbewerber, um ihren Vorurteilen einen argumentativen
Rahmen zu verleihen. Da sie nie einen Asylbewerber näher kennengelernt hat
(vgl.1994:18;14), ist anzunehmen, dass Renate ihren Standpunkt zu einem Großteil von
Dritten übernommen hat. Hier stehen sowohl der elterliche Einfluss ("Meine Mutter hat
nichts gegen Ausländer, aber sie sagt halt immer such Dir ‘nen Deutschen, und sie hat
vielleicht auch Angst um mich und so, und deshalb eigentlich. Sonst haben wir eigentlich
keine Probleme zu Hause mit Ausländern. Meine Mama hat selber nichts gegen sie, bloß
sie regt es halt auch auf, dass wir arbeiten müssen und die kriegen alles umsonst. Das regt
die auch auf." 1994:19;1-7), als auch die Agitation eines Lehrers im Vordergrund: "Die
Asylanten sollten weniger Geld bekommen, weil sie geben das gerne zum Trinken her und
die kaufen sich gar nichts so zum Essen. Die machen sich eine schicke Frisur und haben
Super-Klamotten und wir geben das ganze Geld aus...Ich weiß es von meinem Lehrer, der
hat es mir gesagt, er hat es uns allen gesagt." (1993:36;39ff).
Besonders im Zusammenhang mit der ‘Kostenargumentation’ identifiziert sich Renate
zunehmend allgemein mit Steuerzahlern ("Die Deutschen regen sich halt immer auf
darüber, dass die alles bekommen und wir halt müssen arbeiten und Steuern bezahlen, und
die kriegen alles umsonst." 1994:18;33-36); vielleicht aber deutet das "wir" in ihrer
Einlassung auch im engeren Sinne auf sie selbst und ihre Eltern hin. Sie beklagt häufig,
dass ihre Eltern zu wenig Zeit für sie haben, da diese unter großem Zeitaufwand ihre
Gaststätte betreiben ("Was hab’ ich denn von euch, wenn ihr unten seid und ich bin oben,
sag’ ich dann auch ab und zu." 1994:5;35-36). Bei Renate scheint sich der Eindruck zu
festigen, dass ihr persönlicher Beitrag zu den von Asylbewerbern verursachten Kosten der
Verzicht auf die Zuwendung der Eltern ist, welche wiederum als Argument für ihre häufige
Abwesenheit die hohe Abgabenlast, die sie eben auf die Alimentierung von Asylbewerbern
zurückführt, anführen.
Hinzu kommt mit dem Ausbildungsbeginn ihr persönlicher Eintritt in das Berufsleben, mit
dem sie sehr unzufrieden ist. Sie fühlt sich von den über die ausbildungsbedingten Arbeiten
hinausgehenden Aufgaben des täglichen Lebens, die alle Internatsbewohner in Form von
‘Diensten’ zu erfüllen haben, überfordert: "Weil, mir stinkt das hier ... das ist einfach zu
viel. Wenn wir hier fertig sind..., da hat man kaum noch Freizeit, und immer das Gejaule
von den Erzieherinnen, das stinkt mir so langsam" (vgl.1994:1;29ff). Die in diesem
Rahmen geäußerte Unzufriedenheit bezieht sich sowohl auf Renates instrumentelle, als
auch ihre sachlich-inhaltliche Arbeitsorientierung, da sie sich nicht mehr sicher ist, ob ihre
Berufswahl überhaupt richtig war ("...weiß ich nicht, mache ich mir immer Gedanken
darüber. Heute habe ich mich wieder gefragt, wie konnte ich nur HTA aussuchen."
1994:9;9-16). Renate steht in einem Konflikt zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit
von Berufsausbildung und Arbeit zur Sicherung des eigenen Lebensstandards und dem
Leiden unter den im Arbeitsleben entstehenden ‘Opportunitätskosten’, die ihre Freizeit und
Selbstentfaltung einschränken. Offensichtlich vor dem Hintergrund dieser Lebenserfahrung
wird ‘Arbeitsleistung’ für Renate zunehmend zum zentralen Legitimationsaspekt für eine
Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Dementsprechend sollen Asylbewerber in
CLV
Deutschland selber für ihren Lebensunterhalt arbeiten und notfalls die ‘Dreckarbeit’ im
Sinne allgemein gesellschaftlich notwendiger und volkswirtschaftlich sinnvoller Aufgaben
machen:
"Die Asylanten sollen Waldarbeit machen, oder etwas für den Umweltschutz tun oder
vielleicht wenn sie auf der Mülldeponie arbeiten würden oder irgendwas, wo man sie halt
brauchen kann." (vgl.1994:19;12-15).
2.3
Gewaltakzeptanz
Renates anfangs noch ausgeprägtes physisches Gewaltpotential nimmt bis 1994 deutlich ab.
Sie berichtet 1992 von häufigen Schlägereien "mit Fäusten" (1992:24;30) unter den
Mädchen in der Schule. Dies sind zum einen individuelle, geschlechtergetrennte
Streitereien, die in oder auch außerhalb der Clique ausgetragen werden:
"Dann spricht man mal mit der und wird sie dann auch noch frech, dann bekommt sie
gleich eine." (1992: 24;40ff)
Auch Renates eigene Tendenz, sich im Streit mit Gewalt durchzusetzen, zeigt sich in ihrer
Bereitschaft, auf verbale Angriffe tätlich zu reagieren:
"Also da hat sie auch so Scheiß herum erzählt und hat einen immer stehen lassen, dann hat
sie eben eine mit der Faust auf die Nase bekommen." (1992:25;17-19)
Offenbar hält sie diese Art der Konfliktaustragung für normal (Man beachte die Funktion
des "eben" im obigen Zitat) und innerhalb der gängigen Interaktionsmuster reflexhaft
gefordert (siehe oben im vorgängigen Zitat: "gleich").
Sie berichtet zum anderen von Rivalitäten mit anderen Cliquen, z. B. den ‘Heavies’ von der
Realschule, denen ihre Freunde und sie aber aus dem Weg gehen (vgl.1992:33;13-14).
Ab 1993 ist Renate nicht mehr an gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt
(vgl.1993:21;26-28). Sie wohnt zu diesem Zeitpunkt bei der Familie ihrer Freundin, mit der
sie auch ihre Freizeit verbringt. Ab diesem Zeitpunkt scheint Renate wohl seltener in
Konfliktsituationen zu geraten, da die beiden Mädchen die meiste Zeit zu Hause
verbringen. Mit dem Argument "... die sind ja genauso Menschen wie wir. Die machen das
doch auch nicht bei Deutschen, das Haus einfach abbrennen" (1993:41;7-19) nimmt sie
ausdrücklich negativ Stellung zu Gewaltaltanschlägen auf Ausländer (vgl.1993:40;26-36).
Im Internat 1994 kommen Handgreiflichkeiten nicht vor. Renates Lösung in unangenehmen
Situationen ist jetzt:
"Weiterlaufen, still sein, gar nichts mehr sagen. Erst wenn ich weiter weg bin, laß ich meine
Wut ‘raus: Was war das für ein Depp." (1994:7;27-30).
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Renates durchgängiges Kernproblem ist ihre zunächst durch die starke berufliche
Einspannung der Eltern verursachte Vereinsamung, unter der sie bereits 1992 sehr zu
leiden scheint (vgl.1992:7;4-6). Auch während ihrer Zeit im Internat, in der sie nur die
Wochenenden zu Hause verbringt, ändert sich kaum etwas an der Vernachlässigung ihrer
Eltern und den damit verbundenen Einsamkeitsgefühlen: "Wenn meine Eltern keine Zeit
haben, verkrieche ich mich meistens in mein Zimmer" (1994:4;33). Renate wünscht sich,
dass die Eltern mehr Zeit mit ihr verbringen. 1994 kommt als zusätzliche Belastung das
Internatsleben hinzu, wo sie sich reglementiert, bevormundet und ungerecht behandelt fühlt
(vgl.1994:1;29ff ). Deshalb dachte sie auch schon darüber nach, die Ausbildung
abzubrechen: "Mir stinkt das Internatsleben. Ich wollte auch schon mal aufhören von hier"
(1994:1;26-28).
Renates häufiges Klagen über fehlende Freizeit läßt darauf schließen, dass sie sich durch
das alltägliche Zusammensein mit den anderen InternatsschülerInnen und mit den
CLVI
Erzieherinnen auf relativ engem Raum sowie den vollen Stundenplan in ihrer
Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlt. Zwar war sie aufgrund der Abgelegenheit des
Elternhauses schon früher an Abhängigkeiten (z.B. in Form von wochenendlichen
Fahrdiensten ihrer Eltern in die Stadt) gewöhnt, kann sich aber nicht mit den nun im
Internat herrschenden Verbindlichkeiten arrangieren. Die für die soziale Ordnung
innerhalb des Internats notwendige Rücksichtnahme und Unterordnung des Einzelnen unter
die Gruppe erscheint für Renate wenig einsichtig. Sie leidet also auch im Internat unter
Lebensbedingungen, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat und in denen es keine
Bezugspersonen gibt, zu denen sie ein Vertrauensverhältnis hat und die ihr verständnisvoll
begegnen.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Obwohl Renate an ihren Eltern bemängelt, dass diese zu wenig Zeit für sie haben, findet sie
grundsätzlich ihren sozio-emotionalen Rückhalt in der Familie. Dort erfährt sie sowohl
Anerkennung und Lob als auch Zärtlichkeit (vgl.1992:8;21-39). Sie hat zu beiden
Elternteilen Vertrauen (vgl.1992:5;4-5), fühlt sich aber von ihrem Vater mehr akzeptiert als
von ihrer Mutter (vgl.1992:4;37-39). Da die Eltern eine Gaststätte betreiben, in der der
Vater als Koch und die Mutter als Bedienung arbeiten, sieht Renate ihre Eltern nur
morgens, mittags und abends. Wenn die Gaststätte geschlossen hat, ist Renate in der
Schule. So bleibt nur wenig Zeit zum Besprechen von (schulischen) Problemen
(vgl.1992:3;33-37). Dies tut Renate meist mit dem Vater, der ihr hilft und auch in der
Schule mit den Lehrern redet (1992:3;40ff).
Als sie 1994 Probleme im Internat bekommt, zeigt ihre Mutter nur wenig Verständnis für
Renates Situation: "Meine Mama sagt immer:... Lehrjahre sind keine Herrenjahre, das muss
jeder durchmachen. Aber sie versteht das glaube ich gar nicht so arg. Die soll mal ‘ne
Woche oben bleiben und mal sehen wie das ist. Die würde sich genauso fühlen wie ich."
(1994:3;11-16). Auch hier erhält sie mehr Unterstützung vom Vater: "Aber mein Papa
versteht es schon...Dann haben wir Elterngespräch gehabt, dann hat mein Papa zu Frau W.
gesagt, wenn das hier nicht besser wird, dann holt er mich ‘raus." (1994:3;17ff). Ihre
Mutter hingegen ist für andere Belange zuständig, sie erteilt z.B. die Erlaubnis zum
Ausgehen o.ä.. Wenn Renate zu spät nach Hause kommt, erhält sie Hausarrest (1992:6;2839). Auseinandersetzungen in der Familie beschreibt sie als "so ein bißchen anmeckern und
vielleicht nach zwei Stunden Entschuldigung sagen." (1992:13;29-30). Renate muss zu
Hause keine Aufgaben erledigen (vgl.1992:5;17-39), sie hilft aber unentgeltlich in der
Gaststätte beim Ausschank: "Ich bekomme ja sonst immer alles, darum." (1992:8;13).
’Echte’ Probleme behält Renate für sich oder bespricht diese mit ihrer Freundin. Das
anfangs eher gespannte Verhältnis (vgl.1992:5;6-16) zu ihrem vier Jahre älteren Bruder
bessert sich mit den Jahren., so dass sie mit ihm zuletzt auch ihre Probleme im Internat
bereden kann (vgl.1994:5;16-20). Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen,
dass Renate ab 1993 für ein Jahr bei der Familie ihrer Freundin lebt und nur während der
Wochenenden zu Hause ist. Die Problembesprechung mit den Eltern leidet nach wie vor
unter Zeitmangel.
Renate hat aber mit den Eltern der Freundin ein Vertrauensverhältnis (vgl.1993:26;22ff)
und bekommt vom Vater der Freundin Hilfe in schulischen Angelegenheiten
(vgl.1993:15;8-15), so dass sie unter der Trennung vom Elternhaus nicht zu leiden scheint.
1992 und 1993 geht Renate gerne in die Schule, wobei hier der soziale Aspekt die tragende
Rolle spielt. Sie schätzt den guten Klassenverband (vgl.1992:34;9-15) und macht sich
generell keine Sorgen um die Schule (vgl.1992:37;19-21). Dies mag auch in der in
Förderschulen üblichen kleinen Klasse mit in diesem Fall nur dreizehn SchülerInnen
begründet liegen.
Das ändert sich mit Renates Wechsel auf das Internat. Zwar trifft sie in der Berufsschule
ihre alten Freunde wieder, sie muss aber eine getrennte Klasse des Ausbildungszentrums
CLVII
besuchen, wodurch sie sich zunehmend stigmatisiert fühlt: "Oh Gott, Renate, mit was für
Leuten bist du in eine Klasse gekommen." (1994:10;33-34). Sie hat das Gefühl, dass ihre
alten Freundinnen nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen (vgl.1994:10;37-40). Den
Unterricht findet Renate "nicht so besonders. Die Lehrer sind da so alt und streng und ich
weiß auch nicht." (1994:10;29-30). Sie resümiert: "Ich würde lieber wieder in die Schule
gehen wie hierbleiben" (1994:1;11-12).
1992 verbringt Renate einen Großteil ihrer Freizeit in einer Clique von Mitschülern, mit
denen sie sich meistens in der Stadt trifft, um dort Musik zu hören, Game-boy zu spielen
oder zu bummeln. In diesem offenen Verband sind auch ihre fünf Freundinnen, bei denen
sie Unterstützung und Verlässlichkeit erfährt (vgl.1992:23;33). Allgemein sind Probleme
aber " jedem seine Angelegenheit." (1992:32;21). Alle tragen Kleidung der gleichen
Stilrichtung: Weite Hosen, Turnschuhe und Rollkragenpullover (vgl.1992:32;31).
Während der Zeit, die sie ab 1993 in der Familie der Freundin verbringt, löst sich Renate
aus dem Kreis der Clique und verbringt ihre gesamte Freizeit mit der nun besten Freundin
(vgl.1993:9;7-13). Mit ihr bespricht sie auch intime Themen wie z.B. Sexualität
(vgl.1993:24;26-30).
Ihre Wochenenden vom Internat verbringt Renate wiederum in einer lose formierten RaperClique von alten Schulfreunden, mit denen sie z.B. in Kneipen zum Kickern geht
(vgl.1994:13;21-23): "Wir halten schon zusammen, weil wenn es z.B. Streit geben würde,
wenn jetzt ‘ne Neue reinkommt, weil wir sind ja E.inger, und wir halten schon zusammen.
Uns kriegt man nicht so schnell auseinander. Auch wenn man sich nicht so oft sieht.
Zusammenhalten tun wir schon." (1994:12;5-10). Für Renate hat diese Clique zuletzt eine
bedeutende Regenerationsfunktion übernommen. Die Treffen helfen ihr zumindest für die
Wochenenden die im Internat aufgestauten Frustrationen zu verdrängen: "Wenn ich die
sehe ist eigentlich jedes Wochenende super. Weil ich mich freue, dass ich die mal wieder
sehe. Weil ich mag die einfach mehr wie hier die Älbler." (1994:13;2-5).
Durch Renates permanente Wohnortwechsel ist sie nie in ein festes Nachbarschafts- oder
Wohnumfeld gewachsen. Das Haus, das sie 1993 mit ihrer Familie bezieht, ist sehr
abgelegen, worunter sie an den Wochenenden, die sie zu Hause verbringt, sehr leidet
(vgl.1993:1:30-33). Auch an den Wochenenden, die sie während des Internatsaufenthaltes
zu Hause verlebt, bleibt sie auf die Fahrdienste der Eltern angewiesen. Kennzeichnend für
Renates Sozialisationserfahrungen ist sicherlich, dass sie keine Gelegenheit hatte, sich an
einem Ort heimisch und zugehörig zu fühlen.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Renate informiert sich weder über die Tagespresse noch durch Nachrichten im Fernsehen
über politische Ereignisse. Trotzdem wird im Familienkreis über politische
Nachrichtenbeiträge wie z.B. Krieg in Jugoslawien diskutiert (vgl.1992:15;16-30). Ihr
Wissen etwa um wirtschaftspolitische Zusammenhänge erlangt sie 1993 auch im
Unterrichtsfach ‘Vorbereitung auf Beruf und Leben’ (vgl.1993:22;24ff). Sie liest
regelmäßig die Jugendzeitschriften ‘Bravo-Girl’ und ‘Popcorn’.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Da Renate sowohl 1993 durch den Umzug der Eltern in einen abgelegenen Ort und damit
zusammenhängenden Aufenthalt bei der Familie einer Freundin, als auch 1994 mit Beginn
der Internatszeit nicht in einem kontinuierlich bestehenden Aktionsradius lebt, fehlen ihr
weitgehend die Möglichkeiten zu politischen oder gesellschaftlichen Aktivitäten wie z.B.
dem Besuch eines Jugendzentrums.
3.2
3.2.1
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
CLVIII
Renate besitzt kein ausgeprägtes Nationalitätsgefühl. Sie empfindet zwar keinen
persönlichen Stolz auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit (vgl.1992:40;39ff), ordnet aber
‘den Deutschen’ die positiven Eigenschaften " dass sie Arbeit haben, dass sie eine
Wohnung haben, dass wir ein Industrieland haben, dass wir nicht alles von Hand machen
müssen" (1994:20;19-23) zu und knüpft dementsprechend als Bedingung an die deutsche
Staatsangehörigkeit für Ausländer einen Arbeitsplatz und die Kenntnis der deutschen
Sprache (vgl.1993:38;7-18). Wie zuvor wiederholt sich hier Renates zentrale Vorstellung
der gesellschaftlichen Legitimation des Individuums durch Arbeit, infolge derer sie nicht
arbeitende Asylbewerber ausschließt.
Renates wechselhafter, durch zwei Umzüge geprägter lokaler und sozialer Nahraum
bietet der Jugendlichen kaum Möglichkeiten, die zumindest subjektiv wahrgenommene
zeitliche Vernachlässigung durch die Eltern zu kompensieren. Erst im Internat ist Renate
zumindest der äußere Rahmen einer Orientierung geboten, dem sie sich jedoch aufgrund
von Meinungsverschiedenheiten mit den Erzieherinnen verschließt. Es fällt ihr schwer, sich
dem Internatsleben unterzuordnen und die Erzieherinnen als Autoritätspersonen ernst zu
nehmen. Bei Auseinandersetzungen um Erziehungsmethoden, Verhaltensmaß-regelungen
oder anderen die Disziplin betreffenden Problemen fühlt sich Renate schnell als
"Sündenbock" (1994:3;41).
Ihre finanzielle Situation bleibt über die Jahre hinweg unverändert und läßt auf einen
konstant gesicherten materiellen sozialen Status schließen. Renate beklagt sich weniger
über mangelndes Taschengeld als über die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter um den
Umgang mit Geld. Renate legt mehr und mehr Wert auf modische Kleidung im Stil der
Raper: "Manche, die laufen schon so ‘rum, z.B. die Reutlinger Mädchen, wenn man mit
denen in die Disco geht, da war ich zum ersten Mal drin, ganz normal angezogen, mit
Leggins-Hose und Absatzschuhen, da haben die mich immer so angeschaut. Die gehen mit
ganz weiten Hosen weg und High-Tech-Schuhen. Das gefällt mir jetzt auch schon, so laufe
ich jetzt ab und zu auch ‘rum." (1994:12;25-33).
In diesen Zusammenhang ist auch Renates jugendkulturelle Orientierung einzuordnen,
die sich an die Szene der ‘Raper’ anlehnt und sich sowohl auf musikalische, als auch auf
modische Aspekte bezieht.
Ihre Berufswahl (hauswirtschaftstechnische Angestellte) folgt Renates geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen von der Frau als Versorgerin der Kinder und maximal
halbtags berufstätigen Mutter (vgl.1993:35;21-30). Die Hochschätzung dieser Rolle könnte
in dem am eigenen Leibe erfahrenen Mangel an Fürsorge durch die eigene Mutter
begründet sein.
Auch wenn Renates emotionale Beziehung zu den Eltern gleichbleibend von Vertrauen
und Akzeptanz geprägt zu sein scheint, sind ihre Beziehungen im sozialen Nahraum als
generell inkonstant zu beschreiben. In diesen Kontext ist auch ihre frühe Trennung vom
Elternhaus und der Besuch des Internats zu stellen. Renate beschreibt die Bedingungen der
Trennung in auffällig rationaler Art, ohne den Eltern Vorwürfe zu machen, dass diese sie
alleine gelassen haben. Besonders dem Mangel an verantwortungsbewußten
Ansprechpartnern ist es zuzuschreiben, dass Renate sich generell vom Leben ungerecht
behandelt fühlt.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Renate duldet nur jene Ausländer, von deren Anwesenheit in Deutschland sie sich Vorteile
in Bezug auf Freundschaften ("Ich hab’ halt meistens nur ausländische Freunde gehabt."
1994:18;36-37), kulturelle Bereicherung ("...weil alle sind Menschen. Würde es die
Ausländer nicht geben, würde es bei uns auch keine Spaghettis oder so was geben ... was
würden wir dann überhaupt essen, nur Kartoffeln?" 1994:20;7-12), oder durch ausländische
Hilfskräfte weniger und bessere Arbeit tun zu können ("...dass die Deutschen nicht mehr so
viel arbeiten müssen, die Ausländer arbeiten ja auch alle mit uns." 1994:18;7-9) erhofft.
CLIX
Da das Tauschgeschäft ‘Toleranz gegen Leistung’ im Umgang mit Asylbewerbern nicht
aufzugehen scheint, bleiben sowohl Renates Verständnis, als auch ihre empathischen
Bemühungen begrenzt.
Ihr Selbstwertgefühl ist nicht zuletzt aufgrund mangelnder Bestätigung im sozialen
Nahraums schwach ausgeprägt. Sie findet sich häßlich (vgl.1993:32;33) und hat Komplexe
wegen ihrer Kleidung: "Ich habe immer so Schrottkleidung, vielleicht habe ich auch wegen
dem schlechte Laune." (1993:33;6-11).
Ihre Frustrationsschwelle ist extrem niedrig (vgl.1994:19-29) und obwohl sie diesbezüglich
auch Tendenzen zu reflexiven Überlegungen zeigt ("...dass ich mich nicht wegen jedem
Ding bei den Erzieherinnen so aufreg, ich weiß nicht, ich reg’ mich halt immer gleich auf.
Sonst würd’ ich eigentlich nichts verändern, ich bleib’ so wie ich bin." 1994:17;13-17),
führen die ständigen Auseinandersetzungen mit den Erzieherinnen im Internat dazu, dass
sich Renate mehr und mehr als "Sündenbock" (1994:3;41) begreift.
In ihren Problemen mit dem Internatsleben spiegelt sich Renates mangelnde Bereitschaft
zur Übernahme von Verantwortung sowohl für die eigene Person als auch die ihr im
Internat aufgetragenen ‘Sonderarbeiten’ in Form von ‘Diensten’ wieder. In schwierigen
Situationen kann sie sich nicht den Auseinandersetungen mit den Erzieherinnen stellen
und ist auf ihren Vater angewiesen, der für sie die Konflikte austragen muss.
4.
Zusammenfassung
Renates Fremdenfeindlichkeit entwickelt sich über anfängliche, durch für sie bedrohliche
Erfahrungen mit Asylbewerbern in ihrem Wohnort verursachte Angstgefühle hin zu
pauschalen Vorurteilen und Ausgrenzungsforderungen gegenüber den nicht-arbeitenden
Asylsuchenden im allgemeinen. Im Gegensatz dazu nimmt ihre Gewaltbereitschaft
kontinuierlich ab, wohl deshalb weil ab 1993 durch das gemeinsame Verbringen der
Freizeit mit der Freundin, bei der sie zwischenzeitlich wohnt, und 1994 durch den
Internatsbesuch und das Erlernen einer gewissen Selbstkontrolle bei eigener
Aufgebrachtheit solche Situationen, in denen Renate früher handgreiflich geworden ist
(hauptsächlich Auseinandersetzungen unter Freundinnen) sich nicht mehr ergeben.
Renate zeigt das Bild einer Jugendlichen, die mit sich selbst und ihrer Umwelt äußerst
unzufrieden ist. Diese Verdrossenheit geht über pubertätsspezifische Irritationen weit
hinaus und liegt in Renates mangelnder Möglichkeit und Fähigkeit zur eigenen
Lebensgestaltung begründet. Ihr Leben ist von permanenter Fremdbestimmung
gekennzeichnet, angefangen mit der zeitlichen Einbindung der Eltern in ihre Berufsarbeit
als Determinante des familiären Interaktionsmusters bis hin zu ihrer an das Internat
gekoppelten Ausbildung. Die einzig verlässlichen Werte, die sie im Elternhaus
internalisieren konnte, sind ‘Arbeit’ und ‘Leistung’. Diese Kategorien werden für Renate
zum Maß von Anerkennung und sozialer Erwünschtheit. Die für sie früher zentrale
Vorstellung, nach der es wichtiger war, dass Arbeit Spaß macht, als viel Geld zu verdienen
(vgl.1993:26;2-10), verwirklicht sich mit der Ausbildung zur hauswirtsschaftstechnischen
Angestellten nicht. Renate findet sich in einem Ausbildungsalltag wieder, den sie als
mühsam und anstrengend empfindet und auf den sie mit Frustration reagiert.
Diese Erfahrungen unterstützen Renates durchgängige Antipathie gegenüber
Asylbewerbern, die ihrer Norm von Leistungsbereitschaft nicht genügen. Da sie zunächst
unter dem zeitaufwendigen Arbeitsalltag ihrer Eltern als auch später unter der eigenen
Ausbildung sehr leidet, empfindet sie es als ungerecht, dass Asylbewerber für ihre
Daseinsberechtigung in Deutschland und die damit verbundene soziale Unterstützung nicht
so hart arbeiten müssen wie sie selbst. Diese Schere wird sich mit Renates Überforderung
durch die Internatsstrukturen möglicherweise weiter öffnen und es liegt nahe, dass sie ihre
familiären und persönlichen Unzulänglichkeiten mit immer stärker werdenden
Ressentiments gegenüber Asylbewerbern kompensieren wird.
CLX
Robert 1992 - 1994
"Nazi, das ist für mich Hitler, speziell Hitler und die, wo also Ausländer - wenn hier jetzt
ein Türke wäre und ich ginge auf ihn zu und der hat mir nichts getan und ging hin mit dem
Messer oder was weiß ich und würde ihn umbringen, ohne Grund, das ist für mich ein
Nazi. Aber wenn jetzt zu mir einer sagt, ‘Hey, Wichser’ oder so, so mache ich mir
eigentlich nichts daraus. Oder es wird rabiat oder so, ‘Hurensohn’ oder so, das betrifft mich
ja nicht alleine, das betrifft auch meine Mutter, und dann werde ich rabiat." (1992: 22;1727)
"Ja, ich meine gerade noch mal Rechtsradikalismus, die wollen, die meinen, es wären zu
viele Ausländer. Okay, es werden immer mehr. Aber warum lassen sie dann ihre Wut an
Ausländern heraus und nicht am Staat, an der Regierung? Da ist halt schwer hinzukommen.
Das ist es. Also die müssen sich irgendwo abreagieren, und die finden nichts anderes wie
Ausländer." (1993: 10;27-34)
"Da braucht man nicht auf die Nationalität zu achten, da gibt es - auf der einen Seite gibt es
Arschlöcher und auf der anderen Seite auch." (1994: 36;26-28)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Robert, geb. 1979, ist katholisch und lebt bei seiner Mutter in einem kleinen,
landwirtschaftlich geprägten ehemaligen Dorf (ca. 1.800 Einwohner) auf der Schwäbischen
Alb, das seit der Kreisreform in den 70er Jahren ein Stadtteil der 10 km entfernten Stadt A.
und zugleich wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt sowie zentraler Beschulungsort in
dem ansonsten schwach strukturierten ländlichen Raum ist. Er hat zwei ältere
Halbschwestern, von denen eine zunächst während des Untersuchungszeitraumes noch zu
Hause wohnt, aus beruflichen Gründen bald aber ebenfalls auszieht. Die Eltern hatten sich
nach seiner Geburt getrennt. Sein Vater arbeitet bei der Bahn und lebt mit seiner neuen
Frau ca. 1 1/2 Fahrstunden von ihm entfernt. Seine Mutter arbeitet anfangs als Näherin in
einer Textilfabrik in A., verliert jedoch 1994 infolge branchenbedingter
Krisenerscheinungen ihren Arbeitsplatz.
Robert wohnt mit ihr und zeitweilig auch mit ihrem Freund in einem Eigenheim. Er
besucht 1992-93 die Hauptschule und verfügt in dieser Zeit über ein Taschengeld von
100,-DM, das er 1993 noch durch Aushilfsarbeit in einem Zimmerei-Betrieb um 100,-DM
erhöht. 1994 schließt er die Hauptschule erfolgreich ab und beginnt eine Ausbildung als
Forstwirt in einem Revier, das ca. 10 km von seinem Heimatort entfernt ist. Er erhält 700,DM Ausbildungsvergütung.
Bei den Befragungen ist er modisch und zunächst unauffällig gekleidet; sein Outfit
entwickelt sich dann während des Untersuchungszeitraumes zu einer Mischung aus Punkund Heavystil: u.a. Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln, Irokesenschnitt, der in einem
dünnen Pferdeschwanz bis auf die Schultern ausläuft, sechs silberne Ohrringe im linken
Ohr. Er ist groß und kräftig gebaut.
2.
Politische Orientierungen
2.1
Allgemeine Orientierungen
Robert zeigt sich zu Beginn des Untersuchungszeitraumes interessiert an Themen der
Tagespolitik, setzt sich mit ihnen auseinander und nimmt im Gespräch des öfteren auf sie
Bezug. Er informiert sich u.a. eigenständig über den Nationalsozialismus, noch bevor
dieser Bereich in der Schule behandelt wird. Geschichte ist sein Lieblingsfach, in dem er
1994 auch seine Abschlussprüfung über den zweiten Weltkrieg absolviert.
CLXI
Anfangs ordnet Ro. sich klar einer politischen Richtung zu. Diese Selbsteinordnung
verwischt im Laufe der Zeit allerdings und wird von einer mehr individualistischen
Politikausrichtung abgelöst. Zunächst gibt er als "eigene Meinung" an: "Ich bin links" (19;
38). Inhaltlich begründet er diese Zuordnung mit der Bevorzugung einer bestimmten
Musikrichtung sowie mit der Ablehnung sowohl der Nähe neonazistischer Jugendlicher zur
nationalsozialistischen Geschichte (1992:20;16-18) als auch ihrer ungerechtfertigten
Gewaltanwendung gegen unschuldige Menschen (1992:20;4-8):
"Erstens mal gefällt mir diese Musik, zweitens mal hab ich was gegen Nazis." (1992;20;12)
Neben seiner Zuordnung zu den Linken rechnet er sich in diesem Jahr auch den Heavies
und den Punkern zu (Fb). Zu seinen Gegnern erklärt er Skinheads, wobei er zwischen ihnen
und Neonazis nicht zu unterscheiden weiß, so dass er beide Begriffe synonym verwendet.
Im darauffolgenden Jahr zeigt er sich empört über die Geschehnisse in Solingen, die für ihn
zu den wichtigsten des Jahres zählen. Weiterhin rechnet er sich zu den Heavies und den
linken Jugendlichen (Fb); als Gegner erachtet er, u.a. und vor allem bedingt durch diese
Ereignisse, Skinheads, Hooligans und deutschnationale Gruppen. Mit der jüngeren seiner
Schwestern führt er in dieser Zeit heftige Streitgespräche, da sie sich einer Clique
rechtsradikaler Jugendlicher angeschlossen hat. Sie befürwortet diese Gewaltexzesse, so
dass er sich in Debatten "zusammenreißen" muss, damit ihm "nicht" die "Hand ausrutscht"
(1993:4;30-32).
Im weiteren Verlauf des Untersuchungszeitraumes werden seine politischen Aussagen
unbestimmter. So will er sich 1994 "nicht mehr ganz so krass" (1994:32;1) auf eine
politische Richtung festlegen, sondern vertritt ein Muster individualisierter
Politikausrichtung:
"Ja, dass ich jetzt sage, dass ich eher links oder eher rechts bin. Da will ich eigentlich keine
Seite an mich ziehen oder so, da will ich auf keiner Seite stehen. Oder ich vertrete meine
eigene Meinung, andere dürfen ihre Meinung haben." (1994:32;3-7)
Er ordnet sich selbst keiner Gruppe mehr zu, weder politisch, noch jugend- oder
subkulturell. Auch gibt es für ihn keine politischen Gegner mehr. Skinheads, rechte
Jugendliche und Ökos kann er lediglich ‘nicht so gut leiden’ (Fb). War er anfangs
interessiert an Politik, zugleich aber auch verunsichert, weil er nicht den Eindruck hatte,
noch zu durchschauen, was eigentlich politisch geschehe, und auf alles gefaßt sein zu
müssen, weil die Zukunft ihm unberechenbar erschien (1992:Fb), so steht er der
institutionellen Politik 1994 völlig distanziert gegenüber:
"Immer große Sprücheklopfer, Versprechungen bis - das Blaue vom Himmel und später,
wenn du sie gewählt hast, ein leeres Versprechen." (1994:30;23-25)
Für Geschichte allerdings interessiert er sich weiterhin und eignet sich dabei nicht nur
historische Kenntnisse an, sondern entwickelt dabei ein historisches Bewußtsein, das ihm
hilft, komplizierte Alltagsgeschehnisse einzuordnen und sich zum Beispiel in die Lage
Asylsuchender hineinzuversetzen.
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Ro. zeigt über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant eine entschiedene
Befürwortung der Gleichwertigkeit aller Menschen und gleichzeitig eine Wahrnehmung
problematischer Begleiterscheinungen des Asylrechts und der Lebensbedingungen der hier
arbeitenden Migranten. Die Auseinandersetzung mit Asylmißbrauch (1992), mit
Arbeitsplatzmangel (1993) und individuell ungerechtfertigten Verhaltensweisen von
Ausländern
(1994)
führt
nicht
zu
einer
Untergrabung
seiner
Gleichwertigkeitsüberzeugungen. Diese Überzeugungen werden vielmehr bestärkt durch
seine Kenntnisse über Politik und Geschichte und über das früh entwickelte historische
Bewußtsein.
CLXII
Im einzelnen spricht Ro. sich 1992 unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit sowohl für
die Gleichwertigkeit aller Menschen - "Jeder ist eigentlich gleich" (1992:27;14) - als auch
für Hilfe für Kurden - "Ich finde, dass man denen helfen sollte, das sind ja auch
Menschen" (1992:27;25-26) - und für das Asylrecht aus: "Das sind Menschen wie wir"
(1992:21;2). Zugleich ist er entschieden gegen Asylmißbrauch ("Schweinerei"; 1992:21;7)
und gegen eine Haltung von Ausländern, die zur wirtschaftlichen Nutznießung auf Kosten
des deutschen Staates führt. Zudem hält er es für "ungeschickt", wenn zukünftig die Anzahl
der Ausländer, bei denen er nicht nach jeweiligem Status zu unterscheiden weiß, die
Anzahl der Deutschen in der BRD übertreffen sollte (1992:22;13). Nicht aus Furcht vor
Überfremdung hält er dies für "ungeschickt", sondern vielmehr aus Sorge vor einer
Verarmung der BRD, die diese in eine internationale Ohnmachtsposition führen würde. Er
ist stolz auf seine deutsche Nationalität, weil er mit Deutschland ebenso Wohlstand
assoziiert wie Wohlbehagen (1992:23).
1993 zeigt Ro. sich emotional aufgewühlt durch die Geschehnisse in Solingen. Er erklärt
sich diese Gewalttaten mit politischem Fanatismus, Suche nach Zugehörigkeit und
Versuche des Selbstbeweises der Täter (1993:2). Unter dem Gesichtspunkt der
prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen - "Ausländer sind auch Menschen, auf das
kommt es an." (1993:54;7-8) - befürwortet er die rechtliche Gleichstellung von Migranten
in der BRD und spricht sich für Toleranz gegenüber fremden religiösen und kulturellen
Gepflogenheiten aus (1993:55). Deutsche haben seines Erachtens in der BRD kein
Vorrecht auf einen Arbeitsplatz. Anderseits ist Arbeitslosigkeit für ihn mittlerweile eines
der gesellschaftlichen Hauptprobleme neben dem Umgang mit Ausländern in der BRD. Ro.
geht hier nicht von einer eigenen potentiellen Betroffenheit aus; denn seine berufliche
Zukunftsperspektive erachtet er aufgrund einer mündlichen Zusicherung eines
Zimmermannmeisters, ihn zu beschäftigen, als sicher. Er versetzt sich vielmehr in die Lage
von Arbeitsplatzsuchenden, denen seines Erachtens Ausländer zwar Arbeitsplätze
wegnehmen - "Gerade Ausländer sind viele da, und die nehmen schon Arbeitsplätze weg.
Nichts gegen Ausländer, aber das stimmt" (1993:53;8-10) -, die aber lernen müssten, mit
dieser Konkurrenz zu leben, weil es wichtig sei, "dass jeder irgendwie arbeiten kann"
(54;37). Das Asylrecht sollte seines Erachtens beibehalten, aber verschärft werden, und
auch dem `Import` von billigen Arbeitskräften aus Polen sollte ein Riegel vorgeschoben
werden.
1994 vertritt Ro. immer noch das Motto der Gleichwertigkeit aller Menschen und meint
bezüglich Nichtdeutschen: "Das sind genauso Menschen wie ich." (1994:36;21). Nach wie
vor ist er stolz, Deutscher zu sein, wobei er als Begründung die Aufbauleistungen der
Deutschen nach dem 2. Weltkrieg anführt (1994:45). Allerdings führt er auch an, dass man
sich als Deutscher wegen des Nationalsozialismus und wegen der fremdenfeindlichen
Vorkommnisse in jüngster Zeit durchaus schämen kann (1994:44-45). In gewisser Weise
entsprechend seiner nunmehr individualisierten Politikausrichtung personalisiert und
individualisiert er Verantwortungszuschreibungen für gesellschaftliche Problemlagen:
"Da braucht man nicht auf die Nationalität zu achten, da gibt es - auf der einen Seite gibt es
Arschlöcher und auf der anderen Seite auch." (1994:36;26-28)
Nationalität ist für ihn nach wie vor irrelevant, wie jetzt auch Partei- oder politische
Richtungszugehörigkeit. Offenbar zählt für ihn zur Zeit nur, seine Ruhe haben zu wollen:
"Solange man mich in Ruhe läßt, laß ich auch den am Leben, wo mich am Leben läßt."
(1994:33;34-36).
2.3
Gewaltakzeptanz
Ro. ist in seiner Lebensgeschichte und in seinem Alltag mit der Ausübung körperlicher
Gewalt vertraut. Er bezeichnet sich selbst als ein Produkt der Vergewaltigung seiner Mutter
durch den Vater - "Und meine Mutter hat er vergewaltigt, dabei bin ich dann
herausgekommen" (1992: 13;28f.) -, er weiß von einem sexuellen Mißbrauchsversuch
CLXIII
seines Vaters an seiner älteren Schwester, er erwähnt heftige Schläge als völlig überzogene
Sanktionsform seitens eines ehemaligen Freundes seiner Mutter ("zwei Zahnstückchen
verloren"; 17;39 ff.), kennt körperliche Strafen in Gestalt von "Ohrfeigen" von seiner
Mutter (die ihm aber lieber, weil schneller vorübergehend, sind als Liebesentzug ;1992: 8f.)
und führt einen Bekannten seiner Mutter an, der wegen Tötung dreier Ausländer im
Gefängnis seine Strafe verbüßt (1992). Hinzu kommt, dass Ro. selbst Erfahrungen mit
"Klopfereien" im Cliquenverbund hat (s.u.)
Trotzdem läßt Ro. selbst sich nach eigenem Bekunden nicht schnell zu Gewalttätigkeit
provozieren - "ich bin nicht der aggressive Typ, das möchte ich auch nie werden" (1994:
15;20f.) - es sei denn, jemand nennt ihn "Hurensohn": "... dann werde ich rabiat!"
(1992:22;27). Dieser Ausdruck bedeutet für ihn wohl auch gerade wegen der ihm
bekannten Umstände seiner Zeugung eine schwerwiegende Ehrverletzung seiner Mutter
und seiner selbst. Während Ro. auf andere Formen der Provokation aufgrund eines sicheren
Selbstwertgefühls nicht reagiert und sich sogar von anderen als "Angsthase" und
"Hosenscheißer" beschimpfen läßt - "Ich brauche meine Ehre nicht zu beweisen. Ich weiß,
wer ich bin, was ich bin." (1994:38;36-37) -, darf ihn selbst ein Freund nicht aus Spaß
ungestraft "Hurensohn" nennen:
"Der hat das nie wieder zu mir gesagt. Gott sei Dank habe ich ihn nicht besser erwischt."
(1994:38;30-32)
Zur Ausübung von körperlicher Gewalt braucht Ro. kein Feindbild, das diese Gewalt
scheinbar legitimieren würde. Üben Menschen in seinem sozialen Umfeld Gewalt aus, so
sind es für ihn gegebenenfalls eher zufällig Ausländer: "Es gibt einige, wo hier also schon
der Größenwahn gepackt hat." (1992:37;36-37). Es drängt sich bei seinen Ausführungen
der Eindruck auf, dass Ro. konkrete Menschen wegen ihres Verhaltens, nicht aber wegen
ihrer Gruppenzugehörigkeit ablehnt. Ebenso ist dies bei der Darstellung einer Schlägerei
mit Rapern zu erkennen. Auch hier betont er, nichts grundsätzlich gegen Raper
einzuwenden zu haben, sondern nur gegen "spezielle" (1992:30;37) negativ eingestellt zu
sein.
Notwehr, das Beschützen der Schwächeren und Verantwortungsgefühl gegenüber seinen
Freunden sind für Ro. legitime Gründe für eine Schlägerei. Für eine evtl. auftretende
Notwehrsituation hat er sich 1992 mit einem Taschenmesser ausgestattet. Seine
Bereitschaft, Schwächere auch mittels Gewalt zu schützen, tritt auf, wenn er und seine
Freunde Gewalttätigkeit von "Großen" gegenüber "Kleinen" beobachten; d.h. für ihn gilt
bei Schlägereien ein klarer Fairneßkodex (1992:30). Dieser zeigt sich auch darin, dass er in
Schlägereien andere traktiert, bis sie am Boden liegen, dann allerdings für ihn der Kampf
zu Ende ist. Er würde nicht weiterschlagen oder treten, "außer er muckt dann nochmal auf"
(1992:31;21). Seinen Freunden hilft er in jedem Fall, auch wenn er selbst in der jeweiligen
Situation am liebsten eher keine Gewalt anwenden würde:
"Dann habe ich gesagt, ‘Okay, wenn ihr Probleme habt, ich mache mit’, aber sonst, wenn
sie mir nichts getan haben, dann mache ich eigentlich nicht mit, außer ich meine jetzt, ich
helfe meinen Freunden, das ist egal in welcher Situation." (1992:29;34-38)
Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen sieht er sich jedoch nicht nur als der heldenhafte
Retter in der Not und schon gar nicht als Opfer, sondern er weiß genau, wann er selbst
nicht ganz unschuldig am Geschehen war. Bei einer dann erfolgenden entsprechenden
Reaktion ist für ihn Gegengewalt fair und begründet: ""Ich meine, wenn ich irgendwie eine
blöde Gosch habe und bekomme eine drauf, dann weiß ich, warum." (1993:4;10-11).
Neben gelegentlichen Schlägereien läßt er weitere alltägliche Formen von Devianz
erkennen. So erwähnt er 1992, beim Ladendiebstahl erwischt worden zu sein und sich
nunmehr nur noch an Vandalismusaktionen wie Zerstörung von Blumenkästen und
Zweckentfremdung von Mercedessternen zu beteiligen. Ab 1993 treten diese Delinquenzbzw. Gewaltformen nicht mehr auf. In diesem Jahr wird allerdings deutlich, dass sich in
einer Ohnmachtssituation seine Wut in Form von Gewalt entladen kann. So schlug er in
CLXIV
einem Streit mit seiner ehemaligen Freundin die Tür ihres Elternhauses ein. Wie schon bei
seinen Wutausbrüchen im Kontext von Ehrverletzungen wird nach seiner Wahrnehmung
ein solch destruktiver Einsatz von Körperkraft durchaus durch seinen jeweiligen ‘Erfolg’
nachträglich gerechtfertigt:
"Und dann hat mich die Wut gepackt und habe halt schier die Haustür eingeschlagen. Das
war alles. (...) Dann war sie aber lammfromm." (1993:45;32-36)
1994 ist er sich darüber im klaren, dass eine solche Ausübung von Gewalt ihn teuer zu
stehen kommen kann. Aus diesem Grunde hält er sich mehr zurück.
Ro. wendet über den Untersuchungszeitraum kontinuierlich keine politisch motivierte
Gewalt an. Ein derartiges Verhalten lehnt er grundsätzlich ab, weil er jegliche
Schuldzuschreibung von gesellschaftlichen Problemen an unschuldige Menschen verurteilt.
Wenn Ausländer sich wie in Solingen gegen rechtsextremistisch motivierte Gewalt zur
Wehr setzen, so versteht er dieses Handeln als einen Ausdruck der Selbstverteidigung: "Ich
hätte genau dasselbe gemacht (...) wenn ich nichts gemacht hätte, und einer schlägt mir eine
hin, dann haue ich auch zurück. Das ist genau gleich" (1993:4;10-14).
Allerdings lehnt er es ab, wenn aus Notwehr Rache wird, unter der dann wieder
Unschuldige leiden (1993:7-8). Für Gewaltexzesse wie in Solingen würde er eine
Ausweitung institutioneller Gewaltausübungsmöglichkeiten zu `pädagogischen Zwecken`
begrüßen: Seines Erachtens sollte man die Täter "auch mal ein bißchen anfackeln (...), dann
wissen sie, wie schlimm das ist" (1993:3;12-18). Grundsätzlich befürwortet Ro. darüber
hinaus eine weitere Aufrüstung der Polizei zum Zwecke des Kampfes gegen Kriminalität.
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Im Laufe des Untersuchungszeitraumes haben sich Ro.`s zentrale Problembelastungen
reduziert. 1992 nennt er vor allem Schwierigkeiten mit seinen Eltern (vgl. Kap. 3.1.2).
1993 gibt er an, keine Probleme zu haben. 1994 bleibt er dabei, vermerkt aber doch starke
Bedürfnisse nach einer verbesserten Wohnsituation und nach mehr Zeit.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Ro. ist im Vergleich mit den belastenden Aspekten der familiären Vergangenheit 1992 mit
seinem Leben bei seiner Mutter und seiner Stiefschwester recht zufrieden. Seine
alleinerziehende Mutter ist gezwungen, ganztägig zu arbeiten und kann in ihrem engen
zeitlichen Rahmen und vor allem auch aufgrund ihrer Stimmungsschwankungen und einer
Alkoholismusgefährdung dem Jungen wenig Rückhalt und Unterstützung bieten. Diese
Umstände räumen ihm im Vergleich zu anderen Freunden in seinem Alter einen relativ
großen Freiraum im Hinblick auf Ausgangsregelungen, Taschengeldverwendung,
Kleidungsstil u.ä. ein, bieten ihm auch ein Gefühl von Sicherheit (vgl. 1992: 17;10f.) und
Akzeptanz als eigenständiger Persönlichkeit - "Sie nimmt mich schon für voll" (1992;
16,15) -, können aber seinen Bedürfnissen nach Geborgenheit und Kommunikation, auch
wenn gilt: "Wir sind eigentlich schon ganz offen, reden soviel untereinander; wenn ich
etwas zu sagen habe, kann ich das sagen" (1992: 5;34f.), nur eingeschränkt Erfüllung
bieten. Dahingehende sozio-emotionalen Ressourcen findet er mehr bei der neuen Frau
seines Vaters. Er selbst fühlt sich für seine labile und "launische" (vgl. 1992; 4;29) Mutter
verantwortlich und drängt sie, angemessen mit Alkohol umzugehen. In der Vergangenheit
hat er auch versucht, sie gegenüber ihrem gewalttätigen ehemaligen Freund zu beschützen.
Im Unterschied zu seiner Kindheit steht er aufgrund seiner mittlerweile bestehenden
Kenntnisse über Alkoholmißbrauch und Gewaltausübung gegen seine Mutter und seine
Schwester inzwischen dem Vater distanziert und kritisch gegenüber. Insbesondere lehnt er
‘Von-Mann-zu-Mann’-Gespräche über Freundschaften mit Mädchen unter Hinweis auf den
CLXV
Mißbrauchsversuch ab. Unproblematisch ist das Verhältnis zu ihm keinesfalls, und er
besucht ihn deshalb vor allem wegen dessen Ehefrau.
Im wesentlichen bleiben diese emotionalen Verhältnisse bis Ende des Untersuchungszeitraumes gleich gelagert. 1994 hat seine Mutter - inzwischen arbeitslos - einen
neuen Freund, und Ro. schläft oftmals wegen Blockunterrichts wochenlang nicht mehr zu
Hause, sondern bei einem Ausbildungskollegen und Freund. Allerdings unterstützt er sie
mittlerweile finanziell. Seinen Vater besucht er seit seiner Trennung von der Ehefrau nur
noch, um die Alimente abzuholen, die dieser nicht pünktlich zahlt. Dessen ( inzwischen
Ex-)Frau sieht er zu seinem Bedauern nur noch selten.
Mit seiner jüngeren Schwester hat er in familiärer Hinsicht die engste Beziehung. Im
Verlaufe des Untersuchungszeitraumes zieht diese von zu Hause aus, so dass er sie seltener
sieht. Von ihr fühlt er sich durchgängig akzeptiert und unterstützt, er kann sich auf ihre
tatkräftige Hilfe und auf ihre Gesprächsbereitschaft verlassen.
Unter seinen sonstigen sozialen Kontakten spielen die Mitschüler in seiner Klasse eine eher
untergeordnete Rolle. Das Verhältnis zu ihnen ist ebenso oberflächlich wie unkompliziert.
Wichtiger sind ihm seine 5-6 z.T. ausländischen Freunde, mit denen er in einer Clique
einen großen Teil seiner Freizeit verbringt. Entweder geht er mittags zu ihnen mit nach
Hause, weil er nicht weiß, wohin er sich begeben soll, oder er trifft sich mit ihnen im
Jugendzentrum. Er kommt erst gegen Abend nach Hause, wenn seine Mutter wieder
anwesend ist. Wichtig an dieser Clique ist ihm der bedingungslose Zusammenhalt ("wie
Pech und Schwefel"; 1992: 34,13), das gegenseitige "vollste(s) Vertrauen" (1992: 30;5)
sowie die Gesprächs- und die selbstverständliche Hilfsbereitschaft untereinander. Letztere
bezieht sich auch auf gewalthaltige Solidarität bei (in diesem Fall nur verbalem) Angriff:
"...oben am Bahnhof waren mal so Typen, auch rechts, und die haben zu einem Kumpel
von mir gesagt.... `Scheiß Ausländer!` und der hatte überhaupt keinen Grund gegeben, der
hat nichts gemacht und so, dann haben wir uns zusammengesetzt, dann haben wir darüber
geredet, was sollen wir jetzt da tun, dann haben sie gesagt, denen hauen wir eine auf die
Schnauze, dann habe ich gesagt: `O.k., wenn ihr Probleme habt, ich mache mit`... ich helfe
meinen Freunden, das ist egal in welcher Situation..." (1992: 29;26ff.)
Das politische Einstellungsspektrum der Freundesgruppe beschreibt er als seltsame
Mischung von "Heavy, Punk, also mehr, wir sind gerade alle mehr links, links, also etwas
rechts" (1992: 35;24f.) und fährt dann, in der Absicht zu erläutern, fort:
"gerade so zu denen, die wir nicht ausstehen können, wir gehen nicht darauf zu, dass man
gleich draufschlägt, man redet dann mit dem, und dann wenn es sich entsprechend ergibt,
bekommen sie eine auf die Nuß oder auch wir und dann ziehen wir ab. So sind wir " (ebd.).
Mit Beginn der Berufsausbildung sieht er diese Freunde weniger.
Im Laufe des Untersuchungszeitraumes hat er gelegentlich Freundinnen, wie seine anderen
Freunde auch, aber ohne mit ihnen ernsthaft engere Beziehungen aufzubauen.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Wie erwähnt interessiert sich Ro. stark für Geschichte und besorgt sich eigenständig
Bücher zu dem ihn besonders fesselnden Thema "Nationalsozialismus". Diese
Informationen, die erweitert werden durch den schulischen Unterricht, bringt Ro. in einen
Zusammenhang mit seinen Reflexionen über aktuelle politische Themen und
Fragestellungen, so dass bei ihm von der Herausbildung eines historischen Bewußtseins
gesprochen werden kann. Informationsträger politischer Informationen sind vor allem
Berichte im Fernsehen. Zeitungen liest er selten, hingegen Illustrierte regelmäßig. Mit
seiner Mutter redet er eher weniger über politische Tagesthemen, während er sich mit
seiner Schwester intensiv auseinandersetzt. Sie bewegt sich seit 1993 in einer rechtsextrem
orientierten Clique. Obwohl Ro. dies nicht so wahrnimmt, scheint es doch so, als wenn sie
auf seine politische Entwicklung einigen Einfluss ausübt. Hinzu kommt, dass er zeitweilig
mit einem Mädchen aus dieser Szene befreundet ist. Lehnt er 1992 rechtsextremistische
CLXVI
Jugendliche noch entschieden ab, so hat er 1994 auch Bekannte, die sich zwar in einer
rechtsextremistischen Szene bewegen, ihm aber menschlich sympathisch sind:
"Und seitdem kennt man sich, ja. Und da hat keiner gesagt, ‘Hey, linke Sau’ oder so. Das
ist alles friedlich zugegangen, haben zusammen gelacht, haben zusammen Scheiß gebaut,
zusammen nach Hause gelaufen im Vollsuff, und das war es."(1994:37;24-29).
Zunächst nur über Bekannte seiner Schwester, später auch über "Kumpels" und über seinen
Vater kommt Ro. seit 1993 zudem an rechtsradikale Musik. Sein Vater kann ihm
entsprechende CDs besorgen, die auf dem Verbotsindex stehen. Ro. reizt dabei nicht der
Hauch des Verbotenen, sondern er findet Gefallen an der Musik wie auch an den Texten
jener Lieder, die individuelle Gewaltausübung thematisieren - Texte also, die seines
Erachtens "ganz neutral sind" (1993:39;7):
"Ich meine, so vom Text, ja, es geht. Aber ich meine, ich denke nicht daran, dass ich jetzt
da sage, ich höre rechtsradikale Musik, also muss ich auch ein Rechtsradikaler sein. Und
mir gefällt die Musik. Und ab und zu sagt halt einer, ‘Was hörst du auch für eine Musik’,
dann sage ich, ‘Mir gefällt sie. Und dann werde ich halt auch immer blöd angeschaut."
(1993:38;34-40)
Hierin ist vermutlich eine der Ursachen dafür zu sehen, dass Ro. sich im Laufe des
Untersuchungszeitraumes keiner politischen Richtung mehr zuordnen will.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Ro. zeigt frühestens 1994 zwar eine schwache, durch vermutete geringe Erfolgsaussichten
und ein knappes Zeitbudget sogleich eingeschränkte Engagementbereitschaft in Fragen des
Umweltschutzes (vgl. 1994: z.B. 31), engagiert sich aber in keinem Verein und in keinerlei
Gremien zwecks Erreichung gesellschaftlicher und politischer Ziele, zumal er solche auch
nicht als für ihn wirklich bedeutsame Anliegen zu erkennen gibt. In der Schule fühlt er sich
weder ohnmächtig, noch zeigt er sich interessiert, an der Gestaltung des Schullebens
mitzuwirken. Seine politischen Ansichten sind offenbar für ihn primär eine persönliche
Angelegenheit. Institutionelle Politik nimmt für ihn mehr und mehr Züge des Absurden
("alle reden über Kohl, dabei macht er doch gar nichts"; 1994: 28; 31), Verlogenen (vgl.
ebd.: 43;27) und des Ausbleibens positiver Ergebnisse an:
"Die Politik, was die machen, die kannst Du gleich untern Teppich kehren." (1994: 29;30)
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Ro. hat kein übersteigertes Nationalempfinden. Er ist wegen der Aufbauleistungen nach
dem 2. Weltkrieg, des Wohlstandes und seines Wohlgefühles in diesem Land stolz, ein
Deutscher zu sein. Allerdings ist er zugleich durchaus kritisch Deutschen gegenüber, die
nach seinem Dafürhalten aus der nationalsozialistischen Geschichte nichts gelernt haben
und heute wieder rechtsradikal motivierte Gewalttaten ausüben bzw. befürworten. Bedingt
durch seine Geschichtskenntnisse ist er grundsätzlich für das Asylrecht, ohne aber Fälle zu
beschönigen, bei denen er dessen Mißbrauch wahrnimmt. Für Ro. zählt nicht die gruppale
oder ethnische Zugehörigkeit, sondern der Charakter und die Menschlichkeit von
Einzelpersonen.
Ro.s regionaler und lokaler Sozialraum ist als Beeinflussungsfaktor seiner politischen
Überzeugungen und seiner Gewaltbereitschaft nicht erkennbar. Ein lokales Territorialverhalten z.B. aufgrund mangelnder Angebotsvielfalt oder etwaiger Konkurrenz um
Mädchen ist nicht vorhanden.
Entscheidend sind vielmehr seine biographischen Erfahrungen und die damit in
Verbindung stehenden Beziehungen im sozialen Nahraum. Bedingt durch eigene
Erfahrungen ist ihm die Ausübung körperlicher Gewalt weder fremd noch grundsätzlich
moralisch bedenklich. Andererseits aber lehnt er aus dem gleichem Grunde unbegründete
CLXVII
Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige entschieden ab. Er selbst sah in seiner
Vergangenheit sich und auch seine Mutter und seine Schwester einer solchen Gewalt
ausgeliefert. Diese Opferrolle scheint ihm (noch) so präsent zu sein, dass er aufgrund von
Empathie ausdrücklich politisch motivierte Gewalt gegenüber Menschen, die für z.B.
Ressourcenknappheit in der BRD nicht persönlich verantwortlich gemacht werden können,
verurteilt. Hinzu kommt, dass er ausländische Freunde hat, mit denen er sich aufgrund
eines ihm sehr wichtigen Ethos von bedingungslosem freundschaftlichem Zusammenhalt
solidarisch fühlt und auch alltagspraktisch in Konfliktsituationen notfalls gewaltsamwehrbereit zeigt.
Sein Sozialstatus ist ihm weder explizit wichtig, noch erscheint ihm ein späterer
gesicherter Lebensstandard gefährdet. Er ist nicht leistungsorientiert. In der Schule macht
er aufgrund seiner Existenz als ‘Schlüsselkind’ fast nie Hausaufgaben, in seinem Beruf
interessiert er sich nicht besonders für eine etwaige Karriere. Seine persönliche Zukunft
erscheint ihm nie wegen der Ressourcenknappheit in der BRD gefährdet. Für die
Arbeitslosigkeit nimmt er die Zahl der Ausländer als eine der Ursachen an, ohne jedoch
jene Menschen persönlich dafür verantwortlich zu machen. Ein eher geringes schulisches
bzw. berufliches Aspirationsniveau und die Mentalität eines bescheidenen "Über-dieRunden-kommen-Wollens" entfaltet anscheinend eine Schutzwirkung vor übersteigerter
Konkurrenzorientierung und daraus abgeleiteten Ausgrenzungsbestrebungen.
Die Beachtung der ‘Menschlichkeit’, d.h. für ihn die Beurteilung von Sachlagen und
Personen mit Bezug auf den jeweiligen einzelnen Fall, die sich durch all seine
Überzeugungen zieht, spiegelt sich auch in seinen jugendkulturellen Orientierungen.
Nach Selbstzuordnung Heavy- und Punk-Fan sowie zumindest anfänglich ‘Linker’,
beurteilt er andere Menschen weder nach ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit, noch
nach ihrer Nationalität oder ihrem Status. Wenn er sich mit anderen prügelt, so geschieht
dies aus persönlichen Gründen, niemals aber aufgrund jugendkultureller Abgrenzung.
Skinheads und Rechtsextremisten lehnt er aufgrund von ihnen nachgewiesenen oder
zugeschriebenen fremdenfeindlichen Übergriffen wie in Solingen ab, zugleich aber mag er
seine Schwester und findet eine Freundin, die sich beide in einer rechtsextrem orientierten
Clique bewegen; freilich nicht, ohne zumindest seine Schwester in heftige Diskussionen zu
verwickeln.. Es scheint fast, als eröffnete diese individuumszentrierte Beurteilungsfolie
auch gewisse Anfälligkeiten für rechtsextrem konturierte kulturelle Muster und damit auch
zumindest für eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den von ihnen transportierten
Inhalten. Angestoßen von Personen, die ihm sympathisch sind, ist er durchaus geneigt, sich
trotz eigentlich entgegengesetzter politischer Ausrichtung für "rechte" Musik zu erwärmen
und läßt seine ursprünglich explizit "linke" politische Linie verschwimmen. Die
Abschwächung seiner "Links"-Verortung scheint auch durch die Auflösung der FreundesBindungen mitbedingt zu sein, die ihn in Kontakt und ggf. Schulterschluss mit Ausländern
gebracht hatten. Ein ihm über seine Ausbildung bekannt gewordener neuer Freund steuert
allerdings mit seiner "linken" Orientierung einem zu engen Anschluss an "Bekannte im
Rechtsradikalenkreis" entgegen.
Nur vordergründig betrachtet ist für seine politische Sozialisation die Geschlechtsspezifik
ohne Bedeutung. Einerseits bewegt er sich zwar weder in einer ‘Männlichkeit’ oder ‘Härte’
aggressiv-offensiv demonstrierenden Clique, noch können ihn Beleidigungen seiner
‘Männlichkeit’ ("Hosenscheißer", "Angsthase") zu Schlägereien provozieren. Er ist zudem
nicht zu stolz, vor seinem Gegner davonzulaufen, wenn er Gewalt entgehen will.
Offensichtlich braucht Ro. diese Formen der Selbstgewißheit nicht, da er sich seiner selbst
sicher ist. Vermutlich steht er solchen vermeintlichen ‘Männlichkeitsbeweisen’ aufgrund
eigener Opfererfahrungen distanziert gegenüber. Andererseits ist er alltäglicher Gewalt
`unter Männern bzw. Jungen` auf allerdings niedrigem Eskalationsniveau zum Zwecke der
Selbstwertsicherung nicht abgeneigt und tritt als "rabiater" Verteidiger bzw. Rächer seiner
Mutter auf den Plan, wenn er sie und damit auch sich sexuell konnotierten Beleidigungen
CLXVIII
ausgesetzt sieht. In ähnlicher Weise gewaltbereit solidarisiert er sich mit Schwächeren und
steht er bedingungslos zu seinen Freunden. Hier scheint einerseits die erlebte
Selbstverständlichkeit von Gewaltausübung zu Konfliktregelungszwecken, die er in seinem
nahen Umfeld, vor allem in der Familienbiographie, erlebt (hat) und andererseits eine aus
der familiären Situation ableitbare besondere Verletzlichkeit seiner Familienehre durchzuschlagen.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Ro. verfügt über außerordentlich viel Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen
persönlichen Meinungen. Für ihn sind die Mitmenschen allesamt Menschen wie er auch,
Personen, die ihren Weg gehen und ihr Auskommen suchen müssen, dabei aber andere
Menschen in Ruhe lassen sollten. Dabei fällt es ihm nicht schwer, Empathie mit
(ethnischen) Minderheiten zu zeigen. Vermutlich ist dieser Kompetenzkomplex insofern
ein Verarbeitungsergebnis seiner Erfahrungen, als Kind eigentlich unerwünscht gewesen
und selbst nicht auf Rosen gebettet zu sein, als er darüber Verständnis für Menschen in
offenbar unverschuldet schwierigen sozialen Lagen aufbringt. Bei Strafe eines Verlustes
der letzten Geborgenheitsquelle, die ihm noch blieb/bleibt, sah er sich zudem gezwungen,
als Kind einer alleinerziehenden Mutter deren jeweilige Freunde akzeptieren und außerdem
die ihm nahestehende Schwester mit ihren politisch zu ihm entgegengesetzten Meinungen
dulden zu müssen.
Früh entwickelt Ro. Reflexivität auf persönlicher und auf politischer Ebene. Immer wieder
versetzt er sich in andere und argumentiert aus deren Position heraus. Diese Reflexivität
führt zur Ablehnung der Beurteilung von Menschen nach unpersönlichen Äußerlichkeiten
wie ihrer Nationalität, ihrer politischen Zugehörigkeit oder ihrem Status. Seine Reflexivität
scheint dabei auch das Resultat einer Gesprächs-Offenheit in der Restfamilie und der ihm
von der Mutter zugestandenen Freiheiten zu sein, die ihm eigene Entscheidungen und viel
Selbständigkeit (bei geringen verbindlichen Setzungen, allerdings nicht Vernachlässigung
oder gänzlich aufgegebener mütterlicher Kontrolle und Sanktionsmacht) abverlangen.
In Auseinandersetzungen zeigt er sich schon früh konfliktfähig. So geht er auch
schwierigen Beichten von eigenen Missetaten (kleinere Diebstähle, Vandalismus im
Cliquenverbund) gegenüber seiner Mutter im allgemeinen nicht aus dem Weg und streitet
sich politisch-inhaltlich mit seiner Schwester, ohne sich deshalb emotional von ihr zu
entfernen. Andererseits läßt er sich aus freundschaftlicher Solidarität bzw. Hilfsbereitschaft
leicht in Gewalthändel hineinziehen und ist bei ihm die Gefahr nicht gebannt, dass er bei
ihn selbstwertrelevant treffenden Provokationen gewalttätig ‘ausrastet’ . Allerdings
schützen ihn Fairneßregeln seiner Gewaltmoral davor, die Gewaltsamkeit gänzlich
eskalieren zu lassen.
Gleichwohl sein Selbstwertgefühl vor allem aufgrund seines Daseins als zumindest
ursprünglich ungewolltes Kind, ja als Resultat einer Vergewaltigung ("sie wollte mich ja
abtreiben lassen"; 1992: 13;35), aufgrund von Anfeindungen durch den zwischenzeitlichen
Freund der Mutter, der ihm sein Recht auf sein Zuhause zu bestreiten schien und auch
aufgrund einer zumindest einmal von der Mutter geäußerten Drohung, ihn bei Ungehorsam
zum ungeliebten Vater abschieben zu wollen (vgl. 1992: 9; 25ff.), erheblichen
Belastungsproben ausgesetzt war, gibt sich Ro. als im ganzen selbstsicherer Jugendlicher
zu erkennen, der weiß, was er will. Zu seiner Stabilität trägt zum einen die insgesamt trotz
mancher Mankos doch hinreichende Basis-Sicherheit bei ("wenn es hart auf hart kommt, da
halten wir zusammen, da kann kommen, was will"; 1994: 25;23), die ihm Mutter und
jüngere Schwester sowie seine offenbar nicht zuletzt über den gemeinsamen Besuch des
Jugendzentrums zusammengehaltene Freundesgruppe zu vermitteln vermögen. Zum
anderen verläuft seine schulische Laufbahn sowie seine berufliche Integration seinem
Aspirationsniveau entsprechend ungestört und normal, so dass in diesen Bereichen keine
Anerkennungsdefizite erwachsen.
CLXIX
4.
Zusammenfassung
Ro. bietet das Bild eines Jungen, der aufgrund seiner eigenen Sozialisation und aufgrund
der frühen Entwicklung eines historischen Bewußtseins Gleichheitsvorstellungen
entwickelt, die sich weder durch seine Gewaltakzeptanz, noch durch die Wahrnehmung
eigener und/oder gesellschaftlicher Problemlagen oder durch Freundschaft bzw.
Bekanntschaft mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen untergraben lassen.
Während er sich zu Beginn des Untersuchungszeitraumes noch als politisch "linken"
Jugendlichen einordnet, vertritt er gegen Ende des Untersuchungszeitraumes
individualisierte Politikorientierungen, die eine politische Zuordnung auf der Rechts/Links-Skala nicht mehr zulassen.
Die Ursachen für diese Entwicklung liegen vor allem in seinen ausgeprägten Kompetenzen
zum Aufbau personaler Identität, die ihm trotz äußerst widriger Ausgangsbedingungen
Optionen für die Entwicklung von Selbstsicherheit als eigenständige Persönlichkeit bieten,
in einer Beeinflussung, wenn auch nicht Verformung durch rechtsextremistisch eingestellte
Sympathieträger aus seinem unmittelbaren sozialen Umfeld bei gleichzeitiger
Abschwächung der bisherigen Kontakte zu alten, u.a. ausländischen Freunden und in seiner
Enttäuschung über institutionelle Politik, die es ihm nicht mehr gestattet, sich politisch
zuordnen zu können.
Seine Gewaltakzeptanz bleibt über den Untersuchungszeitraum hinweg in ihrem Ausmaß
und in ihren Konturen konstant. Sie zeigt sich nicht aggressiv-offensiv, sondern als in eine
Moral kämpferischer Verteidigungs-Solidarität eingebundene Gewaltbereitschaft und tätigkeit, die das Handlungsfähig-Bleiben sichern soll. Sie erscheint als eingebettet in eine
aufgrund Ro.`s eigener Biographie durchaus funktionale proletarische Selbstauffassung,
innerhalb derer ein selbstgenügsames, wenig ambitioniertes und nur von bescheidenen
Gestaltungs- und Fluchtmöglichkeiten aufgelockertes "Klarkommen" mit Lebenssituationen
des Alltags vorherrscht. In diesem Sinne sind auch wohl die Sprüche zu interpretieren, die
Ro. zu Anfang des Untersuchungszeitraums und an seinem Ende als charakteristisch für
seine Person entwirft: "Man muss das Leben nehmen wie`s kommt und nicht anders"
(1992) und: "Lieber einen Bauch vom Trinken als einen Buckel vom Arbeiten" (1994).
Theo 1992 - 1994
"Ja, gerade die älteren Schüler in unserer Schule, welche mitbekommen haben, was ich für
einen (ausländischen; d.V.) Namen habe. Dann haben sie eben den Namen ein wenig
verunstaltet und mich ein wenig geärgert. Aber da mache ich mir eigentlich nicht viel
daraus." (1992: 20;24 ff)
"Ich finde, wenn sie (Asylbewerber; d.V.) schon da sind, dann sollten sie zuerst mal
zufrieden sein, dass sie überhaupt wo wohnen dürfen und dass sie etwas zum Essen haben.
Und wenn sie dann noch da sind und frech ‘s Maul aufreißen, das kann ich nicht
verstehen." (1993: 20;3 ff)
"Ich habe meine Meinung, es ist nicht (...) links, aber es ist vor allem auch nicht rechts. (...)
Ich hab was gegen Nazis, das ist ganz klar, aber ich hab auch was gegen Asylanten, oder
auch was gegen Scheinasylanten und auch gegen normale Asylanten, denen es früher auch
wirklich schlecht gegangen ist, aber die wirklich, die sich hier drin anstellen, wie, als wenn
CLXX
sie Rechte hätten, wie was weiß ich was. Die kommen hierher, beanspruchen hier, was weiß
ich was, und das sehe ich einfach nicht ein." (1994: 44;36 ff)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Theo, geb. 1978, deutsch, griechisch-orthodox, lebt mit seinen Eltern (griechischer Vater
mit deutschem Paß, türkische Mutter) und seiner achtjährigen Schwester seit seiner Geburt
in der zentralen Kerngemeinde des im schwäbischen Albvorland gelegenen Dorfes T. Die
Familie wohnt in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus mit sechs
Wohneinheiten. Theo muss sich zunächst ein Zimmer mit seiner Schwester teilen, ab 1993
kann die Familie ein weiteres, von der Wohnung separiertes Zimmer im selben Haus
anmieten, so dass er von diesem Zeitpunkt an über ein eigenes Zimmer verfügt.
Der Vater arbeitet als "2. Produktionsleiter" (vgl. Fb. 1992) in einer kleinen
Elektronikfirma, die Mutter ist Hausfrau und erledigt in Heimarbeit Aufträge für dieselbe
Firma. Die Familie ist durchschnittlich gut materiell versorgt. Theo selbst besitzt neben
anderem ein Keyboard, ein Schlagzeug und später auch diverse Teile eines MusikbandEquipments.
An Taschengeld stehen ihm zunächst 20 DM, dann 30 DM und 1994 schließlich 50 DM
zur Verfügung. daneben verdient er sich in den Sommerferien durch Jobs ca. 500 - 1000
DM hinzu.
Er besucht durchgängig die örtliche Realschule und ist Mitglied im Musikverein von T.
Außerdem nimmt er Angebote einer öffentlichen Musikschule wahr. 1993/94 wird er
Mitglied einer von ihm mitinitiierten Rockband.
2.
Politische Orientierung
2.1
Allgemeine Orientierung
Theo zeigt sich insgesamt interessiert an aktuellen Themen wie Arbeitslosigkeit oder Krieg
in Jugoslawien.
1992 rechnet er sich selbst zu den Heavy-Fans, Bikern und Fans von Musikgruppen,
während er Fußball-Fans, Skater und Disco-Fans "ganz gut" findet. Skinheads, Hooligans
und Grufties bezeichnet er als "Gegner". 1993 fühlt er sich nur noch den Heavies zugehörig
und bezeichnet neben den genannten Gruppierungen nunmehr auch rechte Jugendliche als
"Gegner". 1994 bewertet er Grufties nicht mehr explizit als "Gegner", bei der
Selbstverortung nimmt er neben den Heavies noch linke Jugendliche hinzu (vgl. Fb.).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
Während Theo 1992 explizit keine Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf Ausländer
äußert, so ist seine politische Orientierung ab 1993 hauptsächlich von Vorurteilen
gegenüber Asylbewerbern durchsetzt. Als Ursache der aktuellen Ausländerfeindlichkeit
sieht er Kulturdifferenz - "es reizt irgendwie, wenn man da vielleicht Frauen mit
Kopftüchern herumlaufen sieht und total bunt angezogen" (1993:19;18 ff) - und
unangepaßtes Verhalten seitens der Einwanderer:
"...dann bin ich vorbeigelaufen, dann haben sie dumm herumgetan und ‘pffhrr’ gemacht,
dann habe ich mich umgedreht, dann waren sie schnell leise und haben sich umgedreht.
Dann habe ich sie eine Weile angeschaut, dann habe ich gedacht, das lasse ich mir das
nächste Mal nicht mehr gefallen." (ebd. 26 ff)
Nicht nur auf Asylbewerber bezogen, sondern "allgemein eigentlich" (ebd. 20;11) kritisiert
er die mangelnde Genügsamkeit und die in seinen Augen unangebrachte Anspruchshaltung
der Ausländer:
"Ich finde, wenn sie schon da sind, dann sollten sie erst mal zufrieden sein, dass sie
überhaupt wo wohnen dürfen und dass sie etwas zum Essen haben. Und wenn sie dann
noch da sind und frech `s Maul aufreißen, das kann ich nicht verstehen." (ebd. 3 ff)
CLXXI
Letztendlich teilt er Ausländer aber doch in die zu akzeptierende - weil schon lange
ansässig und sich selbst versorgende - Gruppierung der Arbeitsmigranten und die nicht zu
akzeptierende - weil alimentierte - Gruppierung der ("Schein"-) Asylanten ein:
"Gerade die, wo schon über 20 Jahre hier sind, sage ich mal, die arbeiten, und Asylanten,
die sind ja da, weil es ihnen ziemlich schlecht geht, oder halt die meisten sind, also es gibt
ja auch Scheinasylanten, gegen die habe ich allgemein was (...). Das sind ja gerade die
Leute, bei denen ist es gar nicht so schlecht gewesen, aber trotzdem hier sein wollen und
nichts arbeiten und nichts tun und Hauptsache, den anderen Leuten das Geld aus der
Tasche gezogen." (ebd. 20;30 ff)
Diese Differenzierung der einzelnen Gruppierungen scheint seinem Status als Ausländer
mit deutscher Staatsbürgerschaft geschuldet zu sein, weil er sich und seine Familie so zu
den zu akzeptierenden Ausländern rechnen kann. Theo verbindet die Anzahl der
Asylbewerber mit der Häufigkeit von auffälligem Verhalten - unter dem er u.a. auch
Verstöße gegen hiesige Sauberkeits- und Ordnungsregeln versteht (vgl. 1994: 41;19 ff) -,
einem für ihn wesentlichen Grund für Ausländerfeindlichkeit: "dadurch , dass halt viel da
sind, ist es halt auch so, dass halt dann auch mehr da sind, wo ein bißchen sich daneben
verhalten, und das reizt dann eben für Jugendliche, ‘Mensch, was tun die dann hier, wenn
sie so frech sind’ und hauen drauf" (ebd. 21;12 ff). Den Vorwurf der Provokation (von
gewalttätigen Auseinandersetzungen) erhebt er auch gegen jugendliche Migranten (vgl.
1994: 47;8 ff). Als Belege für die Ausnutzung des Staates durch bestimmte Asylbewerber
führt er selbsterlebte Begebenheiten bzw. Informationen ‘aus zweiter Hand’ an (vgl. 1993:
24; 18 ff). Als Konsequenz des postulierten Mißbrauchs und Fehlverhaltens propagiert er
direkte und drastische Sanktionen - "abschieben, dahin schicken, wo sie hergekommen
sind" (1993:25;13) und eine strengere und differenziertere Anwendung des Asylrechts:
"Wenn man nachweisen kann, dass dem wirklich richtig schlecht gegangen ist (...), oder
wenn er auch politisch verfolgt worden ist oder so. Finde ich, sollte man ihm Asyl geben,
aber das sollte man halt richtig nachprüfen." (ebd. 21;27 ff)
Weitere Gründe für die schärfere Kontrolle des Asylrechts stellen für ihn die Belastung des
deutschen Steuerzahlers und die Vorwegnahme evtl. auftauchender Spannungen zwischen
deutscher Bevölkerung und Asylbewerbern dar:
"Also jetzt gerade in der Wirtschaft, da ist es ja ziemlich schlecht, und ich meine, da sieht
man ja nicht jeden Bürger, ich verdiene jetzt sowieso gerade so wenig, und ich muss auch
noch das und das zahlen, (...) und das meiste von den Zinsen geht ja für die Ausländer
drauf, und dann bekommen die mal (...) einen Haß, später mal, und dass die dann das echt
nicht mehr einsehen." (1993: 25;23 ff)
Latent schwingt bei Theo dabei auch die Vermutung mit, dass solche Orientierungen in der
Familie traditionell weitergegeben werden und immer weitere Kreise ziehen: "Das so
langsam der Haß entsteht, schätze ich mal, dann bekommt das der Sohn mit (...), und dann
sagt der, da kenne ich eine Clique, die ist so ein bißchen rechts, dann geht man dort hin"
(ebd. 30 ff). Obwohl Theo grundsätzlich davon ausgeht, als "Mensch" und nicht als
"Rasse" akzeptiert zu werden (vgl. 1993: 32;13 f), zeigt er aus Angst vor
ausländerfeindlichen Übergriffen gegen seine Person auch Vermeidungsverhalten. So
stimmte er aufgrund solcher Befürchtungen dafür, dass eine geplante Klassenfahrt nach
England und nicht nach Berlin unternommen werden sollte (vgl. ebd. 34;8 ff). Darüber
hinaus hat er "ein bißchen Schiß, in großen Städten herumzulaufen, weil ich ein bißchen
also aussehe, wie praktisch ein Ausländer. Dann meine ich, dass dann mancher vielleicht
herkommt und sagt, der sieht ein bißchen komisch aus, und den verprügeln wir jetzt (...).
Oder gerade wegen meinem Namen" (1993: 33;37 ff). Zusätzlich zu den o.a.
Ungleichheitsvorstellungen erhebt Theo 1994 einen Provokationsvorwurf in Richtung
türkische Jugendliche:
"ich weiß von einem (türkischen Jugendlichen; d.V.), die haben so eine Schlägertruppe
(...), die bestimmen manchmal einen als rechtsradikal, obwohl er gar nicht so ist, der hat
CLXXII
vielleicht mal eine Kleinigkeit gesagt oder so, oder hat ein Onkelz-T-Shirt an, dann gleich,
der ist rechtsradikal, komm und drauf. Das finde ich auch nicht o.k., das ist einfach eine
Schweinerei." (1994: 47;13 ff)
Das Aufenthaltsrecht in Deutschland würde er eher Asylbewerbern als Aussiedlern
zusprechen: "wenn jetzt gerade so Russen kommen und sagen, wir sind deutscher
Abstammung, wir wollen wieder nach Deutschland, dann sollte man sagen, nein, ihr habt,
in eurem Land geht es euch gar nicht so schlecht, wie Leuten in anderen Ländern, dann
nehmen wir die anderen, die wirklich unsere Hilfe brauchen" (ebd. 40;3 ff). Hinsichtlich
der Zunahme öffentlich sichtbarer rechtsextremistischer Phänomene vertritt Theo eine Art
‘Ost-Import-Theorie’: "Es ist gut gewesen, dass man vielleicht die Mauer runter getan hat,
aber wenn man gewußt hätte, dass so viele Rechtsradikale und was für Probleme dann noch
dazu kommen (...), dann glaube ich, dann hätte man es so lassen sollen, wie es gewesen ist"
(ebd. 43;37 ff). Obwohl sich Theo von "Nazis" und rechten Jugendlichen distanziert - "ich
hab was gegen Nazis, das ist ganz klar" (ebd. 45;3); "Die (rechte Jugendliche; d.V.) sagen,
o.k., sie sind keine Nazis, aber sie sind rechts. (...) Dann sag ich, nein, das ist nicht mein
Ding" (ebd. 45;23 ff) - differenziert er bei der Beurteilung rechtsorientierter Jugendlicher
aus seinem eigenen Umfeld (vgl. Abschnitt ‘Clique’) mit dem Hinweis auf eine mögliche
einstellungsverändernde Einflussnahme seinerseits in Rechtsradikale allgemein und
persönlich bekannt:
"Ich will eigentlich mit dem (rechter Kumpel; d.V.) nichts so zu tun haben, aber ich kann
trotzdem mit dem reden und so, das ist noch lange kein Grund, dem irgendwie aus dem
Weg zu gehen oder so. Ja, Rechtsradikale allgemein, das kann ich nicht brauchen. (...)
Wieso soll ich dann nicht mit ihm reden, das ist vielleicht gerade, wenn ich dann mit ihm
rede, dass er dann, das vielleicht wie ein kleiner Anschubser ist, dass er dann vielleicht
auch ein wenig anders darüber denkt." (1994: 65;23 ff)
2.3
Gewaltakzeptanz
Während Theo Tendenzen zu struktureller Gewaltbefürwortung zeigt, indem er sich
wahrscheinlich aufgrund eigener Bedrohtheitsgefühle (s.o.) 1992 eine "straffere Gangart" in
Deutschland wünscht (vgl. Fb. 1992), zeigt er durchgängig eine niedrige Gewaltakzeptanz
sowohl auf der personalen als auch auf der politischen Ebene.
Insgesamt zeigt er z.B. beim Thema ‘Gewalt in der Schule’ eine hohe Sensibilität für
subtile Formen von Gewalt. In der Pause sei es keine Seltenheit, dass man kleinere oder
jüngere Schüler "mit Tränen in den Augen im Eck hocken sieht" (vgl. Memo 1993). Seine
Definition von Gewalt setzt demnach auch eine niedrige Schwelle an: "wenn man vor
einem schon dasteht und einen anschreit und ein bißchen anschubst, das ist bei mir schon
eindeutig Gewalt" (1993. 29;14 ff). Obwohl Theo sich grundsätzlich nicht alles "gefallen
lassen" (vgl. 1993: 26;30) würde, versucht er doch, gewalttätigen Auseinandersetzungen
aus dem Weg zu gehen: "ich bin nicht gerade so ein Kämpfertyp oder so. Ich bin eher ein
wenig ruhig" (1993:28;22 f). Dementsprechend trägt er selbst auch keine Waffen bei sich
(vgl. 1994: 50;10 ff). Beim Beispiel Solingen wendet er sich, trotz aller Empörung über
die Gewalttat, auch mit dem Hinweis auf eine mögliche Eskalation gegen kollektive
Formen von Gegengewalt:
"Das war ein wenig falsch, finde ich. (...) die (türkischen Jugendlichen; d.V.) hätten ihren
Haß auch anders zeigen können, aber nicht gerade, dass sie so Radau machen. (...) Aber wo
ich dann gehört habe, dass sie dann so, die anderen Leute so gehandelt haben,
Schaufensterscheiben eingeschlagen, das habe ich auch nicht so ganz verstanden. Ich habe
zwar dann auch einen Haß gehabt, aber so was machen, das würde mir eigentlich nicht
einfallen. Dann heißt es wieder, dann sagen ein paar Leute, ja jetzt schaut mal die Leute an,
was die jetzt machen und so, das gibt es doch nicht, und so geht es halt immer weiter."
(1993: 27;5 ff)
CLXXIII
Allerdings begreift er Gewalt gerade im Hinblick auf die Gegenwehr von Ausländern auch
als Sanktionsmittel, wenn Worte versagen:
"Man kann nicht alles mit Worten klären, da muss auch ein bißchen was da sein, Gewalt,
das meine ich." (1993: 28;22 ff)
Im Fall ‘Mölln’ sieht er vor allem einen Sündenbockmechanismus in Verbindung mit
Frustrationserfahrungen als auslösendes Moment: "dass da Jugendliche einfach Mist gebaut
haben, also die haben gedacht, da gehen wir jetzt hin, werfen Molotowcocktails rein, und
dann kommt man cool. (...) Bei denen zu Hause wird es wahrscheinlich auch nicht so
besonders sein. (...) Also da muss der schon irgendwie eine Wut haben, dass es bei ihm zu
Hause nicht so gut ist und dass er noch irgendwie jemand braucht und seine Wut an
irgendwas ausläßt" (ebd. 22;21 ff). Die Schuld an solchen Übergriffen gibt er eindeutig den
deutschen Jugendlichen: "Es liegt ja nicht an den Asylanten (...), diese Jugendlichen sind es
ja meistens, dass die eben so sind" (ebd. 23;32 ff). Seine Betroffenheit über politisch
motivierte Gewalttaten wird 1994 auch an seiner Forderung nach rigoroser Bestrafung der
Täter deutlich: "lebenslänglich rein, da muss man gar nicht erst überlegen. (...) das ist
einfach eine Sauerei sowas" (1994: 43;22 ff).
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
1992 nennt Theo als Problembelastungen "die Wohnsituation" und "die Schwierigkeit,
eine(n) Freund(in) zu finden". Ersteres scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass er
sich mit seiner jüngeren Schwester ein Zimmer teilen muss, während letzteres vor dem
Hintergrund verständlich wird, dass er zu diesem Zeitpunkt weder einen festen Freund oder
eine Freundin noch eine enge Cliquenanbindung an Jugendliche aus seinem Wohnort hat
(s.u.). Während sich seine Wohnsituation 1993 durch die Anmietung eines weiteren
Zimmers für ihn zur Zufriedenheit löst, bleibt das Problem, feste Freundschaften
aufzubauen, für ihn bestehen. 1994 hat er "zu wenig Geld" und "zu wenig Zeit", und er ist
besorgt über seine "weitere Lebensplanung". Die Mitgliedschaft in einer Band fordert ihm
in seiner Freizeit viel Engagement ab. Zudem hat er seit kurzem eine Freundin, die in ihrer
Freizeit ebenfalls sehr beschäftigt ist, so dass sich aus Zeitgründen nur selten die
Möglichkeit eines Zusammenseins mit ihr ergibt. Die Ausstattung der Band mit einer
technischen Ausrüstung ist sehr teuer, und Theo muss das nötige Geld zur Anschaffung von
Boxen etc. zusammensparen. Da er in bezug auf die Planung seiner beruflichen Zukunft
noch sehr unentschlossen ist, möchte er die Qualifikation zum Wechsel auf ein Gymnasium
erreichen. Aufgrund seiner nur durchschnittlichen Leistungen hat er aber die Befürchtung,
den benötigten Notendurchschnitt nicht zu erreichen (vgl. 1994: 60;8 ff).
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Die Familie stellt für Theo durchgängig einen materiellen und emotionalen Rückhalt dar.
Zu beiden Elternteilen hat er ein gutes Verhältnis. Er fühlt sich durchgängig von ihnen
akzeptiert, meint Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung von ihnen zu erhalten und
kann mit ihnen über persönliche Probleme reden (vgl. Fb.). Die Eltern selbst lockern
zunächst enger gesetzte Grenzen (z.B. Ausgangszeiten) altersentsprechend. Besonders der
Vater zeigt sich im Hinblick auf Theos schulische Leistungen leistungsorientiert. Beide
Elternteile möchten, dass Theo später einen anspruchsvollen und sicheren Arbeitsplatz
bekommt (vgl. 1993: 12;38 ff). Auch mit seiner jüngeren Schwester versteht er sich "ganz
gut" (1994: 23;31), wobei er sich für sie "irgendwie verantwortlich" fühlt (ebd. 24;27).
Theo zeichnet die Schule als durchaus positiven Lebensbereich und ist den Anpassungsund Leistungsanforderungen dieser Institution durchaus gewachsen. Diese hat er ebenso
wie die Vorgaben der Eltern (s.o.) weitgehend als eigene Lernmotivation mit der
CLXXIV
Perspektive auf eine bessere Zukunft internalisiert. Daraus ergeben sich für ihn 1994 im
Hinblick auf die Abschlussprüfungen und den geplanten Wechsel auf ein Gymnasium aber
auch ein erhöhter Leistungsdruck und die Angst, evtl. zu versagen. Er erkennt die
Notwendigkeit, mehr zu lernen, hat aber Probleme, dies mit seinem angefüllten
Terminkalender in Einklang zu bringen.
1992 scheint Theos soziale Verortung im Kreise Gleichaltriger eher lückenhaft zu sein. Er
hat keine stabilen Gruppen - bzw. Freundesbeziehungen, Kontakte und daran geknüpfte
Aktivitäten erfolgen eher gelegentlich und zufällig. Der eher sporadische Kontakt zu einer
losen Freizeitclique (zu der auch Rüdiger gehört; vgl. ‘Rüdiger’) ist zudem mit leicht
belastenden Erfahrungen hinsichtlich einiger Provokationen verknüpft, die von einem von
ihm als "vorlaut" (1992: 15;8) eingeschätzten Jungen ausgehen. Mit vier anderen Jungen
trifft er aufgrund gemeinsamer musikalischer Interessen und dem gemeinsamen Besuch des
Instrumentalunterrichtes häufiger zusammen. 1993 verkehrt Theo in Verbindung mit einem
neuen informellen Treffpunkt (ein etwas abgelegener Park, vgl. 1993: 37;4 ff) mit einer
Gruppe von (ehemaligen) MitschülerInnen, zu denen auch Oswin zu gehören scheint (vgl.
‘Oswin’), die für ihn anscheinend einen festeren sozialen Zusammenhang darstellt (vgl.
1993: 37;18 ff). Sich selbst und die anderen Cliquenmitglieder ordnet er der HeavyRichtung zu, nicht ohne sich von den härteren Ausformungen zu distanzieren (vgl. ebd.
40;4 ff). Von dieser Clique hat er sich 1994 aufgrund seiner Kritik an deren übermäßigem
Alkoholkonsum - "es war einfach nicht mein Stil, jedes Wochenende stockbesoffen im Dorf
herumzulatschen" (1994: 3;15 ff) - sowie konkreter Auseinandersetzungen und
persönlicher Kränkungen bzw. Zurücksetzungserfahrungen wieder getrennt: "entweder
akzeptieren sie mich ganz oder gar nicht, aber nicht mal so und dann wieder so" (ebd.).
Theo verbringt seine Freizeit durchgängig hauptsächlich mit musikalischen Aktivitäten.
Neben regelmäßigen Übungsterminen für Schlagzeug und Keyboard spielt er ab 1993 in
einer großen Kapelle des örtlichen Musikvereins, wo er für die Percussion zuständig ist.
1994 kommt noch das Engagement für die von ihm mitinitiierte Rockband hinzu. Zu
diesem Zeitpunkt verbringt er die verbleibende Freizeit mit seiner neuen Freundin, von der
er Akzeptanz, Geborgenheit und tatkräftige Unterstützung erhält und mit der er sich über
persönliche Probleme unterhalten kann (vgl. Fb. 1994). Theo fühlt sich in Nachbarschaft
und Wohnumfeld wohl und ist bei seinen Freizeitaktivitäten auf seinen Wohnort hin
orientiert. Einziger Verbesserungsvorschlag ist ein "richtiges Schwimmbad" (1992: 16;25).
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Die Auswahl der von ihm rezipierten Medien richtet Theo vornehmlich nach deren
Unterhaltungswert. Innerhalb der Familie wird über aktuelle Themen gesprochen. Häufiger
erzählt die Mutter abends "etwas, weil mein Vater hat nicht viel Zeit zum Zeitunglesen.
Und dann erzählt meine Mutter manchmal ein paar interessante Sachen oder zeigt sie uns
dann" (1992: 12;11 ff). Insgesamt weiß Theo sich durchgängig im großen und ganzen in
Übereinstimmung mit seinen Eltern, wobei er zunehmend aber auch eigene Ansichten
vertritt: "Wir haben eigentlich meistens dieselben Meinungen, aber es kommt ab und zu
auch vor, dass ich sage, ‘ich finde das jetzt eigentlich weniger’" (1994: 23;19 ff). Der NSUnterricht in der Schule hat ihn grundsätzlich interessiert. Er distanziert sich eindeutig von
dem damaligen Geschehen - "da muss man gerade drum schauen, dass es nie wieder
vorkommt" (1994: 35;15 f) - und befürwortet im Hinblick auf die Vermeidung einer
Wiederholung eine noch früher einsetzende Auseinandersetzung mit diesem Thema: "das
sollte man schon viel früher machen, weil da springen z.T., also ich weiß es von ein paar,
schon in der siebten Klasse fängt es an, eigentlich sogar in der sechsten Klasse springen die
schon so rum. Die haben noch gar keine Ahnung davon, die wissen gar nicht, was das ist"
(ebd. 61;38 ff).
CLXXV
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
Theo nutzt die Angebote des örtlichen Musikvereins. Er engagiert sich nicht in Gremien
oder Initiativen, findet die Einrichtung des seit einigen Jahren in seinem Ort bestehenden
Jugendgemeinderates aber grundsätzlich positiv: "Also dass auch die Jugendlichen etwas
dazu sagen können, das finde ich eigentlich in Ordnung" (1992: 30;25 f). Hinsichtlich
seiner beruflichen Zukunftsplanung zeigt er sich bis 1994 unsicher. Um einen Zeitaufschub
bis zu einer Entscheidung zu erreichen, strebt er einen Wechsel auf das Gymnasium an.
Dafür ist er grundsätzlich bereit, mehr Zeit für schulische Aufgaben aufzuwenden.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Obwohl Theo aufgrund seines Passes die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und
Deutschland wohl auch als Heimat betrachtet, in der er seine Zukunft verbringen möchte,
kann er sich selbst im Hinblick auf seine Nationalität nicht eindeutig zuordnen: "Ich fühle
mich generell nicht als ganz deutsch, weil meine Eltern sind ja Ausländer praktisch, und ich
finde, ich kann mich nicht zu einem Deutschen zählen, also richtig. Ich bin ja doch
ausländischer Abstammung" (1993: 32;4 ff). Dies wird von ihm scheinbar nicht als
Nachteil bzw. Belastung empfunden: "Ich finde (es) ganz normal, weil ich glaube, ich
werde als Mensch akzeptiert und nicht als Rasse" (ebd. 13f). Sein Status als (deutsches)
Gastarbeiterkind scheint einerseits zu Bedrohtheitsgefühlen und einer grundsätzlichen
Verurteilung rechtsextremistischer Gruppierungen und Gewalthandlungen zu führen, beugt
aber andererseits o.a. Ungleichheitsvorstellungen in bezug auf seiner Ansicht nach
unangepaßte Ausländer im allgemeinen und (Schein-)Asylanten im besonderen nicht
automatisch vor. Über die Differenzierung in zu akzeptierende Ausländergruppierungen,
die sich den hiesigen Verhältnissen angepaßt haben und selber für ihren Unterhalt
aufkommen, und nicht zu akzeptierende Asylbewerber und Aussiedler, die vom Staat
alimentiert werden und eine seiner Meinung nach ungerechtfertigte Anspruchshaltung
zeigen, versucht er sich und seine Familie der Bedrohung durch die allgemeine
Ausländerfeindlichkeit zu entziehen und deren Aufenthalt in Deutschland zu legitimieren.
Seinen regionalen und lokalen Sozialraum stellt für ihn und seine Familie zudem eine Art
‘Schutzraum’ dar, in dem es seiner Meinung nach im Gegensatz zu Großstädten nicht
häufig zu ausländerfeindlichen Übergriffen kommt (vgl. 1993: 16;4 ff). Anders als viele
andere männliche Jugendliche in seinem Alter zeigt Theo in seinem
geschlechtsspezifischen Verhalten explizit keine Orientierungen an traditionellen
Männlichkeitsidealen wie z.B. Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben). Aufmerksam nimmt
er gruppeninterne Männlichkeitsinszenierungen beim (teilweise vorgetäuschten) Konsum
von Alkohol in seiner Clique wahr: "manche, das habe ich irgendwie genau gemerkt,
manche, die haben gar nicht so viel getrunken, und die haben so getan, als wären sie
stockbesoffen" (1994: 9;3 ff). Er selber distanziert sich von dieser Art der
Freizeitgestaltung und kann sich einem vermutlich herrschenden Gruppendruck entziehen
(nicht zuletzt auch durch die Trennung von der Clique, s.o.). Abgesehen von Theos
ruhigem Naturell scheint diese nicht vorhandene Orientierung an verbreiteten Mustern der
Jungen-Sozialisation u.a. ein Grund für seine niedrige Gewaltakzeptanz zu sein, weil er
anscheinend nicht auf die Erlangung von Anerkennung von seiten der Clique über die
Demonstration von ‘männlichem’ Verhalten angewiesen ist, um sein Selbstwertgefühl
aufzubauen. Zudem möchte Theo vermutlich auch als Gastarbeiterkind nirgendwo durch
dominantes bzw. auffälliges Verhalten ‘anecken’ - "ich will mit niemandem streiten, ich
schaue halt, dass ich mit jedem gut auskomme, egal wie er ist" (1994: 65;7 f) -, um zum
einen nicht Opfer von ausländerfeindlichen Ausgrenzungsversuchen oder Übergriffen zu
werden und zum anderen nicht die von ihm an anderen Gruppierungen kritisierten
unangepaßten Verhaltensweisen zu zeigen, auch weil ein solches Verhalten negative
CLXXVI
Konsequenzen für seine schulische und berufliche Zukunft nach sich ziehen könnte. Seine
jugendkulturelle Orientierung geht tendenziell hin zu linken Positionen und äußert sich
vornehmlich über das Hören und Spielen von szenetypischer Musik (Heavy) und dem
Tragen gruppenspezifischer (Marken-)Kleidung (vgl. 1993: 17;33 ff). Theos Beziehungen
im sozialen Nahraum beeinflussen seine politischen Ansichten in verschiedener Weise:
Während er sich mit seinen Eltern in der Verurteilung von ausländerfeindlichen
Übergriffen in Übereinstimmung weiß, läßt er sich 1993 von seinen teilweise nach rechts
tendierenden Bekannten allenfalls in seinen Vorurteilen gegen Asylbewerber beeinflussen
oder stärken. Obwohl er sich von rechten Gruppierungen und Personen distanziert,
differenziert er doch zwischen ihm bekannten (latent) rechtsorientierten Personen und
Rechtsradikalen allgemein. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass Theo einerseits
die Möglichkeit einer in seinem Sinne positiven Beeinflussung rechter Ansichten im
persönlichen Gespräch vermutet (s.o.) und dass er andererseits den Kontakt zu den
gleichaltrigen Jugendlichen in seinem Wohnort nicht aufgrund politisch motivierter
Konfrontationen verlieren will.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Gegenüber Asylbewerbern und Aussiedlern zeigt Theo aufgrund der von ihm vermuteten
ungerechtfertigten Leistungserschleichung und Anspruchshaltungen dieser Gruppierungen
wenig Toleranz. Im Hinblick auf seine teilweise (latent) rechtsorientierten Bekannten gibt
er sich toleranter und versucht, deren Handeln von einer grundsätzlichen Kritik
auszunehmen bzw. zu relativieren. Bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher (Gewalt-)
Phänomene und gruppeninterner Druckmechanismen zeigt er Sensibilität (s.o.) und bei
deren Beurteilung Reflexivität und Empathievermögen. Besonders bei der Suche nach
möglichen Gründen für ausländerfeindliches (Gewalt-)Verhalten wird deutlich, dass er sich
kritisch mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat und Einfühlungsvermögen sowohl in
die Täter als auch in die Opfer besitzt (s.o.). Theo löst Konflikte auf unterschiedliche
Weise. Aufgrund seiner niedrigen Gewaltakzeptanz versucht er Konflikte, die
möglicherweise in Gewalt ausarten könnten, durch ‘Aussitzen’ oder Flucht zu lösen (vgl.
z.B. 1992: 20;24 ff). Cliqueninternen Problemen geht er zweimal durch Trennung von den
jeweiligen Gruppen aus dem Weg (1992 und 1994). In Konfliktsituationen mit Freunden
zeigt er aber durchaus auch die Fähigkeit, sich verbal mit ihnen auseinanderzusetzen und
seine Interessen wahrzunehmen (vgl. 1994: 5;36 ff). Theo ist bereit, Verantwortung für
sich selbst (z.B. in der Schule) und andere (z.B. Initiieren der Rockband und Übernahme
einer für Ordnung sorgenden Führungsrolle ebendort) zu tragen.
Sein gut ausgebildetes Selbstwertgefühl basiert vornehmlich auf dem Vertrauen in die
eigenen Fähigkeiten und der Kompetenz, Sachverhalte reflektiert beurteilen und kritisch
hinterfragen zu können. Gepaart mit einer hohen Sensibilität im Hinblick auf
gesellschaftliche Phänomene und Mechanismen versetzen ihn diese Fähigkeiten in die
Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden und - auch wenn er sich nicht in
Übereinstimmung mit seinen jeweiligen Bekannten bzw. Freunden befindet - zu vertreten.
Seine niedrige Gewaltakzeptanz und das Nichtvorhandensein von Orientierungen an
traditionellen Männlichkeitsidealen führen dazu, dass er nicht versucht, über die
Demonstration von Wehrhaftigkeit und Dominanz(streben) Anerkennung von seiten seiner
Freunde zu erlangen. Anscheinend reicht ihm die Bestätigung und Akzeptanz, die er von
seinen Eltern aufgrund schulischer, musikalischer oder sportlicher Leistungen bekommt
sowie die 1994 erfolgte Band-Gründung und das Spielen einer jugendkulturell besetzten
Musikrichtung aus, um eine tragfähige Identität und somit Selbstbewußtsein aufzubauen.
4.
Zusammenfassung
Theo präsentiert sich als ein ruhiger und besonnener Junge, dessen generelle Verurteilung
von Ausländerfeindlichkeit, die vermutlich hauptsächlich aus seinem Status als
CLXXVII
Gastarbeiterkind in Deutschland resultiert, durchsetzt ist von Ungleichheitsvorstellungen in
bezug auf Asylbewerber und Aussiedler, wobei er anscheinend über die Differenzierung in
zu akzeptierende, weil sich selbst versorgende und angepaßte Gastarbeiterfamilien und
nicht zu akzeptierende, weil alimentierte und anspruchsvolle Gruppierungen, seinen
eigenen Aufenthalt in Deutschland legitimieren und sich und seine Familie aus der
allgemeinen Kritik heraushalten zu können meint. Vornehmlich sein ruhiges Naturell und
sein vermutlich internalisierter Anpassungswille führen gepaart mit einer hohen
Reflexions- und Empathiefähigkeit zu einer niedrigen Gewaltakzeptanz sowohl auf
personaler als auch auf politischer Ebene.
Seine Vorurteile richten sich im einzelnen hauptsächlich gegen (Schein-)`Asylanten` und
Aussiedler, denen er Leistungserschleichung sowie eine in seinen Augen ungerechtfertigte
Anspruchshaltung und unangepaßtes, z.T. provokatives und aggressives (auch türkischen
Jugendlichen) Verhalten vorwirft.
1992 fordert er wohl im Hinblick auf eigene Ängste vor ausländerfeindlichen Übergriffen
gegen seine Person oder seine Familie eine "straffere Gangart" in Deutschland (vgl. Fb.
1992). Er selbst würde sich zwar nach eigenen Angaben nicht alles gefallen lassen, jedoch
zeigt er tatsächlich eher Ausweich- oder Vermeidungsverhalten, sobald die Gefahr einer
gewalttätigen Auseinandersetzung gegeben scheint. Weiterhin distanziert er sich von
Gewaltverhalten jeglicher Couleur.
Theo, der wegen seiner ausländischen Abstammung durchaus Ängste vor Übergriffen
gegen seine Person hat, zeigt einen stark ausgebildeten, integrativen Anpassungswillen. Da
er unangepaßtes und forderndes Verhalten seitens der Ausländer als einen Grund für
Ausländerfeindlichkeit in Deutschland ansieht, versucht er selber, möglichst nicht
anzuecken oder aufzufallen. Dass er dieses Verhalten gerade Asylbewerbern und
Aussiedlern zum Vorwurf macht, läßt die Vermutung zu, dass er diesen Gruppierungen
implizit die Schuld an der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gibt. Vor diesem
Hintergrund scheint auch seine Forderung nach einer rigoroseren Handhabung von
Abschiebungen und einer sorgfältigen Kontrolle der Asylvergabe verständlich.
Seine ruhige Art und seine niedrige Gewaltakzeptanz sowie die nicht vorhandene
Orientierung an traditionellen Männlichkeitsidealen und die intensive Beschäftigung mit
Musik in seiner Freizeit tragen dazu bei, dass er - wenn überhaupt - nur 1993 eine engere
Cliquenanbindung an Jugendliche seines Ortes hat. Seine Sensibilität bestimmte
Gruppenmechanismen betreffend und seine persönlichen Kompetenzen befähigen ihn dazu,
seine Meinung vor der Gruppe z.T. zu behaupten bzw. sich herrschenden
Gruppenmeinungen nicht zu unterwerfen und sich den Gruppenmechanismen, z.B.
Männlichkeitsinszenierungen, entziehen zu können. 1994 führen u.a. die Mitgliedschaft in
einer Rockband und die damit verbundenen Pflichten sowie die Freundschaft mit einem
Mädchen dazu, dass Theo in seiner Freizeit nicht mehr mit den z.T. tendenziell
rechtsorientierten Mitgliedern der Clique zusammentrifft. Theo selbst sieht als
persönlichkeits- bzw. meinungsprägend u.a. alters- und entwicklungsbedingte Erfahrungen
an: "Vielleicht ein paar Meinungen, wo ich jetzt z.B. ganz anders darüber denke wie früher,
weil ich vielleicht einfach ein bißchen mehr Erfahrung gesammelt habe" (1994: 22;31 ff).
Thomas 1992 - 1994
F.: "Da waren ja diese Krawalle in Rostock..." T.: "Da habe ich nur gesagt: `weiter so`...Nur
heraus mit dem Zeug" (1992: 26;4ff.); "Ich meine, es könnte sein, dass ich auch ein paar
Steine reingeworfen hätte...Klar, wahrscheinlich hätte ich schon mitgemacht(...)
Deutschland ist total überfüllt von Ausländern. da muss man was dagegen unternehmen,
durch die Grenzdörfer strömen sie nur noch so herein... das ist einfach schlimm, ich weiß
auch nicht, ich schätze 30% von Deutschland sind nur noch Deutsche, der Rest alles, ja
CLXXVIII
30% vielleicht nicht, aber vielleicht 40% oder so, aber mehr nicht, nur noch Italiener,
Jugoslawen, Türken, Rumänen, Polen und Russen." (1992: 28ff.); "Hier gibt's jede Menge
von diesem Ungeziefer." (1992: 30;32)
F.: "Solingen.. wie erklärst Du Dir das, dass es auf einmal so Junge waren, die das gemacht
haben?" T.: "...da kommen jetzt was weiß ich für Leute rein und die hängen uns dann auf
der Tasche herum, arbeiten nichts und bekommen Geld und so ist das, haben sich vielleicht
auch aufgeregt. Ich meine, mich hat das damals auch aufgeregt wie die Sau, wo die
Grenzen aufgemacht worden sind. Da habe ich auch gedacht die Idioten, jetzt machen sie
auf, jetzt kommt das ganze Pack zu uns und hängt uns auf der Tasche rum." (1993:
50;12ff.)
"...natürlich gibt es eine Grenzlinie zwischen rechts und rechts. Also ich sehe das jedenfalls
so. Ich finde, es gibt die Idioten, wo denken, ja, ja, Rechte und Scheiß Ausländer raus und
Deutschland, Deutschland so, und halt wirklich halt bloß noch wenn sie einen Ausländer
sehen, dass sie ihn so vermöbeln, dass er nicht mehr weiß, wie er heißt. Und es gibt die
Rechten, die sagen, wir haben nichts gegen die Ausländer, wo zu uns kommen und
arbeiten...die, wo uns nicht auf der Tasche herumliegen." (1994: 63;5ff.)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Thomas, zum ersten Erhebungszeitpunkt 13 Jahre alt und katholisch, lebt mit seiner Mutter,
deren Freund und seiner 2 Jahre jüngeren Schwester 1992 in der 15.000-Einwohner-Stadt
M., 1993 und 1994 nach einem Umzug der Familie in einem einige Kilometer entfernten
Dorf. Die vier wohnen zunächst in einer 4-Zimmer-Mietwohnung, später in einer 5Zimmer-Mietwohnung mit Balkon, jeweils in einem kleineren Mehrfamilienhaus. T. hat die
ganze Zeit über ein eigenes Zimmer. Der Haushalt ist mit langlebigen Gebrauchsgütern gut
ausgestattet; neben 2 Autos besitzt man auch 2 Motorräder. T. selber besitzt im Laufe der
Jahre zunehmend verschiedene unterhaltungselektronische Geräte (CDPlayer, Stereoanlage,
Walkman, Nintendo usw.) sowie ein mit 500,- DM relativ teures Skateboard und ein
Mountainbike. An Taschengeld steht ihm monatlich 25,- DM zur Verfügung; etwa den
gleichen Betrag verdient er sich durch Aushilfsarbeiten noch mal hinzu. 1994 kommt ein
Betrag von 50,- DM aus einer Ausbildungsvergütung hinzu.
Die Mutter und ihr Partner haben Hauptschulabschluss. Erstere arbeitet in einer Druckerei,
letzterer ist Dreher. der verstorbene Vater von T. war Kraftfahrer.
Thomas besucht 1992 die 8. Klasse der Hauptschule in M., im Folgejahr die Hauptschule
in seinem neuen Wohnort. Nach dem Hauptschulabschluss findet er 1994 eine Lehrstelle
als Mechaniker in einem Großbetrieb, 8 km vom Wohnort entfernt.
Zum Interview erscheint T. jeweils unauffällig in Jeans, T-Shirt und Turnschuh gekleidet.
2.
Politische Orientierungen
2.1
Allgemeine Orientierungen
Über den Untersuchungszeitraum hinweg stuft sich T. selbst politisch als "ein bißchen
mehr rechts als links" - so wörtlich 1992 (42;23) - ein. Nach Definitionselementen seiner
persönlichen Rechts-links-Topographie befragt, läßt er schon 1992 durchblicken, dass der
Umgang mit dem "Ausländerproblem" für ihn das entscheidende Kriterium bildet:
"Die (Linken; d.V.) sagen eben auch, das finde ich, das ist doch mir egal, ob jetzt die
Ausländer oder was weiß ich da sind oder nicht, das ist denen eigentlich egal, Hauptsache
ich habe meine Arbeit und so und kümmern sich gar nicht um Deutschland und so. Aber
rechts, finde ich, die kümmern sich um ihr Land, die finden, wir sollten eine Gemeinschaft
bleiben, ganz, ein Volk" (42; 29ff.)
Jugendkulturell ordnet er sich keiner Stilrichtung eindeutig zu. Während er sich 1992 als
"Heavy und Skin, das ist alles und ein wenig Skater" (41,34) bezeichnet, bleibt in den
CLXXIX
Folgejahren am ehesten eine Zuordnung zu den Heavy-Fans bestehen - heavy bedeutet für
ihn (nicht nur?) musikalisch "alles Harte" (1992: 41;36) - und verblaßt allmählich die
Orientierung an Skatern und Skins, auch wenn er weiterhin Sympathie mit diesen Stilen
wie auch u.a. mit rechten Jugendlichen, Wehrsportgruppen und Streetfightern bekundet.
Die in den ersten beiden Jahren spontan eindeutige parteipolitische Zuordnung zu den
"Republikanern", von denen er 1992 weiß "die sind ja gegen Ausländer" (1992: 32;12) und
denen er 1993 zutraut, die Kriminalität in Deutschland zu reduzieren (1993:62;1ff.), wird
mit der Zeit diffuser. Seine diesbezügliche Ignoranz 1994 durchaus eingestehend (vgl.
1994:28ff.), könnte er sich jetzt genauso gut vorstellen, Bündnis 90 zu wählen,
möglicherweise eine Folge seiner nun weniger fremdenfeindlichen, dafür aber
umweltkritischeren Einstellungen (s.u.).
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
T. äußert über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg z.T. erhebliche, besonders
1992 mit rassistischen Versatzstücken versehene, gleichwohl zwischenzeitlich sich leicht
abschwächende Ungleichheitsvorstellungen gegenüber Migranten. Sie münden, vor allem
1992
in
Verbindung
mit
offener
eigener
Gewaltbereitschaft,
in
Ungleichbehandlungsvorstellungen. Dabei zieht sich ein Ablehnungsmotiv wie ein roter
Faden durch alle drei Interviews: die Befürchtung, von Migranten materiell ausgenutzt zu
werden. Immer wieder kramt er das Bild des "Auf-der-Tasche-Herumliegens" hervor.
1992 bezieht er es noch nahezu völlig undifferenziert auf alle Gruppierungen von
Migranten:
"...das ist einfach schlimm mit diesen Ausländern, Aussiedlern und Asylanten und so"
(26;15f.);
"...man sollte irgendwie eine Grenze bauen..., dass jeder in seinem Land bleibt, außer sie
kommen nach Deutschland und arbeiten wenigstens etwas für ihr Geld und sitzen nicht nur
Tag und Nacht herum und bekommen das Geld auch noch nachgeworfen, und wir müssen
sie auch noch bezahlen" (26;34ff.)
Über Asylmotive von Flüchtlingen mutmaßt er:
"Vielleicht denken die auch, da muss ich ja nichts arbeiten... als ob hier das Paradies wäre"
(30;10ff.)
und beschwert sich über eine augenscheinliche Ungleichverteilung der Lasten:
"Es gibt noch so viele andere Länder, aber wieso kommen die alle nach Deutschland?"
(30;22ff.)
Entsprechend dramatische Ver-, ja Entfremdungsgefühle empfindet er:
"...ich schätze 30% von Deutschland sind nur noch Deutsche, der Rest alles, ja 30%
vielleicht nicht, aber vielleicht 40% oder so, aber mehr nicht, nur noch Italiener,
Jugoslawen, Türken, Rumänen, Polen und Russen." (1992: 28ff.)
Und bezogen auf den eigenen Wohnort bemängelt er in nicht nur in dieser Sequenz
verwendeter (s.u.) rassistischer Wortwahl:
"Hier gibt es jede Menge von diesem Ungeziefer." (1992: 30;31); "...in
Übermaßen..."(ebd.;37)
Es verwundert deshalb nicht, wenn T. im 1994er Interview erzählt (vgl.66;2), er sei noch zu
seiner Hauptschulzeit zusammen mit einem Freund schon einmal unablässig und laut "Sieg
heil" rufend über die Hauptstraße seines Heimatortes gezogen - übrigens ohne sich dafür in
irgendeiner Weise Kritik bspw. von Passanten eingehandelt zu haben.
Zusätzlich kritisiert er die Kriminalität von Ausländern. Dabei verweist er auf die
Eigenerfahrung eines Mofa-Diebstahls durch einen "Russen" (wahrscheinlich Aussiedler
aus Rußland). "Von dem her finde(t)" T. - diese Einzelerfahrung pauschal auf alle
Migranten ("die") hochrechnend - "das voll die Sauerei", "dass die herkommen und gleich
damit anfangen, Stunk zu machen..."(31;12ff.).
CLXXX
Ansätze zu einer wenn auch nicht gleichheitsorientierten, so doch differenzierteren
Sichtweise werden durch die pauschalisierende und dramatisierende Sichtweise im Keim
erstickt:
"Okay wenn jetzt ein paar Italiener und was weiß ich was, andere da sind, das ist ja kein
Weltuntergang, aber wenn zu viele kommen, so wie jetzt, das ist einfach nichts." (27;34);
"Ich habe ja gar nichts gegen Italiener und so, aber hauptsächlich gegen Asylanten."
(29;15)
1993 hat sich an den Ablehnungsgründen von Migranten nichts geändert. Kriminalität "seit die Grenzen offen sind, da nimmt die Kriminalität in Deutschland echt rapide zu"
(58;27f.) - und - besonders vehement - unlautere Bereicherungsabsichten zum Nachteil der
Deutschen sind die zentralen Vorwürfe, die er ihnen entgegenbringt und die er mit dem
"Scheiß Ausländerproblem" (58;23) verbindet:
"...da kommen jetzt was weiß ich für Leute rein und die hängen uns dann auf der Tasche
herum, arbeiten nichts und bekommen Geld ...Ich meine, mich hat das damals auch
aufgeregt wie die Sau, wo die Grenzen aufgemacht worden sind. Da habe ich auch gedacht
die Idioten, jetzt machen sie auf, jetzt kommt das ganze Pack zu uns und hängt uns auf der
Tasche rum." (1993: 50;12ff.)
Inzwischen differenziert T. aber deutlicher zwischen unterschiedlichen Migrantengruppen.
Angeregt von einer auf den Solinger Brandanschlag bezogenen Frage des Interviewers, ob
es für ihn einen Unterschied zwischen Gewalt gegen Bewohner von Asylbewerberheimen
und Anschläge auf von Ausländern bewohnte Privathäuser gebe, sieht T. "einen großen
Unterschied" (51;6):
"Weil die wo das Privathaus haben...die haben gearbeitet, für das, was sie erreicht haben.
Also das finde ich irgendwo eine Sauerei, dass die das denen wieder zerstören. Und bei
denen im Asylantenheim, das ist also meine Meinung, die kommen her, bekommen da ihr
Heim, dürfen da rein, bekommen Fernsehen und solche Scheiße, bekommen ihr Geld
zugeschickt und tun nichts dafür. Sowas finde ich auch, also das dürfen wir uns nicht
gefallen lassen. Wir arbeiten uns krumm und buckelig und die bekommen es in den Schoß,
also..."(51;8ff.)
Bezogen auf "Gastarbeiter" ist er deshalb mittlerweile der Meinung:
"Gegen die hat ja niemand etwas. Also ich habe gegen die persönlich nichts...Ich habe nur
gegen die etwas, die rüberkommen und halt nichts tun und trotzdem Geld verdienen. gegen
die habe ich was." (52;36ff.)
In Deutschland geborene Ausländer sieht er sogar als Deutsche an, "jedenfalls auf der einen
Seite" (69;19f.). Insoweit distanziert er sich jetzt auch ausdrücklich von seiner ehemaligen
Ansicht, verwendet keine rassistischen Abwertungen mehr und entwickelt Ansätze von
Gleichheitsvorstellungen mit freilich rassenpluralistischen Anklängen:
"...früher war ich da wahrscheinlich anderer Meinung, aber jetzt finde ich auch, das sind
doch eigentlich auch nur Menschen, oder? Alles sind Menschen wie wir auch, also die
haben nur eine andere Hautfarbe und sind halt eine andere Rasse. Von dem her..." (57;19)
Inzwischen findet er "hochkriminell, was die mit den Ausländern alles anstellen"
(ebd;35f.). "Häuser anzünden oder Autobomben legen" (ebd;38) hält er jetzt für "brutale
Kriminalität" (58;2), den "Scheiß Ausländerhaß" für "echt übermäßig" (53;31f.). Der Kern
seiner nunmehr vorherrschenden Auffassung schlägt sich in dem Satz nieder:
"Mir ist das scheißegal, was das für Leute sind, aber die sollten was arbeiten für ihr Geld."
(57;28ff.)
1994 tauchen genau die gleichen Grundmotive für T.s Fremdenfeindlichkeit wieder - nicht
zufällig (s.o.) im Zusammenhang seiner Selbsteinstufung als "rechts" (vgl. 54) - auf,
wenn er trotz einer "einzigsten" eigenen diesbezüglichen Erfahrung (vgl. 1994: 34f.)
pauschalisierend moniert
"Die klauen wie die Raben" (33;36)
und wenn er "radikalen Ausländern" das Verhalten vorwirft:
CLXXXI
"Schlägereien machen wie die Sau und halt auch uns auf unserer Tasche herumliegen"
(55;6f.)
Für die Rep-Wahlparole "Asylbetrüger raus!" ist er "voll dafür":
"Da würde ich meinen Namen rot darunterschreiben. das in der größten Farbe, rot und ganz
dick, also für das bin ich also schon. da wäre ich also voll dafür. Asylbetrüger raus, das ist
gut." (31;33ff.)
Nach seiner Definition von "Asylbetrügern" gefragt, erklärt er - seine schon früher
verwendete rassistische Diktion aufgreifend:
"Das, was hier an Ungeziefer herumrennt. die ganzen Polacken und Russen und was weiß
ich und Kroaten, wo da von unserem Geld leben, das sind für mich Asylbetrüger... hocken
ewig lange zu Hause herum und leben von unserm Geld, das sind für mich Asylbetrüger.
das sind vor meinen Augen also wirklich die Letzten." (31;37ff.)
Damit meint er offensichtlich auch Aussiedler, denn er weiß nicht darum, dass sie Deutsche
sind (vgl. 1994: 36;34f.).
Immer wieder wird auch in diesem Jahr der Vorwurf von Schmarotzertum lanciert:
"Auf jeden Fall kommen die rüber, weil die irgendwie mitbekommen haben, ja, hier ist ein
besseres Leben und was weiß ich, und dann liegen sie halt auf unserer Tasche herum und
arbeiten halt nichts."(32;31ff.);
"Ich kann auch nicht die ganze Zeit auf der faulen Haut herumliegen und mich, was weiß
ich, vom Staat bezahlen lassen..."(33;8ff.)
Die deutsch-nationale Einbettung kommt dabei wie 1992 wieder zum Vorschein. Wenn
Rechtssein für T. schon 1992 hieß, "sich um Deutschland zu kümmern" (vgl. oben), so ist
es auch jetzt noch für ihn mit einem Eintreten "klar für Deutschland" (55;23) und "dass
man halt für sein Land steht" (56;27) verbunden. Darunter versteht er - die für ein
rechtsextremes Politikverständnis typische Metapher von nationaler Reinheit aufgreifend:
"Man läßt halt nichts auf sein Land kommen und man verteidigt halt sein Land, egal für
was, wenn irgendeiner das Land beschmutzen will oder beschmutzen will, dass man halt für
sein Land steht und da halt dagegenspricht und so." (56;29ff.)
Selber setzt er diese Forderung im Interview um, wo er Deutschland gegen den Vorwurf
vergleichsweise zugespitzter Fremdenfeindlichkeit in geradezu apodiktischer Weise in
Schutz nehmen zu müssen meint:
"Ich mache mit Dir eine Wette, dass es in der Türkei genauso viel Leute gibt, die sagen
`hey, raus mit den, was weiß ich, Gastarbeitern... Ich möchte das Land sehen, wo das nicht
so ist. Sag ich bloß noch Klu-Klux-Klan...da will ich keinen Ton hören, weil da kann mir
keiner was weißmachen, dass Deutschland das schlimmste Land wäre, wegen, gerade
wegen der Rechtsradikalität oder sowas." (57;4ff.)
Seine eigenen deutsch-nationalen Töne gelten T. zwar als Ausweis von Rechtssein. Er will
sie aber nicht als Indiz für "Rechtsradikalität" verstanden wissen. Er glaubt, sich genügend
von jenen zwei Auffassungssyndromen abgrenzen zu können, die ihm diesbezüglich
entscheidend vorkommen: Anleihen an nationalsozialistischen Vorbildern und
Befürwortungen der aktuellen rechtsextremen Gewaltexzesse (die er 1992 noch
unumwunden kundtat (s.u.)). Der Nationalsozialismus ist in seinen Augen "halt Scheiße
gewesen" (57;35). Er erscheint ihm sogar als Grund zu Scham (vgl. 73;23ff.). wobei er in
erster Linie auf "Judenvergasung" und Krieg hinweist. Insofern andererseits "alles super
organisiert" gewesen sei, sei dies auch "der einzigste Fehler" gewesen, denn es "wäre alles
ganz gut gekommen normalerweise, denn das hat er (Hitler; d.V.) nämlich echt spitze
organisiert" (60;19ff.). Er knüpft damit an eine Seite seiner ambivalenten Einschätzung des
Nationalsozialismus` von 1992 an, wo er noch meinte:
"jetzt gerade im Moment bin ich auch dafür, es sollte wieder so werden, dass er für eine
Weile wieder da wäre, dann wäre Deutschland vielleicht wieder Deutschland, aber es kann
nicht mehr so werden und ich hoffe das wird auch nicht mehr so. das hoffe ich auf gar
keinen Fall." (1992: 43;18ff.)
CLXXXII
Von aktuellen Ausprägungen des Rechtsextremismus sucht T. sich abzusetzen, indem er
"eine Grenzlinie zwischen rechts und rechts", also zwischen den von ihm abgelehnten
"Rechtsradikalen" und der Position, der er sich selber zurechnet, zieht:
"Ich finde, es gibt die Idioten, wo denken, ja, ja, Rechte und Scheiß Ausländer raus und
Deutschland, Deutschland so, und halt wirklich halt bloß noch wenn sie einen Ausländer
sehen, dass sie ihn so vermöbeln, dass er nicht mehr weiß, wie er heißt. Und es gibt die
Rechten, die sagen, wir haben nichts gegen die Ausländer, wo zu uns kommen und
arbeiten...die, wo uns nicht auf der Tasche herumliegen." (1994: 63;5ff.)
Was diese Positionen beide "rechts" sein läßt, ist aus der Sicht T.s das ihnen gemeinsame
nationale Denken, wie er in direktem Anschluss an die obigen Sequenz klarlegt:
"Und beide Rechte, also die einen Rechten und die anderen Rechten, stehen dann halt beide
zu ihrem Land, nur dass die einen im Gehirn nicht ganz normal sind, meiner Meinung
nach." (ebd.)
Trotz seiner drastischen Wortwahl ("Ungeziefer") will er sich nicht als Rassist
(miß)verstanden wissen. In bezug auf die ihm verhaßten "Asylbetrüger" stellt er immerhin
klar:
Die sind auch nichts Besseres und nichts Schlechteres wie wir." (33;12f.)
und:
"Hauptsache, solange sie mir nicht auf der Tasche liegen, können sie dableiben, solange sie
wollen" (37;28ff.)
Er geht inzwischen sogar so weit, sich von (Rep-)Parolen wie "Deutsche zuerst"
("Blödsinn"; 70;31) zu distanzieren und, z.B. bei der Arbeitsplatzvergabe,
Leistungsfähigkeit und nicht nationale Zugehörigkeit als Entscheidungskriterium zu
propagieren. In Widerspruch zu seinem Bemühen, "auf Deutschland nichts kommen" zu
lassen, sieht er die Bewohner seines Heimatlands mittlerweile sogar kritisch:
"teilweise total ausländerfeindlich, geizig und ein wenig blöd im Kopf" (72;12f.)
Die Annahme angeblich typisch deutscher Tugenden weist er weit von sich:
"Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordentlichkeit, wenn das deutsche Eigenschaften sind, typisch
deutsche Eigenschaften, dann will ich hier sofort tot umfallen." (72;27ff.)
Als Beleg führt er an:
"Deutschland ist bald irgendwann nur noch ein einziger Müllhaufen... Das, was mit der
Umweltverschmutzung gerade... (72;31ff.)
Und er resümiert für sich:
"Auf sein Land kann man nicht stolz sein, weil was da passiert ist..." (73;10)
Nur die "steinharte" Deutsche Mark ist ihm für Nationalstolz noch Grund genug (vgl.
74;19ff.).
2.3
Gewaltakzeptanz
Thomas läßt über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg eine erhebliche psychische
und physische Gewaltakzeptanz erkennen. Sie läßt im Vergleich der Jahre 1992 und 1993 möglicherweise umzugsbedingt (Wechsel des Freundeskreises) - zwar auf der Ebene der
körperlichen Gewaltanwendung anscheinend etwas nach, tritt aber 1994 wieder deutlich
hervor. Vor allem im ersten Jahr ist sie stark mit der Bereitschaft zur persönlichen
Durchsetzung von politisch motivierten Ungleichbehandlungsforderungen gegenüber
Migranten verbunden. Später verblaßt diese Zuspitzung und wird von der erstarkenden
Forderung nach einer allgemeinen Ausweitung des institutionellen Gewaltpotentials
abgelöst, eine Forderung, die freilich mit seinem eigenen, auch unabhängig vom
"Ausländerproblem" bestehenden, gewaltnahen Verhalten konfligiert.
1992 sind T.s Folgerungen aus seinem Ausländer- und Aussiedlerhaß rigoros. In großer
emotionaler Erregung und unter Verwendung rassistischer, menschenverachtender
Vokabeln postuliert er:
CLXXXIII
"Nur heraus mit dem Zeug... Die sollen einfach zack weg, wieso kommen die alle nach
Deutschland? Das ist einfach das letzte... Bloß raus mit den Viechern, Ungeziefer"
(26;12ff.)
Dabei begnügt er sich nicht damit, radikale politische Lösungen einzufordern (s. seine
Präferenz für die "Republikaner"), sondern kann sich auch vorstellen, sich selbst an
Gewaltaktionen wie in Rostock zu beteiligen:
"Ich meine, es könnte sein, dass ich auch ein paar Steine reingeworfen hätte, so wäre es ja
nicht. Klar: Wahrscheinlich hätte ich schon mitgemacht" (28; 23ff.)
Er leitet diese Bereitschaft auch aus seinem deutsch-nationalen Denken ab, wie aus der
Fortführung der gerade zitierten Sequenz hervorgeht:
F.: "Und wenn jemand zu Dir gesagt hätte: Das ist ja Gewalt, was Du da machst, was
hättest Du dem dann gesagt?" T.: "Zu dem hätte ich gesagt, wenn Du echt ein richtiger
Deutscher bist, dann würde ich an Deiner Stelle mal ganz still sein, weil Deutschland ist
total überfüllt von Ausländern und Asylanten, da muss man etwas dagegen
unternehmen...Ja wenn es nur ein Deutscher wäre, der nur für Deutschland ist, der würde
da mitmachen, der würde überall hingehen und mitmachen, wie in Rostock." (28;27ff.)
Andererseits scheint er zwischen seiner Bereitschaft zum Steinwurf und dem Einsatz von
Molotow-Cocktails durch die Randalierer (s. auch unten) einen Unterschied zu machen. Er
hält ihn aber nicht davon ab, sich mit dem ihnen zugeschriebenen deutsch-nationalen
Denken zu solidarisieren:
"Ja irgendwo haben sie schon recht, aber auf der anderen Seite ist es schon ein wenig hart,
was sie da tun, das ist schon ein wenig zu hart. Ich kann es ja schon verstehen, die welche
das machen, die wissen genauso, dass es in Deutschland keine Nationalität mehr gibt. Also
in ganz Deutschland gibt es jede Nationalität und das wollen die eben auch nicht. Die
wollen eben auch, die denken: Deutschland ist Deutschland und Deutschland soll
Deutschland bleiben..." (27;25ff.)
1993 hat er auf der Basis der im vorhergehenden Abschnitt zu Ungleichheitsvorstellungen
ausgebreiteten Überlegungen im Nachgang zum Solinger Brandanschlag seine politische
Gewaltbereitschaft reduziert. Dass er sie, weil er nunmehr ja nur "Gastarbeiter" aus seinen
Ablehnungen ausklammert, jetzt nicht noch gegenüber "Asylanten" kundtut, hängt
offensichtlich damit zusammen, dass er aufgrund seines Umzugs in ein "in Maßen" (55;30)
von Ausländern bewohntes Dorf seine Überfremdungsängste überwinden konnte. Mit
bezug darauf urteilt er "Es ist ruhiger hier unten, weil da oben war es echt schlimm" und
schätzt den Ausländeranteil nur noch auf ein knappes Zehntel seines vormaligen Eindrucks:
"so 3%" (56;38):
"Es ist schon ein wenig gemütlicher zum Auf-der-Straße-Herumrennen und so. Da musst
Du nicht denken, wah, da kommt schon wieder einer, los, hau ihm die Fresse ein." (56;4f.)
Im übrigen wäre ihm die Beteiligung an einer ausländerfeindlich orientierten und mit
Gewalt vorgehenden Clique "zu gefährlich", weniger wegen den "Bullen" als "wegen den
Ausländern", denn:
"Da holen die kurz F.er und E.er oder was weiß ich für Gruppen zusammen und dann sind
wir nur ein paar Hansele da, keine Chance mehr." (56;21ff.)
1994 kann er sich zum einen durch die oben erwähnte "Grenzlinie" zwischen "idiotischen"
gewaltorientierten Rechten und Rechten, die denken wie er, bzw. durch
deutschlandkritische Äußerungen noch klarer absetzen. Zum anderen assoziiert er die
multikulturelle Gesellschaft inzwischen auch mit Vorteilen ("in richtigen italienischen
Restaurants Pizza essen gehen... Kebab-Läden"; 71;16f.), so dass er zusammenfaßt:
"Also gut, ich meine es ist vielleicht ein Nachteil, weil irgendwann ist mal Deutschland
total überbevölkert, aber auf der anderen Seite, finde ich, ist das voll okay, wieso auch
nicht? Ich habe da nichts dagegen." (71;25ff.)
Ein reflektierter Orientierungswechsel kann darin aber kaum erblickt werden. Trotz aller
Distanz zum historischen Nationalsozialismus, kann er ihm nämlich auch positive Seiten
CLXXXIV
gerade darin abgewinnen, ein minderheitenfeindliches Klima, das seiner Einstellung
entgegengekommen wäre, geboten zu haben:
"Na ja, also ich möchte da echt nicht gelebt haben. War auch eine Scheiß Zeit irgendwie.
Irgendwie wäre es vielleicht sogar anders gewesen wie heute. Da hast Du wahrscheinlich
nicht so viele Probleme gehabt, wie, wenn Du Deutscher warst, dann hast Du sagen, über
Ausländer halt sagen können, was Du hast wollen, ohne dass es hat Probleme gegeben, weil
wenn Du heute noch bloß sagst `Du dummer Türke` oder so, dann bist Du halt gleich
untendurch, dann bist Du überall untendurch.... Das war vielleicht damals das einzig
Gute." (65;4ff.)
Entsprechend fühlt er sich zu einer Vorsicht hinsichtlich der Äußerung seiner wirklichen
Meinung gemahnt, von der nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie auch im Interview
durchschlägt:
"ich bin der Beziehung... schon brutal vorsichtig, was ich sage. Da musst Du vorsichtig
sein..." (65;31ff. ähnlich lautend vgl. 66;29f.)
Nicht nur Meinungsäußerung, sondern auch noch vorhandene eigene Gewaltgelüste
scheinen von der so motivierten Zurückhaltung betroffen zu sein, denn bezogen auf die
Solinger Täter äußert er:
"die haben Scheiße gebaut... und die haben ihre Strafe bekommen dafür, also, und ich
meine, dass es mir nicht mal so geht, drum muss ich ein bißchen cool tun, mit dem was ich
sage." (66;10f.)
Wenn
also
einerseits
tiefsitzende,
ihn
emotional
aufwühlende
Überfremdungsempfindungen sowie Gefühle materieller Benachteiligung im
Zusammenhang mit der Anwesenheit von Migranten in Deutschland und deutsch-nationale
Denkweisen als Versuche zu ihrer Bearbeitung Thomas rechtsextrem anfällig werden
lassen, so macht sich andererseits in dieser Hinsicht auch seine allgemeine, ebenso in
unpolitischen Kontexten auf den Plan tretende Gewaltakzeptanz bemerkbar. Sie kann im
Kontext der Suche nach geschlechtsspezifischer Identität gedeutet werden.
Obwohl T. permanent beteuert, er sei gegen Gewalt (vgl. 1992: 45;18f.; 1994:41;19), ist er
doch immer wieder in Gewaltsituationen verwickelt. Dieser Widerspruch ist damit
erklärbar, dass für ihn "Gewalt" i.e.S. begrifflich erst auf relativ hohem Niveau physischer
Auseinandersetzung anfängt.
1992 beginnt sie für ihn "sobald es irgendwie etwas mit Waffen zu tun hat" (45;27).
Auseinandersetzungslevels unterhalb dieser Ebene normalisiert er:
"okay Gewalt ist auch, wenn man sich mal prügelt, aber das ist dann für mich noch eher
normal" (ebd.;28)
Er gesteht zu, am Entstehen von Gewaltsituationen auch selber durchaus nicht unbeteiligt
zu sein, ja geradezu Lust an der Provokation zu verspüren:
"Das einzige Problem bei mir ist eigentlich meine große Klappe...In der Grundschule habe
ich immer gegen die Großen eine große Klappe gehabt, da habe ich mindestens jeden Tag
auf das Maul bekommen... da haben sie mir immer einen verpaßt, puh, aber in der vierten
Klasse, das waren alles Pimpfe, solche Magermilchkrüppel...da musste ich nur blasen, da
haben sie schon Angst bekommen. ..Am meisten Spaß macht mir, kleine Kinder zu ärgern."
(19;15ff.)
Zur Illustration des Letzteren erzählt er nicht ohne Stolz folgende Begebenheit seiner
Machtdemonstration, wobei auffällt, dass es sich bei dem Schickanierten um einen
Ausländer (im Kindesalter) handelt, sie also als nicht zufällige Druckausübung eines
ausländerfeindlich eingestellten Deutschen gegenüber einem Ausländer und eines die
Kindheitsphase hinter sich lassen wollenden 13Jährigen gegenüber einem Grundschüler
gedeutet werden kann:
"Als Beispiel jetzt mal: Ich habe mittags keine Schule gehabt, dann bin ich an die Schule
gegangen, aus der Italienerschule ist so ein kleiner Italiener gekommen und wollte
CLXXXV
eigentlich auf das Klo gehen, dann habe ich ihn gefragt, wo er hin will, dann hat er gesagt
`Auf das Klo`. Na ja, dann habe ich gesagt: `Habe ich Dir das erlaubt?` Dann sagt er:
`Nein`. Also eine andere Italienerin hat zu ihm gesagt, er soll gehen. Dann laufe ich in diese
Richtung,. Dann kommt er mir entgegen vom Klo. Dann sage ich: "Wo warst Du jetzt? Auf
dem Klo? Habe ich Dir das erlaubt?` `Nein, aber ich habe den Lehrer gefragt, der hat
gesagt, ich darf gehen` `Das nächste mal fragst Du aber mich, ist das klar? habe ich zu ihm
gesagt. Dann sagt er: `Ja, Entschuldigung.` `Und wenn Du mich nicht gefragt hast, dann
machst Du in die Hose, ist das klar?` `Ja.` Dann ist er abgehauen. Solche Sachen eben. Ich
weiß auch nicht, das gefällt mir eben." (19;33ff.)
Mit seinem Freund zusammen ist er "immer unterwegs" (39;25). Die beiden
"gehen dann eben auch überall hin und spielen voll die Coolen...,aber wenn es dann mal
brenzlig wird, machen wir schnell eine Fliege... Dann machen wir die Leute dumm an:
`Hey, Du Depp, mach mal `ne Fliege` oder so" (39;38)
In seiner ironischen Selbstkritik solchen Verhaltens -"wir sind eben auch noch nicht die
Herrscher von M." (39,29ff.) - tritt der Versuch von Machtdemonstration als
Motivgrundlage deutlich hervor.
Auch im Rahmen seiner Clique (s.u.) sind gewalthaltige Auseinandersetzung unterhalb des
Einsatzes von Waffen, der explizit abgelehnt wird - "Buschmesser, Schlagstock und solche
Dinge, also, wer das mal dabei hat, der fliegt in hohem Bogen raus" (45;12ff.) -, an der
Tagesordnung:
"Das kommt eben mal vor, dass man sich prügelt.. dann bekommen die einen eben eine
aufs Maul und irgendwann sind die mal wieder überlegen und dann ist es wieder anders
rum und das sagt nichts." (45;30ff.)
Wer solche Violenz nicht mitmacht oder sich zumindest eher zurückhält, wird "verarscht"
und - nolens volens die maskulinistische Struktur gewaltsamer Interaktionspräferenzen
decouvrierend - als "softiemäßig" abgestempelt (vgl. 48;32ff.). Mutproben passen in dieses
Bild::
"Also Mutproben haben wir ganz schlimme gemacht: Ausgestreckte Hand und dann mit
dem Messer, aber wirklich voll schnell.... vom Daumen immer einen Finger weiter und
dann voll schnell durch." (47;27)
Doch auch bei größeren Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Cliquen war T.
schon dabei, wobei er nicht klarlegt, wie weit seine eigene aktive Beteiligung ging.
Zumindest aber rechnet er sich zu einer der beiden Seiten, wurde immerhin ein
Dosenöffner als Waffe eingesetzt und waren die Folgen nicht gering:
"einer von uns hat das Nasenbein gebrochen gehabt, der andere hatte voll eine Macke im
Hirn, voll eine Narbe und so."(35;11ff.)
Und auch diesmal waren die Gegner - "eine reine Raper-Gruppe"- "nur Ausländer,
hauptsächlich Türken" (36;20), die das Ziel hatten, Skinheads anzugreifen, von denen zwei
in der Gruppe standen, mit denen T. sich gerade unterhielt, als der Angriff der Raper
erfolgte (vgl. 35f.).
Wenn auch die Verstrickungen in Gewalt unter Jugendlichen, insbesondere die
Streitigkeiten mit Ausländern, aufgrund des Umzugs 1993 abnehmen, heißt dies nicht, dass
physische Gewaltsamkeit dadurch gänzlich aus dem Alltag von T. verschwunden wäre. Er
erzählt, dass es in der neuen Schule "am Anfang" "schon schlimm" war (4;8):
"Da sind halt alle gegen mich gestanden am Anfang... dann ist dann eine Schlägerei im
Gange gewesen. Das ist aber öfters so." (4;11ff.)
Auch hier kommt die Normalität von Gewalt in Jungenbeziehungen - die Mädchen in der
Klasse sind allesamt "brave Engelein" (4;33) - zum Ausdruck. In der folgenden Sequenz
kommt sie eher in Projektion auf Mitschüler, zur Sprache:
"Wir haben so einen in der Klasse, der läßt sich auch von jedem alles gefallen... der
bekommt auch jeden Tag aufs Maul oder so, einfach nur so. Und das wollten sie mit mir
auch machen, das haben sie das erste mal bei mir auch gemacht, dann...."(3;31ff.)
CLXXXVI
1994 sind jene Mitschüler, die ihn vorher trietzten, seine "besten Kumpels" (25;12). Seine
Gewaltakzeptanz scheint wieder gestiegen zu sein. Voller Begeisterung erzählt er u.a. von
einer "Klopferei" mit einem Konfliktgegner, die im Zuge von Rachefeldzügen später in
eine Massenprügelei ausartete. Anlass war ein Ereignis, dass er als Auslösezwang und
Rechtfertigungsgrund für Gewalthandeln begreift: "Freundin anmachen" (41;24). Er
berichtet, dass in seiner Abwesenheit ein Junge aus einem Nachbarort seine Freundin auf
einem Volksfest nach Auskunft seiner Freunde, die Zeugen waren, "Voll immer
begrapscht" (42;2) habe. T. hat darauf
"...gesagt `Der soll nur mal kommen`, dann habe ich das irgendwie mitbekommen, dass er
an dem Tag nach T. kommt, dann habe ich auf ihn gewartet. Dann habe ich ihm ein paar
zentriert, ich habe auch ein paar abbekommen, dann haben wir gleich eine Schlägerei
gehabt und so...dann haben wir ein bißchen herumgeprügelt. ich ein paar draufbekommen,
er ein paar draufbekommen, dann hat er halt ein bißchen geblutet, er, und ich auch von der
Lippe, auf jeden Fall habe ich ihm dann noch vollends den Rest gegeben ...Ich habe ihn
noch zusammengestiefelt vollends, habe ihn hingelegt, voll rein, aber volle Kanne." F.:
"Mit dem Schuh oder was?" T.:"(LACHEN) Ja. Voll zusammengestiefelt." (42,3ff.)
Folge dessen war ein paar Tage später der Rachefeldzug seines Gegners und seiner
Kumpels. Zu zwölft seien sie in das "Kneiple", den Treffpunkt von T.s Clique, die zu
diesem Zeitpunkt nur zu fünft war, gekommen. Einem Freund gelang es dann aber, Freunde
seines Bruders aufzutreiben, deren Solidarität mit ihm ihn mit Bewunderung und einem
gewissen Stolz erfüllt:
"Wir gedacht, der wird schon mit fünf, sechs Leuten kommen, dann ist der gekommen,
Auto proppevoll (BETONUNG), das nächste Auto proppevoll (BETONUNG)... nur Ältere,
drei Autos proppevoll, dann ist der G. noch gekommen auf seinem 8oerle (Kleinkraftrad;
d.V.) und noch mal zwei Mann drauf, also zu dritt auf einem 8oerle gefahren, und voll
denen nachgestochen dann sind sie aber ab... und wir scheißegal hinterher.... dann ich
gerade noch den einen Typ, wo meine damalige Freundin kurz vorher halt so rumgemacht
hat, dem habe ich noch ein paar gegeben, den habe ich voll zusammengedroschen. ... Da
war so ein Neger dabei, so zwei Kopf größer wie ich...voll in die Fresse geknallt dem
Schwarzen, dem Schwarzen voll in die Fresse, voll auf die Schnauze bekommen, alles
kaputt und weg war er. Ja und dann haben wir die halt noch ein bißchen vermöbelt und
dann war die Sache gegessen." (44;4ff.)
Die Diktion der Erzählung verrät die Faszination, die T. Gewalttätigkeit abnötigt. Insofern
muss er eingestehen "anbrennen lasse ich nichts..", meint aber insgesamt, wenn schon nicht
die moralische Verwerflichkeit, so doch im direkten Anschluss an diese Äußerung
zumindest die Dysfunktionalität von Gewaltanwendung im Sinne eines Instruments der
Interessendurchsetzung feststellen zu müssen:
"Aber so im großen und ganzen, ich habe mitbekommen, Gewalt anwenden, das ist
meistens die falsche Wahl, also es bringt meistens nichts..." (45;19f.)
Eben dies illustriert er - fast paradoxerweise - mit einem Beispiel, bei dem ein
Konfliktgegner - ausgerechnet im Kampf um ein Mädchen ("wegen einem Weib", "wegen
der dummen Fotz`") ihn angriff:
"Dann sage ich: `Du bist doch echt blöd, wegen so einem Weib sich schlägern, gerade noch
wegen so einer Blöden, das verstehe ich nicht.` Dann hat er gemeint, er muss mir ein paar
geben, dann habe ich ihm ein paar zurückgegeben, aber dann hat er mir die ganze Zeit ein
paar gegeben und ich habe gesagt `Komm, laß das, das bringt eh nichts.` Dann hat er
gemeint: `Komm, schlag doch mal zurück!` `Àch was, wegen dem?` Dann hat er mir wieder
ein paar gegeben und alle drumrumgestanden:`Jetzt gib` ihm eine!` Dann habe ich ihm,
eine, zwei zurückgegeben. Na ja, dann hat er zuerst dumm geschaut, wollte mir noch eine
geben, ich abgewehrt, habe ihn in Würgegriff genommen, `Jetzt is Ruhe, tschüß`, gegangen.
Alles klar, dann war die Sache gegessen." (46;2)
CLXXXVII
Angesichts der zum Ausdruck gelangenden Selbstverständlichkeit körperlicher
Gewaltanwendung - man "gibt sich" gegenseitig "eine", zumal wenn Freunde zuschauen,
und dann ist die Angelegenheit irgendwann "gegessen" -, kann T. gar nicht anders als seine
Einlassung "Ich will gar keine Schlägereien. Ich bin voll gegen Gewalt" sofort zu
relativieren:
"ja okay, nicht ganz, immer mal wieder musst Du ein paaren aufs Maul hauen." (41;18ff.)
Andererseits hält er für das dringendste Problem in Deutschland "gerade das mit der
Gewalt... Ich finde, das ist echt teilweise brutal" (76;8f.) und fordert einen Ausbau
institutioneller Gewalt:
"mehr Polizeistreifen und die Polizei sollte mehr dürfen... einfach mal durchgreifen
dürfen." (76;17ff.)
Mit seinen kleineren Übertretungen von Recht und Ordnung (obige Schlägereien,
Mofafrisieren, Haschischkonsum) könne er dann trotzdem weitermachen, nur "irgendwo in
der Bude drin" und: "dann musst Du halt cool tun" (vgl. 76,17ff.)
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1.
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Neben der `Ausländerproblematik`, die T. 1992 belastet (s.o.), bedrücken ihn auch andere
Schwierigkeiten.
Nachdem T. nach der Scheidung seiner Eltern beim Vater gewohnt hatte und dort eine für
ihn harte Phase voller Gefühle der Ablehnung und der Benachteiligung bei der Stiefmutter
durchgemacht hatte ("war schon sehr schlimm"; 1992:18,18f.), haben sich zwar diese
Probleme nach dem Tode seines Vaters 1990 mit dem Umzug zu seiner Mutter erledigt,
sind seine familiären Verhältnisse aber dennoch nicht unproblematisch geworden. Die in
seinen Augen zu strengen Vorgaben seiner Mutter bzgl. Ausgehzeiten sowie Zigarettenund Alkoholkonsum ("Meine Mutter behandelt mich sowieso noch wie ein kleines Baby:"
1;20f.), findet er "so ätzend, echt so ätzend (BETONUNG)". Sie demonstrieren ihm erneut
seine Abhängigkeit von der Macht der Erwachsenen, die er auf der Schattenseite der
Scheidung seiner Eltern schon vorher deutlich zu spüren bekam. Der Freund seiner Mutter
dagegen kümmert sich um die Erziehung der Kinder seiner Freundin wenig (vgl. z.B.
1994:13;6ff.) und führt mit T. eher `Männergespräche` über Motorräder und "über Weiber"
(1992:15;20).
Zudem gibt er 1992 an, das Problem zu haben, keine Freundin zu finden (Fb.).
1993 hat er eine Freundin, doch die Probleme im Elternhaus bleiben. Sie hängen jetzt
offenbar damit zusammen, dass er in der Schule wenig Pflichtbewußtsein zeigt, nur noch
schwache Noten einfährt (vgl. 1992: 10ff.) und sich dadurch auch von ihm selbst erkannte
schulische Probleme (vgl. auch Fb.) einhandelt, ergänzend dazu aber auch damit, dass er in
erheblichem Maße dem Alkohol, auch `Hartem`, zuspricht, und er nicht selten "total
besoffen, stinkezu" (24; 34; vgl. auch 29ff.) nach Hause kommt. Er weiß um die
Befürchtung seiner Mutter, "ich werde mal zum Alkoholiker, wenn ich so weiter mache"
(32;27f.). Sie sieht seine weitere Lebensplanung (Mittlere Reife über das 9+1-Modell
machen) gefährdet. Doch auch ihn selber bedrückt dieses Problem (vgl. Fb.).
1994 bleibt das Verhältnis zu den Eltern problembelastet, ja ist zur Mutter eher noch
schlechter geworden (vgl. 14). Trotz Schulwechsels (Berufsschule) bleiben auch die
schulischen Probleme. Hinzu kommen neu, vermutlich aufgrund der stärkeren zeitlichen
Beanspruchung durch die Berufsausbildung und das gestiegene Anspruchsniveau in
Hinsicht auf Konsum, die Probleme, zu wenig Zeit zu haben, zu wenig
Freizeitmöglichkeiten zu besitzen und zu wenig Geld zur Verfügung zu haben (vgl. Fb.).
Geldknappheit ist für ihn allerdings auch schon in den Vorjahren durchgängig ein Problem.
Häufig ist er "blank" und muss sich Geld "pumpen". Unentscheidbar ist, ob auch die
CLXXXVIII
kleineren Diebstähle, von denen er 1992 berichtet, damit in Verbindung stehen. Deutlich
hingegen scheint die Vehemenz seines Vorwurfs an Migranten, "uns" "auf der Tasche zu
liegen", mit seiner eigenen finanziellen Knappheit zusammenzuhängen.
Die Herausbildung von konkreten sachlich-inhaltlichen Interessen nach einer spezifischen
Form von Lebensgestaltung ist bei T. über den Untersuchungszeitraum hinweg nicht
erkennbar. "Abhängen", mit dem (frisierten) Mofa herumfahren, Grenzübertretungen,
Gewalt, Alkohol, später (1994) auch Haschischkonsum bilden seine primären
Zeitverwendungen.
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
Die familiären Beziehungen von T. sind schwierig. Durch eine Fehlentscheidung des
Vaters ("Er hat gesagt, das war eigentlich der größte Fehler, wo sie sich getrennt haben,
meine Mutter und mein Vater"; 1992:9;28f.) mit "Drecks-Stiefgeschwistern" und vor allem
einer Stiefmutter konfrontiert, von der er "Schläge bekommen (hat), mehr als sonst etwas"
(1992:9;15f.), ist er aufgrund des Todes des Vaters gemeinsam mit seiner Schwester
notgedrungen wieder zur Mutter gekommen. Bei ihr und ihrem Partner fühlt er sich zwar
akzeptiert, kann sie aber über die Jahre hinweg nicht als Ansprechpartner bei Problemen
erleben (vgl. Fb.), sodass er mit ihnen "alleine fertigwerden" muss (1992: 6;24f.). 1992
würde er auch gerne noch mehr gemeinsame Unternehmungen im Familienkreis machen
(21;13ff.). Seine Mutter erscheint ihm vorrangig als Kontrollinstanz, die ihn einengt ("gibt
mir zu wenig Freiheit"; 1992:10;38), mit Strafen wie Hausarrest und Fernsehverbot belegt
und "vielleicht zwei mal im Jahr oder so" (1992:16;32f.) auch mit Schlägen bestraft (vgl.
auch 1992:9). Später (1994) geschieht dies nicht mehr, zumal er ihr droht,
zurückzuschlagen (vgl. 12;8ff.). Dessen ungeachtet ist er über den Einsatz seiner Mutter an
seine jetzige berufliche Ausbildungsstelle gekommen. 1992 gibt es auch noch
handgreifliche Auseinandersetzungen mit der Schwester ("Die bekommt jeden Tag die
Schnauze voll"; 16;13), die 1994 allerdings, nunmehr selber im Jugendalter und damit mit
gleichen Entwicklungsaufgaben und innerfamiliären Auseinandersetzungen konfrontiert
wie er (vgl. 1994:7), seine nächste Bezugsperson ist. Insofern ist es wenig verwunderlich,
wenn T. sowohl Gelegenheiten zum Verbringen seiner Freizeit als auch seine
Bezugspunkte für die Problembesprechung eher außerhäusig bei gleichaltrigen Freunden
sucht. In diesem Lebensbereich wiederum erfährt er Konflikte, die für ihn, vor allem
anfänglich, ethnische Ursachen haben und deshalb entsprechenden Bearbeitungsversuchen
zugeführt werden. Dabei kann er sich auf einen Deutungshintergrund stützen, der auch im
Elternhaus vorhanden ist. Ganz offensichtlich bezieht er Argumente für seine rigoros
fremdenfeindlichen
Haltungen
und
ihre
Zuspitzungen
zu
gewalthaltigen
Ungleichbehandlungsforderungen, vor allem 1992, von seiner Mutter und - wie es scheint
vorrangig - von ihrem Freund. Im Zusammenhang mit seinen bereits oben
wiedergegebenen Äußerungen bezieht er sich immer wieder auf sie:
"Nur heraus mit dem Zeug. meine ganze Familie, meine Mutter, der ihr Freund, alle haben
gesagt, okay ich finde das nicht so gut mit den Molotow-Cocktails, aber... Die sollen
einfach zack weg." (1992:26;12ff.)
und:
"Denen stinkt es eben auch, weil wir müssen ja die Steuern eigentlich bezahlen für die, wir
zahlen ja nur für die und das stinkt denen auch, weil wir müssen immer mehr bezahlen und
mehr bezahlen und die tun nichts dafür, für das Geld, und das stinkt denen eben echt, das
ist schweinisch, darum war meiner Mutter ihr Freund wahrscheinlich auch so dafür, dass
sie (die Krawallmacher von Rostock-Lichtenhagen; d.V.) so weitermachen." (29;23ff.)
und mit bezug auf die Maueröffnung, die T. ja für einen entscheidenden Akt für die
Auslösung des Migrantenzustroms nach Deutschland hält (s.o.),:
"Bei uns zu Hause haben wir alle gesagt: Von uns aus könnte man ruhig die Mauer wieder
rauftun, die Mauer wieder hinbauen" (26;27ff.)
CLXXXIX
1993 berichtet T. von einem nach seiner Einschätzung zwar "eher lustigen, aber..." (49;34)
wohl im Wissen um die politische Haltung auch nicht bloß als makaber einstufbaren
Kommentar seinen Stiefvaters zum Solinger Brandanschlag:
"...meiner Mutter ihr Freund schaut Nachrichten halt an: Deutsche verletzen Türken..., dann
meint er auch halt dazu: `super, wieso sind die nicht ganz he gegangen. Oder: Die sind auch
nicht so, die haben das auch nicht mehr drauf, die schaffen das nicht mal, die richtig
umzubringen und so." (49;22ff.)
Sowohl Gewalt als Konfliktregelungsmittel als auch Fremdenfeindlichkeit kann damit T.
aufgrund seiner familiären Sozialisation als "normal" erscheinen. Angesichts dessen, dass
die Eltern aber ansonsten kaum effektiv orientierungsstiftend zu wirken vermögen, ist es
unwahrscheinlich, anzunehmen, die entsprechenden Haltungen T.s hätten (allein) hier ihren
Ursprung.
Bedeutsam scheinen vor allem die Freunde, 1992 insbesondere sein Freund S, zu sein, den
er in ihrer Beziehung als "Chef" (40;21) akzeptiert. Dabei handelt es sich um einen
Jugendlichen, der 1992 noch zum Sample gehörte, dann wegen seines Umzugs herausfiel,
und durch eine eindeutig rechtsextremistische Orientierung auffiel. Mit ihm ist T. "immer
unterwegs" (1992:39;25f.). Über ihn ist er auch in die o.e. Clique eingebunden (vgl. 41;
12f.). 1993 geht sowohl die Freundschaft, als auch die Cliquenbindung in Folge des
Umzugs von T. auseinander. Damit geht eine Abschwächung sowohl von
Ungleichheitsvorstellungen, als auch von der Häufigkeit der Verwicklung in
Gewaltsituationen einher. Alkoholkonsum gewinnt gleichzeitig an Bedeutung.
Die neue Clique, der T. 1994 angehört, ist insgesamt in ihrer Struktur loser als die
vorherige. Sie ist außerdem stärker mit Mädchen durchmischt. Auch jugend-/subkulturell
gibt sie sich unspezifischer: "Techno-Freaks dabei und Heavy-Metal-Typen und Kiffer und
Säufer und was weiß ich, so alles halt" (1994:49;16f.). Zwar sind auch welche dabei, die
von sich glauben, "sie seien die rechtischsten Typen, die es auf der ganzen Welt gibt"
(50;34), doch insgesamt gebe es "halt von jedem etwas" (ebd.). Eher verhält es sich jetzt so,
dass man sich vor "Rechten" in Acht nimmt; dies weniger aus politischen Gründen, denn
um sie sich nicht zu ernsten Gegnern zu machen, antwortet man auf deren "Sieg heil!"
schon mal mit demselben Gruß (vgl. 1994:52). Man hat jedoch Angst vor ihnen, weil sie
T.er sind und T.er aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen als Feinde gelten und sie
zudem als "Glatzen" den Ruf haben, leicht reizbar und sehr gewaltbereit zu sein (vgl.
ebd.;49ff.). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Gegnerkonstruktion auch zur
o.e. Grenzlinienziehung zwischen rechts und rechts beiträgt, vielleicht sogar die Idee dazu
angestoßen hat.
Eine Freundin hat T. über den Untersuchungszeitraum hinweg allenfalls sporadisch.
Partnerschaftsbeziehungen haben für ihn nie die Bedeutung, die er Jungenfreundschaften
beimißt.
Die Schule stellt für T. über den gesamten Zeitraum der Studie hinweg einen Ort
erheblichen
Ärgernisses
dar.
"Abbrennen",
"Zeitverschwendung",
"häufige
Unterrichtsstörung" und "gegen die Schulordnungsregeln verstoßen" sind seine ersten
Assoziationen 1992 (vgl. 50 und 3). Er zieht "Spaß" daraus, Lehrer "fertigzumachen", auch
solche, die er an sich mag (vgl. 4) Die soziale Anerkennung, die er dadurch von
Klassenkameraden genießt, ist ihm wichtig:
"Da haben mir alle gratuliert, wie ich das geschafft habe." (1992:4;6f.)
Auch nach dem Wechsel auf eine andere Schule 1993 bleibt es bei der Einschätzung
"Scheiß Schule. Wir machen, was wir wollen" (3;25f.). Sind seine Leistungen 1992 noch in
einem Bereich, der die Aspiration `Mittlere Reife` bzw. Berufsfachschule entstehen läßt
(vgl.1992:51f) und zeigt er sich für die Aussicht auf einen "richtigen Job" noch
leistungsmotiviert (vgl.ebd.; auch sein Lehrer bezeichnet ihn als einen "pfiffigen Typ, der
für die Hauptschule eigentlich schon zu weit ist"), so fallen sie danach rapide ab, können
sich dann zum Hauptschulabschluss allerdings noch wieder ein wenig verbessern ("im
CXC
Durchschnitt 3,2, das ist eigentlich okay"; 1994:3;39), so dass der Übergang in eine
berufliche Ausbildung relativ leicht möglich wird. Auf der Berufsschule 1994 handelt er
sich, obwohl er sie zum Befragungszeitpunkt erst wenige Monate besucht hat, sofort
Probleme ein. Er schwänzt sie gleich zweieinhalb Wochen lang (vgl. 1994: 25;34ff.).
In seiner Freizeit spielt T. im Verein Fußball und nimmt gerne an den wenigen zur
Verfügung stehenden Freizeitangeboten der Jugendarbeit teil. Dominiert wird seine
Zeitverwendung aber durch "Herumhängen auf der Straße", kleine Grenzübertretungen
("öfter mal geklaut"; vgl. 1992:6;34ff. vgl. auch 1992:42,1ff.)), die o.e. gewaltförmigen
Provokationen, Cliquenkontakte sowie Drogenkonsum (vor allem 1993 Alkohol, 1994:
Haschisch).
1992 ist T. stark auf sein Wohnumfeld bezogen. Entsprechend stark leidet er unter der
angeblich "übermäßigen" Präsenz von Migranten dort. 1993 ist in seiner nunmehr
dörflichen, neuen Wohngegend a) "weniger los" (vgl. z.B. 18 und 20) und b) zu seiner
Freude ein deutlich geringerer Migrantenanteil festzustellen (s.o.). Damit geht eine
Reduktion von Gewaltsituationen und seiner fremdenfeindlichen Haltung einher.
3.1.3 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
Soweit erkennbar rezipiert T. keine medialen Produkte, die der Verbreitung rechtsextremer
Propaganda dienen. Allenfalls sein Musikkonsum könnte als in dieser Hinsicht prekär
eingestuft werden. Rechtsrock gehört neben Heavy Metal zu den von ihm bevorzugten
Genres. Er mag "den Inhalt von den Texten". Zwar findet er "voll den Nazi-Trip" "nicht so
gut", mag aber, wenn es "schon ein bißchen gegen die Ausländer" geht (1992: 42;9ff.).
Allerdings setzt er sich von "zu extremen" Texten ab und gibt generell zu erkennen, dass
eher das Musikalische ("das Harte") als das Textliche für seine Vorlieben ausschlaggebend
ist. Es handelt sich mithin eher um Stil- als um politisch-inhaltliche Präferenzen (vgl. auch
1992: 42;1ff.).
Nicht ohne Auswirkungen auf sein Denken blieb der schulische Geschichtsunterricht, den
er entgegen seiner sonstigen Einstellungen gegenüber allem Schulischen als "interessant"
empfand und ein Besuch, den er im Klassenverband im KZ Dachau "voll interessiert"
(1994:62;9) absolviert hat. Habe man sich auf der Hinfahrt und selbst auf dem Gelände
noch Judenwitze erzählt (61;14), sei er anschließend beeindruckt gewesen:
"Wenn Du da rüber läufst ins Krematorium, da stehst Du drinnen und denkst so `lauter
Tote` und da kommt es Dir dann ganz anders..." (61;37ff.)
Er resümiert für sich:
"Manche meinen sie wären voll die Neonazis und voll die rechten Typen und wissen sie
nicht einmal was Hitlerjugend war...dann denken die halt, ja, alles, was keine Arier sind,
sind Ausländer und ich möchte wissen, wer von den Nazis dann Arier ist. Ich wette, das
sind gerade mal 4 Prozent davon..." (62;23ff.)
Dass T. diese Deutung nun vornimmt, hängt aber wohl auch damit zusammen, dass sie für
ihn jetzt deshalb subjektiv funktional ist, weil sie eine selbstaufwertende
Absetzungsmöglichkeit von den bedrohlichen gegnerischen T.er Glatzen beeinhaltet und
auch sonst zu seiner Grenzziehungsidee zwischen rechts und rechts paßt: Er kann sich vom
Rassismus des Nationalsozialismus politisch korrekt absetzen, ohne sein in seinen Augen
gemäßigtes Rechtssein aufgeben zu müssen.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
T. hat keine Erfahrungen mit aktiver politischer Teilhabe. Verantwortlich dafür scheint
weniger ein Mangel an Gelegenheit zu sein. Weder z.B. an einem vorgezogenen Wahlrecht,
noch an einer durchaus möglichen Beteiligung am örtlichen Jugendgemeinderat hat er
Interesse. (vgl. 1994er Int.). Auch über die Zukunft macht er sich noch keine Gedanken.
Eher ist eine diesbezügliche Interessenlosigkeit zu konstatieren. Zu fragen ist allerdings,
CXCI
wieso diese sich aufbaut. Ausdrücklich führt T. sie darauf zurück, sich die Gegenwart nicht
verdüstern lassen zu wollen:
"...da mache ich mir jetzt noch keine Gedanken. da würde ich mir jetzt nur alles versauen...
ich würde mir gleich meine ganze Jugend, meine ganze Freizeit versauen dadurch."
(64;2ff.)
Wenn er 1993 positive Erfahrungen von einer im Rahmen von Jugendarbeit
zustandegekommenen gemeinsamen Urlaubsfahrt mit Körperbehinderten berichtet, sogar
den Zivildienst in diesem Bereich anpeilt und spontan gegenüber dem Hinweis auf die
mögliche Durchsetzung einer eugenisch orientierten Politik nachdrücklich äußert. "Dann
gehe ich in die Politik, dann gehe ich in die Politik!" (67;1), deutet sich an, dass ihm ob
dieser Gegenwarts- und Genußorientierung generell keine Engagementbereitschaft
abgeschrieben werden darf. Vermutlich ist er am ehesten dann zu Interessenbekundung und
-verfolgung bereit, wenn er sich persönlich von politisch induzierten Umständen betroffen
sieht. In eben diesem Zusammenhang ist wohl auch sein Rechtssein zu verstehen: Durch
die Anwesenheit von Migranten und das ihnen unterstellte "Auf-der-Tasche-Liegen" sieht
er sich, selbst ohnehin finanziell nicht auf Rosen gebettet, vor allem materiell
schlechtergestellt und damit im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten
benachteiligt; eine Empfindung, die sich in ihrer Bedrückung für ihn 1994 auch deshalb
verringern kann, weil er durch den Beginn der Berufsausbildung fürs erste eine Option für
die Zukunft erwerben konnte. Sie gibt seinem bislang wechselreichen Leben eine gewisse
Stabilität. Insofern erscheint es nachvollziehbar, wenn er die Sorgen seiner Mutter um seine
Zukunft ("Meine Mutter meint halt immer,...sie muss mir stundenlange Vorträge über die
Zukunft und die jetzige Situation, die Arbeitssituation in Deutschland erzählen und wie es
mal in 2 oder 3 Jahren ist und da habe ich echt keinen Bock drauf, das jeden Tag..."; 1994:
25;22ff.) abwehrt: "Also das hängt mir also langsam echt schon zum Hals raus." (ebd;30f.).
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
Nationalempfinden ist für T. durchgängig, jedoch mit abnehmender Stärke und mit (1994)
zunehmender Widersprüchlichkeit, ein zentraler Bezugspunkt seiner Entwicklung von
sozialer Identität. Dies kann darüber erklärt werden, dass andere denkbare Bezugspunkte
von Realitätskontrolle im sozialen Zusammenhang bis auf Gewaltförmigkeit im
Freundeskontext für ihn zunächst weitestgehend ausfallen: Emotionales Aufgehobensein in
der Familie, Beweis von Leistungsfähigkeit (in der Schule), besondere
Interessenverfolgungen und positive Rückmeldungen durch Freizeitbetätigungen oder
Vergleichbares. Das Zusammensein mit gleichgesinnten Gleichaltrigen in ähnlichen
Lebenskonstellationen und gleichsinnige Denkweisen im Elternhaus, die sich an den
öffentlichen Diskurs über das "Ausländer- und Asylantenproblem", wie er sich vor allem
im Vorfeld der Asylrechtsreform abspielte, anbinden, wirken zusätzlich bestärkend. Erst
später kann der im neunten Schuljahr stattfindende schulische Geschichtsunterricht über
den Nationalsozialismus Gegenkräfte entwickeln.
Es ist davon auszugehen, dass sie aber auch nur deshalb Wirkung entfalten können, weil
der lokale Bezugsrahmen von T. sich durch Umzug geändert hat, die Präsenz von
Migranten, für ihn gleichbedeutend mit interethnischen Konfliktlagen, im Lebensumfeld
von T. subjektiv - und übrigens auch objektiv - erheblich geringer wird und die
Mitgliedschaft in der Clique bzw. die Freundschaft mit S. abbricht.
Geschlechtsspezifisch betrachtet ist die Bezugnahme T.s auf traditionale Elemente
maskuliner Selbstinszenierung und interpersonaler Dominanz offensichtlich. Dabei scheint
es, als würden 1992 außenaggressive, 1993 autoaggressive (Saufen bis zum Umfallen) und
1994 Mischformen von beidem (extensiver Drogenkonsum - "in letzter Zeit habe ich
echtvoll Drogen genommen" ;1994:20;18f. - und exzessive Gewalt) vorherrschen. Ob
jedoch eine Aufladung solcher Gewaltakzeptanz mit rechtem Gedankengut erfolgt, scheint
CXCII
für T. davon abzuhängen, in welchen sozialen Freundschaftsbezügen er sich gerade
befindet. Dass diese wiederum überhaupt so orientierungskräftig sein können, ist
vermutlich eine Folge der mangelnden Orientierungsfähigkeit der anderen
Sozialisationsinstanzen in Hinsicht auf die Ausbildung einer tragfähigen und dabei
gewaltfreien männlichen Identität. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch sein
größter Wunsch: dass er seinen Vater noch hätte (1994:38f.).
Jugendkulturell ordnet T. sich über die Jahre hinweg nie eindeutig zu. Festzuhalten bleibt
aber, dass ihn Elemente einer sich politisch rechts ansiedelnden Kultur permanent
begleiten. Vor allem ist hier der Rechtsrock zu nennen. Dieser hat für ihn jenseits aller Stilund Geschmackfragen offenbar auch erheblichen Provokationswert. Charakteristisch ist die
Szene, die er 1994 beschreibt:
"Da (vor einer Hütte neben einem Kindergarten) sind wir neulich gehockt, da haben wir
Musik gehört und was getrunken und so, gerade astreine Musik, Störkraft, laufen lassen,
dann ist der Kindergarten gekommen... dann haben wir voll mitgesungen, so ein Lied, wie
heißt das? Schwarzwälder Brot. Dann haben wir wieder zurückgespult und immer wieder
laufen lassen. Irgendwann sind so ein paar türkische Kerle gekommen, haben sich ganz
groß vor uns hingestellt, wir singen, dann hören wir auf, schauen die so an und die:
`schwarz, weiß rot` und waren weg. Ich hab gedacht, ich spinne, ich musste so lachen, mich
hat es schier von der Bank heruntergeschlagen. Das musst Du Dir mal vorstellen, Du singst
die ganze Zeit voll die rechten Lieder und voll für Deutschland und dann kommen so ein
paar kleine Türken her `schwarz, weiß, rot` und hauen wieder ab. Ja, das war schon lustig."
(1994:40;10ff.)
Deutlich wird, dass er nicht nur die Provokation gegenüber den Kindergärtnerinnen
genießt, sondern auch über die Ignoranz der "kleinen Türken" amüsiert ist, die Lieder
(an)singen, von denen er weiß, dass sie ausländerfeindlich gemeint sind.
Der soziale Nahraum der Familie ist zwar politisch gleichgestimmt, bietet aber keine Basis
für eine eigenständige Identitätsentwicklung. Die ohnehin schon durch schwierige
Ausgangsbedingungen
belasteten
Beziehungen
sind
zunehmend
von
Kommunikationslosigkeit bzw. "Zoff" bestimmt. Ein familiäres Wir-Gefühl kommt so nicht
auf. Bezeichend ist, dass der 15jährige T. mit seiner 13jährigen Schwester 1994 alleine (auf
einem Bauernhof) Ferien machen will und macht, während die Eltern mit dem Motorrad
nach Italien fahren, noch bezeichnender, dass er alltags "bloß noch weg " ist (1994:9;27).
Entsprechend stark pflegt er Gleichaltrigenkontakte; allerdings - wie erwähnt - von nicht
unproblematischem Zuschnitt.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
Reflexivität tritt bei T. innerhalb der Interviews mit ihm nur stellenweise zu Tage.
Während er das Verhalten anderer bisweilen sehr kritisch wertet (etwa das seiner Mutter),
äußert er wenig Selbstkritik. Wo er dies doch tut, bezieht sie sich nachvollziehbar
realistisch zwar darauf, "ein wenig frech" zu sein und - bei einem "guten Charakter" - "eine
ziemlich große Klappe" zu besitzen (1992:19;2ff.), doch Konsequenzen in Hinsicht auf
eine Veränderung seines Verhaltens zieht er nicht. Vielmehr gefällt er sich in der Rolle des
Provokateurs und harten Burschen, der "nichts anbrennen" läßt. Dies gilt ersichtlich,
besonders deutlich1992, auch für die Sphäre des Politischen. Es deutet sich an, dass u.a.
gerade seine geringe politische Kenntnis und Reflektiertheit (vgl. auch 1994: 64) für die
Rigorosität seiner Lösungsvorschläge für interethnische Konfliktlagen verantwortlich
gemacht werden kann. Auf die Frage des Interviewers, wie man das "Problem in den Griff"
bekommen könne, erwidert er nämlich:
"Darüber habe ich mir bis jetzt noch keine richtigen Gedanken gemacht, so über das, wie
man das lösen könnte. Ich habe auch immer gedacht, raus mit dem Zeug, immer raus mit
CXCIII
denen, haben wir keinen Ärger mehr, sie sollen dahingehen, woher sie kommen, aber sonst
habe ich mir noch eigentlich keine Gedanken darüber gemacht." (1992: 31;21)
1993 und 1994 sieht er die Sachlage zwar differenzierter, ist jedoch nicht in der Lage,
Widersprüchlichkeiten seiner Orientierung aufzulösen (z.B. einerseits für die
multikulturelle Gesellschaft zu optieren, andereseits das "Ungeziefer" möglichst des Landes
verwiesen zu wünschen, einerseits den Nationalsozialismus abzulehnen, andererseits
dessen Klima der Minderheitenfeindlichkeit positiv zu finden).
Noch weniger als im politischen Orientierungsbereich kommt Reflexivität hinsichtlich
seiner allgemeinen Gewaltakzeptanz zum Tragen. Es scheint, als sei die Faszination an der
Demonstration von Macht, der Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen, das
entscheidende Hindernis dafür. Anzunehmen ist, dass sein Suchen nach solchen
Erlebensweisen Kompensationsfunktion für seine sozialisatorische Erfahrung innehaben
kann, selbst im Laufe seines Lebens häufig ohnmächtig den Entscheidungen anderer
ausgeliefert und hin- und hergeschoben worden zu sein. Möglicherweise ist er in Folge des
letzteren hochsensibel gegenüber jeglichen Anforderungen der Erwachsenengesellschaft an
ihn (z.B. von Schule und Mutter) und interpretiert sie leicht als Zumutungen.
Vielleicht ist er auch daher nicht imstande, Empathie für die Sorgen seiner Mutter um
seinen Werdegang ("Ich will später mal einen anständigen Jungen und keinen
Tagedieb";1992:14;2ff.) aufzubringen. Für ihn bedeuten sie in ihrer Konsequenz
Herumkommandieren und Einengung. Würde er gegenüber seinen Gewaltopfern Empathie
aufbringen, sähe er sich mit seinen eigenen Auslieferungsgefühlen konfrontiert und könnte
er sie nicht mehr mittels ostentativer Machtdemonstration und die positiven Emotionen
dabei zu kompensieren versuchen. Aus seiner Sicht handelte er sich damit
Verunsicherungen ein, weil doch die einzige Selbstbestätigung, die für ihn übrigbleibt,
nämlich die als "echter Macker" im Kreis der Gleichaltrigen, damit Gefahr liefe, verloren
zu gehen.
Deshalb kann er eigentlich auch subjektiv kein Interesse daran haben, Konflikte verbal zu
regeln. Zu seinem Image gehört Kompromißlosigkeit, Unnachgiebigkeit und Härte. Dort,
wo sie als Violenz nicht opportun ist, in Schule und Elternhaus, reduziert er sie auf
Widerstandshaltungen und Zumutungsvermeidung.
Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen, ist er kaum bereit: Immer wieder
fällt er in der Schule disziplinarisch auf, ein Betriebspraktikum im neunten Schuljahr
besorgte er sich erst nach zahlreichen Erinnerungen der Lehrerin ohne das Interesse an der
Verfolgung sachlich-inhaltlicher Arbeitsinteressen erst "auf den letzten Drücker", nur durch
die Tatkraft und die Beharrlichkeit seiner Mutter, die ihren Sohn ins Auto setzte und mit
ihm potentielle Ausbildungsbetriebe "abklapperte", kommt er an seine Berufsausbildung.
Suff und Drogenkonsum erreichen - auch nach seinem eigenen Eindruck - bei ihm
erhebliche Ausmaße etc.. Er scheint eine entsprechende Unbotmäßigkeit und Gegenwartswie Genußorientierung als Vorrecht der Jugend zu sehen (vgl. 1994:64;1ff.); angesichts
seiner recht freudlosen Kindheit nachvollziehbar, im Hinblick auf eine bewußte
Lebensführung und -planung jedoch eher prekär.
Da T. Selbstwertgefühl weder über kontinuierlich gewährte familiale Basis-Sicherheiten
noch vermittels Leistungserbringung in den zentralen gesellschaftlichen Bereichen (für ihn
vor allem in der Schule) aufbauen konnte, nimmt es wenig Wunder, wenn er seinen
Wunsch nach Akzeptanz und persönlicher Bestätigung eher in der Gesellschaft der peers
sucht. Hier kann er das Gefühl von persönlicher Stärke erfahren, das ihm durch die
Widernisse seines bisherigen Familienlebens und in anderen gesellschaftlichen Bereichen
versagt geblieben ist. Hier muss er nicht das Gefühl haben, Spielball der Erwachsenen zu
sein, hier ist er selber ein geachteter `Player`.
4.
Zusammenfassung
CXCIV
T. ist ein Jugendlicher, dessen hohe Gewaltakzeptanz vor dem Hintergrund schwieriger und
selbst gewaltbestimmter Sozialisationsbedingungen verstanden werden muss. Aufgrund des
häufigen Wechsels seiner familialen Bezugspersonen und damit wahrscheinlich
verbundener Erfahrungen von Ablehnung, jedenfalls von mangelnder Akzeptanz (die
Mutter beließ nach der Scheidung die Kinder beim Vater, dessen neue Frau ging alles
andere als liebevoll, ja augenscheinlich selbst mit dem Erziehungsmittel der Gewalt mit den
ihr `fremden` Kindern um), von Verlust und von Alleinaufsichgestelltsein (nach dem Tod
des Vaters), kann sich eine emotional tragfähige, von gegenseitigem Verständnis geprägte
kontinuierliche Beziehung zu den Eltern, nach dem Tode dann zur Mutter nicht aufbauen.
Deren Freund kommt, weil er sich kaum um die Kinder kümmert, als vaterähnliches
Vorbild nicht in Frage. Die Mutter scheint zwar über eine kontrollierende Erziehung, die
sich an dem Wunsch nach Optionssicherung für ihren Sohn ausrichtet, um dessen Wohl
bemüht zu sein. T. jedoch empfindet ihre Vorgaben und Eingriffe in die von ihm präferierte
Lebensführung als altersunangemessene Bevormundungen. In ähnlicher Weise erscheint
ihm die Schule, verschärft nach dem ersten Schulwechsel 1993 als eine Instanz, die seine
Freizügigkeit beschneidet. Entsprechend widerständig zeigt er sich hier. Da er andererseits
um ihre Plazierungsfunktion für das Beschäftigtensystem weiß, sucht er zunehmend mit
möglichst geringem Kraftaufwand ohne größere Aspirationen irgendwie durchzukommen,
ohne gänzlich aussteigen zu müssen. Sind ihm solchermaßen Bestätigungserlebnisse in
Schule und Familie für den Erwerb persönlicher Anerkennung und den Aufbau eines darauf
basierenden Selbstwertgefühls verbaut, sucht er, seine Identitätsentwicklung eher
außerhäusig und außerschulisch voranzutreiben. Das Peer-Milieu bietet ihm Gelegenheit,
Erfahrungen von Akzeptanz und Selbständigkeit zu machen, die ihm anderenorts verwehrt
bleiben. In diesem Umfeld kann er sich als jemand in Szene setzen, der nicht machtlos von
außen kommenden Zumutungen ausgesetzt ist, sondern umgekehrt selbst über
Gewaltanwendung Macht ausüben oder zumindest Wehrhaftigkeit demonstrieren kann.
Faszination und Lust, die er dabei empfindet, bilden wohl die emotionale Kehrseite der
jedenfalls subjektiv so gewerteten Opfererfahrungen von Auslieferung an äußere Mächte,
die er ansonsten durchmacht. Hier kann er sich außerdem über den Cliquenverband in
emotional bewegenden Situationen, wie Gewaltsituationen es nun einmal sind, Erfahrungen
von selbstverständlichem Eingebundensein und Solidarität holen, die er innerhalb der
Familie vermißt. Hier kann er sich zudem als jemand erleben., der im wahrsten Sinne des
Wortes in Erstsituationen seinen "Mann" steht und sich nicht als Kind behandelt fühlen
muss. Zigaretten- und Drogenkonsum als Insignien des Erwachsenenlebens, insbesondere
auch der männlich konnotierte Alkohol, unterstreichen dies.
Wenn sich die Gewaltakzeptanz mit Ungleichheitsvorstellungen verbindet, so scheint dafür
zum einen seine aus o.a. Gründen starke Orientierung anfangs deutlich, später zumindest
teilweise jugendkulturell rechts gestimmten peer-Milieu, zum anderen sein Aufgreifen von
Auffassungen des Elternhauses verantwortlich zu sein. In beiderlei Hinsicht ist das
Vorhandensein bzw. die Konstruktion
interethnischer Konfliktlinien zwischen
Einheimischen und Migranten für die Rechtsorientierung auschlaggebend.
Bezeichnenderweise ist für den über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg
finanziell eher schlechtgestellten T. dabei ein verspürter materieller Konflikt, zugespitzt auf
die Wahrnehmung, als Deutscher (zumindest über die Abgabenlast seiner erwachsenen
arbeitenden Familienangehörigen) arbeitsunwillige Migranten ungerechtfertigterweise
aushalten zu müssen, durchgängig der entscheidende Punkt. Darauf dass letztlich wohl
weniger der Familieneinfluss als der der peers ausschlaggebend ist, verweist der Umstand,
dass nach dem Umzug in eine erheblich weniger von Ausländern bewohnte Gegend und
nach dem damit verbundenen nahezu vollständigen Abbruch der alten
Freundschaftskontakte seine politischen Äußerungen, genauer: seine Feindbilder,
differenzierter werden und die Rigorosität seiner Ungleichbehandlungsforderungen
nachläßt, obwohl im Elternhaus nachweislich noch immer dieselbe Haltung vorherrscht (s.
CXCV
die Reaktion des Freundes der Mutter auf den Solinger Anschlag). Nachdem T. 1994
Anschluss an eine neue, jetzt aber jugendkulturell und politisch heterogenere Clique
gefunden hat, treten Ungleichheitsvorstellungen wieder eruptiv, einmal wieder unter
Verwendung der früheren Vokabel "Ungeziefer", insgesamt aber unter Beibehaltung der
schon im Vorjahr genannten Feindbildeingrenzung auf "Asylanten", nunmehr "Republikaner-Propaganda" aufgreifend - noch schärfer formulierend auf "Asylbetrüger",
auf. Jetzt gehen sie allerdings eine in sich widersprüchliche Verbindung mit teilweisen
Befürwortungen der multikulturellen Gesellschaft und expliziten Ablehnungen von
Ausländerfeindlichkeit ein; eine Position, die als eine Art Spiegelbild der Heterogenität der
in der Clique verbreiteten Auffassungen gedeutet werden kann. Seine Ablehnung von
"Asylbetrügern" kann sich jetzt zudem nicht nur die durch Arbeitsplatzbesitz unter Beweis
gestellte Normalität seiner Familie, sondern auch die seiner eigenen Person als arbeitender
Mensch insofern zugutehalten, als er glaubt, nichts Unbilliges zu fordern, wenn er das
Aufkommen für die eigene Subsistenz zur zentralen Bedingungen einer
Anwesenheitstolerierung von Migranten erhebt.
Auch das Rechtssein bzw. seine Inszenierung (u.a. durch drastische Sprüche, die mit der
Beobachtung seines ehemaligen Lehrers in Einklang stehen, dass T. "jemand ist, der gerne
herumproletet") besitzen für T. willkommenen Provokationswert. Auch darüber kann er
sich als eine Person verstehen, die wahr- und ernstgenommen wird und der man, notfalls
unfreiwillig, Respekt zu zollen hat.
Volker 1992 - 1994
"(wir) sind auch halt so gerad gegen Nazis oder so... dann haben wir sie halt ein bißle
geklopft" (1992: 15;6-9)
" (ich bin) Mitte, eigentlich kann man sagen, also schon links, aber nicht ganz so, schon ein
bißchen. Also ja schon Docs und solche Sachen und höre Punk-Musik und so Sachen. Aber
nicht so ganz, also ein bißchen Iro und solche Sachen" (1993: 41;9-13)
"Destroy Fascism" (Aufnäher auf V.`s Jacke 1994)
1.
Objektive Daten zum Lebenskontext im Überblick
Volker, geb. 1979, lebt mit seiner Mutter, deren Freund und späterem Ehemann und seinem
vier Jahre jüngeren Bruder zunächst in der Kleinstadt A., dem wirtschaftlichen und
kulturellen Mittelpunkt und zugleich zentralen Beschulungsort in einem ansonsten schwach
strukturierten ländlichen Raum auf der Schwäbischen Alb. Die Familie ist vor wenigen
Jahren nach der Scheidung seiner Eltern in diese Stadt gezogen und bewohnt bis 1993 eine
4-Zimmer-Mietwohnung im Stadtzentrum, in der V. über ein eigenes Zimmer verfügt.
Nach der Wiederheirat seiner Mutter und der Geburt einer Schwester zieht die Familie in
eine 6-Zimmer-Mietwohnung in den Vorort B. der Stadt A. um.
V.s leiblicher Vater wohnt ca. 50 km entfernt und arbeitet als LKW-Fahrer. Seine Mutter
arbeitete bis sie ihr drittes Kind bekam als Näherin in einer Trikotfabrik. Beide verfügen
über einen Hauptschulabschluss. Auch V. besucht bis 1993 die Hauptschule und
anschließend das BVJ. Sein Berufswunsch ist, Zweiradmechaniker zu werden.
Er ist kontinuierlich (1992-1994) Mitglied im Jugend-Rot-Kreuz. Als Taschengeld erhält er
1992 50 DM im Monat, zu dem er sich zwischen 50 und 100 DM pro Monat durch das
CXCVI
Austragen des örtlichen Nachrichtenblattes hinzuverdient. Bis 1994 wird sein Taschengeld
um 30 DM erhöht.
Bei den Befragungen ist er eher ‘flippig’ gekleidet; seine Frisur und seine Kleidung
(anfänglich `Kutte` mit aufgemalten Namen von Heavy-Bands) entsprechen über die beiden
ersten Jahre der Studie hinweg einem Heavy-, später eher einem Rap-Stil. Zwischenzeitlich
trug er einmal Doc Martens mit roten (d.h. anti-rechte Gesinnung symbolisierenden)
Schnürsenkeln. Er ist klein, aber nicht schmächtig gebaut.
2.
Politische Orientierungen
2.1
Allgemeine Orientierungen
V. zeigt gewisses Interesse gegenüber alltagspolitischen Themen, die in den aktuellen
Medien verhandelt werden, ist aber bis 1994 ganz froh, noch nicht zur Wahl gehen zu
müssen. Zwar würde er sich zu diesem Zeitpunkt eher mit den ‘Grünen’ oder der ‘PDS’
sympathisieren, doch im wesentlichen ist ihm die institutionelle Politik zu
undurchschaubar, als dass er sich bei einer Wahl entscheiden könnte:
"Ja, ich finde, also, wenn jetzt so viele Parteien zur Wahl stehen, dann weiß man nicht,
dann meine ich halt, wenn man 16 ist, weiß man auch nicht so genau, was man wählen soll,
weil es gibt eigentlich schon viele linke Parteien und rechte und christliche so, ja, und dann
und Wahlspots und so, da weiß man auch nicht so genau, was man wählen soll."
(1994:20;20-26)
Mit seinen Äußerungen nimmt V. zwar politisch einen Standort ein, doch kann er diesen
sprachlich nicht genau umreißen oder politisch begründen:
"Ja, Mitte eigentlich, kann man sagen, also schon links, aber nicht ganz so, schon ein
bißchen, also, ja schon Docs und solche Sachen und höre Punk-Musik und so Sachen, aber
nicht so ganz, also ein bißchen Iro und solche Sachen, rumlaufen also nicht." (1993:41;613)
Seine politische Selbstverortung begründet er primär mit seinen musikalischen Vorlieben.
Dabei zeigt er eine Affinität zum deutschen, ‘nicht-rechten’ Punk, der sich inhaltlich nach
seiner Wahrnehmung "immer gegen Nazis meistens" (1992:16;28) richtet. Er rechnet sich
außerdem anfangs des Untersuchungszeitraums zu den Heavies sowie ein bißchen zu
Punkern, Rockern und Discofans und wendet sich erst 1994 aus nicht weiter erklärten
Gründen eines neuen Musikgeschmacks dem auch nach seiner Wahrnehmung gerade bei
ausländischen Jugendlichen häufig favorisierten HipHop zu.
An Geschichte und Geschichtsunterricht hat V. mäßiges Interesse. Es erscheint eher so, als
wenn er ein solches Themengebiet wie auch andere Unterrichtsfächer einerseits als Muss
hinnimmt, andererseits aber auch nicht ablehnt.
2.2
Ungleichheitsvorstellungen/Gleichheitsvorstellungen
im
Kontext
von
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
V. zeigt über den Untersuchungszeitraum hinweg kontinuierlich eine Ablehnung
rechtsextremistischer Haltungen und Gewalttaten. Offenbar verurteilt er es, wenn
Menschen in ihrem Recht auf Unversehrbarkeit nicht respektiert werden und meint in
Bezug auf von Rechten angegriffene Ausländer: "die haben auch ihr Recht." (1993:42;5).
Genauer indes kann er diese beständige und unverrückbare Sichtweise nicht begründen.
Gleichwohl befürwortet er nicht die politische Gleichberechtigung von Ausländern,
zwischen denen er nicht näher nach jeweiligem Status unterscheidet. So wäre es ihm zwar
"eigentlich egal, wer wählen dürfte", doch ein freies Wahlrecht für Ausländer gefiele ihm
nicht so recht, weil dies sich "gerade zu ihrem Vorteil und so" auswirken könnte. Sicher ist
sich V. allerdings nicht: "also schlimm wäre es eigentlich nicht." (1994:20;33-40)
V. kann sich erklären, warum Menschen ausländerfeindliche Anschauungen vertreten. Als
Ursachen nennt er elterliche Beeinflussung - "dass es vielleicht von den Eltern her auch
kommt" 1993: 10;9) -, Schuldzuweisungen für die Ressourcenverknappung in der BRD -
CXCVII
"die denken, die nehmen alles uns weg und so" (1992:25;3) - und
Abschottungsbestrebungen aus Angst vor Überfremdung - "die wollen hier Deutschland
zumachen" (1992:25;6). Auch in seiner Nachbarschaft beobachtet V. ausländerfeindliche
Haltungen (1992). Er selbst sieht sich explizit nicht unter solchem Einfluss und nimmt
keine einfachen Schuldzuweisungen für die Arbeitslosigkeit in der BRD vor. Vielmehr
weiß er, dass Waren vielfach im Ausland billiger produziert werden können, wodurch im
Inland Arbeitsplätze wegfallen. Auch geht er grundsätzlich davon aus, dass es zu wenig
Arbeit überhaupt gibt (1993).
Längerfristig könnte er sich finanzielle Engpässe als potentielle Konfliktpunkte vorstellen.
Keineswegs aber würde er sich gegen das grundsätzliche Asylrecht aussprechen: "Solange
Krieg in Bosnien ist, geht’s auch mit Asyl weiter." (1993: Memo).
V. konturiert seinen eigenen politischen Standort vor allem über die Abgrenzung von
Selbststilisierungen rechtsextrem orientierter Jugendlicher in A. im Alter von 14 bis 17
Jahren. An ihrem äußeren Erscheinungsbild - "auf den Jacken so Deutschlandflaggen drauf
und das Eiserne Kreuz" (1993: 40;20) - und Verhalten orientiert sich seine Definition von
Rechtsextremisten:
V.: "Die haben so Aufkleber, so mit Uhu gemacht, ‘Scheiß Türken’ und so halt
draufgeklebt. Da haben wir halt mal ein paar gesehen, wo das gemacht haben. Und
dann hört man’s halt auch, dass sie’s sind.
I.: Ja, was sagen sie dann zum Beispiel?
V.: Grad ‘Scheiß Ausländer’, ‘Scheiß Türken’ und so." (1992:16;2-8)
Dieselben Jugendlichen produzieren auch Graffitis mit dem Schriftzug "Scheiß Heavies"
(1992: 18;5ff.), von denen er sich aufgrund seiner jugendkulturellen Selbstzuordnung
besonders getroffen fühlt.
2.3
Gewaltakzeptanz
Für V. ist die Ausübung körperlicher Gewalt vor allem im Cliquenkontext normal.
Allerdings erachtet er das Gewaltniveau in seinem Lebensumfeld als eher niedrig:
"Also bei uns ist es eigentlich nicht so mit der Gewalt, also bloß manchmal ein Streit, aber
sonst auch nicht irgendwie mit Messer oder so Gewalt." (1993:34;6-8)
Vor allem in den Jahren 1992 bis 1993 kommt es zu "Klopfereien" mit gegnerischen
Jugendlichen, die er vor allem dem politisch rechten Spektrum zuordnet:
"Nazis oder so, da hat`s halt auch ein paar hier, also nicht gerad so mit Glatze oder so, dann
haben wir sie halt ein bißle geklopft" (1992: 15;6ff.)
Diese Gegnerschaft scheint allerdings letztlich weniger politisch begründet zu sein, als mit
jungenspezifischen Ausrichtungen hinsichtlich Territorialverhalten, Provokationen und
Stärkeerfahrungen im ansonsten gleichförmigen und zum Teil oft als unausgefüllt erlebten
Alltag sowie mit der jugendkulturellen Einbettung solcher Konkurrenzkämpfe im
Zusammenhang zu stehen.
Insbesondere am Bahnhof kommt es zu derartiger, ganz offenbar von allen Seiten aktiv
gesuchter Territorialkonkurrenz unter Jungen:
"... da sind halt zwei Bushaltestellen: da eine und da. Und da sind meistens die anderen und
da sind wir." (1992: 22;31f.)
"Also grad nach der Mittagsschule am Bahnhof, und da gehen wir halt hin.... Und am
Dienstag waren sie wieder da, dann haben wir sie verdroschen..." (1992:15;18-21)
Als Anlass dienen Provokationen gegen die "Gruppenehre" (1992: 21;32) wie "Scheiß
Heavy oder so" (1992:18;8) und "Scheiß Linke und so" (1993:40;4) . Eine erfolgende
Stärkedemonstration wird ´pädagogisch` begründet:
"Sollt’ man sie halt mal so verschlagen, dass sie nächstes Mal anders sind." (1992:16;1516)
Zu härteren Schlägereien kommt es in seinen Augen eher "selten, ja halt schon, aber
vielleicht alle zwei Monate oder so" (1993:34;13-14). Der Grund für eine gewisse
CXCVIII
Begrenzung der Gewalttätigkeit liegt seines Ermessens in der Kenntnis der Jugendlichen
um die Bereitschaft beider Gruppen, jeweils wechselseitig gewaltsam Rache zu nehmen
(1993:40).
1994 scheinen bedingt durch seinen Umzug in das Dorf B. die Auseinandersetzungen an
Quantität zu verlieren. Allerdings fühlt V. sich in seiner Sicherheit gefährdet. Er hat den
Eindruck, dass ihn im örtlichen Jugendclub "die meisten" aus politischen Gründen "nicht
leiden" können: "Weil sie, die sind, die sind alle, kann man sagen, eigentlich so rechts
eingestellt." (1994:6;40-7;1). Offenbar haben andere Jugendliche ihm nicht direkt, sondern
über eine Freundin mitteilen lassen, es müsse sich als Träger eines Aufnähers "Destroy
Fascism" vorsehen und "aufpassen" (1994:7;31-33). Diese Einschüchterungsversuche
beschäftigen ihn, doch fühlt er sich einer potentiellen Schlägerei durchaus gewachsen und
glaubt, sich "selber helfen" zu können (1994:9).
Darüber hinaus gehende Gewaltakzeptanzen äußert V. lediglich in Form von Befürwortung
einer Ausweitung institutioneller Gewalt gegenüber rechtsradikalen Jugendlichen (1993).
3.
Zusammenhang von politischer Orientierung und Gewaltakzeptanz mit
sozialen Erfahrungen und Erfahrungsstrukturierung
3.1
Erfahrungen und Bearbeitungsressourcen
3.1.1 Problembelastungen und zentrale Interessenlagen
Im Laufe des Untersuchungszeitraumes wandeln sich V.s zentrale Problembelastungen.
Schon zu Beginn des Untersuchungszeitraumes hat er immer wieder Schwierigkeiten in der
Schule, sei es, weil er institutionelle Regelungen verletzt und beispielsweise eine Ratte mit
in den Unterricht bringt, sei es, weil er sich von unfairen oder zu strengen Lehrern
angegriffen fühlt und mit Widerstandshaltungen reagiert. Durch sein Verhalten handelt er
sich etliche von ihm als ungerecht empfundene Sanktionsmaßnahmen ein (1992-93). Seine
Leistungen demgegenüber hält er 1992 für "so gut eigentlich" (28;38). 1993 nennt er
erstmals die Sorge um die weitere Lebensplanung. Von seinem Traumberuf "Masseur"
musste er aufgrund der für die entsprechende Ausbildung notwendigen größeren
finanziellen Investitionen Abstand nehmen. Inwieweit er als Zweiradmechaniker eine
Lehrstelle finden kann, erscheint ihm ungewiß (1993). Die schulischen Schwierigkeiten,
nun auch offen zugegebene Leistungsprobleme, werden seit 1993 immer mehr zu einer
Belastung. Als er in diesem Jahr seinen Schulabschluss nicht erreicht, weist er dafür den
LehrerInnen die Schuld zu. 1994 belastet ihn der Besuch des BVJs zur Erlangung des
Hauptschulabschlusses ebenso wie die neuerliche Wohnsituation in dem abgelegenen Dorf
B. Außerdem wünscht er sich "schon eine feste Freundin" (41;28).
3.1.2 Erfahrungen im sozialen Nahraum und seine sozio-emotionalen Ressourcen
V.`s Familiensituation ist zunächst gekennzeichnet durch die Berufstätigkeit seiner
alleinerziehenden Mutter. Obwohl sich seine Mutter um ihn und seinen Bruder zu
kümmern versucht, ist er doch aufgrund ihrer ganztägigen Abwesenheit weitgehend auf
sich allein gestellt, was sich erst mit der Geburt seiner Schwester ändert. Früh werden ihm
relativ große Freiräume gewährt, die er zum Teil auch über die ihm gesetzten Grenzen
ausnutzt. Während der Berufstätigkeit seiner Mutter kommt er mittags nach der Schule
nach Hause, macht für sich und seinen Bruder das am Vorabend vorbereitete Essen warm,
erledigt seine Hausaufgaben und die ihm aufgetragenen Aufgaben im Haushalt und geht
dann schnell zu seinen Freunden oder zu seiner Kusine, die in einem Vorort von A. wohnt.
Der einzige Zeitpunkt für ein kurzes Beisammensein der gesamten Familie ist das
Abendessen. Trotz relativ wenig gemeinsam verbrachter Zeit fühlt V. sich bei seiner Mutter
geborgen und von ihr in seiner Persönlichkeit akzeptiert. Auch hat er das Gefühl, sich auf
sie verlassen und sie jederzeit bei Schwierigkeiten ansprechen zu können (1992). An seiner
Mutter schätzt er besonders die Großzügigkeit und die Lebenstüchtigkeit. Lediglich an
ihrer gelegentlichen Willkür bei Erlaubnissen und Verboten übt er Kritik. Gleichwohl
CXCIX
schätzt er an ihr, sich bei Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Bruder fair und um
Gerechtigkeit bemüht zu verhalten (1992).Vor der erneuten Heirat besprechen seine Mutter
und ihr Freund dieses Vorhaben mit den Kindern. V. akzeptiert ihre Entscheidung und
genießt es auch, als seine Mutter wegen des Mutterschutzes verstärkt zu Hause ist.
Insbesondere findet er es gut, jemanden zu haben, den er bei Hausaufgabenschwierigkeiten
ansprechen kann (1993). Auch braucht er nun keine Versorgungsaufgaben für seinen
Bruder mehr zu übernehmen. Insgesamt und kontinuierlich versteht er sich mit seiner
Mutter gut, auch wenn es gelegentlich wegen seiner Überschreitungen von Regeln zu
Hause oder in der Schule zu Ärger und Maßregelungen kommt. Schläge oder sonstige
Formen der Gewalt kennt er als Erziehungsmethode bei seiner Mutter nicht.
Seinen leiblichen Vater sieht er wegen dessen Berufstätigkeit als LKW-Fahrer
unregelmäßig etwa ein- bis zweimal pro Monat. Mit ihm scheint er sich auch zu verstehen.
Allerdings gibt er an, sich weder bei ihm geborgen, noch von ihm akzeptiert zu fühlen und
auch mit Hilfe bei ihm nicht rechnen zu können (Fb).
Sein Stiefvater ist für ihn wie ein "Onkel", "halt nicht so gerade wie ein richtiger Vater,
aber das ist schon gut" (1993:2;11-13). Mit seiner Mutter und ihm bespricht er schulische
und berufliche Fragen. Nach seinem Umzug aufs Dorf verbringt er wegen der schlechten
Verkehrsanbindung und seiner eigenen fehlenden Mobilität die Abende in der Regel zu
Hause. Allerdings möchte er sich verstärkt von seinen Eltern loslösen und ist mit dieser
Wohnsituation keineswegs zufrieden (1994).
Mit seinem jüngeren Bruder versteht sich V. nicht besonders gut. Insbesondere während
der Zeit, als er für ihn noch verstärkt verantwortlich ist, wird dies deutlich. Wenn er sich
von ihm zu sehr genervt fühlt, zeigt er ihm die Grenzen auch durch körperliche Gewalt auf
: "Dann hau’ ich ihm halt eine ‘rein" (1992:11;4-5).
Unter seinen sonstigen sozialen Kontakten spielen die Mitschüler in seiner Klasse, nach
seiner Einschätzung zu einem Viertel Ausländer, - "die meisten sind auch Heavies so, keine
Nazis und so" (1992: 26; 4f.) - eine eher untergeordnete Rolle. Durch die Aufteilung seiner
Klasse in der Hauptschule verändert sich ihre Zusammensetzung 1993, und 1994 ist er
erneut mit anderen SchülerInnen in einer Klasse im BVJ. Das Verhältnis zu ihnen ist stets
unkompliziert.
Der Freundes- und Bekanntenkreis von V. ist teils bestimmt durch seine Clique; diese
überschneidet sich aber immer wieder mit weiteren Bekanntschaften und Freundschaften
u.a. aus dem stilistisch ebenfalls eher heavyorientierten Jugendhaus in A. und seinen
Verwandtschaftsbeziehungen. Insbesondere mit seinem Freund Robert (siehe Interpretation
"Robert") bespricht er anfangs eher persönliche Dinge als mit einem anderen Menschen
(1992), später allerdings entwickeln sich beide auseinander. In seiner Clique sind zunächst
etwa 5 bis 9 Jungen, ab 1993 gehören auch zwei bis drei Mädchen dazu, alle deutscher
Nationalität. Verbindendes Element zwischen den Jugendlichen ist neben der Musik "halt
die Freundschaft" (1992:19;21). Stilistisch ordnet er seine Clique der Heavy- und PunkMusik zu, was auch durch entsprechende Kleidung und Haarfrisur signalisiert wird. Teils
bewegen sich die Freundschaften in der Clique auf oberflächlichem Niveau. Zwar
unternimmt man etwas zusammen, aber man erzählt sich und weiß wenig voneinander und
wahrt eine ‘typische Distanz unter Männern’ (1992). Ganz wichtig ist für V. das
Füreinander-Einstehen in Notsituationen:
"Bei uns ist’s halt die Mutprobe so, dass man, egal bei was, bei allem zueinander hält, egal,
wenn’s eine Schlägerei ist, dass man halt hilft und nicht daneben steht." (1992:21;32-35)
Dieser Zusammenhalt ist funktional für das Behaupten von Stärke gegenüber
rechtsextremistischen Jugendlichen, aber auch in den beiden ersten Jahren der Studie
gegenüber einer vor allem durch ausländische Jugendliche gebildeten Raper-Szene, die im
Jugendhaus in A. dominiert. Treffpunkt der Clique in der Freizeit ist der Bahnhof, wenn
das Jugendhaus geschlossen hat, zeitweilig auch ein selbst ausgebautes altes Haus, bis es
abgerissen wird (1993). Ab 1993 zeigt sich deutlich eine Lockerung seiner Clique; 1994
CC
kann er wegen seines Umzuges vielfach an gemeinsamen Unternehmungen nicht mehr
teilnehmen. V. bewegt sich zu diesem Zeitpunkt in einem eher losen Verbund von
"Kumpels", mit denen gemeinsame Unternehmungen möglich sind und die ebenfalls eher
`linke` Stilvorlieben pflegen.
Eine Freundin hat V. während des Untersuchungszeitraums nicht.
3.1.4 Medienrezeption und sonstige Ressourcen politisch relevanter Information
V. ist ein Jugendlicher, dem es schwerfällt, seine Meinungen sprachlich zu formulieren und
über viele Fragen zur Politik noch nicht genau nachgedacht zu haben scheint. Eigenständig
informiert er sich außer mittels der Nachrichten im Fernsehen nicht über Politik. Wichtige
Bezugspunkte seiner politischen Haltungen sind zunächst seine Freunde. Insbesondere sein
bester Freund im Jahre 1992 (Robert) spricht sich entschieden für die Gleichwertigkeit aller
Menschen aus. Seine politischen Haltungen werden zudem mitbeeinflusst durch jene
Jugendliche, mit denen er sich im Zuge gemeinsamer Musik- und sonstiger Stilvorlieben
zusammenfindet und sich gegen andere Jugendszenen abgrenzt. Auch sein Elternhaus
scheint auf seine politischen Haltungen Einfluss zu nehmen. Seine Mutter befürwortet eine
andere politische Richtung als er selber (1994: CDU) und sucht das ernsthafte Gespräch
mit ihm, als sie aufgrund ihrer Unkenntnis über die feinen Unterschiede zwischen weißen
und roten Schnürsenkeln in Springerstiefeln ihn unter Rechtsradikalen wähnt. Offenbar
würde sie eine solche Haltung nicht akzeptieren. Gemeinsam mit ihr und seinem Stiefvater
bespricht er alltagspolitische Geschehnisse, u. auch die Anschläge in Mölln und Solingen,
wobei sie alle einer Meinung sind:
"Dass das halt falsch wäre, so eigentlich, ja. Dass man das nicht machen soll oder so, in der
Art halt." (1993:9;20)
Schule scheint für seine politische Entwicklung ohne Bedeutung zu sein.
3.1.4
Erfahrungen mit und Ressourcen von gesellschaftlicher und politischer
Teilhabe
V. engagiert sich kontinuierlich beim Roten Kreuz. Er besucht regelmäßig die Treffen und
hilft auch gerne bei Sonderaktivitäten wie z.B. dem Weihnachtsmarkt (1993). Für ihn ist
dies ein Angebot in einer ansonsten trotz regelmäßigen Jugendzentrumsbesuchs eher
erlebnisarmen Freizeitsituation.
Noch zu Hauptschulzeiten war er zwar Klassensprecher bzw. dessen Vertreter, hat diese
Rollen aber mehr als solche der Organisation von Festen etc. denn als Hebel zur
Mitwirkung an einer Gestaltung und Veränderung von Schule, auch nicht in eigener
Angelegenheit, begriffen. Darüber hinaus engagiert V. sich weder in seinem Wohnort noch
etwa im Jugendzentrum. Seine Form der politischen Teilnahme sind - teils gewalttätige Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen.
Diese Aktivitäten sind aber - wie erwähnt - nicht nur politischer Motivation zuzuschreiben,
sondern mindestens ebenso sehr jugendkulturellen Abgrenzungsbestrebungen wie auch
jugendkultur- und jungenspezifischen Ausrichtungen von Territorialverhalten und
Stärkepräsenz.
3.2
Kategorien, Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung
3.2.1 Zentrale Bezugspunkte sozialer Identität
V. zeigt während des Untersuchungszeitraumes kein auffälliges Nationalbewußtsein. Es
ist zudem nicht erkennbar, inwiefern V. durch seinen regionalen und lokalen Sozialraum
in seinen politischen Überzeugungen beeinflusst wird. Offenbar aber ist er für die
Entwicklung seiner Gewaltbereitschaft durchaus von Bedeutung. So begünstigt die
mangelnde Angebotsvielfalt für Jugendliche vor Ort, der V. und seine Clique
vorübergehend mit dem Ausbau einer `Bude` selbst begegneten (1993), die Suche nach
Action und Abwechslung über Territorialkämpfe. Weiterhin beeinflussen ihn seine
CCI
sonstigen Beziehungen im sozialen Nahraum hinsichtlich seiner politischen Haltungen
(s.o.).
Sein Sozialstatus wird ihm 1994 wichtiger, da ihm in Folge des fehlenden
Hauptschulabschlusses ein späterer gesicherter Lebensstandard gefährdet erscheint. Er
wünscht sich, irgendwann ein Eigenheim zu besitzen. Trotzdem läßt er keine besondere
Leistungsorientierung erkennen. Seine persönliche Zukunft erscheint ihm nicht wegen der
Ressourcenknappheit und Arbeitslosigkeit in der BRD gefährdet (1994). V. hat vielmehr
sein nächstes Ziel vor Augen, den Hauptschulabschluss. Das Weitere wird er erst danach
zum Gegenstand von Überlegungen machen.
Besonders wichtig sind ihm seine jugendkulturellen Orientierungen. Als Heavy- und
Punk- bzw. später Rap-Fan sowie als ‘Linker’ verurteilt er Menschen politisch
rechtsorientierter Szenen- und Cliquenzugehörigkeit. Auch Technos zählt er 1994 zu
seinen Gegnern. Diese jugendkulturellen Abgrenzungen dienen offenbar der Gewinnung
eigener Selbstvergewisserung, zumal er inhaltlich wenig zu diesen Gruppen bzw. zu dem
Kern des Dissenses mit ihnen sagen kann.
Sein gewaltförmiges Abgrenzungsverhalten scheint im engen Zusammenhang mit seiner
geschlechtsspezifischen Sozialisation zu stehen. Er bewegt sich in einer ‘Männlichkeit’
und Widerständigkeit im Sinne von Wehrbereitschaft demonstrierenden Clique und lehnt
sich dabei unreflektiert an traditionelle Muster von Maskulinität an, bei denen Aspekte
‘männlicher Autonomie’ im Sinne von Unabhängigkeit und Abwehr von Schwäche,
Einsatz körperlicher Stärke zur Selbstbehauptung und -durchsetzung sowie Dominanzund Territorialverhalten im Vordergrund stehen.
3.2.2 Individuelle Kompetenzen bzw. Mechanismen zum Aufbau personaler Identität
V. verfügt über wenig Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen persönlichen
Meinungen, sofern diese Gruppen angehören, die er ablehnt. Er setzt sich mit deren
Sichtweisen inhaltlich kaum auseinander. Ebensowenig zeigt er die Tendenz zur
Reflexivität, weder auf persönlicher noch auf politischer Ebene. Es fällt ihm sichtlich
schwer, zu argumentieren. Auch reflektiert er nie über eigenes Mitverschulden zum
Beispiel an seiner schulischen Laufbahn. Stets sind es in seinen Augen die anderen, die in
negativer Hinsicht Verantwortung für ihn tragen, auch wenn es darüber hinaus stolz darauf
ist, wie eigenständig er ist. Zudem läßt er wenig Empathie erkennen und fühlt sich kaum in
seine Freunde und Bekannte ein. So ist es auch nicht Empathie mit Ausländern, die seine
anti-rechte Orientierung bedingt. Seine Konfliktfähigkeit beschränkt sich eher auf eine
z.T. gewaltsame Wehrbereitschaft gegenüber gegnerischen Gruppen, als dass sie sich im
Eingehen
von
argumentativ
strukturierten
Diskursen
zeigt.
Familiären
Auseinandersetzungen entzieht er sich möglichst durch Verschweigen oder Aus-dem-WegGehen. Sein Selbstwertgefühl ist trotz seines Wissens um seine Wehrhaftigkeit bei
Einschüchterungsversuchen oder tätlichen Angriffen eher gering. Zwar glaubt er, dass er
selbständig ist und einige gute Seiten hat, doch glaubt er nicht, seine Angelegenheiten so
gut wie andere regeln zu können (Fb.). 1993 hat er zwischenzeitlich zudem das Problem,
als ‘Mann’ nicht nur klein, sondern auch übergewichtig zu sein. Die Zentralstellung
jugendkultureller Verortung bei seinem Versuch, eine eigenständige Identität aufzubauen,
erlaubt ihm so zwar bis zu einem gewissen Grade eine gesamt-gesellschaftliche
Positionierung und Selbstvergewisserung, ermöglicht ihm aber nicht die Entwicklung einer
Selbstsicherheit, für die eine in sich geschlossene und begründbare Haltung die Basis
bildet.
4.
Zusammenfassung
V. bietet das Bild eines Jungen, der bei seiner Suche nach Handlungs- und Selbstsicherheit
und aufgrund seiner geringen Kompetenzen zum Aufbau einer personalen Identität stark
durch Orientierungen in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld beeinflusst zu sein scheint.
CCII
Er erkennt selbst als Ursache seiner `linken` Orientierung`:
"gerade durch hier, durch die Umgebung hier, also gerade A., da hat es fast keinen Rechten
gehabt, also nie. Also auch durch die vielen Türken, also gerade so und durch die Freunde"
(1994: 39;4-8)
Seine Ablehnung von rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen hat weniger mit
Vorstellungen von Gleichwertigkeit aller Menschen zu tun als vielmehr mit
jugendkultureller Cliquenorientierung sowie mit darin ausagiertem Territorial- und
Dominanzverhalten, das einmal eingegangene Gegnerschaften über lange Zeit am Leben
erhält.. Hinsichtlich seiner Gewaltorientierung lehnt sich V. an traditionelle Muster
geschlechtsspezifischer Sozialisation von Jungen an. Über den Einsatz von Körperlichkeit
in Auseinandersetzungen versucht er an Stärke zu gewinnen. Er entwickelt statt politischinhaltlich von ihm begründbarer Orientierungen eher politische Stimmungen, die er in etwa
dem Spektrum der ‘Grünen’ oder der ‘PDS’ zuordnet. Explizite Gleichheitsvorstellungen
finden sich bei ihm (fast) nicht. Sollte sich seine jugendkulturelle Orientierung im Verlaufe
seines weiteren Lebens auflösen oder verschieben, kann insofern ein Schwenk nach rechts
nicht ausgeschlossen werden.
CCIII
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