klaas huizing - Institut für evangelische Theologie

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KLAAS HUIZING
Du lieber Himmel
Versuch über das Glück
Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit:
Man hat es nicht, sondern ist darin, Ja, Glück ist nichts
anderes als das Umfangensein, Nachbild der
Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein
Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu
verstehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie
ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er
es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält
ihm bloß, der spricht, ich war glücklich. Das einzige
Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das
macht dessen unvergleichliche Würde aus.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia, 124.
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Inhalt
Vorspiel
Himmel - Placebo oder Medizin
1. Das Glück der Euphorie
1.1 Göttergespräche
1.2 Sweet Alkibiades
1.3 Schöner Leben
1.4 Bin ich schön?
1.5 Hetärengespräche
2. Das Glück der Coolness
2.1 Götter- und Heroengespräche
2.2 Ertrage und Entsage?
2.3 Ungefährliche Leidenschaft
2.4 Bin ich cool?
2.5 Hetärengespräche
3. Das Glück der Resignation
3.1 Götter- und Heroengespräche
3.2 Der skeptische Blick
3.3 Die Kunst der Genügsamkeit
3.4 Bin ich genügsam?
3.5 Hetärengespräche
7
4.
Das Glück der Harmonie
4.1 Heroengespräche
4.2 Zeugen im Hässlichen ?
4.3 Die Kunst der Nähe
4.4 Bin ich empfindsam?
4.5 Hetärengespräche
Nachspiel
Himmlische Medizin - Frei von Nebenwirkungen
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Vorspiel
Himmel - Placebo oder Medizin
Himmel? Himmel.
Zunächst das gehauchte H, dezente und vornehme
Erinnerung an den Windstoß des Heiligen Geistes - Ruach,
dann das aufsteigende I, dann die doppelte Brücke des
abschmeckenden mm (mit verschlucktem h), am Ende
schließlich, welch herrliche Intrige der Sprache!, der
hebräische Gottesnamen el: Himmel.
Wer
dieser
spekulativen
Etymologie
keinen
Glauben
schenkt, dem empfehle ich einen Gebrauchstest. Auch
Wörter haben ein Verfallsdatum, werden ranzig oder setzen
Schimmel an. Wenn ich Wörter auf ihre Haltbarkeit hin
testen will, dann sage ich sie mir immer wieder laut vor,
zwanzig, dreißig, vierzig Mal: Himmel, Himmel, Himmel,
Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel,
Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel,
Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel,
Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, Himmel,
Himmel,
Himmel, Himmel, Himmel, Himmel, so lange, bis das Wort
nur noch ein reiner Klangkörper ist. Zuweilen wird das Wort
mir dann ganz fremd, als würde ich es zum ersten Mal
vernehmen, betörend zumeist, faszinierend und immer lässt
mich dieses neu entdeckte Wort erschaudern.
Himmel ist so ein Wort.
Himmel, das ist alles und noch viel mehr, was die Phantasie
sich erträumt. Das sind Märchenszenarien, Idyllen der
Gehirnkammer, Gegenwelten zum fatalen Einerlei des Hier
und Jetzt, ein vielstimmiger Abgesang auf das schäbige
Establishment, zuweilen ein giftiges Attentat auf den Status
quo, Schaufenster der Seele, Sedativ und Stimulans,
vorneuzeitliche Netzkarte und Kursbuch, irdische Vorfreude
9
auf eine Erlösung vom Dax und dem verschriebenen
Wellnessterror, griechisches Gelage und christliche Schau
(Show) des Höchsten.
Ohne Himmel geht’s nicht. Offensichtlich. Das Internet bietet
zum Stichwort Himmel 725 Titel. Hier die Top ten nach
Amazon:
1. JEANNIE BREWER: Ein Riss im Himmel.
2. UTE EHRHARDT: Gute Mädchen kommen in den Himmel,
böse überall hin. Warum bravsein uns nicht weiterbringt.
3. RAINER MARIA RILKE: Gegenüber dem Himmel. Gedichte.
4. PETRA HAMMESFAHR: Der gläserne Himmel.
5. NORA ROBERTS: So hoch wie der Himmel.
6. ERICH KARKOSCHKA: Atlas für Himmelbeobachter.
7. ELIZABETH FULLER: Wenn du den Emu am Himmel siehst.
Eine Reise in die Welt der Aborigines.
8. FRANCESCA MARIANO: Himmel über Afrika.
9. JAMES VANPRAAGH: Und der Himmel tat sich auf.
Jenseitsbotschaften.
10. MICHAEL SCHOPHAUS: Im Himmel warten Bäume auf dich.
Die Bandbreite reicht von verkaufsträchtigen Fibeln der
Lebensberatung über Esoterik bis zum satten Roman und
luziden Gedicht. Nicht mitgerechnet werden alle Titel, die mit
den Redewendungen zum Stichwort Himmel kickern. Man
würde aber, verließe man sich auf die Stichwortsuche, den
schönen Roman der sich früh geouteten und jetzt fleißig
bekennenden
Melancholikerin
BIRGIT
VANDERBEKE
übersehen: „Abgehängt“ (2001) – der Himmel hängt
offensichtlich nicht mehr voller Geigen, wenn die Liebe
schwächelt.
Unter der Rubrik Video werden 44 Filme aufgelistet, darunter
der noch immer inspirierende Film ‚Der Himmel über Berlin‘
(mit BRUNO GANZ, OTTO SANDER), Dem Himmel so nah
(KEANU REEVES, AINTANA SANCHEZ-GIJON) und Der Himmel
soll warten (W ARREN BEATTY, JULIE CHRISTIE).
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Obwohl die Gebildeten unter den Verächtern der Theologie
die metaphysischen Geigen abgehängt haben, obwohl das
party-adrette
Stichwort
von
der
‚Gesellschaft
ohne
Baldachin‘ (SOEFFNER) die Runde macht, obwohl es als
ausgemacht gilt, dass der Himmel wüst und leer und
weltraumkalt ist, kommen die sogenannten Headliner, deren
eines Ohr immer am Volksmund klebt, ohne den Begriff
Himmel nicht aus. Bis auf weiteres ist der Himmel Synonym
für (über)irdisches Glück.
Wenn aber die Intellektuellen Recht haben und der Himmel
trostlos, wenn die Götter ihren Rücktritt eingereicht, dann
wird die semantische Liaison von Himmel und Glück fraglich.
Die Rede vom Himmel ist dann nur noch metaphorischer
Flitter. PASCAL BRUCKNER, Romancier und Essayist, hat die
Verlegung des Glücks vom religiösen Jenseits ins irdische
Diesseits auf eine sprechende Formel gebracht: „Verdammt
zum Glück“ (2001). Das ist der „Fluch der Moderne“. Glück
ist nicht mehr himmlische Sehnsucht sondern, spätestens
seit den 60er Jahren, irdisches Programm. Uns bleibt nichts
anderes übrig, als dieses Programm zu ratifizieren – es sei
denn, wir pfeifen auf das Glück der Zurichtung durch
gepredigte
desertieren
Glücksstrategien
zugunsten
der
der
Glücksdresseure
letzten
Freiheit
und
des
Unglücklichseins.
Bei BRUCKNER wird mit dem Himmel das Glück zugleich
vertrieben. Offensichtlich ist das eine ohne das andere nicht
zu haben. Zu fragen ist, ob es nicht Glück jenseits der
kulturindustriellen Zurüstung und Banalisierung gibt und ob
nicht auch die Rede vom Himmel durchaus noch Sinn
macht. Und ob, wie BRUCKNER meint, ein Christ ein Mensch
aus der anderen Welt sei (17ff), ist stramm formuliert aber
entbehrt nicht ganz der Überlegenheitsunterstellung: Nach
BRUCKNER dürften Christen in der Moderne niemals
angekommen sein. (Einige sind es fraglich nicht und
11
tummeln sich vergnügt weiter im Mittelalter. Einige im
Mittelalter UMBERTO ECOS.) Widerspruch erzeugt BRUCKNER
bei mir vor allem, weil er nicht sieht, dass es differente
Modelle glücklicher Lebensführung gibt, die von der Antike
her bekannt sind und modern oder postmodern reformuliert
worden sind. Die christliche Lebensdeutung ist ein Angebot
unter vielen. Und das von BRUCKNER sehr zu recht
denunzierte Modell der Glücksvergötterung ist auch nur ein
Relaunch alter Texte.
Ganz anders nähert sich ANNEMARIE PIEPER dem Thema. In
ihrem Buch „Glückssache“ arbeitet sie sich versiert durch die
Geschichte der Glückstheorien. Das ist durchweg gediegen,
obwohl ich den Zuordnungen wie Ästhetische Lebensform:
sinnliches Glück; religiöse Lebensform: kontemplatives
Glück nicht traue. (Mal abgesehen von der prima facie nicht
einsichtigen Scheidung zwischen sittlicher und ethischer
Lebensform.)
Unterschwellig
favorisiert
PIEPER
einen
ethischen Ansatz, der dem ewig ungezogenen Leib Mores
lehrt. Diese tour de force bleibt aber extrem unverbindlich
und akademisch distanziert. Man blättert ratlos zurück Und
wie bei BRUCKNER werden unbesehen Klischees über das
Christentum tradiert. Den Neuplatonismus als Sohn des
Christentums anzugeben ist – mit Verlaub – genetisch
bedenklich. Diesen Vaterschaftstest zweifle ich an. Prompt
verkommt das Christentum bei PIEPER zum leibfeindlichen
Vertröstungsinstitut. Wie selbstverständlich unterstellt sie
dem Christentum - wie dem Platonismus - eine intendierte
Aufstiegsbewegung, im Christentum eine Anabasis zur
letztgültigen Einheit mit Gott, übersieht dabei aber, dass am
Anfang ein Abstieg, eine Katabasis Gottes ins Fleisch stand.
Positionen zu treffen ist Glückssache.
Ich möchte in diesem Essay vier Lebensstile unterscheiden,
die sich in exemplarischen Grundstimmungen (und Gesten)
ausdrücken.
Zunächst
die
Euphorie.
Euphoriker
sind
12
Menschen, die Erfahrungen machen, die sie unter Strom
versetzen, zumeist Erfahrungen von betörender Schönheit,
Levitationserfahrungen mit dem Hang zum Höheren. (Wer
als Euphoriker sich sofort an der Schönheit ergötzt, ruiniert
den Zauber, erstickt ihn in den Kissen, hält beim
Morgenkaffee Leichenbeschau – eine schöne Leich! - und
macht sich anschließend auf die Suche nach dem neuesten
Zauber. Ein Ahasverus in eroticis. KIERKEGAARD hat diesem
schlechten Euphoriker in ‚Entweder – Oder‘ die Leviten
gelesen. Das wahre Euphoriker liebt immer – natürlich nicht
nur - platonisch.)
Auf der mentalen Richterskala nimmt die genügsame
Resignation die Gegenposition ein. Der Resignierte weiß um
die unsicheren Fundamente, kennt die Abgründe und flaniert
deshalb bedächtig. Er ist Minimalist und redet gerne im
Adorno-
oder
Odo
Marquard-Jargon.
Minima
erotica.
Genügsam eben.
Bleiben die Mittelwerte. Der Coole ist dem Schönen
durchaus nicht abgeneigt. Der antike Coole orientiert sich
mit Vorliebe am ewig Schönen und bleibt dem Irdischen
gegenüber gelassen. Auch der postmoderne Coole liebt die
Gelassenheit. Sein Deo hält. Historisch rangiert er – geht
man von der Blüteperiode aus - vor den Skeptikern. Es gibt
also eine mentale Verfallsgeschichte. Die wird nur vom
Christentum aufgehalten.
Schließlich der Harmoniesucher. Er ist durchaus nicht
weltflüchtig sondern (auch) Agent des Unfertigen und
Hässlichen. Er weiß um die Dialektik des Schönen. Seine
Gestalt ist alternd, schön ist er nicht. Er integriert
Weihnachtsfreude und Karfreitagschmerz.
Ich beginne die einzelnen Abschnitte mit Göttergesprächen.
Sie finden über den Wolken des Olymp statt oder im Garten
Eden.
(Die
Himmelsvorstellungen
sind
bekanntlich
umfangreich, wie JEFFREY BURTON RUSSEL in dem hübschen
13
Buch „Geschichte des Himmels“ 1999 zeigt.) Die Agenten
sind natürlich nicht ganz auf der Höhe des Begriffs. Dann
folgen Miniaturen aus Geschichte und Gegenwart. Gesucht
werden Helden der Philosophie und Theologie, die antike
Muster neu designern. Die ausgesuchten Agenten haben
alle einen Hang zur guten alten Ataraxie, zur Seelenruhe,
ihre Ausgangserfahrungen sind aber durchaus verschieden
und verweisen unterschwellig auf PLATONS Erfahrung des
Schönen, der stoischen und epikureischen Gelassenheit
oder der skeptischen Genügsamkeit. Weil die Literatur und
der Film besonders geeignet sind, Situationen des Glücks
und der Verletzungen einzufangen und mit Vokabularien
auszustatten (vielleicht gelingt ihr das sogar besser als der
Ethik), kommt dem Blick auf die Kunst ein eigener Punkt zu.
(Selbstredend: Literaten und Filmemacher lassen sich nicht
immer
eindeutig
Lebensgefühlen
und
Lebensmodellen
zuordnen, aber oft finden sich doch Teile von Vokabularien,
die auf traditionelle Muster reagieren. Ist etwa der häufig
genannte gallische Apokalyptiker HOUELLEBECQ ein Zyniker,
ein neocooler Stoiker oder resignierender Skeptiker? Ist der
THOMAS BERNHARD der „Auslöschung“ ein Kyniker oder ein
Neoplatoniker?)
Abgerundet werden die Kapitel mit Hetärengesprächen.
Freundinnen sind in Glücksdingen am besten bewandert.
Konsens ist dort allerdings nicht zu erwarten. Aber wer sagt
denn, dass Gezänk nicht auch Glück verbreitet? Ist Ataraxie
vielleicht nur ein müder Männertraum?
Sind aber vier Angebote nicht drei zuviel?
Eine naiv sich gebende, aber nicht unberechtigte Frage,
haben wir doch alle Stichworte wie ‚Orientierungskrise‘ und
‚neue Unübersichtlichkeit‘ (Habermas) im Ohr. Moden, auch
philosophische und religiöse Moden, altern immer schneller.
Bereits die nächste Buchmesse zelebriert oft Rituale der
Erinnerung an Moden des Zeitgeistes, die eine scheinbar
14
imperiale Stellung einnahmen, aber in der Zwischenzeit
einen atemberaubenden Entwertungsschub durchgemacht
haben. Wir leben in einer Optionsgesellschaft (Kunstmann
1997), das ja, aber die Optionen haben häufig allenfalls den
zwielichtigen
Wert
Bananenpassagen
von
Optionscheinen
auf
moderne
in
rostbäuchigen
Schiffen
vor
Madagaskar. Die berufsmäßigen Etikettierer behelfen sich,
eine Mischung aus Vorsicht und Erfindungsnot, mit der
Aufschrift
‚post‘:
Poststrukturalismus,
Postmoderne,
Postmarxismus. Die Verschnellung des Geistes ist nicht
zuletzt eine Folge der agilen Kreuzung der Methoden. Gäbe
es einen verbindlichen Theoriedarwinismus, dann müssten
Vertreter einer Richtung Hand an sich anlegen, sobald
jemand diese Richtung mit einem ‚post‘ denunziert. Das
Glück eines Theoretikers bestünde dann in der Entlastung
vom Tempo des Alterns. Ich habe mich deshalb auf antike
Gründungsdokumente
zurück
gezogen,
die
eine
offensichtliche Attraktivität auf für die Gegenwart besitzen.
(Vollständigkeit kann nicht intendiert sein, aber vielleicht ist
das vorgeschlagene Geviert in der Tat die Quadratur des
Kreises.) Ich halte jedes der Modelle für lebenstauglich und
lebensdienlich. Welches Modell ein Leser wählt, hängt nicht
zuletzt auch von der charakterlichen Disposition und der
eigenen intellektuellen Biographie und Physiognomie ab.
Aber natürlich habe ich eine Vorliebe und die Aufgipfelung
des Diskurses ist auch nicht ganz zufällig. Ich habe einen
Standpunkt außerhalb des Christentums eingenommen, um
Stärken und Schwächen der Modelle (halbwegs) nüchtern
sondieren zu können. Plakativ formuliert: In einem ganz
basalen
Sinn meint Glück Entlastung.
Das
religiöse
Theoriesetting des Christentums ist in dieser Hinsicht ein
sehr attraktives Angebot.
Offen bleibt zunächst die Frage, ob der Himmel, wie die
Religionskritik meinte, nur ein Placebo ist. Noch KANT wollte
15
auf die Vorstellung bekanntlich nicht verzichten. Und die
Dichter, mögen sie auch als Lügner von PLATON denunziert
worden sein, hätscheln diese Vorstellung mit gleicher
Inbrunst wie die volksreligiös Frommen. Und die Theologie?
Die Theologie gehört seit ehedem und auch noch nach der
Aufklärung zu den Theoriesettings, die Vorstellungen glaubund lebenswürdig machen wollen, wo andere Theoriesettings betreten schweigen oder lauthals lachen. Geht die
Geschichte des Himmels also doch weiter?
Zumindest literarisch.
16
1. Das Glück der Euphorie
1.1 Göttergespräche
Ein ehelicher Wortwechsel zwischen ZEUS und seiner
Gemahlin
H e r a. Seitdem du den phrygischen Knaben da vom Ida
geraubt und hierher gebracht hast, finde ich dich sehr kalt
gegen mich, Zeus.
Z e u s. Du bist also auf den unschuldigen, harmlosen
Jungen eifersüchtig? Ich dachte, nur die Weiber und
Mädchen, die gut mit mir stehen, machten dich so
übellaunig.
H e r a. Es ist in Wahrheit gar nicht schön, wie du es so
treibst, und es schickt sich sehr übel für dich, daß du, der
Herrscher
aller
Götter,
deine
rechtmäßig
angetraute
Ehegattin sitzenläßt und da unten auf der Erde in Gestalt
eines goldenen Regens oder eines Stiers oder eines Satyrs
überall herumbuhlst. Indessen bleiben jene Weibsstücke
doch wenigstens dort, wo sie hingehören, nämlich auf der
Erde; aber diesen Hirtenjungen da hast du, deiner göttlichen
Majestät zur Schmach, sogar in den Himmel heraufgeholt
und mir vor die Nase hingesetzt unter dem Vorwande, daß
er dir den Nektar einschenken solle; als ob du so verlegen
um einen Mundschenken wärest und Hebe und Hephaistos
einem so schweren Amt nicht länger vorstehen vermöchten.
Aber freilich nimmst du den Becher nie aus seiner Hand,
ohne ihm vor unser aller Augen einen Kuß zu geben, der dir
besser als der Nektar schmeckt, so daß du alle Augenblicke
zu trinken verlangst, wenn du gleich keinen Durst hast; ja du
treibst es so weit, daß du den Becher, wenn du ihn nur ein
wenig abgetrunken hast, dem Jungen hinreichst und ihn
17
daraus trinken läßt, um das, was er übriggelassen hat, als
etwas gar Köstliches aufzuschlürfen; und zwar auf der Seite,
die er mit seinen Lippen berührt hat, damit du zugleich das
Vergnügen zu trinken und zu küssen habest. Und legtest du,
der König und Allvater, nicht neulich Ägis und Donnerkeil auf
die Seite und hocktest dich trotz deinem langen Bart auf den
blanken Boden hin, um mit ihm Schusser zu spielen? Bilde
dir ja nicht ein, daß du deine Sachen so heimlich triebest; ich
sehe das alles recht gut.
Z e u s. Und was ist denn das so entsetzliches, o Hera,
wenn man, um sich ein doppeltes Vergnügen zu machen,
einem so schönen Knaben unterm Trinken einmal einen Kuß
gibt? Wenn ich ihm erlaubte, dich ein einziges Mal zu
küssen, du würdest mir gewiß keinen Vorwurf daraus
machen, daß ich seine Küsse dem Nektar vorziehe.
H e r a. Das sind doch höchst unanständige Reden, wie sie
nur eine gewisse Sorte von Männern führt! Ich meinesteils
werde hoffentlich niemals so wahnsinnig sein, so einem
phrygischen Weichling mit meinen Lippen auch nur in die
Nähe zu kommen.
Z e u s (hitzig). Schmäh mir bloß nicht, du Erlauchte, die
Knabenliebe! Dieser weibische Junge, dieser Halbwilde,
dieser Weichling, ist mir lieber und begehrenswerter als –
ach, ich will lieber gar nichts sagen, sonst läuft dir die Galle
noch vollends über...
(LUKIAN 1998, 12f.)
18
1.2 Sweet Alkibiades
Viele tradierte Begriffe haben ein sehr eigenwilliges Flair.
Platonische
Liebe
ist
so
ein
Begriff.
Verklausuliert
ausgedrückt handelt es sich um die Penetrationsscheu.
Oder um die eine geschickte Sublimierung des Begehrens.
Das Bildgedächtnis denkt ans pubertäre Anhimmeln. Oder
erinnert das virile Urteil über einen kleinen Feigling in
eroticis. Kaum jemand kennt den eigentlichen Sitz im Leben.
Ein fiktiver Lexikonartikel kann eine erste Orientierung
bieten.
Platon, Sohn des Ariston und der Periktione, mutmaßlich
428/7 v. Chr. in Athen geboren, gest. ebd. 347. Platon gilt
als der berühmteste Schüler des -> Sokrates (470-399); 387
gründet Platon die phil. Akademie, die bis 529 n. Chr.
Bestand hat. Sein an Sokrates geschultes
phil. Konzept
pflegt den Dialog als Medium, um die Seele der potentiellen
Gesprächspartner durch prüfendes Nachfragen (Elenktik)
von bloß eingebildetem Wissen zu reinigen (katharsis) und
das Wissen, das die Seele immer schon in sich trägt,
gesprächsweise, in Rede und Gegenrede, zu entbinden
(Mäeutik, Hebammenkunst).
Philosophie versteht Platon im Kern als paideia (Erziehung),
als eine Umwandlung, die in einer Lebensform mündet, die
sich am Schönen, Guten und Wahren orientiert. Das
Erziehungsprogramm, in seinem Hauptwerk "Der Staat"
ausgeschrieben, soll den Menschen umwenden von seiner
natürlichen Fixierung auf die sinnlichen Einzeldinge, um die
vollkommenen Urbilder oder Ideen anzuschauen. Nach
Platon
erinnert
sich
der
Mensch
angesichts
der
euphorischen Erfahrung eines schönen Antlitzes an die
Urbilder, die nicht der Erfahrung entstammen sondern der
Seele
immer schon einwohnen -> Anamnesis-Lehre.
19
(Wiedererinnerungslehre). Ziel ist
die Ablösung eines
triebgesteuerten Lebens, das sich um äußere Güter sorgt,
durch ein Leben, das sich ganz an der vernünftigen Einsicht
(Logos, Vernunft) orientiert und darin Sorge um die eigene
Seele (epimeleia) trägt. Glückseligkeit oder Eudämonie
besteht in der schönen Ordnung der Seele – und damit des
ganzen Lebens.
Von den ca. 25 als echt geltenden Dialogen sind die
wichtigsten: Gorgias, Menon, Phaidros, Symposion, Staat,
Parmenides,
Theaitet,
Timaios.
Die
erste
beinahe
vollständige Übersetzung der Werke Platons ins Deutsche
legte -> F.D.E. SCHLEIERMACHER vor.
Die platonische Liebe verbirgt sich in der Lexikon-Zeile über
das schöne Antlitz. Seit JOSTEIN GAARDERS philosophische
Hintertreppe „Sophies Welt“ ist es kein Geheimnis, dass die
Philosophie mit dem Staunen beginnt. In PLATONS Dialog
‚Theaitetos‘ steht unmissverständlich: „Gar sehr nämlich ist
die Leidenschaft (Pathos) des Philosophen das Staunen. Es
gibt nämlich keinen anderen Anfang der Philosophie als
diesen." (155d) Für PLATON eigentümlich ist, dass er das
anfängliche
Staunen
an
einem
konkretisiert,
damit
der
schönen
Mensch
sich
Angesicht
an
das
„staunenderregende wesenhafte Schöne“ (Symposion 210e)
erinnert.
PLATON inszeniert das Drama der Wiedererinnerung im nach meiner Einschätzung – neben dem „Symposion“
schönsten Dialog "Phaidros". Gegenstand des Gesprächs ist
Wesen
und
Ziel
der
Liebe.
Liebe,
genauer:
die
philosophische Liebe, ist für den platonischen SOKRATES
eine rationale Form göttlicher Euphorie. Um in das Thema
einzustimmen, erzählt SOKRATES zunächst einen Mythos
über die Seele: Die menschliche Seele sei eine gefallene
Seele, die vor Urzeiten das außerhalb des Kosmos
befindliche wahrhaft Seiende geschaut habe: die Ideen.
20
Wenn nun ein Mensch auf etwas äußerst Schönes hier im
Kosmos treffe, so erinnere er sich an die Idee, die er vor
dem Fall geschaut habe, und die Seele erhebe sich aus
ihrem leiblichen Grab oder Kerker. (Im Griechischen verbirgt
sich hier ein Wortspiel: soma = sema, Leib = Grab. Die
Vorstellung einer Unsterblichkeit der Seele, verknüpft mit
einer
Prä-
und
pythagoreischen
Postexistenz,
und
ophischen
dürfte
Quellen
Platon
aus
übernommen
haben.)
"Wer aber noch frische Weihung an sich hat und das
Damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches
Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die
Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst,
und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten,
hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott,
und fürchtete er nicht den Ruf eines übertriebenen
Wahnsinns, so opferte er auch, wie einem heiligen Bilde
oder einem Gotte, dem Liebling. Und hat er ihn gesehen, so
überfällt ihn, wie nach dem Schauder des Fiebers,
Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze." (251 a
f.)
Offensichtlich weiß SOKRATES, wovon er, der zeitlebens vom
Beau Charmides (ist es eine List der Sprache, wenn im
Namen der Charme verborgen liegt?) begeistert war und der
vom Jünglingswunder sweet Alkibiades eine Nacht lang
unter der Decke umworben wurde, redet. Eine in jeder
Hinsicht
Sinne
erhebende
Erfahrung,
die
den
Ausgangspunkt bildet für eine durchgehend philosophisch
geführte Lebensform: "Denn der Mensch muss gemäß dem,
was man Idee nennt, Einsicht gewinnen, indem er von den
zahlreichen Wahrnehmungen zu dem kommt, das durch die
Überlegung zu einer Einheit zusammengefasst wird. Das
aber ist nichts anderes als die Wiedererinnerung an das,
was unsere Seele einst gesehen hat, als sie gemeinsam mit
21
dem Gott dahinfuhr, als sie auf das herabsah, von dem wir
nun sagen, dass es sei, und als sie ihren Blick zu dem
wahrhaft Seienden emporhob. Deshalb ist es auch gerecht,
dass einzig das Denken der Philosophen beflügelt wird;
denn mit seiner Erinnerung ist er stets nach Kräften bei
jenen Dingen, dank denen ein Gott eben göttlich ist,
dadurch, dass er sich mit ihnen beschäftigt. Der Mensch
allein, der nun von solchen Erinnerungen auf richtige Weise
Gebrauch macht und immer in vollkommenen Weihen
geweiht ist, wird wahrhaft vollkommen. Indem er aber die
menschlichen Bestrebungen aufgibt und mit den göttlichen
umgeht, wird er von der Menge zurechtgewiesen, weil er
verdreht sei; dass er aber gottbegeistert ist, das hat die
Menge nicht gemerkt." (249cf.)
Beschrieben
wird
vom
platonischen
SOKRATES
eine
erhebende Geschichte, die dem Anblick einer schönen
Gestalt entspringt. Das ausgezeichnete Schöne nennt
PLATON das "ekphanestaton" (250d), das Unverborgenste,
das Hervorleuchtendste, und das "erasmiótaton", das
Liebreizendste. Was ist damit gemeint?
Um die Pointe zu verstehen, muss man kurz auf die
platonische Grundüberzeugung eingehen, Philosophie nach
dem Modell der "Techne" zu konzipieren. Der Ausdruck
Techne (in dem Wort schwingt noch das deutsche Wort
Technik mit) wird zunächst bezogen auf die Erstellung eines
Werkes, eines Ergon. Ein Technit muss genau wissen, wie
er
etwas
zu
der
geordneten
Gestalt
eines
Ergon
zusammenfügt. Er muss seine Arbeit immer wiederholen
können und darüber Rechenschaft ablegen. Nun bezeichnet
PLATON als Ergon nicht nur ein zu verfertigendes Ding,
sondern ebenso die Gesundheit und die Ordnung der Seele,
also alle Bestandsmomente der Wirklichkeit. Nennt Platon
nun das schöne Gesicht das Hervorleuchtendste, dann
deshalb, weil es in seiner Geordnetheit und Lebendigkeit
22
sofort
verstehbar
ist.
Es
ist
das
auf
einen
Blick
Verständliche, weil es die geordnete und in ihrer Ordnung
sichtbare Zusammenfügung von Momenten darstellt. Diese
Gestalt entspricht also dem platonischen Modell eines
ergons, von dem der Technit, hier: der philosophische
Technit, Rechenschaft ablegen kann. "Ekphanestaton" ist
die Gestalt, weil in ihr die Idee des Guten, die idea tou
agaqou, als Grund der Geordnetheit und Verstehbarkeit
alles Seins, zur Darstellung kommt. In dem Augenblick, in
dem der frisch Geweihte, und das heisst hier: derjenige, der
mit dem Mythos vom Seelenleben vertraut ist, auf eine
schöne
Gestalt
trifft,
erinnert
er
sich
an
die
Ordnungsprinzipien als Garanten des Verstehens selbst und
versteht das Gesicht als dessen Darstellung. Das nennt
PLATON die Anamnesis, die Wieder-Erinnerung. Ausgelöst
wird in dem Anblick einer schönen Gestalt ein Begehren
selbst zur Darstellung der Idee des Guten zu werden,
plakativ gesagt, ein schön geordnetes Leben zu führen. Die
Philosophie will dann auch nichts anderes, als die Griechen
zu einem entsprechend gestalteten Leben zu erziehen, d.h.
jeder soll sein "Leben schlechthin nach der Liebe richten"
(257b).
Für PLATON ist entscheidend: Nur der Philosoph hat Einsicht
in den Charakter von Ordnung. Jedes Ergon, auch das
eigene Leben, ist eine Darstellung von Ordnung und damit
der Idee, die Grund allen Seins und der Geordnetheit: der
idea tou agathou. Deshalb weiß der Philosoph, dass ein
schönes Gesicht eine Darstellung der Idee ist. Freilich: Auch
der Philosoph kann dieses Wissen beim Gesprächspartner
nicht einfach erzeugen, wohl aber den Gesprächspartner
dazu veranlassen, diese Einsicht selbst zu gebären
(Mäeutik). Der Eros ist jener zentrale Antrieb, der zwischen
der Welt des Sinnlichen und Geistigen vermittelt. Der
Gesprächspartner kann diese Einsicht im Anschluss an
23
diese nachvollziehbare Erfahrung ausführen, oder aber
durch die Teilhabe am Dialog, der im Idealfall eine
Darstellung der der schönen Ordnung ist.
Die philosophische Kunst ist eine Kunst, die poietische
Regeln angeben kann, wie denn ein philosophisches
Gespräch gebaut sein muss. Ich gehe dazu von der
Bestimmung der Philosophie als dialektischer Kunst aus: Die
dialektische Kunst besteht nämlich in der Wechselwirtschaft,
das "vielfach Zerstreute zusammenzuschauen zu einer
Gestalt" und eine Gestalt "nach den Gliedern, wie sie von
Natur gewachsen sind" auseinanderlegen zu können. (265
df.) Entsprechendes gilt auch für das Gespräch. Auch das
Gespräch muss hervorleuchtend, d.h. als geordnete Gestalt
präsentiert werden. Diese dialektische Geordnetheit der
platonischen Dialoge ist gleichsam der Ausweis für die
Inspiriertheit philosophischer Texte platonischer Provenienz.
Als philosophische Rede setzt PLATON dabei auf eine
literarische Form der Darstellung, die der menschlichen
Gestalt entsprechend aufgebaut wird, mithin Kopf, Hand und
Fuß hat (264c). PLATON sagt im Menon, dass die mythische
Rede "regsam und lebendig" mache, die eristische Rede
dagegen träge und faul. (Men 81ef.) Und im Phaidros heisst
es: "Aber das wirst du doch zugeben, denke ich: dass jede
Rede wie ein Lebewesen organisch aufgebaut sein und
ihren eigenen Leib haben muss, so dass sie weder ohne
Kopf noch ohne Füße ist, sondern Mitte und Enden hat, die
so geschrieben sind, dass sie zueinander und zu dem
Ganzen in einem passenden Verhältnis stehen." (Phaidros
264c) Der platonische SOKRATES, sagt zwar von sich, er
könne nicht gebären (Theaitetos 1150bf), sondern nur wie
eine männliche Hebamme die Zuhörer zur Wiedererinnerung
des pränatal Geschauten animieren. Er ist in einer Hinsicht
aber durchaus ein potenter Erzeuger, weil er im Schönen
24
zeugt, indem er wohlgeordnete Dialoge verfasst, die die
Zuhörer befruchten.
Nirgends verwandelt sich bei Platon die Euphorie in
Hysterie. Nirgends auch dient die Befiederung durch den
Eros als Levitationskraft für eine für eine esoterische Flucht
aus der Welt. Platon bleibt ein Meister der Besonnenheit,
Hüter und Wächter der schönen Ordnung. Erhebende
Erfahrungen kanalisieren die Begierde - nach Platon neben
Vernunft und Mut ein Teil der Seele -, mäßigen sie, lenken
sie ab vom Ephemeren, damit alle Seelenteile die ihr eigene
Aufgabe erfüllen: die Vernunft erfüllt sich in der Weisheit, die
Tapferkeit in der Standhaftigkeit und die Begierde eben in
der Mäßigung. Wenn die Seelenteile diese schöne Odrnung
aufweisen, dann herrscht die Gerechtigkeit (Dikaiosune).
Ein gutes und glückliches Leben ist also ein geordnetes,
harmonisches Leben. Und deshalb erwartet die Toten, wie
der Gorgias erzählt, auf einer Wiese ein Gericht und eine
erneute Wiedergeburt. Viele Leben der Reinigung sind nötig,
um schließlich den Wohnsitz der Götter zu erreichen.
(Philosophen, so die nicht undemütige Einschätzung,
benötigen weniger Zeit als die anderen.)
Für
PLATON
könnte
der
Himmel
freilich
eine
böse
Überraschung bieten. Wenn LUKIAN Recht hat, ist der
göttliche ZEUS jemand, der die platonische Sublimierung
nicht mitmacht und ungeniert küsst und penetriert.
25
1.3 Schöner leben
Schöner wohnen? Ja.
Schöner leben? Auch.
Die alte Frage nach dem glücklichen Leben wird in der
Gegenwart vollmundig zur Frage nach dem schönen Leben.
„Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst“ lautet ein
Bestseller von W ILHELM SCHMID (2001). Er ist (wie jeder
Philosoph) Nachmieter im Denken PLATONS und legt einen
ambitionierten Versuch vor, die platonische Lebenskunst in
vielfacher Brechung in die Gegenwart hinüber zu retten.
SCHMID rubriziert seinen Ansatz unter dem Stichwort „schön
zu leben“ (kalos zen), das erlaubt, zunächst die ganze antike
Philosophie von PLATON über DIOGENES bis hin zu den
STOIKERN und EPIKUR darunter zu versammeln. Und in der
Tat: Die Lebenskunst nach SCHMID ist ein fröhlicher
Eklektizismus, der klug aus allen klassischen Konzeptionen Skepsis (Negativdenken als nötige Korrektur auf das
Gewäsch vom positive thinking, 109) und Christentum
(wiederholt ist von der Fülle des Lebens, 1. Joh***, die
Rede) eingeschlossen – das Beste herausfiltert.
Der Held seiner Urszene, dem Bild „Exkursion in die
Philosophie“ von EDWARD HOPPER abgelesen, ist aber
eindeutig ein ernüchterter, postkoitaler Platoniker, der eine
zwiespältige Erfahrung mit dem Eros gemacht hat. „Ein
Ausschnitt aus dem Alltag zweier Menschen: Ein grübelnder
Mann, die Stirn in Falten gelegt und mit strengen Bügelfalten
in den Hosenbeinen, sinnt angestrengt über etwas nach. Er
ist nicht allein, nicht zu übersehen ist die halb entblößte Frau
hinter ihm, hingestreckt auf eine Liege, an deren Rand er
sitzt, und abgewandt von ihm, ihr Gesicht ist nicht sichtbar.
Die quer übers Kopfkissen hingegossenen Haare könnten
verraten, dass sie sich abrupt von ihm weggedreht hat, und
26
sie macht nicht die geringsten Anstalten, sich ihm wieder
zuzuwenden. Auch er schenkt ihr keinen Blick, er bleibt am
Rand der Liege sitzen, in sich zusammengesunken und
etwas verkrampft, eine Gestalt der Ratlosigkeit. Unklar bleibt
das Verhältnis zwischen beiden, unklar, ob es um dieses
Verhältnis geht, unklar, ob es noch ein Verhältnis gibt.“
(2001, 11)
Es ist der Augenblick danach. Post coitum animal triste,
sagen die Alten. Von Euphorie keine Spur mehr. Der
himmlischen Vereinigung folgt der jähe Sturz in die
solipsistische
Existenz.
Der
sprichwörtlich
platonisch
Liebende belässt es deshalb, erfahrungsgesättigt, beim
Anblick der schönen Gestalt, um sich dem ewig Schönen
zuzuwenden. In HOPPERS Bild geschieht das gleichsam zu
spät. Der Mann, der das Buch aus der Hand gelegt hat, laut
Auskunft von HOPPER soll es PLATONS Symposion-Dialog
sein, starrt auf das Licht, das durch das Fenster fällt, nach
PLATONS Sonnengleichnis ein Bild für die Idee des Guten.
„Das grelle Sonnenlicht, das durchs geöffnete Fenster
hereinbricht, um sich wie ein Teppich vor die Füße des
Mannes zu legen, wirkt wie ein Hohn angesichts der
düsteren Atmosphäre im Inneren. Hoppers bittere Ironie: Der
Mann stiert auf diesen Lichtteppich, dieses Abbild der
‚wahren Schönheit‘, als säße er nach dem mühsamen
Aufstieg zu ihr am obersten Ende der Stufenleiter, wie dies
Diotima in PLATONS ‚Symposion‘ schildert. Aber dieser
Flecken aus Licht ist nicht das Licht selbst. So bleibt er der
Wahrheit fremd genau in dem Moment, in dem er sie am
nötigsten hätte, dem Moment nämlich, in dem das Gelage zu
Ende ist. Es herrscht Ruhe, tödliche Ruhe, wie in den
meisten Bildern von Hopper.“ (14)
Dieser Augenblick ist die Geburt der Philosophie. Ein auf
den Kopf gestellter PLATON. Beginnt bei PLATON die
Philosophie mit dem Anblick des schönen Gesichts, dann
27
bei HOPPER mit der Erfahrung des abgewandten Gesichts.
Die Euphorie droht in Melancholie umzukippen. Extremes
meet.
Die Moderne im Schatten PLATONS hat das Begehren nach
Lust, so SCHMIDS Gegenwartsdeutung, mit dem Leben und
dem Glück identifiziert, ohne vorher eine „Kunst des
Umgangs mit den Lüsten auszubilden“ (19). Der Traum der
Moderne ist der lustvolle Traum von Wohlstand und
Zufriedenheit, der sich als Albtraum eingestellt hat. In einer
hektischen, kalten und mußelosen Gesellschaft vereinsamt
der Einzelne und scheitert am schönen Leben. SCHMID
plädiert deshalb für eine Lebenskunst, die Übungen und
Techniken präsentiert, damit das Leben eine Form bekommt
und – so das horizontbildende Stichwort – „Intensität“ erhält.
Intensität ist (neben Heiterkeit) eine glückliche Umwidmung
der platonischen Euphorie: Gemeint ist die Verspannung des
Lebens im Horizontalen, ein Annehmen und sich Sorgen um
die leibliche Endlichkeit, die sich im Schmerz (51ff.) und im
Tod (62ff.) der Anderen aufdrängt.
Ein intensives Leben verlangt das sich Einrichten (Netz der
Gewohnheiten knüpfen, 32ff.) in der Welt, aber so, dass die
Macht der Gewohnheiten die Flexibilität und Spontaneität
nicht überfremden. In diesem Prospekt überwintert eine
Asketik und Diatetik, die nicht nur der Stoa, sondern auch
der platonischen Lebenskunst eigen ist. Dies gilt – in
gewissen Grenzen - auch für die nötigen Momente einer
Aufhebung der Sorge in der Lust. SCHMID – und hier ist er
ARISTOTELES und MONTAIGNE besonders nahe – plädiert für
einen reflexiven Gebrauch der Lüste in einem „schönen
Verhältnis“: „(D)ie Kunst der Erotik gibt dem Selbst
Gelegenheit, das Gedächtnis des Fleisches zu bestärken,
statt es ‚danach‘ beschämt wieder auszulöschen. Ideal ist
die erotische Begegnung, die den Geist (mit dem Anderen
zu denken), die Seele (mit ihm zu fühlen) und den Körper
28
(ihn zu spüren) umfasst, und bei der die Sorge des Selbst
nicht ausschließlich der eigenen Lust, sondern ebenso der
des Anderen gilt; eine Begegnung, die ausgekostet werden
kann im vollen Bewusstsein, nicht den Traum vom
immerwährenden Einssein erfüllen zu können, vielmehr den
Rhythmus des Einsseins und Getrenntseins, des Verstehens
und des Missverstehens zu unterliegen – und selbst dies
kann als bejahenswert an einem ‚schönen Verhältnis‘
erfahren werden.“ (47f.)
Wenn denn als Ziel der Lebenskunst definiert wird, sich ein
schönes Leben zu machen (173ff.), dann ist dieses Projekt
die Antwort auf das „Ende der großen Entwürfe zur
Beglückung der Menschheit: Die Rückkehr zum Selbst, zum
einzelnen Individuum, das neu damit beginnt, sich selbst zu
gestalten, das Leben zu gestalten und nicht die alten
Illusionen zu hegen. Lebenskunst, das ist die Renaissance
des Individuums, das einst, zu Zeiten der großen Utopien, in
der Apotheose der Gesellschaft unterzugehen drohte, und
das nun gezwungen ist, in der Zeit der Abwesenheit großer
Hoffnungen, sein Leben selbst zu führen.“ (173) Techniken,
die dazu führen, der eigenen Existenz das „Profil einer
sichtbaren Schönheit“ (176) zu verschaffen, sind der rechte
Umgang mit der Zeit, eine essayistische Lebensform, eine
angemessene
Umgangsweise
mit
den
Affekten,
den
Widersprüchen, der Melancholie und das Durchhalten einer
(poststoischen und postepikureischen) Gleichmütigkeit, die
sich in der Grundstimmung der Heiterkeit (euthymia)
ausdrückt.
Aufgabe muss es sein, das Glück wie ein vortreffliches Werk
(ergon) auszuführen. Dabei beinhaltet das Glück nicht nur
seelische und äußerliche Güter, sondern, wie SCHMID sagt,
auch körperliche: „Ein Gut ist ferner, ganz vorsichtig
formuliert (man scheut sich darüber zu sprechen, und doch
kennt auch das gesellschaftliche Leben der Moderne
29
faktisch ein solches Kriterium), möglichst keine ganz und gar
hässliche äußerem Erscheinung zu haben, die die höchste
Gestalt
des
Glücks
beeinträchtigen
könnte,
während
‚Schönheit‘ ihr förderlich ist.“ (166) Damit ist nun doch der
Anschluss an PLATON erreicht: Der schöne Körper ist nicht
nur Medium für eine euphorische Erfahrung und damit für
den Aufstieg zur Schönheit der Idee, sondern ideale Matrix
für das eigene schöne Leben. (Dem hätte der notorisch
hässliche Sokrates wahrscheinlich durchaus zugestimmt.)
Als plage ihn ein schlechtes Gewissen beeilt sich SCHMID
hinzuzufügen,
schön
sei,
was
bejahenswert
ist.
„Bejahenswert kann keineswegs nur das Angenehme,
Lustvolle oder, wie es im ausgehenden 20. Jahrhundert
gerne genannt wurde, das ‚Positive‘ sein, sondern ebenso
das Unangenehme, Schmerzliche, Hässliche, ‚Negative‘. Die
Ästhetik
der
Existenz
umfasst
auch
Misslingen,
entscheidend ist, ob das Leben insgesamt als bejahenswert
erscheint.“ (177) Der ‚existentielle Imperativ‘ lautet: „Gestalte
dein Leben so, dass es bejahenswert ist.“ (178) Ob es
bejahenswert ist, hängt dabei von der Interpretation des
eigenen Lebens ab, die Interpretation des eigenen Lebens
muss dabei durchaus die Interpretation durch die Freunde
eingeschließen, so der aristotelische Schlenker. „Ein Leben
zu führen, das nicht bejaht werden kann“ (179) ist dagegen
eine ‚Sünde wider den heiligen Geist.‘ (ebd.)
Durchaus elegant summiert SCHMID die abendländischen
Modelle
der
Lebenskunst.
Es
bleibt
als
platonische
Urüberzeugung die Idee der auch körperlichen Schönheit.
Die Ur-Erfahrung, mit der die Philosophie anhebt, startet mit
der Schönheit, davor oder eben danach. Theologische
Lebenskunst – ich greife vor – kennt (neben der Schönheit
des
Weinhachtschristentums,
nicht
zufällig
vom
theologischen Platoniker SCHLEIERMACHER favorisiert) auch
30
als Ursituation die Erfahrung des Hässlichen, des Fauligen,
des Ekels.
Und im Gegenzug zur Vernunft des Schönen outen sich
neuerdings
Schriftsteller
als
Euphoriker
körperlicher
Materialermüdungen. KUNDERA findet die Zellulitis nicht nur
bejahenswert, sondern gerät in ein wunderbar ekstatisches
Schwärmen.
31
1.3 Bin ich schön?
Obwohl „die Literatur immer wieder der Rechtfertigung der
gesellschaftlichen Verhältnisse dient, hält sie trotzdem
immer jenes Sehnen der Menschen lebendig, das im
allgemeinen in der bestehenden Gesellschaft keine Erfüllung
finden kann. Kummer und Trauer sind wesentliche Elemente
der bürgerlichen Literatur.“ (LEO LÖWENTHAL 1966, 14f.) Das
hört sich nach bestem Retro-Sound an, etwas verschmockt,
aber immer noch aufklärend.
LÖWENTHALS
symphilosophierender
Freund,
der
die
Gattungsunterschiede zwischen Philosophie und Literatur
bekanntlich eingeebnet hat, THEODOR W. ADORNO, hat in den
Minima Moralia ein herrliche Vignette über ‚L’inutile beauté‘
verfasst:
„Frauen von besonderer Schönheit sind zum Unglück
verurteilt. Auch solche, denen alle Bedingungen günstig
sind, denen Geburt, Reichtum, Talent beistehen, scheinen
wie verfolgt oder besessen vom Drange zur Zerstörung ihrer
selbst und aller menschlichen Verhältnisse, in die sie
eintreten. Ein Orakel stellt sie vor die Wahl zwischen
Verhängnissen. Entweder sie tauschen klug die Schönheit
um den Erfolg. Dann zahlen sie mit dem Glück für dessen
Bedingung; wie sie nicht mehr lieben können, vergiften sie
die Liebe zu ihnen und bleiben mit leeren Händen zurück.
Oder das Privileg der Schönheit gibt ihnen Mut und
Sicherheit, den Tauschvertrag aufzusagen. Sie nehmen das
Glück ernst, das ihnen sich verheißt, und geizen nicht mit
sich, so bestätigt von der Neigung aller, daß sie ihren Wert
nicht erst sich dartun müssen. In ihrer Jugend haben sie die
Wahl. Das macht sie wahllos: nichts ist definitiv, alles läßt
sich sogleich ersetzen. Ganz früh, ohne viel Überlegung,
heiraten sie und verpflichten damit sich auf pedestre
32
Bedingungen, entäußern in gewissem Sinn sich des
Privilegs der unendlichen Möglichkeit, erniedrigen sich zu
Menschen. Zugleich aber halten sie an dem Kindertraum der
Allmacht fest, den ihnen ihr Leben vorgaukelte, und lassen
nicht ab – darin unbürgerlich – wegzuwerfen, wofür morgen
eine Besseres dasein kann. Das ist ihr Typus des
destruktiven Charakters. Gerade daß sie einmal hors de
concours waren, bringt sie ins Hintertreffen der Konkurrenz,
die
sie
nun
manisch
betreiben.
Der
Gestus
der
Unwiderstehlichkeit bleibt übrig, während diese schon
zerging. Zauber zerfällt, sobals er, anstatt bloß Hoffnung
darzustellen, sich häuslich niederläßt. Die Widerstehliche
aber ist sogleich das Opfer: sie gerät unter die Ordnung, die
sie einmal überflog. Ihrer Generosität wird die Strafe
bereitet.
Die
Verkommene
wie
die
Besessene
sind
Märtyrinnen des Glücks. Eingegliederte Schönheit ward
mitllerweile zum kalkulabeln Element des Daseins, bloßer
Ersatz fürs nicht existente Leben, ohne darüber im
mindesten noch hinauszureichen. Sie hat sich und den
anderen ihr Glücksversprechen gebrochen. Die jedoch,
welche dazu steht, nimmt die Aura des Unheils an und wird
selber vom Unheil ereilt. Darin hat die aufgeklärte Welt den
Mythos ganz und gar aufgesogen. Der Neid der Götter hat
diese überlebt.“ (1980, 192f.)
Ihm tritt an die Seite der Altmeister des Leichten und niemals
Seichten, MILAN KUNDERA, der in seinem jüngsten Roman
„Die Unwissenheit“ die Zellulitis feiert, dass einem nicht nur
warm ums Herz wird. Nach dem Beischlaf mit der Mutter
seiner
Freundin
macht
der
Protagonist
Gustaf
eine
Entdeckung:
„Er sieht den Körper seiner neuen Geliebten, die sich vom
Sofa erhebt; sie steht, zeigt ihm ihren Körper von hinten, die
von Zellulitis ummantelten mächtigen Schenkel; diese
Zellulitis entzückt ihn, als drücke sie die Vitalität einer sich
33
wellenden, bebenden Haut aus, die spricht, die singt, die
zappelt, die sich zur Schau stellt; als sie sich bückt, um ihren
auf den Boden geworfenen Morgenrock aufzuheben, kann er
sich nicht mehr beherrschen und streichelt, nackt auf dem
Sofa liegend, diese herrlich gewölbten Hinterbacken, er
befühlt dieses monumentale, überfüllige Fleisch, dessen
verschwenderische Großzügigkeit ihn tröstet und beruhigt.
Ein Gefühl des Friedens hüllt ihn ein: zum ersten Mal in
seinem Leben findet die Sexualität jenseits jeder Gefahr,
jenseits
von
Konflikten
und
Dramen,
jenseits
jeder
Verfolgung, jenseits von Schuldgefühlen, jenseits von
Sorgen statt; er braucht sich um nichts zu kümmern, die
Liebe kümmert sich um ihn, die Liebe, so wie er sie sich
gewünscht hat und nie hatte: Liebe als Ruhe; Liebe als
Vergessen; Liebe als Fahnenflucht; Liebe als Leichtsinn;
Liebe als Belanglosigkeit.“ (2001, 173f.) Hinterrücks spielt
KUNDERA mit einem anderen Motiv der Antike, jetzt
spätrömisch
gefärbt.
Abundantia
ist
die
Göttin
der
gesegneten Fülle, der Überfülle, des Überangebots, der nie
versiegenden Quelle, eine Idee, die Schülergenerationen
anhand des Gedichts von CONRAD FERDINAND MEYER ‚Der
römische Brunnen‘ eingebleut wurde.
Wenn in den Büchern und Filmen von DORIS DÖRRIE, sie
pflegt
eine doppelte Haushaltung,
die nie
zu
einer
Mehrfachverwertung verkommt, die bange Frage gestellt
wird: Bin ich schön?, dann schwingt darin jener Kummer und
jener Trauer mit, dem Wellness-Terror und den gemakelten
Gesichtsstereotypen nicht genügen zu können, und genau
das macht, zumindest in den Augenblicken, wenn sie die
Missionarsattitüde des Frauenbuchs oder -films ablegt, den
Charme dieser Filme und Bücher aus. Man ist hingerissen
und profitiert, um es unflätig ökonomisch auszudrücken, von
den Emotionen. Man wünscht der Mutter in DÖRIES
34
Erzählung ‚Bin ich schön‘ das Selbstbewusstsein der
Schwiegermutter aus KUNDERAS Roman:
„Mein Vater hat meiner Mutter verboten zu fragen. Aber
jedesmal, wenn eine Frau im Bikini an uns vorbeigeht, sehe
ich, wie die Wörter sich in den Mund meiner Mutter drängen,
mit aller Macht herauswollen und wie sie versucht, sie
herunterzuschlucken, die Zähne zusammenbeißt und die
Lippen aufeinanderpreßt.
Ich brauche dann nur noch bis zehn zählen, und schon höre
ich meine Mutter sagen: Sagt mir die Wahrheit: ist mein
Hintern so fett wie bei der da? Sind meine Beine auch so
voller Dellen? Sehe ich aus wie die da? Bin ich hübscher?
Oder häßlicher? Genauso? Ich will es nur wissen. Sagt es
mir. Ich bin nicht beleidigt. Ich will nur wissen, woran ich bin.
(...)
Ich bin alt, sagt meine Mutter. Mein Vater seufzt. Versprecht
mir, daß ihr mir sagt, wenn ich anfange, im Bikini unmöglich
auszusehen.
Der Körper meiner Mutter ist seltsam. Sie hat schlanke Arme
und Beine, aber einen dicken Bauch, der wie ein Polster auf
ihr draufsitzt und nie richtig braun wird, weiße Streifen
durchziehen ihn wie Flüsse. Er ist häßlich, aber manchmal
würde ich ihn gern berühren, er wirkt so weich und
empfindlich.
Ich hasse meinen Bauch, sagt meine Mutter. Ich kann
machen, was ich will, er geht nicht weg, das hat man nun
vom Kinderkriegen.“ (1995, 311f.)
Und dann kam 1999 ‚American Beauty‘ in die Kinos, das
Geschenk
eines
englischen
Theaterregisseurs
(SAM
MENDES) an Hollywood, das sich ihrerseits nicht lumpen ließ
und fünf Oscars rausrückte. Es ist die Geschichte von
Lester, der im Schatten junger Mädchenblüte von einer
Schulfreundin seiner Tochter verzaubert wird - gegen Ende
des Films, und damit kurz vor seinem Tod, teilt er ihr mit, sie
35
sei das „Wunderschönste, was er je gesehen habe“ - , eine
ihn in jeder Hinsicht beflügelnde Erfahrung, die bei ihm – gut
platonisch - zur Frage nach dem schönen Leben führt. Er
entdeckt die Schönheit, gut amerikanisch, während einer
Cheerleader-Aufführung, ein Anstoß zum Reflexivwerden
der eigenen Biographie. (Hinterrücks erinnert die Szene an
eine alttestamentliche Textstelle, die davon zählt, wie die
Weisheit – sophia – zur täglichen Lust Gottes auf dem
Erdenrund tanzt, - einige Übersetzer haben zu Unrecht
verniedlichend davon gesprochen, sie spiele vor ihm,
Sprüche 8, 30.)
Die Bilanz seines eigenen schalen Alltags ist trostlos: Er
prostituiert sich seit vierzehn Jahren in der Werbebranche,
holt sich morgens in der Dusche einen runter und nennt das
den Höhepunkt des Tages; seine Frau ist das Klischee einer
perfekten
berufstätigen
Amerikanerin
im
säkular
protestantischen Milieu, die ihr Leben durchstylt, wo der Griff
der Rosenschere zu den Rosen und den roten Cloggs und
der roten Haustür passt, die sich wie ein Flaggelant selbst
schlägt, wenn der Verkauf einer Immobilie scheitert (sie
heult allenfalls hinter einem Vorhang oder im Auto, wenn
eine Stimme vom Cassettenrekorder ihr Gehirn wäscht mit
der Botschaft, nicht länger die Opferrolle zu übernehmen);
seine
unauffällige
Tochter
spart
heimlich
für
eine
Brustvergrößerung und lebte offensichtlich die letzten Jahre
nebenher – nach außen hin eine Familie wie ein Werbespot.
Lester erpresst bei seinem Abgang aus der Werbebranche
(‚haben Sie mir nicht angeboten, ich könnte meinen Job
behalten, wenn ich ihnen einen blase?‘) ein Jahresgehalt,
kauft sich endlich den Sportwagen, den er vor vielen Jahren
bei seinem Cousin bewunderte, geht joggen, nimmt einen
Job als Verkäufer bei einer Burgerfirma an, weil er partout
keine Verantwortung übernehmen will und fängt wieder an
36
zu kiffen, weil der erwachsene Sohn der neuen Nachbarn
ihn auf den Geschmack bringt.
Seine Frau Carolyn erbettelt sich ein Verhältnis mit dem
Immobilienkönig Buddy Kane (Der Kane war ihr Schicksal;
No Buddy knows, the trubble I’ve seen), schreit hysterisch
im Bett: „Fick mich Euer Majestät“, wird prompt von ihrem
Mann an der Essensausgabe der Burgerfiliale erwischt („Ich
möchte, dass ihr glücklich seid, darfs noch Smily-Soße für
den Burger sein“?) und wird daraufhin vom Immobilienking
aus dem Bett entlassen – Gerüchte erwischt worden zu sein,
kratzen am Image. Nur einmal noch kommen sich beide
näher, aber Carolyn zerstört die Situation, weil sie Angst hat,
ihr Mann würde mit Bier die Couch versauen („Das ist ein
viertausend Dollar Sofa!“ „Das ist dir also wichtiger als zu
leben!“).
Die Tochter Jane verliebt sich in den Nachbarjungen Ricky,
obwohl der sich anzieht wie ein Bibelverkäufer und ihr
zunächst gewaltig auf die Nerven geht, weil er alles mit
seiner Kamera dokumentiert. Ricky wurde von seinem Vater
vor Jahren beim Dope-Rauchen erwischt und zwei Jahre in
einer Klinik weggeschlossen. Er steht unter ständiger (Urin)Kontrolle, trotzdem gelingt es ihm, einen florierenden
Handel aufzuziehen. Dieser Ricky entdeckt die Schönheit
durch das transzendentale Auge der Kamera: das Lächeln
auf einem toten Gesicht („es ist, als ob Gott dich direkt
anschaut“), eine tote Taube, eine tanzende Tüte. Ricky und
Jane beschließen mit dem Drogengeld ein neues Leben in
New York zu starten. Im Zimmer nebenan ist Lester im
Begriff, das platonische Verhältnis zu Janes Schulfreundin
zu transzendieren, als sie Lester aber gesteht, dass sie noch
Jungfrau ist, nimmt er sie schützend in den Arm.
Lester stirbt durch ein Missverständnis. Rickys Vater, nach
außen
hin
ein
harten
Militär,
Waffennarr
und
Schwulenhasser, deutet einige Situationen falsch, nähert
37
sich Lester, wird aber abgewiesen. Als er am Küchentisch
sitzt und ein Foto seiner Familie mustert, wird er von hinten
erschossen. Der herbeieilende Ricky lächelt über die
Schönheit des toten Gesichts. Carolyn schreit hysterisch,
reißt den Kleiderschrank auf, umfasst die dort hängenden
‚leeren‘
Hemden
ihres
Mannes
–
eine
wunderbare
Einstellung - und sackt zusammen.
Der Schluss gehört dem himmlischen Lester, der von oben
auf seine Strasse schaut und darüber aufklärt, dass jeder in
der Schlusssekunde seines Lebens die ganze Schönheit des
verflossenen Lebens noch einmal präsentiert bekommt: der
Blick auf die Sternschnuppen im Zeltlager, die alten Hände
der Großmutter, das fallende Laub, der Sportwagen seines
Cousins, Jane mit einer Wunderkerze, die damals noch
glückliche Carolyn. Diese Schönheit „durchflutet mich wie
Regen und ich kann nichts empfinden als tiefe Dankbarkeit.“
American Beauty – er könnte auch „Die Farbe Rot“ heißen –
singt das hohe Lied der Schönheit, die nicht machbar ist und
die man nicht festhalten kann, an die man sich aber erinnern
kann, um im Alltag das Schöne – und in diesem Sinne auch
Bejahenswerte zu entdecken.
38
1.4 Hetärengespräche
Ein
Wortwechsel
zwischen
XANTHIPPE,
CAROL
und
MAGDALENA
X a n t h i p p e: Als Sokrates damals dauernd am Marktplatz
herum hing, sah er aus, als würde er seine Klamotten in
einem Second-Hand-Laden kaufen, wahllos herumwühlen
und irgend etwas vom Bügel zerren und sich überwerfen. Er
prahlte sogar damit, dass wildfremde junge Männer ihm
getragene Schuhe schenkten. Heute gilt er als Erfinder des
Pennerdesigns und als Vorläufer von Gucci, aber ihr wisst,
wie sehr das fuchst, wenn man an seinem eigenen Mann
immer fremde Gerüche schnuppert. Er ließ sich öffentlich mit
Absicht gehen, aber sobald der Herr Gatte hier zum Essen
und Schlafen vorbeischaute, schwärmte und faselte er mir
mit hungrigen Augen etwas vor von: Muskeln wie gemeißelt,
von unnachahmlichen Faunslippen, vom federnden Gang
wie bei jungen Hirschen, von süßen Schweißperlen auf der
Oberlippe.
Perlen vor die Säue kann ich da nur sagen.
C a r o l: Krieg dich wieder ein. Dein Liebster hat mehr
verbrochen als du glaubst. Du bist nicht das einzige Opfer.
Dass die Schönheit die transzendentale Schwester des
Guten und Wahren sei haben wir ihm liebend gerne
geglaubt, als wir Frauen wieder hoch im Kurs standen und
als Modell der Schönheit galten. Ich habe mir Montags die
Achselhaare mit Wachs entfernt, täglich meine Beine rasiert,
wöchentlich ein Peeling gemacht, weil ich mit der Haut
unzufrieden war, ich habe an mir rumgeschmiergelt und
39
gecremt, als müsste ich mich neu erfinden. Dazu joggen.
Dazu Fango. Übrigens nicht ohne Erfolg. Wie gut hat mir das
getan,
mich
von
einem
irre
erfolgreichen
Kollegen
anhimmeln und dann vögeln zu lassen. Mein Mann zog mich
nur herunter, wie der immer auftrat, wie ein stellvertretender
Vorsitzender der Handwerkskammer aus den 50ern. Und
was
macht
mein
Wasserscheitel,
Liebster?
schrubbt
sich
Verzichtet
die
auf
den
kupfergelben
Nikotinfinger, schmeißt alles hin und schwärmt pubertär für
einen
Backfisch,
eine
Schulfreundin
meiner
Tochter.
Jämmerlich. Und dann lässt er sich abknallen von einem
verdrucksten Schwulen in Militärfummel, der heimlich
Nazigeschirr sammelt. Und wer durfte die Schweinerei
sauber machen?
Ich natürlich.
M a g d a l e n a: Die Angst der Frauen vor der zweiten Ehe.
So redet ihr. Und ihr habt gar nichts verstanden. Seid doch
mal ehrlich! Männer müssen den Charme eines alten Bugatti
ausstrahlen, nicht tot poliert, sondern etwas marode. Und
der Typ darf durchaus noch Motorschmiere an den Händen
haben. Diese mit Nandrolon vollgepumpten Muckiberge und
die ewig lächelnden Verkaufstypen sind doch auf die Dauer
abtörnend.
Und warum sind viele Männer heimlich scharf auf die
Schwiegermütter? Na?
Weil sie es gar nicht abwarten können, dass ihre Frauen
endlich auch den angestaubten Glamour ihrer Mütter haben.
Glaubt mir. Für Fritz etwa waren meine Reiterhosen, also
diese knollenartigen Wülste an den Oberschenkeln, das
riesige Tor zur Erlösung. Und meine Zellulitis war für ihn das
goldene Vlies. Echt. Für die Anbeter des Makellosen muss
sein euphorischen Flüstern wie eine kaputte CD geklungen
haben. Aber mein alter Schwede war so strong. Really
strong. Und niemals glücklicher.
40
Und ich auch nicht.
Das war der Himmel auf Erden.
41
2. Das Glück der Coolness
2.1 Götter- und Heroengespräche
Kleiner Streit zwischen ZEUS, HERA und ZENON
Z e n o n: Ich muss gestehen, Hera hat am Ende recht mit
ihren Vorhaltungen. Wie wehe es ihr in den Augen tut, wenn
du sie heimlich sitzen lässt und als Stier oder Schwan zu
den Irdischen kommst und dich dort wollüstig ergehst. Dann
glaubt man dir, dass Dionysos dein Sohn ist, der den
unnützen Weinstock und den Wein erfunden hat, der die
Menschen von Sinnen bringt, sie torkeln lässt und lallen und
Unzucht treiben. Mir kommt es wie Hohn vor, wenn wir Euch
preisen, jüngst noch der liebe Marc Aurel, der allen
Menschen nicht müde wird zu sagen, man müsse die Götter
verehren, obwohl man sie nicht sieht, wie man ja auch die
Seele verehrt, obgleich keiner ihrer ansichtig wird. Das ist
ungereimt, so über uns zu spotten! Schlussendlich wird die
Sache noch einen üblen Ausgang nehmen und euch keiner
mehr verehren, wenn das Gerücht von Gezänk, von der
ewigen Eifersucht und der Buhlerei die Runde macht. Es
sind deren bereits viele, darunter Kluge und zuweilen
Besonnene, die böse Reden schwingen und Gehör beim
gemeinen Volk erlangen.
H e r a: Ich kann so schön betteln wie ich will, Er gibt dem
feurigen Temperament seiner Gäule immer wieder nach. Mir
will es nicht gelingen. Was auch immer ich tue, ob ich auch
vergehe vor Liebe, obgleich ich drohe und zürne, er lässt
mich eifersüchtig zurück und treibt hernach noch seinen
Spott mit mir.
42
Z e u s: Du lernst es einfach nicht, mit mir richtig
umzugehen. Was wundert es dich, wenn mir dann die Galle
überläuft? Und vergiss nicht: Das Wechselt-das-BäumchenSpiel
hat
uns
hernach
doch
zärtliche
Stunden
der
Versöhnung geschenkt.
H e r a: Du spottest erneut über mich! Ich habe keine rechte
Freude mehr an dir!
Z e n o n: Ertrage und entsage, Zeus! Veredle dein Sperma
zu den Keimkräften der Vernunft, den spermatikoi logoi.
Andernfalls werden dich noch die Hetären verlachen. Und
deren Lachen gällt auch dir in den Ohren. Nimm dich in acht,
Zeus! Du bist ein Tunichtgut. Mir will es scheinen, du
würdest den epikureischen Schweinen nacheifern. Man
sollte dir mit dem Pantoffel den Hintern ausklopfen.
Z e u s: Hast du es heute auf mich abgesehen, Zenon?
Willst du mich aufreizen? Lachhaft. Bist du bei deinem
philosophischen
Freund
Kleanthes
in
die
Boxschule
gegangen und willst mich herausfordern? Schweig lieber
stille, sonst trägst du deinen Kopf noch gebeugter als
gewöhnlich. Fasse deine lose Zunge im Zaum und unterlass
diese Reden, denn sie betreffen mich nicht. Erkenne dich
selbst und sei ganz vernünftig. Du bist mir zu lau, auch jetzt,
da du unter uns weilst. Du bildest dir ein in Übereinstimmung
mit der Natur zu leben? Wer nie erhitzt ist, kann wahrlich
nicht glücklich sein.
43
2.2 Ertrage und Entsage?
Wird einer Person das Etikett ‚stoisch‘ angeheftet, dann darf
man nicht sicher sein, ob es als Orden oder als Kainsmal
gemeint ist. Mit dem Ausdruck ‚stoisch‘ vernetzt das
Kleinhirn die Ruhe, aber in einer Kontaktanzeige kann
stoische Ruhe – übrigens meistens als Charakterdesign
eines
Mannes
eingesetzt
-
bedeuten:
ein
Mann,
schlechterdings schicksalsresistent, ihn wirft nichts aus der
Ruhe; ‚stoisch‘ kann aber auch als Umschreibung für einen
apathischen Langweiler und erotischen Stoffel eingesetzt
werden. Vorsicht also!
Oft ist nicht einmal klar, ob stoisch als Umschreibung von
Seelenruhe nicht eigentlich einen epikureischen Lebensstil
intendiert. Das moderne Gedächtnis trennt oft nicht scharf
zwischen diesen beiden Schulen der Antike – zum Teil mit
gutem Grund. Auf den ersten Blick aber sind der 341
geborene Athener EPIKUR und der Zypriote ZENON (geb. 333)
als Begründer der Stoa feindliche ‚Brüder‘. Beide bieten vor
dem Hintergrund der schwindenden Macht der griechischen
Kleinstaaten den verunsicherten Menschen eine neue
Orientierung. Vor allem bei EPIKUR wird die Individualisierung
der Glücksthematik offensichtlich.
EPIKUR
ist Entstressungstheoretiker in
jeder Hinsicht.
LAERTIOS berichtet, dass die Körperkonstitution EPIKURS
erbärmlich gewesen sei, so dass er sich viele Jahre nicht
von seiner Sänfte erheben konnte. EPIKUR dürfte zudem der
erste Hellene gewesen sein, der die Politikverdrossenheit
erfunden hat. „Meide die Politik! Lebe im Verborgenen!“,
lautet der Wahlspruch. Eine altruistische Anlage gibt es
seiner Einschätzung nach nicht, und damit auch keine
Verpflichtung
gegenüber
der
Gemeinschaft.
Die
Freundschaft dagegen, die aus Freiheit entsteht, ist die
ideale Form des Zusammenlebens und wurde entsprechend
44
im berühmten Garten EPIKURS fröhlich ausgelebt. Von den
zahlreichen Freunden, die nur Gutes über ihn berichteten, ist
nur einer zum Skeptiker KARNEADES, dem damaligen Kopf
der Akademie, konvertiert. Eine überzeugende Bilanz. In
seiner Jugend hat er offensichtlich unter starker Furcht vor
den Göttern und dem Tod gelitten und hat deshalb die
Atomistik des DEMOKRIT, die weder strafende Götter noch
ein Leben nach dem Tode lehrt, mit Freuden als
Enstressungsangebot aufgenommen.
Philosophie dient hier als Angstbewältigungspraxis: Tricky
gelingt
es
EPIKUR,
seine
Jugendängste
durch
eine
philosophische Anverwandlung der Atomistik zu therapieren:
Die Welt als kontingente Verbindung der Atome bleibt von
strafenden Göttern unbehelligt. Sie fristen eine glückliche,
aber
die
Menschen
nicht
weiter
zu
interessierende
Randexistenz. Unsterblichkeit kann es nicht geben, weil
nach dem Tode die Seele sich in Atome auflöst. Und eine
Angst vor dem Tod ist unberechtigt, denn, so der berühmte
Ausspruch: „Wenn wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der
Tod ist, sind wir nicht.“ Oder in etwas anderer Formulierung:
„Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was aufgelöst
ist, ist ohne Empfindung; was aber ohne Empfindung ist, das
hat
keine
Bedeutung
für
uns.“
(115)
(Übrigens:
Urheberrechte kannte EPIKUR nicht an. DIOGENES LAERTIOS
berichtet: „Mit der Atomlehre des DEMOKRIT und der
Lustlehre des ARISTIPP springe er ganz wie mit seinem
Eigentum um.“ (1968, 5)
Der Mensch, so EPIKUR, ist zunächst und zumeist von der
Sorge um das eigene Dasein geleitet. Wie bei allen
Lebewesen richtet sich der Urtrieb auf die Lust, allerdings
nicht,
wie
immer
wieder
behauptet,
primär
auf
die
fleischliche Lust (obwohl EPIKUR mit der Hetäre LEONTION
mehr oder minder lsutvoll zusammen lebte), sondern auf die
Lust, die der Vernunft entspringt und sich dann einstellt,
45
wenn der Mensch von Schmerzen und seelischer Unruhe
befreit wird. Glück bedeutet Ataraxie, Seelenruhe oder
Unerschütterlichkeit.
Ganz anders – zumindest auf den ersten Blick - ZENON aus
Kition auf Zypern. Er ist ein Heros der Pflicht. (Und
genetischer Ahnherr von IMMANUEL KANT.) Vergnügte sich
EPIKUR mit seinen Freunden im Garten, so wählte ZENON für
seine öffentlichen Auftritte ab 301 die mit POLYGNOTS
Gemälden ausgestattete Halle am Markt, die ‚Stoa Poikile‘,
die im Volksmund „Die Bunte“ genannt wurde. (Unter den
Hochglanzmagazinen habe ich für „Die Bunte“ deshalb
immer eine besondere Schwäche gehabt.) Berichtet wird, er,
hochaufgeschossen, habe ein eher herbes und ernstes
Aussehen gehabt, dabei den Kopf oft schief gehalten und
mit
zusammen
gezogenen
Gesprächspartnern
zugehört.
Augenbrauen
Knauserigkeit
seinen
wird
ihm
nachgesagt, Anspruchslosigkeit, unbändiger Fleiß, eine
aufbrausende Art, die durch den Genuss von Wein
abgemildert wurde. „(N)ach der Ursache der Wandlung
gefragt, sagte er, es gehe ihm wie den Lupinen, die, ehe sie
übergossen werden, bitter schmecken, angefeuchtet aber
süß und angenehm. (...) Zu essen pflegte er ein wenig Brot
und
Honig
und
trank
dazu
etwas
blumigen
Wein.
Geschlechtlichen Verkehr mit Knaben hatte er selten, ein
oder das andere Mahl wohl auch mit einem Mädchen, um
nicht den Eindruck eines Weiberfeindes zu machen.“ (Stoa
und Stoiker, 6) Einer Legende zufolge sollen die Athener ihm
die Schlüsselgewalt über die Stadt gegeben und ihn mit
einem goldenen Kranz, mit einem Bronzebild und einem
Grabmahl geehrt haben.
ZENONS
Urintention
richtet
sich
gegen
eine
Grund-
überzeugung EPIKURS. ZENON ist von der Schönheit und
Zweckmäßigkeit der Welt ergriffen und weigert sich, diese
als Zufall zu deuten, weil andernfalls man auch glauben
46
könne, die Illias sei „durch ein zufälliges Ausschütten von
Buchstaben entstanden.“ (83) Der Kosmos sei das Werk
einer schöpferischen Urkraft, eines Logos, der, untrennbar
mit dem feinsten Element, dem (Herd)Feuer, verbunden, die
‚vernünftigen Keimkräfte‘ jedes Dinges in sich trage und den
auch der Mensch als Stimme Gottes in seiner Brust spüre.
Die Zweckmäßigkeit schließt durchaus die Freude an
Schönheit und Buntheit ein, wie man, so die Auskunft, nicht
nur am
Schweif
des Faus, sondern auch an den
Brustwarzen und am Bart des Mannes ablesen könne.
Dieser
Logos,
der
in
der
Seele
sein
Organ
hat,
unterscheidet, so ZENON, den Menschen vom Tier und
deshalb ist die epikureische Rede vom Urtrieb des
Menschen auf die Lust abzulehnen. (Die Denunzierung der
Epikureer als ‚Schweine‘ hat hier ihre Wurzel.) Mit Gott ist
der Mensch durch die Vernunft, den Logos, verwandt. Der
Urtrieb des Menschen richtet sich nach ZENON auf die
Entfaltung und Erhaltung des eigenen Wesens, also der
Entwicklung des Logos. Das impliziert eine Beherrschung
der
nur
sinnlichen
Übereinstimmung
mit
Triebe.
Ziel
dem
Logos,
ist
ein
der
Leben
nicht
in
durch
Leidenschaften in seinem Wählen des Guten gestört werden
darf (Apathie). Gewöhnlich wird tradiert, Ziel sei das ‚Leben
in der Übereinstimmung mit der Natur‘ (homologumenós tä
fusei zän). Da die menschliche Natur und die allgemeine
Natur allerdings vom Logos durchseelt sind, meint ein
vernunftgemäßes Leben ein Leben, das diesem All-Logos
entspricht.
Das Leben im Einklang mit dem Logos der Natur (der
menschlichen und der allgemeinen) konkretisiert sich als
sittliches, gutes Verhalten in der Gemeinschaft, denn der
Mensch ist von Natur aus, weil alle Menschen den Logos in
sich spüren, gesellig. Darin besteht die eigentliche Tugend
und Glück des Menschen. Auch die eigene Freiheit findet in
47
diesem Ordnungsdenken einen angemessenen Ort. „Die
sittliche Autonomie des Menschen wurde damit aber
keineswegs aufgehoben; denn das allgemeine Gesetz
befahl ihm nur, was ihm der eigene Logos, wenn er gesund
war, als richtig zeigte.“ (Stoa und Stoiker, XVI)
Wahrhaft gut ist dabei alles, was zur Glückseligkeit beiträgt
wie Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung.
Lust, Schönheit, Stärke, Gesundheit zählen dagegen zu den
indifferenten Dingen (Adiaphora), die sowohl schaden als
auch nützen können. Auch das Leben ist streng genommen
etwas Indifferentes, bildet aber die Voraussetzung für die
Entfaltung des Logos. Es entspricht also durchaus der Natur,
das Leben zu erhalten. Allerdings kann es vernünftig sein,
aus dem Leben zu scheiden. Die Stoa der Folgezeit unter
PANAITIOS und POSEIDONIOS – vor allem aber in der
römischen Variante – zählt vier Fälle auf, in denen der
Freitod
der
eigenen
Natur
entspricht:
„erstens
eine
dringende sittliche Notwendigkeit, etwa Aufopferung für das
Vaterland; zweitens Tyrannengewalt, die zum Unsittlichen
zwingen will, drittens langwierige Krankheit, die den Leib
verhindert, der Seele als Werkzeug zu dienen, viertens
Armut, endlich Geisteskrankheit.“ (146)
Nochmals: Die stoische Ethik betont die Einfügung des
Menschen
in
dem
vom
Logos,
dem
Naturgesetz
durchwalteten Welt. Nur dann stellt sich Glück ein, die sich
als Freiheit von den Leidenschaften (Apathie) erreichte
Ataraxie (Unerschütterlichkeit) einstellt. Nur wenn die
schlechten Affekte wie Wut oder Trauer durch die Vernufnt
beherrscht werden, stellt sich dieses Glück ein. Die
sogenannten Kardinaltugendebn (Gerechtigkeit, Eiinscht,
Tapferkeit Selbstbehrrschung oder Mäßigung) dienen der
Affektkontrolle. (stoische Theorie: acht Seelenteile: fünf
Sinne, Sprache, Zeugungskraft, Hegemonikon)
48
(Dagegen später Christentum in der Gestalt von Augustin.
Wenn die Kardinaltugenden nur zur Affektkontrolle dienen,
dann
verfehlen
sie
den
eigentlichen
Zielpunkt:
die
Grundverderbtheit des Menschen als Sünder. Tugendlehre
ist Arbeit an den Symptomen: wahres Glück ist 1. nicht in
diesem Leben erreichbar und 2. nicht durch eigene Macht.
Wichtiger sind die theologischen Tugenden wie Glaube,
Hoffnung
und
Liebe,
die
sich
vollständig
auf
Gott
konzentrieren.)
Die Stoa bot über viele Jahrhunderte hinweg eine sehr
wirksame Lebenskunstschulung. In ihrer Nüchternheit, dem
rigiden Pflichtbegriff, der Unterordnung des Einzelnen unter
das Sittengesetz, war die Stoa namentlich für das römische
Staatswesen attraktiv. LUCIUS ANNAEUS SENECA etwa (4 –65
n.Chr.) war Erzieher NEROS und später graue Eminenz in der
Staatsführung. In seiner Programmschrift ‚De vita beata‘
(Vom glückseligen Leben) hat er noch einmal gegen EPIKUR
(allerdings sehr milde und eher vereinnahmend) die Ansicht
hinterfragt, das höchste Gut sei im Genuss zu suchen, fügt
aber ergänzend hinzu, dass für denjenigen, der die höchste
sittliche Vollkommenheit (virtus) erlange, sich durchaus eine
spezifische Freude (gaudium) einstelle. Aber: „Auch die
Freude, die aus der sittlichen Vollkommenheit entsteht –
obwohl sie gut ist -, ist dennoch nicht ein Teil des
vollkommen Guten, ebensowenig wie Fröhlichkeit und Ruhe,
obwohl sie aus den erfreulichsten Anlässen hervorgehen;
denn das sind Güter, aber dem höchsten Gut folgend, nicht
sein Wesen ausmachend.“ (1999, 37) Nicht ganz frei von
Eigeninteresse hat SENECA den Reichtum verteidigt, sofern
man ihn sinnvoll gebrauche: „Reichtum nämlich befindet sich
bei einem weisen Mann in der Stellung eines Sklaven, bei
einem törichten in der eines Herrn.“ (67) Überhaupt ist
SENECA
in
seiner
vereinnahmenden
Art
nicht
ganz
unschuldig für eine latente Annäherung zwischen Stoikern
49
und Epikureern, weil SENECA die Seelenruhe auch als
Übersetzung
der
Leidenschaftslosigkeit,
stoischen
Apathie,
also
der
verwendet. So lautet einer seiner
berühmtesten philosophischen Schriften: De tranquillitate
animi; berühmt ist auch der Entstressungsdialog über die
Muße; stilbildend im besten Sinne des Wortes waren die
Schriften über den Trost. (Sehr spannend zu lesen, aber
leider apokryph ist der Briefwechsel zwischen SENECA und
PAULUS, vgl. SCHNEEMELCHER 1989, 44-50.)
In MARC AUREL, dem ‚Philosophen auf dem Kaiserthron‘, der
mit dem Traktat ‚Wege zu sich selbst‘ einen echten
Bestseller schrieb, reifte die Stoa noch einmal zur späten
Blüte.
(Noch
FRIEDRICH
DER
GROßE
lebte
in
dieser
Gedankenwelt, wie ein überliefertes Gedicht ‚Le Stoicien‘
1761, geschrieben in aussichtsloser Lage im Lager von
Strehlen, bezeugt.) AUREL rückte die Stoa noch näher an
den Epikureismus heran, weil auch er Glück als Freiheit von
Schmerz und Angst charakterisierte, über EPIKUR aber ging
er hinaus, wenn er auch das Unglück als Chance oder
Bewährung für das Glück bestimmte: „Ich Glücklicher, daß
ich, obwohl mir dies passiert ist, keine Schmerzen habe, von
dem gegenwärtigen Unglück nicht zerbrochen werde und
zukünftiges Leid nicht fürchte.“ (1992, 47)
Und trotzdem blieben Stoa und Epikureismus nicht die
prägenden Lebenskunstschulen. Es gab eine mehr oder
weniger freundliche Übernahme durch das Christentum, das
den Hunger nach Spiritualität mit einem persönlichen
Gottesverhältnis verband und zugleich in der Lebenkunst der
Nächstenliebe ein ganz neues Verhältnis zu Schmerz, Alter
und Leiden pflegte. Der zumindest erneut von den späteren
Stoikern gepredigte Unsterblichkeitsglaube, der von den
Stoikern
favorisierte
Monotheismus
(bereits
ZENON
interpretierte die Volksgötter als Elemente, etwa HERA als
Luft und ZEUS als den Himmel), der Vorsehungsglaube, die
50
sittlichen Anschauungen und die Logosspekulationen boten
Möglichkeiten
der
Umwidmung.
Eine
berühmte
Übernahmethese lautete etwa: Die Offenbarung des Logos
kulminiert in der Inkarnation, der Fleischwerdung Christi auf
Erden. Damit wurde nicht nur der stoische Pantheismus in
die Schranken gewiesen, sondern auch durch die Rede von
der Inkarnation, der nicht nur scheinbaren Fleischwerdung
des Logos in Jesus Christus, die Leiblichkeit mit einer nie
gekannten Würde ausgezeichnet. Eine tätige Diakonie den
Armen, Kranken und Alten gegenüber kam zum Durchbruch,
weil niemand sich länger auf die theoretische Überzeugung
zurückziehen konnte, das Glück des Menschen sei von den
Außendingen letztlich unabhängig. Der große Gelehrte der
Stoa, MAX POHLENZ, schreibt: „Als die stärkste religiöse
Macht
erwies
sich
das
Christentum.
Es
war
die
Offenbarungsreligion, in die sich die des unfruchtbaren
Philosophenstreites müde gewordenen Geister flüchteten;
es verkündigte den Glauben an den persönlichen Gott, den
gütigen Vater, und machte allen Kompromissen mit dem
längst zur leeren Form erstarrten Polytheismus ein Ende; es
befreite durch die Aussicht auf Sündenvergebung und
Gnade die Menschen von ihrem seelischen Druck und
tröstete die Mühseligen und Beladenen mit der Hoffnung auf
die Vergeltung im Jenseits. Es erwies vor allem durch die
Tat, daß es eine viel wirksamere ‚Lebenskunst‘ war als die
alte Philosophie.“ (XXIV, vergleiche ders. 1948.) Nur in einer
Überzeugung blieb die Differenz gewaltig. Lehrten Stoa und
Epikureismus, der Mensch könne sein Glück aus eigener
Kraft
erreichen,
so
teilt
das
Christentum
diesen
anthropologischen Optimismus nicht, sondern prägt den
Gedanken der sündigen Existenz.
Auch
die
Geistesgeschichte
ist
eine
Börse.
Eine
Totalinsolvenz ist selten. Mit niedrigem Wert notiert, wurden
die Aktien der Stoiker und Epikureer, die sich den
51
Übernahmeavancen verweigerten, immer wieder gezeichnet.
Momentan sind erneut sehr hoch im Kurs. Der NeoStoizismus firmiert unter dem Label: Cool.
2.3 Ungefährliche Leidenschaft
Wer mit schwerstpubertierenden Kindern zusammenlebt
ahnt, was Coolness ist. Endlich gibt es das Buch zum
Thema, das die alten, noch mit einer warmen Pädagogik
ausstaffierten Eltern, die sich mental zu erkälten drohen,
aufklärt. „Das Adjektiv ‚cool‘ begann seine Karriere als
Bezeichnung
Eingang
popkultureller
in
die
Phänomene,
Umgangssprache
fand
schnell
besonders
von
Jugendlichen und gilt heute von der Werbung bis zur Politik
als vage Umschreibung für etwas positiv Lässiges. Gegen
Ende der neunziger Jahre war Kohl ‚cool‘, ebenso wie die
PDS oder die jungen Liberalen. Auch für Sondermodelle
beliebter Automarken und sogar bei Finanzierungsmodellen
von Banken wurde mit der Bezeichnung ‚cool‘ die Aura einer
selbstbewußten
Modernität
und
Stilisiertheit
herauf-
beschworen.“ (2000, 9) So ULF POSCHARDT, ehemaliger
Herausgeber des Freitagsmagazins der Süddeutschen
Zeitung. POSCHARDT deutet die Haltung des ‚Cool‘ als einen
Lebensstil, der in der Kälte der modernen Massen- und
Mediengesellschaft
Leben
überlebenswert
macht.
„‘Coolness‘ ermöglicht den Menschen mit der Kälte zu leben,
statt in ihr zu erfrieren. Die Ästhetik des ‚Cool‘ macht die
Kälte der Entfremdung stilisierbar und gibt Methoden an die
Hand, die Pracht einer Welt, die zum ‚Eispalast‘ (Jean Paul)
geworden ist, zu genießen. (...) Als individuelle Praxis dient
die Haltung des ‚Cool‘ wie eine Rüstung der Abwendung von
Unheil auf psychischer und körperlicher Ebene. (...) ‚Cool‘
sein heißt, nicht verführt werden können, wenn man es nicht
52
will. Es heißt, nicht verletzt werden können, wenn man es
nicht will. Es heißt, Kontrolle als Schutz und Schutz als
Kontrolle
zu
verstehen
–
analog zu
Alpinisten
und
Polarforschern die sich mit Schutzbekleidung die tödliche
Kälte vom Leib halten, um sich in ihr zu bewegen.“ (11)
In geübt archäologischer Manier sucht ULF POSCHARDT die
Ahnherren des neuen Cool auf, im Cool Jazz, bei Jimmi
Hendrix, bei Tom und Jerry, den Futuristen, eigentlich so
ziemlich
überall.
(Intellektuelle
Trennschärfe
ist
nicht
unbedingt die Stärke von POSCHARDT. Der Text hat
manchmal den Charme eines Tante-Emma-Ladens mit
Neonröhren.) Spannend ist aber die Ahnherrforschung
hinsichtlich der Stoa. „Als Individualisten waren die antiken
Dissidenz-Philosophen
die
Avantgarde
des
Polis-
Bürgertums. Die Praxis der Stoa muß als eine der
Kühlquellen der westlichen Zivilisation gelten; über ihre
moderne Neuinterpretation wird sie zu einer Lebenstechnik,
mit der die Kälte ausgehalten und souverän behandelt
werden kann. Die Stoa ist in gewisser Weise die Ursache
der Kälte und kann doch auch Rettung von ihr bedeuten,
wenn sich aus der Abwehr der Kälte eine offensive,
affirmative und souveräne Lebenspraxis und Ästhetik
entwickelt. Eine neue Radikalität des stoischen, skeptischen
und
kynischen
transzendentalen
Denkens
entfaltet
Obdachlosigkeit
der
sich
in
Moderne.
der
Unter
einem leeren Himmel greift die antike Auffasssung von der
Philosophie als Wegweiser zum glücklichen Leben nicht
mehr. Sah die Stoa die Welt von Gott und damit durch
Vernunft geordnet, erscheint Gott heute selbst in seiner
säkularisierten, rationalisierten Form als Weltvernunft nur
mehr in der Imagination. Die Lebenstechniken der Stoa
dennoch aufzugreifen, heißt, sie bewußt ad absurdum zu
führen. Die Ästhetik des ‚Cool‘ hat eine ihrer Wurzeln in
einer Form von Individualismus, die in der antiken Sorge um
53
das Selbst beginnt und sich bis in die aktuellen Spielarten
der Selbststilisierung abwandelt.“ (41f.)
Coole Strategien
sind solche der Verweigerung, eine Entsolidarisierung mit
dem ausgegebenen ‚Gemeinwohl‘, aber nicht mehr in der
Gestalt der hitzigen Attacken des Kynikers DIOGENES
VON
SINOPE. „Die Strategen und Praktiker des ‚Cool‘ sind Stoiker
ohne die Gewißheit, ein gutes und wahres Leben zu führen.“
(47)
Recyclet wird das Modell der Ataraxie, und um die zu
erreichen sind Hilfsmittel wie Sonnenbrillen, Walkmen, oder
Kapuzenpullis hilfreich – eine Abschottung, die „eine
extrovertierte Sensibilität“ (299) verhindert. Die Ataraxie wird
extrem radikalisiert, denn der „neuen Stoa“ – zumindest in
der „futuristischen Codierung des Coolen“ (166) - geht es
„um eine finale Abkehr von der Humanität als Leitbild. Das
Abtöten der Leidenschaften dient nicht mehr einer humanen
Apathie oder Anästhesie, es bereitet den Übergang der
Leidenschaft in ein digitales Reiz-Reaktionsschema vor.“
(156) Das in der SF-Literatur – etwa bei WILLIAM GIBSON vorbereitete Inszenario der Implantierung von Chips im
Menschen, die einen digitalen Kurzschluss ermöglicht, wird
hier als coole Technik gefeiert. „Der Prometheus des 21.
Jahrhunderts ruht in einem Zustand fortwährender Neuheit,
in dem er einem konstanten Prozeß von Programmierungen
und Reprogrammierungen ausgesetzt bleibt. Die aktuellsten
Formen der romantischen Liebe finden ihren Höhepunkt im
Eindringen in eine fremde Software. Das Hacken im
psychischen Netz des Anderen ermöglicht als Zerstörung
eine Form der Nähe, die im wechselseitigen Konsumieren
der Images abhanden gekommen ist. (...) Je tiefer die
Strukturen des Technologischen in die menschlichen Körper
eindringen, je vollständiger die Schnittstellen Kompatibilität
anbieten, um so vielschichtiger kann der Austausch
zwischen dem Subjekt und dem Anderen werden. Der
54
Verlust des Selbst als Erfüllung der Liebe im Rausch
erscheint wieder möglich in einer Diffusion, die eher die
Form eines Netzes oder Rhizoms annimmt als sie einer
überschaubaren Synthese zweier Einheiten.“ (156f.)
Und dann (endlich) wird die maue (nicht wirklich coole)
Schreibe des ULF POSCHARDT wärmer: Es gibt doch einen
Gegner:
Hollywood
als
böse
Marketinganstalt
eines
humanistischen Leitbildes und als Predigerseminar für die
Liebe. Hollywood steht für eine Kitschindustrie, für die
„Coolness“ letztlich eine Metastase ist, die sich, nach deren
Überzeugung, allerdings mit der chemischen Droge Liebe
therapieren lässt. Zu studieren etwa am Film Harry und Sally
- das ist der Film, in dem die Frau im Restaurant einen
veritablen Orgasmus mimt. Zunächst wird Sally, eine etwas
verklemmte und konservative Journalistin, von Harry,
dessen Coolness sich in einem sehr trockenen Humor
äußert, denunziert, sie besitze die ‚Sensibilität eines
Kühlschrankes‘,
aber
am
Ende
des
Films
werden
Verklemmtheit und Zynismus durch die Wärme echter Liebe
aufgetaut. POSCHARDT verweigert sich der Strategie, die
thermische
Grundbefindlichkeit
der
Welt
durch
einen
übermäßigen Auswurf von Glückshormonen zu verbessern.
Hollywood – ein Auslaufmodell. „Die Bewährungsprobe für
jede Haltung des ‚Cool‘ ist das Maß an Freiheit, das benötigt
wird, um Distanz auszuleben. Die alte Schule des ‚Cool‘ war
geprägt
vom
klassischen
Begriff
der
Freiheit
als
Ungebundenheit und Souveränität. Die futuristische Schule
des ‚Cool‘ erfährt Freiheit paradoxal in der Affirmation der
Entfremdung und Selbstzüchtigung. Sie labt sich an den
Erfahrungen von Fragmentierungen und Beschneidung. Ihre
Souveränität hat sich das Schema des Masochismus
übergestreift.“ (330) Bindungslosigkeit, ein Kampf gegen die
Nähe,
wird
zu
einem
Kennzeichen
der
kulturellen
Avantgarde. Liebe gilt hier als schlechte Einstimmung in eine
55
von
Funktionalität
Gesellschaft“
geprägte
Welt.
Dem
„Druck
der
(379) zur Anpassung verweigert sich die
„postmoderne
Stoa“
(ebd.)
durch
Prozesse
von
Selbststigmatisierungen: „Gerade dieses Realisieren des
Versehrtwerdens ist ein Grundmotiv der aktiven Praxis des
‚Cool‘,
die
sich
zu
kleinen,
gezielten
Selbstmorden
entscheidet, um nicht von anderen oder der Macht versehrt
zu werden.“ (380f.)
Nur en passant spricht POSCHARDT in den letzten Seiten von
einer nicht ausgeführten Technik der ‚aiskese‘, die dem
„übermächtigen Kapitalismus“ (391) die Stirn bietet. „Das
Ideal des ‚Cool‘ bleibt die Unantastbarkeit. Dies wäre auch
dann erreicht, wenn nichts mehr das Subjekt berührt. Die
Unantastbarkeit erscheint - so wird sie auch von der Stoa
bereits konzipiert – als Mischung aus Gottähnlichkeit und
dem Zustand als Toter. In der Praxis des übermächtigen
Kapitalismus bleibt sie Schutzschild wie Waffe all jener, die
sich den Aggressionen, die zumeist verführerisch und
bequem als Vereinnahmungen auftauchen, wehrhaft (!)
entgegen stellen.“ (390f.)
Sympathisch an dem nur ansatzweise skizzierten Lebensstil
des ‚Cool‘ ist das Aufbegehren gegen die Zurichtung des
Menschen als Verfügungsmasse in einem globalisierten
Kapitalismus. (Die Generalkritik gibt sich allerdings keine
große Mühe, diese zu belegen. POSCHARDT beschränkt sich
darauf ‚ADORNO‘ zu hauchen und zu hüsteln.) Asketisches
Verhalten ist mehr als angemessen. (Man findet den
Vorschlag auch bei SCHMID, bei W ETZ und im Kontext
christlicher Lebenskunst.) Problematisch aber scheint mir die
Verabschiedung
eines
alten
humanistischen
Menschenbildes und damit zugleich die Denunzierung der
Liebe.
Bei
POSCHARDT
überwintert
die
–
eigentlich
epikureische - Strategie der Schmerzvermeidung, die
notfalls mit einer Selbstversehrung erkauft wird. Am Horizont
56
taucht die Idee eines Menschenprojektes auf, das mit dem
Romancier HOUELLEBECQ, der am Ende seines Romans
‚Elemenarteilchen‘ alle Hoffnungen auf eine genetische
Verbesserung stellt, „die Apotheose eines neuen Menschen,
der
nur
wenig
mehr
mit
der
‚schmerzbeladenen,
nichtswürdigen Spezies zu tun, die sich kaum vom Affen
unterschied“ (386), feiert.
Aber ob man diese schockgefrorene Stoa leben kann, ist
sehr die Frage. Ich beginne in meinen Streifzügen durch die
Literatur mit hochgelobten Agenten einer postmodernen
Stoa und zitiere ein sehr eindrucksvolles Dokument, das
diese Haltung offensichtlich glücklich kultiviert hat. Meistens
aber, wie am Film ‚Intimacy‘ zu studieren, überwiegt das
unglückliche, durchaus nicht schmerzfreie Bewusstsein.
Was zum Schluss noch übrig bleibt – ist nichts.
57
2.4 Bin ich cool?
BRET EASTON ELLIS
ist
der
Quarterback
unter
den
amerikanischen Coolen. Sein Roman „Unter Null“ hat die
coole
Genusssucht
der
amerikanischen
Kids
luzide
eingefangen. Ich wähle eine Szene, in der der Junge cool,
das Mädchen etwas uncool reagiert.
„Ich liege im Bett von Blair. Der Boden und das Fußende des
Bettes sind übersät mit Stofftieren, und als ich mich auf den
Rücken drehe, spüre ich etwas Hartes und Dickes unter mir,
und ich greife danach und ziehe eine schwarze Stoffkatze
hervor. Ich werfe sie auf den Boden und steige aus dem Bett
und gehe unter die Dusche. Nachdem ich mir die Haare
trockengerieben habe, wickle ich das Handtuch um meine
Hüften und gehe in ihr Zimmer zurück, um mich anzuziehen.
Blair raucht eine Zigarette und sieht sich MTV an, aber mit
ganz niedriger Lautstärke.
„Rufst du mich vor Weihnachten noch einmal an?“ fragt sie.
„Mal sehen.“ Ich ziehe meine Weste über und frage mich,
warum ich überhaupt hierher gekommen bin.
„Hast du denn eigentlich noch meine Telefonnummer?“ Sie
langt
nach
einem
Notizblock
und
beginnt,
etwas
draufzuschreiben.
„Ja doch. Ich hab deine Nummer. Ich meld mich auch.“
Ich knöpfe mir die Jeans zu und wende mich zum Gehen.
„Clay?“
„Ja?“
„Falls ich dich vor Weihnachten nicht mehr sehen sollte -!“
Sie unterbricht sich. „Schönes Fest jedenfalls.“
Ich sehe sie einen Moment lang an. „Danke, gleichfalls.“
Sie hebt die schwarze Stoffkatze auf und streichelt ihr über
den Kopf.
Ich gehe zur Tür raus und will sie hinter mir zumachen.
58
„Clay?“ flüstert sie laut.
Ich bleibe stehen, drehe mich aber nicht um. „Ja?“
„Ach nichts.“ (1999, 54.)
Den Ball aufgenommen haben die Franzosen. MICHEL
HOUELLEBECQ zeigt in den oft zitierten Romanen „Ausweitung
der Kampfzone“ (1999a) und „Elementarteilchen“ (1999b),
dass die Generation der Postrevolutionäre (nicht nur
Skeptiker
und
Einzelkämpfer
Depressive,
sind,
die
s.u.),
eine
sondern
ziemlich
sedierte
feuchte
Spur
hinterlassen. Es gibt bei HOUELLEBECQ sogar eine frappante
Verteidigung des Selbstmords, die an stoische Szenarien
erinnert. „Noch nie, zu keiner Zeit und in keiner anderen
Zivilisation hat man so lange und so beständig an sein Alter
gedacht; jeder hat eine einfache Zukunftsperspektive im
Auge: Es wird einen Zeitpunkt geben, zu dem die Summe
der Sinnenfreuden, die man noch vom Leben zu erwarten
hat, geringer ist als die Summe der Schmerzen. (...) Diese
rationale Bilanz der Sinnenfreuden und Schmerzen, die
jeder früher oder später zu ziehen gezwungen ist, führt ab
einem gewissen Alter unweigerlich zum Selbstmord. In
dieser Hinsicht ist die Feststellung amüsant, daß sowohl
Deleuze
wie
auch
Debord,
zwei
hochangesehene
Intellektuelle des ausgehenden Jahrhunderts, ohne triftigen
Grund Selbstmord begangen haben, ganz einfach, weil sie
die Aussicht ihres körperlichen Verfalls nicht ertragen
haben.“ (1999b, 280f.) Diese Überlegung treibt dann auch
eine Protagonistin des Romans, eine Spezialistin für
Saunen, Massensex und Dark rooms, in den Selbstmord.
Die autobiographische Lebensgeschichte der CATHERINE
MILLET könnte für die eher coolen (nicht für die depressiven)
Figuren von HOUELLEBECQ Pate gestanden haben. Gelassen
und schonungslos erzählt die Protagonistin von ihren
erotischen
Streifzügen,
Lieblingsstellungen
(häufig
beschreibt
mit
minutiös
mehreren
ihre
Partnern
59
gleichzeitig)
und
beobachtet
dabei
unprätentiös
ihre
Geliebten.
„Schon jahrelang leite ich die Redaktion der Art press. Ich
habe die Zeitschrift mitgegründet und mich dieser Arbeit
verschrieben, damit eine Identifikation entsteht zwischen ihr
und mir, doch ich fühle mich eher wie ein Lokführer, dessen
Zug nicht entgleisen darf, denn wie ein Kapitän, der den
Hafen kennt. So habe ich auch gevögelt. Ich war völlig
verfügbar. In der Liebe wie im Berufsleben hatte ich kein
Ideal, das ich erreichen wollte, man definierte mich als eine
Person ohne Tabus, ohne jegliche Hemmungen, und ich
hatte keinerlei Grund, diese Rolle nicht anzunehmen. Meine
Erinnerungen an die Partys, an die Abende im Bois oder in
der Gesellschaft meiner Freunde und Liebhaber sind mit den
Räumen eines japanischen Palastes vergleichbar. Man
glaubt sich in einem geschlossenen Raum, dann aber
verschiebt
sich
eine
Wand,
offenbart
eine
weitere
Zimmerflucht, und geht man weiter, öffnen und schließen
sich immer wieder die Wände. Wenn es viele Räume gibt,
kann man auf unzählige Art und Weise von einem zum
anderen gehen.“ (34f.)
„Ich
sagte
schon,
dass
ich
Angst
hatte
vor
zwischenmenschlichen Beziehungen und dass Sex ein
Refugium war, wohin ich mich gerne flüchtete, um mich den
Blicken, die mich verlegen machten, und dem verbalen
Austausch, indem ich noch unerfahren war, zu entziehen.
Dass ich nicht die Initiative ergriff, stand außer Frage, ich
habe nie Männer aufgerissen. Doch ich war in jeder
Situation ohne Zögern und ohne Hintergedanken durch alle
meine Körperöffnungen und in all meinem Sein verfügbar.
Wenn ich meine Persönlichkeit nach dem proustischen
Ansatz als ein Bild betrachte, das andere von mir malten,
dann dominiert dieser Wesenszug. „Du sagst nie nein, du
lehnst nie etwas ab. Du machst nie Zicken.“ (...) Folgender
60
Eintrag im intimen Tagebuch eines Freundes schmeichelt
meiner Selbstliebe immer noch: „Catherines Gelassenheit
und Gefügigkeit in jeder Situation verdienen größtes Lob.“
(50f.)
Etwa gleichzeitig haben Filme den Lebensstil eingefangen,
zunächst der mit Prostituierten gedrehte Streifen „Baise moi“
(1999) und dann „Intimacy“ (2000) von P. CERÉAU,
ausgezeichnet mit dem silbernen Bären – eine geni(t)ale
Meisterleistung.
Es klingelt, ein Mann, um die Vierzig, ziemlich abgerissen,
unrasiert, ungewaschen, in einer versiphten, schäbigen
Wohnung, öffnet, fragt: „War das abgemacht?“, lässt eine
Enddreißigerin ein, londontypisch mit dicker Jacke und Schal
vermummt, ein Gesicht, das in der U-Bahn nie auffällt. „Also
wohnst du hier richtig?“ „Haben wir letztes Mal nicht schon
darüber gesprochen?“ Vokabelreduziert treten beide in den
sexuellen Nahkampf, ein schnelles, stellungsarmes Ringen
mit kurzem Höhepunkt. „Entschuldige.“ Wie eine Diebin in
der Nacht verlässt sie die Wohnung.
Die nächsten Szenen zeigen den Protagonisten Jay bei der
Arbeit – rasiert, mit gebügeltem weißem Hemd, so hell und
rein wie der Name seiner Spontangeliebten Claire. Er ist
Barmann, seit sechs Jahren, davor war er Musiker, vor
einem Jahr hat er seine Familie verlassen, ist einfach
gegangen,
hat
Individualist
in
nichts
der
gesagt.
Londoner
Ein
bindungsunfähiger
Spaßgesellschaft.
(Eine
hübsche Szene: Jay mokiert sich mit viel schlechter Laune
darüber, dass alle Kellnerinnen den Kunden spüren und
wissen lassen, sie seien eigentlich Schauspielerinnen – eine
Klage, die vor Jahren in Deutschland BOTHO STRAUß
angestimmt hat.)
Jay, der Mittwochmann. Der zweite Fick, ohne viele Worte –
„Kalt?“ „Es ist kalt, aber es macht nichts.“ - ohne Rituale der
Verführung. Diesmal wenig politisch korrekt ohne Kondom.
61
Schnell, hungrig, akrobatikfrei verkanten sie sich ineinander.
„Bis nächsten Mittwoch? Ist es auch wieder ein Mittwoch?“
Es ist ein Mittwoch. Kreisverkehr. Sie ziehen sich aus. Jay
sitzt im Sessel und bestaunt Claire. Im wahrsten Sinne
zwischen Tür und Angel – eine Schwellensituation in jeder
Hinsicht – bedient sie Jay. Eine „Kiss him, Monika“-Szene.
Nach dem Blow-Job folgt der Handverkehr. Der schnelle
Abschied. Jay geht ihr nach. Bricht die Verfolgung aber ab.
Dann plötzlich erschreckt man im Kinosessel über Sätze wie
in einem Leitartikel. Sein Freund Viktor – alles andere als ein
Siegertyp, eher ein schlecht gesicherter Bungee-Springer,
nun gut, man kann mit Namen auch weniger dick auftragen
– sagt mit schnarrender Stimme: „Sklaven unserer Lust sind
wir“. Da steht er dann und nuschelt nur einen Kameraschnitt
später wie nach einem mentalen Schlaganfall: „Mein Sohn
hat mir erzählt, er will auf die Kunsthochschule.“ Oder der
Besuch Jays in der Wohnung seiner Frau. Er wird beim
Wichsen auf dem Klo von seinem jüngsten Sohn gestört, der
sich in die Hose gemacht hat. Als er ihn umzieht, kommt
wieder so ein Satz wie aus dem transzendentalen Off:
„Vielleicht machst du das eines Tages auch für mich.“ Das
hört sich nach Endstadium der Vereinsamung und präseniler
Angst an.
Diese leisen Schreie nehmen langsam die Oberhand,
obwohl Jay in einem Gespräch mit einem Kollegen noch
einmal den Coolen mimmt und darüber räsoniert, wie er die
Beziehung beenden kann: „Ich treff mich mit ihr, wir ficken,
dann geht sie wieder. (...) Ich glaube, ich finde es eine
Belastung. Als wenn wir uns es schuldig wären.“ Aber am
nächsten
Mittwoch
sitzt
er
schweigend
und
leise
verzweifelnd in der Wohnung und wartet vergebens. Der
Regisseur findet dafür ein eindrückliches Bild: Jay lässt
Bläschen einer Verpackungsfolie platzen. Er ist nicht länger
in der sedierten Gefühlswelt eingeschweißt.
62
Jay versucht in Claire’s Welt einzubrechen. Sie spielt in
einem dreckigen Kellertheater unter einem Pub. Auch sie
eine Schauspielerin wie die Kellnerinnen seiner Arbeitswelt.
(Der Regisseur lässt wenig Raum, um ihr Alltagsleben
zwischen Castings, Leitung einer Amateurschauspieltruppe
und
Familie
auszuleuchten.)
zahnspangenunkorrigierten
Ihr
Gebiss,
Mann,
sein
mit
einem
Körper
der
inkarnierte Protest gegen den Schlankheitswahn, hört sich
die Kommentare der Zuschauer an und souffliert sie ihr
abends. Jay sucht den Kontakt und erzählt ihm die
Geschichte von einer Ehefrau, die sich mittwochs spontan
zum ficken mit einem Mann trifft und danach Ehemann und
Kind den Haushalt macht, als sei er selbst dieser betrogene
Ehemann. Jay spielt Geisterfahrer im Verkehrskrieg und wird
prompt erwischt: „Ehe ist Krieg, aber ein Grund zum Leben“,
sagt der Ehemann.
Noch einmal flieht Jay, man sieht ihn als Teilnehmer einer
verkoksten Party, er verbringt die Nacht mit einem jungen
Frau, die den Sex so cool nimmt, wie Jay es gerne tun
würde. Und noch einmal verkündigt er sein cooles
Evangelium: „Nur ein Verrückter will seine Wunden zeigen
und so was", dann hält er es nicht mehr aus, sucht sie im
Theater auf, stellt sie zur Rede, es kommt zum Bruch. Der
Ehemann enträtselt das Verhältnis, schreit seiner Frau ihre
mangelnde Begabung ins Gesicht.
Ein letzter Mittwoch. Die finale Auswertung der Kampfzone.
Die coolen Hüllen fallen: „Dass du jemandem so nahe bist,
das zerreist mir das Herz.“ Im Zentrum der eigenen Leere
keimt die Eifersucht auf Mann und Kind. „Bleib! Komm
zurück.“ Die Antwort lautet: Nein. Ein letzter Fick im Stehen.
Eine letzte Umarmung. Das war’s.
Wie HOUELLEBECQ, so ist auch der Regisseur CHERÉAU ein
cooler Moralist. Unter der verschweißten Oberfläche brodelt
es. Der Individualist der Spaßgesellschaft, ortlos – nichts ist
63
heimatlich und heimelig – und vereinsamt, hat die Intimität
verlernt und leidet daran wie ein Hund. Er ist komatös, eine
Art Wachkoma, Stillstand trotz aller Hektik. Das Leben, das
glückliche Leben ist anderswo. Als Ausweg bleibt die Kunst
der Resignation oder die Rückeroberung der verlorenen
Nähe.
64
2.5 Hetärengespräche
Ein
Wortwechsel
zwischen
Epikurs
Hetäre
Leontion,
Catherina und Clarissa.
L e o n t i o n: Zenon sah immer pseudo aus. Wie ein
Wichtelmann. Ab und zu tauchte er mit einem Boyfriend auf,
aber man hatte immer den Eindruck, er habe ihn bei einer
zweitklassigen Agentur gemietet. Ätzend. Dessen Libido
ging immer auf dem Zahnfleisch. Er war dauernd so
verbissen,
nicht
wirklich
professionell.
Und
seine
philosophischen Kids, die ihn immer covern wollten, sahen
nach billigem Label aus. Alle Model-untauglich. Ziemlich
abgefuckt. Mein lieber Epikur flüsterte, wenn er Zenon
herumschleichen sah: „Ich sollte ihm mal meine Visa-Card
leihen.“ Bei uns wurde wenigstens gelacht. Zenon zeigte
sich von uns total schockiert, dabei hatte Epikur doch auch
immer alles unter Kontrolle. Nach meinem Geschmack hätte
er seine Kontrolle durchaus etwas lockern können. Er wolle
mir keinen Schmerz zufügen, nuschelte er häufig, aber ich
hätte es schon gerne gehabt, wenn er seine semi-betuliche
Art wenigstens ab und zu abgelegt hätte. Manchmal
erinnerte mich der ganze Haufen bei uns im Garten an einen
fröhlichen Altherrenverein, die sich nur mit ihrer Prostata
beschäftigen. Aber unterm Strich war’s wirklich ganz o.k.
Irgendwie.
C a t h e r i n a: Ich bin ja so erleichtert, dass du das sagst.
Eigentlich verrückt und irgendwie auch gespenstisch, dass
ich mich auch wahnsinnig gerne im Garten und Wald
bewege, oder? (Lieber als in den Saunen übrigens.) Alle
nennen mich, wie meine Freundin im Geiste, diese Millet, ihr
wisst schon, eine Boi bitch, BB, na und? Was ist daran
65
schlimm? Gar nichts. Ich war verfügbar. Ich war willig. Ich
habe mir die Lust geholt. Ich brauche keine Sonnenbrillen,
Walkmen, Kapuzenpullis. Albern. Ich war nackt, ich habe
alle in mich überall reingelassen und ich war trotzdem
abgeschottet. Ich war auch nicht süchtig, wie dauernd
irgendwelche Spießer geschrieben haben. Überhaupt nicht.
Ich konnte mich wochenlang enthalten. Einfach so. Ich bin
total gelassen an die Sachen rangegangen. Ich war nie
zynisch. Nie verklemmt. Kein Grund zur Klage. Ich war
wirklich frei. Total frei. Nähe kann ich nicht dauernd ertragen.
Nähe frisst mich nach kurzer Zeit auf. Dann kommt die
Eifersucht. Dann verliere ich meine Gelassenheit.
C l a r i s s a: Damit ihr mich nicht missversteht: Ich bin nicht
die heilige Johanna der Schlachthöfe. Weißgottnicht. Ich bin
Mittwochs bei einem Typen aufgekreuzt, habe mit ihm
geschlafen ohne großen Firlefanz, ohne viel Zinnober, ich
habe mich ausgezogen, ich habe mich hingelegt, fertig. Ich
fühlte mich tot. Mein Mann ist ein Sitzsack. Meine Karriere
war ein Trauerspiel. Mein Kind, ja, o.k. Ich hatte gedacht,
Jack wüsste irgendwie mehr als ich. Er lebte anders. Ich
wollte wissen, was er weiß. Er verlangte nichts. Sex machte
mir wieder Spaß. Aber dann hat er die Regeln gebrochen.
Und dann merkte ich: Er war nicht weiter. Er wusste nicht
mehr. Er suchte Nähe und wusste nicht, wie damit umgehen.
Er wusste vielleicht noch weniger als ich. Er redete plötzlich
wie jemand, der zum Tode verurteilt wurde. Ja. Ich bin
zurück geschlichen. Ich brauche die Wärme. Ich gebe es zu.
Macht euch ruhig lustig über mich.
66
3. Das Glück der Resignation
3.1 Götter- und Heroengespräche
Ein etwas einseitiges Gespräch zwischen SEXTUS EMPIRICUS,
ZEUS und HERA
S e x t u s: Wenn man mich flugs fragte, ob es euch gebe
und obendrein von mir verlangte, ich solle es beweisen, so
fürchte ich, ich würde meinen Partner arg lange warten
lassen, denn eine kluge Antwort will mir nicht auf die Zunge
und wohlmöglich bekäme ich ob der Saumseligkeit meiner
Antwort Nackenschläge. Vielleicht gibt es euch, aber es zu
beweisen will mir nicht gelingen. Ich würde mich glücklich
schätzen, wenn ich es fertig brächte. Es ist möglich, dass ihr
seid, aber ich will ein Tölpel heißen, wenn es anderen
gelänge, Euer Sein zu beweisen.
H e r a: Hör auf so weibisch zu jammern, Zeus. Du
bekommst, was du verdienst. Und das soll erst der Anfang
sein. Du hast zu lange gefaselt, die Sterblichen bräuchten
uns um glücklich zu sein. Wie hast du früher getönt: Eine
goldene Kette befestigt ihr oben am Himmel, hängt euch nur
alle daran, ihr Götter und Göttinnen, und ihr Sterblichen
allzumal; dennoch zieht ihr niemals Zeus, den Ordner der
Welt, vom Himmel herab, wie sehr ihr auch danach trachtet.
Und jetzt zeterst du, sobald wir alleine sind.
S e x t u s: Ich plage mich schon lange mit der Frage,
komme aber an kein Ende. All überall regiert das Übel. Es
kann sein, dass Zeus die Übel nicht verhindern kann. Oder
aber er will es nicht und beides scheint mir mit der
Vorstellung von Gott gar unvereinbar.
67
H e r a: Wenn ich so fragte, Zeus, hast du immer gesagt, ich
würde irre reden und ob ich vorhabe einen Prozess gegen
uns selbst anhängig zu machen. Du tätest nicht übel, das
Wort zu ergreifen.
S e x t u s: Ich enthalte mich also des Urteils. Aber weil mich
deine Tränen rühren, könnten wir die Menschen fragen und
versuchen zu einer Übereinkunft zu kommen.
H e r a: Hast du denn gar nichts zu deiner Rechtfertigung zu
sagen? Wollen wir in einen Wettbewerb treten und uns von
den Irdischen abhängig machen? Von all den Triefaugen,
den Kahlköpfigen, den lendenschwachen Greisen? Ich kann
dir versichern, es gibt deren viele Spröde, Dumpfe, Schlingel
und Nichtsnutze, die nicht einmal durch Schmeicheln und
Gütigtun zu bewegen sind. Viele lauern auf unseren Tod und
sinnen auf die himmlische Erbschaft, die sie dann auf Erden
verprassen können. So ist es doch, wenn ich nicht irre,
Sextus?
S e x t u s: Ich enthalte mich des Urteils, ihr Lieben.
H e r a: Wäre es nicht an der Zeit, endlich das Maul
aufzusperren? Ermann dich!
Z e u s: Ich bin so traurig, so unsagbar traurig.
68
3.2 Der skeptische Blick
Die
Physiognomie
eines
Skeptikers:
Er
ist
ein
feinmotorischer Meister der Augenbraue, jetzt wird eine
Braue hochgezogen, bildet mit der anderen Braue ein
veritables Fragezeichen, der Kopf wird leicht schief gehalten,
etwas nach hinten geschoben, um den Abstand zum
Gesprächspartner
zu
vergrößern,
Uneinigkeit
demon-
strierend, die Augen suchen die Ferne, oft werden die
Lippen
vorgeschoben,
manchmal
wie
ein
Fischmaul
geöffnet, als würde er verzweifelt nach Luft schnappen, die
Stirn
legt
sich
in
Falten,
nur
kurz
zeigt
sich
ein
Zornesgrübchen, wird aber durch die Facialmuskulatur
wieder zugeschüttet, die Gesichtszüge glätten sich, es folgt
ein konzentriertes Gespräch, die Augenbrauen schieben
sich zusammen und fahren auseinander als würden
Gewichte bewegt in einem Kraftstudio, manchmal wirken die
Augenbrauen wie Baldachine, weil sie schützend über die
lichtempfindlichen Augen geschoben werden, einen Hauch
von Melancholie verströmend, halb mitleidig, halb resigniert.
Der Skeptiker. Überzeugungstäter arbeiten sich gerne an
ihm ab. In Bundestagsfraktionen ist er gefürchtet, ob seiner
immer zu erwartenden Stimmenthaltung. In religiösen
Fragen heißt er Agnostiker, nicht Atheist, ein feiner
Unterschied: Atheisten verneinen Gott, Agnostiker enthalten
sich der Frage. Sie sind schlechterdings missionsresistent
und anti-dogmatisch.
Historisch gilt PYRRHON
VON
ELIS (ca. 360-270) als der
eigentliche – es gab vorsokratische Ansätze - Begründer
dieser
Lebensform.
Nach
den
Philosophenviten
des
DIOGENES LAERTIUS (IX) war PYRRHON zunächst ein mäßig
begabter Maler, dann zog er mit dem Philosophen ANAXARCH
69
(aus dem Schülerkreis DEMOKRITS) nach Indien, knüpfte
Kontakte mit Asketen und Magiern und bewegte sich
zumindest kurzzeitig im Umkreis Alexanders des Großen.
Alle Biographen loben überschwänglich seinen Gleichmut,
die innere Ruhe und Unerschütterlichkeit. In der Tat:
PYRRHON lebte heroisch mit seiner Schwester zusammen,
putzte klaglos den Haushalt und wusch eigenhändig die
Ferkel, die er auf dem Markt verkaufte. Die Apathie der
Stoiker glaubte er überbieten zu können, weil er sich von
außersittlichen Gütern oder Übeln nicht einmal mehr
angezogen fühlte. Diese
Lebenshaltung vollkommener
Gleichgültigkeit den Außendingen gegenüber führte, so
berichtet eine Anekdote, dazu, dass er seinen Lehrer
ANAXARCH nicht half, als der in einem Sumpf versank. Weil
er selbst erschrak, als ihn ein Hund ansprang, entschuldigte
er sich mit dem Satz, es sei sehr schwer den Menschen
vollständig
auszuziehen.
(Vgl.
RICKEN
1994,
15;
HOSSENFELDER 1985.)
Die antike Skepsis profiliert ihre Grundüberzeugungen durch
eine kritische Relektüre der stoischen Erkenntnistheorie,
zumeist
im
sokratischen
Gestus
des
wissenden
Nichtwissens vorgetragen. Nur Ansätze finden sich bei
PYRRHON,
ausgearbeitet
akademischen
Skepsis
wird
die
(ARKESILAOS,
Position
in
KARNEADES),
der
bei
AINESIDEMOS und vor allem in der Spätphase bei SEXTUS
EMPIRICUS
(um
200
n.
Chr.),
dem
(wahrscheinlich)
gebürtigen Griechen, der in Rom als Arzt erfolgreich war.
Nach ärztlichem Ethos hat er auch seine skeptische Kunst
verstanden, nämlich die Menschen von der Krankheit des
voreiligen Schlusses zu heilen.
Die akademischen Skeptiker hinterfragen den stoischen
Versuch, die Erkenntnistheorie auf einen Sensualismus
aufzubauen, also vom Eindruck, den eine Sache hinterlässt.
Aber erst wenn der Verstand seine Zustimmung gibt, ist eine
70
Sache nach stoischer Lehre tatsächlich erfasst. Hier setzt
der Skeptiker an: Es gibt keinen Zugang zu den Sachen an
sich, weil wir immer nur sagen können, wie die Dinge uns
jeweils erscheinen. Wenn es aber keine Erkenntnis der
Wirklichkeit an sich und somit kein Wissen gibt, weil wir nicht
hinter dem Eindruck das Wesen der Dinge erkennen
können, dann bleibt nur der Weg der Urteilsenthaltung. Der
Preis für die eigene Seelenruhe ist der grundsätzliche
Verzicht auf Urteile, die aussagen, wie die Dinge an sich
sind.
Mit dem Namen AINESIDEMOS – über ihn selbst gibt es nur
widersprüchliche Nachrichten – ist die Methode der Tropen
(wörtlich: Art und Weise, philosophisch: Formen des
logischen Schlusses) verbunden, jenen Argumentationsformen, die deutlich machen sollen, dass die Wahrnehmung
und das Denken in Relativität münden, weil man, wie vor
allem SEXTUS gezeigt hat, jedem Gedanken oder Eindruck
einen Eindruck oder Gedanken von gleichem Gewicht
gegenüberstellen kann - ein Turm etwa sieht aus der Ferne
rund, aus der Nähe aber viereckig aus. Zehn Tropen führt
AINESIDEMOS auf (bei SEXTUS referiert), darunter der aus der
Verschiedenheit der Lebewesen überhaupt, der Menschen,
der verschiedenen Beschaffenheit der Sinnesorgane, oder
der der Lebensformen, der Sitten, der Gesetze, des
mythischen Glaubens, der dogmatischen Annahmen (102f.).
SEXTUS führt in seinem ‚Grundriss‘ vier Listen von Tropen
auf, berühmt geworden ist eine Argumentation im Anschluss
an die fünf Tropen des AGRIPPA, die HANS ALBERT (1968) das
Münchhaussen-Trilemma genannt hat: Wer alles begründen
will, gerät entweder in einen infiniten Regress, einen Zirkel
oder
muss
das
Verfahren
abbrechen.
Skeptische
Schlagworte sind deshalb: ‚Vielleicht‘, ‚Es ist möglich‘, ‚Es
kann sein‘.
71
In der Forschung ist umstritten, ob man, wie SEXTUS
EMPIRICUS in seinem ‚Grundriß der pyrrhonischen Skepsis‘
nahelegte, vom stoischen Erkenntnisproblem ausging und
dann die Konsequenzen für die Ethik formulierte, oder ob
eine
„verwandelte
ethische
Haltung
sich
des
Erkenntnisproblems (bediente), weil sie ein Interesse an der
Unerkennbarkeit der Dinge hatte“, wie HOSSENFELDER in
seiner Einleitung zu SEXTUS vermutet. (31999, 30) „Die
Pyrrhoneer erblickten die Glückseligkeit in der Ataraxie, der
‚Seelenruhe‘, und die Art, wie sie diese verstanden, ist der
eigentliche auslösende und bestimmende Faktor ihrer
Skepsis.“ (31) Lag die Seelenruhe für EPIKUR in der
Überwindung der Beunruhigungen, die durch Begierde und
Furcht entstehen, so für die Pyrrhoneer in der Überwindung
des Eifers. Eifer ist aber der Begriff zur Denunzierung der
sogenannten Dogmatiker (stellvertretend sind hier die
Stoiker gemeint), denn Eifer entsteht, „wenn man etwas für
ein ‚Gut von Natur‘, einen objektiven Wert, hält.“ (35) Die
Suche nach Wahrheit ist für das Glück des Menschen eher
schädlich – so die Pointe. Das Heil des Menschen bleibt
unabhängig von der Erkenntnis der wahren Güter und der
wahren Übel. Das Glück stellt sich von selber ein –
irgendwann,
freilich
erst,
wenn
man
resigniert
die
Ausweglosigkeit der Glücksbestrebungen eingesehen hat.
‚Gründe‘ darf es für das Eintreten des Glücks keine geben,
nicht einmal der alte kosmologische Gedanke, der Kosmos
sei so geordnet, dass das Glück sich zwangsläufig
irgendwann einstellen müsse.
Häufig wird übersehen, dass die Skeptiker entschieden
radikaler als die Epikureer und die Stoiker Theoretiker der
Unabhängigkeit waren: Sowohl die Epikureer als auch die
Stoiker entbanden das Glück von den äußeren Gütern und
verlegten das Glück in die inneren Güter, sprich: die
Unerschütterlichkeit der eigenen Seelenverfassung. Diesen
72
letzten anthropologischen Optimismus verabschiedeten die
Skeptiker. Keine Seelenverfassung, so die nüchterne
‚Erkenntnis‘,
garantiert
Lebenslagen
und
eine
deshalb
Unversehrtheit
bleibt
nur
der
in
Weg
allen
der
Urteilsenthaltung und der Gleichgültigkeit den inneren
Gütern gegenüber. Letztlich dürfen die Skeptiker auch nicht
die Ataraxie dogmatisch als objektiven Wert benennen, sie
proklamieren deshalb als Grundziel des Lebens die Epoché,
die Urteilsenthaltung, aber mit dieser Epoché sei, so die
frühen Vertreter, die Ataraxie wie „ein Schatten verbunden“
(DIOGENES LAERTIUS IX, 107).
Im Gedächtnis überlebt hat der bereits bei DIOGENES
LAERTIUS belegte Vorwurf, die Skeptiker würden „das Leben
aufheben, indem sie alles verwerfen, worin das Leben
besteht“ (IX, 104). Positiv gewendet: Aufgabe der Skeptiker
musste es sein eine Lebensform zu finden, „die vorzeichnet,
wie es möglich ist, daß man recht zu leben scheine (das
‚recht‘ hier nicht nur in Bezug auf Tugend genommen,
sondern schlichter), und die sich auf die Möglichkeit zur
Zurückhaltung erstreckt.“ (97) Wie aber ist ein Handeln
möglich, das über Gut und Übel nichts philosophisches oder
dogmatisches aussagen kann? Antwort: Die Pyrrhoneer
ließen sich die Entscheidungen, wie zu handeln sei, von der
alltäglichen Lebenserfahrung abnehmen. „(W)ir folgen einer
bestimmten Lehre, die uns gemäß dem Erscheinenden ein
Leben nach den väterlichen Sitten, den Gesetzen, den
Lebensformen und den eigenen Erlebnissen vorzeichnet.
(...) Wir halten uns an die Erscheinungen und leben
undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung, da wir
gänzlich untätig nicht sein können.“ (97,99) Werte beziehen
sich auf die Welt, in die der Skeptiker hineingeboren wurde.
Wäre er in eine andere Welt hineingeboren, wären seine
Werte andere Werte, insofern sind sie ganz zufällig. Zum
Revolutionär ist er nicht geboren, weil er keine Kenntnis
73
objektiver Werte besitzt (besser: besitzen kann), die besser
sind als diejenigen, die er lebensweltlich vorfindet. Er folgt
den vorgefundenen Werten nicht aus philosophischer
Überzeugung, sondern er folgt den vorgegebenen Sitten, die
ihm Entscheidungen, die er nicht fällen kann, abnehmen. Die
ganz
unterschiedlichen
Sitten
der
Völker
wiederum
demonstrieren, dass es nicht etwas gibt, was an sich gut
oder schlecht
ist. Und
damit ergibt
sich
auch die
Schlussthese, dass es keine Lebenstechnik (287) im strikten
Sinne des Wortes gibt.
Diese atemberaubende Entmachtung der Philosophie blieb
nicht ohne Folgen. Von dieser Lebensdeutung in der späten
Antike war es nur noch ein kleiner Schritt, sich einer
Lebensdeutung zu überlassen, die die Unsicherheit und die
Überforderung, die die Skepsis hinterließ, aufzuheben in
eine neue Heilsgewissheit.
Unterschwellig ging der Streit zwischen Dogmatikern und
Skeptikern weiter (RICKEN inventarisiert die antiskeptischen
Strategien antiker Denker, 1989, 1994) und lebte vor allem
in der Neuzeit wieder auf. MONTAIGNES ‚Apologie‘ (vgl.
RICKEN
1994) verdankt
sich
der 1569 erschienenen
lateinischen Gesamtausgabe des Sextus Empiricus – ein
skeptische Antwort auf die drei Fragen seiner Zeit: das
christliche
Schisma,
die
Krise
des
mittelalterlichen
Aristotelismus und die heraufkommende kulturelle Vielfalt
der neuen und wiederentdeckten antiken Welt. Typisch
skeptisch wählt MONTAIGNE, weil die Wahrheit in Fragen der
Religion nicht entscheidbar ist, die katholische Religion, in
die er hineingeboren wurde.
DESCARTES
glaubte
bekanntlich
der
skeptischen
Herausforderung durch ein zweifelsfreies fundamentum
inconcussum im ‚cogito ergo sum‘ begegnen zu können. Der
skeptische Widerspruch in Gestalt von DAVID HUME blieb
nicht lange aus. Ihm versuchte KANT Paroli zu bieten –
74
später
HEGEL,
HUSSERL
(der
den
Begriff
der
Urteilsenthaltung, der Epoché gleichsam gegen die Erfinder
zum Einsatz bringt), HEIDEGGER, W ITTGENSTEIN und LEVINAS.
Und so weiter. Aber auch in der Zeitgenossenschaft gibt es
veritable skeptische Ansätze, bei E.M. CIORAN, bei HANS
BLUMENBERG und ODO MARQUARD. Einer seiner Schüler,
FRANZ JOSEF W ETZ, hat jüngst den Versuch unterbommen,
eine skeptische Lebenskunst, nach SEXTUS ein hölzernes
Eisen, zu formen: Die Kunst der Resignation.
75
3.3 Die Kunst der Genügsamkeit
FRANZ
JOSEF
W ETZ,
mein
Jahrgang,
die
gleichen
Studienfächer, andere Lehrer, andere Ergebnisse. Glück
oder nicht – offensichtlich waren die Lehrer so, dass es
guten Sinn macht, weiter zu philosophieren wie bisher. WETZ
ist Schüler des rhetorisch begabtesten Skeptikers in
Deutschland:
ODO
MARQUARD.
Die
blütenstaubgelben
Reclambändchen ‚Abschied vom Prinzipiellen‘ (1981) und
‚Apologie
des
Stilbildungsfibeln
Zufälligen‘
(1986)
im
Sinne
besten
„Transzendentalbelletrist“
MARQUARD
sind
des
skeptische
Wortes.
(MARQUARD
Der
über
MARQUARD, 1986, 9) hat in einer Dankesrede für den
Sigmund-Freud-Preis den Skeptizismus konzise durch drei
Kennzeichen bestimmt: „Erstens: Skepsis ist der Sinn für
Gewaltenteilung. Der skeptische Zweifel ist (...) jenes
(schulmäßig ‚isosthenes diaphonia‘ genannte) Verfahren,
zwei gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und
dadurch beide so sehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der
Einzelne – divide et fuge! – als lachender oder weinender
Dritter von ihnen freikommt in die Distanz, die je eigene
Individualität. (...) Zweitens: Skepsis ist Usualismus, der Sinn
fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten. (...)
Drittens: Skepsis ist (...) die Bereitschaft zur eigenen
Kontingenz.“ (7f.)
Das ist der geschichtliche und lebensgeschichtliche Horizont
von FRANZ JOSEF W ETZ, eine gewisse Zufälligkeit, in die er
fröhlich einstimmt (und dabei, nicht ganz zufällig, HANS
BLUMENBERG mit ins Boot nimmt). In seinem Essay ‚Die
Kunst der Resignation‘ ringt er mit der Frage, wie die
Existenz glücken kann in einer Welt, in der der „Sinnbecher“
76
leer ist. Spricht MARQUARD noch von „Sinndiätetik“ (33ff.),
dann
gibt
W ETZ
ein
schönes
Beispiel
für
seine
Überbietungskompetenz, wenn er die „Sinnverluste der
Moderne“ in ein hübsches Sprachspiel packt: „Große
Versprechen – die Versprecher des Lebens“ (7ff.): „Ohne
Sinn - und trotzdem glücklich: Das ist die Kunst der
Resignation. Aber wie kann man diese erlernen, da sich
doch Sinnlosigkeit und Glück auszuschließen scheinen?“
Gute und süffisante Frage.
In vielen Anläufen verabschiedet W ETZ das Christentum als
Sinnstiftungslieferant. Mit OVERBECK prolongiert er die Kritik
am Christentum: Die frohe Botschaft des Christentums gerät
durch die Parusieverzögerung in eine Krise und ist mit dem
wissenschaftlichen Weltbild schlechterdings nicht mehr
kompatibel.
Rang
OVERBECK
aber
noch
mit
dem
Abschiedsschmerz, so ist bei W ETZ die Trauerarbeit
abgeschlossen:
W ETZ
akzeptiert
den
Verlust
des
Sinnanbahnungsinstituts Christentum ohne wenn und aber,
ein Meister der Verlustunempfindlichkeit: „Der Mensch ist ein
vergängliches Stück um sich selbst bekümmerte Natur in
einer um ihn unbekümmerten Welt.“ (27)
(Bereits an dieser Stelle ein kleiner Einwurf: Könnte es nicht
sein, dass das Christentum in keiner Konkurrenz zur
Naturwissenschaft steht, sondern eine literar-ästhetische
Sehschule des durchaus real im Text anwesenden – und
nicht parusieverzögerten – Christus bietet? OVERBECK hatte
Phantomschmerzen, WETZ zwickt nichts mehr.)
Für W ETZ ist die Kultur „Sorgenbrecher“ (38) und „Notwehr“:
„Näher betrachtet ist alle Kultur eine Art Notwehr – eine
Antwort auf die prekäre Lage des Menschen, der auch nach
dem proklamierten Ende von Mythos, Metaphysik und
Religion für Symbole, Bilder und Geschichten empfänglich
bleibt, um seine archaischen Ängste, Verlorenheits- und
Überforderungsgefühle
in
der
befremdlichen
Welt
77
überwinden zu können. Der Mensch befindet sich von Natur
aus in einem schlimmen Zustand, gewissermaßen in einem
Notstand, aus dem ihm die Kultur durch Erfindung von
Sinnbildern
und
Sinngeschichten
mit
herauszuhelfen
vermag.“ (41f.) ). Im Hintergrund dieser Thesen steht die alte
GEHLENSCHE Einsicht vom Mensch als Mängelwesen.
Wer Metaphysik und Religion emeritiert, berentet freilich
auch die traditionellen Agenturen des Trostes. Das jedenfalls
ist unbestritten:
Der Mensch
ist als sterbliches ein
trostbedürftiges Wesen, strittig aber ist seit alters her, ob die
Philosophie wirklich trösten kann oder ob sie, wenn sie es
anbietet, nicht über ihre Verhältnisse lebt. „Deswegen wird
die Frage dringlich, ob die Kompetenz zum Trösten allein
dem Göttlichen vorbehalten ist oder ob es nicht auch einen
Trost des Menschenmöglichen gibt (...): den schwachen
Trost des Menschenmöglichen.“ (65) Schlafen, Lachen und
Weinen gehören nach WETZ zum Kanon der schwachen
Trostmittel oder „Existenzbewältigungsmittel“ (69), schwach,
weil sie nicht wie die Religion Sinn oder sogar Glück in der
Schicksals- oder Kontingenzbewältigung anbieten, aber
immerhin „Abstand zu dem, was den einzelnen bedrängt:
Distanzgewinn als Milderung der bitteren Härten des
Lebens.“ (67) MARQUARD nennt sie die „leisen Formen der
Anerkennung
zuvor
Schicksalszufälle.
Weinbereitschaft
Konkretionen
menschlich,
unbemerkter
(...)
–
von
So
also
sind
Humor
Toleranz
sondern
auch
und
und
verdrängter
Lachbereitschaft
und
und
Melancholie
Mitleid:
allzumenschlich
nicht
–
nur
leistbare
Respektierungen von Freiheit und Würde des Menschen.“
(1986, 135)
Schlafen, Lachen und Weinen (bei W OODY ALLEN bestens zu
studieren) sind also jene menschenmögliche Existenzbewältigungen, die übrig bleiben, wenn die Wissenschaften
die Hoffnungen auf ein Transzendieren der Endlichkeit
78
kassieren. Die Frage, ob Wissen Glück bringt, ist damit
vorentschieden. Sowohl der alttestamentliche Prediger
Kohelet (1, 18), als auch Sextus Empriricus waren sich einig
in ihrem Unbehagen, dass Erkenntnis das Leiden vermehrt
und keine beglückende Energie verbreite. Die Kränkungen,
die die Wissenschaften, nach KOPERNIKUS, DARWIN und
FREUD
neuerdings
die
Genetik,
die
Neuro-
und
Computerwissenschaften, dem Menschen zugefügt haben,
stimmen in einem Punkt überein: „Sie markieren einen
ungeheuren
Wertverlust
des
Menschen
durch
seine
erbarmungslose Einordnung in den Naturzusammenhang.
(...) So hat das Wissen allen menschlichen Illusionen ein
Ende gesetzt: Seine Glückswürdigkeit ist in Glückswidrigkeit
umgeschlagen.“ (101) Allerdings erlaubt die Einsicht in diese
Zusammenhänge
auch
eine
„Zustimmung
durch
Selbstbescheidung“: „Sicherlich fällt der Abschied von den
großen Sinnversprechen schwer, soll aber die Frustration
über die Enttäuschung ihrer Uneinlösbarkeit ausbleiben, so
setzt das die Bereitschaft zu mehr Bescheidenheit voraus.
Nur durch freiwilligen
Verzicht
lassen sich
Verluste,
Versagungen und Entbehrungen wirksam ausgleichen. Erst
wo wir nicht mehr den Anspruch auf die Krone der
Schöpfung erheben, weicht das Gefühl der Kränkung durch
Wissenschaft, und es schmerzt nicht mehr, bloß ein
vergängliches Stück um sich selbst besorgter Natur zu sein.“
(106f.)
Metaphernkreativ
sprich
W ETZ
davon:
„Man
sollte
versuchen, den großen alten Sinnbecher loszuwerden.“
(147) Der Becher des Sinns ist leer und die Mundschenke
bei Madame Tussot untergestellt. Der kosmologische,
teleologische und ontologische Anthropologismus (vgl. 123)
sind wissenschaftlich offensichtlich entsockelt. Kränkungen
bilden diese Erkenntnisse aber bei genauerem Hinsehen
nur, weil vor allem das Christentum den Menschen
79
vorgegaukelt hat, etwas Besonderes zu sein. Christliche
Metaphysik,
Ersatzmetyphysiken
und
auch
noch
der
Nihilismus und Existentialismus unternehmen den sinnlosen
Versuch, den Sinnbecher neu zu füllen. Anders als
NIETZSCHE etwa plädiert WETZ für eine Überwindung des
Nihilismus. Als Therapie empfiehlt W ETZ eine „Überwindung
des
Christentums“,
die
„nur
durch
entsprechende
Einschränkung und Mäßigung der von ihm hervorgebrachten
Sinnerwartungen möglich“ ist. (148)
Die kosmologische Dezentrierung der Erde ist freilich so
eindeutig nicht, wie W ETZ zugeben muss. Die beim
Kultverlag
2001
erschienene
‚Raumfahrerlyrik‘
der
Astronauten beschwört die Schönheit der Erde, eine Art
dialektische
Repatriierung,
die
sich
ästhetischer
Anmutungswerte verdankt - alternativlos bis auf weiteres.
(Vgl. auch W ETZ 1994, 1998.)
Aber auch wenn Menschen kosmologisch nicht wichtig (173)
sind (Außenperspektive), müssen sie dennoch ihr Leben
wichtig
nehmen
(Innenperspektive).
WETZ
plädiert
abschließend dafür, mit diesen Widersprüchen aktiv fertig zu
werden, ohne der Vergänglichkeit auf Wellnessfarmen feige
zu entfliehen. Das setzt „Kunstgriffe der Not“ (180) voraus,
um mit sinnwidrigen Kontingenzen aktiv fertig zu werden in
„milder Resignation.“ (182). „Aufs Ganze gesehen ergibt sich
somit folgendes Bild: Menschliches Dasein, wie es leibt und
lebt, ist vornehmlich Mängelbewirtschaftung, auf die sich
wohl derjenige noch am besten versteht, der, um seine Not
wissend, sich im Leben trotzdem eine nachdenkliche
Heiterkeit bewahrt. Denn obwohl es manchmal schwer fällt,
tut man gut daran, ernste Dinge und sogar sich selbst nicht
allzu ernst zu nehmen. Zugegeben, das Leben ist häufig
nicht zum Lachen, aber im Grunde ist doch nichts
Lächerlicher als das Leben. Auch wenn verschiedene
Ansichten darüber bestehen, welche Existenzformen am
80
meisten erstrebenswert sind, ja, was ein schönes, erfülltes,
freudvolles Dasein überhaupt ausmacht, uns ein solches als
gelungen, angenehm, sogar sittlich lobenswert erscheinen
läßt, bleiben Zufriedenheit und Glück dennoch möglich:
Ohne Sinn – und trotzdem glücklich! Das ist kein logischer
Widerspruch, nein, es ist die wahre Kunst der Resignation.“
(184)
81
3.4 Bin ich genügsam?
Vielleicht ist das möglich.
Ich habe mich bisher für den Skeptizismus nicht besonders
erwärmen können, vielleicht, weil Theologen mit Politikern
eine bisher uneingestandene Verwandtschaft verbindet: Der
Skeptiker ist kein, auch kein religiöser Wechselwähler. Aber
in Zeiten, da fanatisierte Menschheitsbeglücker die Welt mit
Selbstmordanschlägen überziehen und Schrecken und
Entsetzen verbreiten, gewinnt eine Lebensdeutung, die auf
Mission
in
jeder
Couleur
verzichtet,
eine
neue
Anziehungskraft. Das steife Gewohnheitstier, der klebrige
Sesselhocker, Prädikate, die den Skeptikern gerne anhaften,
zeugen jetzt von einer Überlegenheitsunterstellung, die
urplötzlich aus der Mode ist. Alt. Ganz alt.
Skeptiker
sind
keine
gröhlende
Maschierer,
sondern
beobachtende Flaneure. Ihre Schreibe sucht die kleine
Form, das Detail, das Sujet, den Aphorismus, das leichte
Parlando, in den glücklichsten Fällen den hintergründigen,
von Melancholie gespeisten Humor. Zunächst das Ergebnis
einer Leseerfahrung, zwei Wahlverwandte, FRANZ HESSEL
(1929) und W ILHELM GENAZINO (2001). Dann eine komische
skeptische
Sehschule
in
W OODY
ALLENS
Film
‚Deconstructing Harry‘.
„Flanieren ist eine Art der Lektüre der Straße, wobei
Menschengesichter,
Terrassen,
Bahnen,
Auslagen,
Autos,
Schaufenster,
Café-
Bäume
lauter
zu
gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen
Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches
ergeben“, schreibt HESSEL und streift durch Berlin, an den
82
großen, wichtigtuerischen Bauwerken herzlich uninteressiert.
Aber in der betriebsamen Welt sind Flaneure zunächst und
zumeist verdächtig: „Langsam durch belebte Straßen zu
gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt
von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.
Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen mir das nicht
leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich
bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche,
zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man
hält mich für einen Taschendieb. Die hurtigen, straffen
Großstadtmädchen mit den unersättlich offenen Mündern
werden ungehalten, wenn meine Blicke sich des längeren
auf ihren (...) schwebenden Wangen niederlassen. Nicht als
ob sie überhaupt etwas dagegen hätten, angesehen zu
werden.
Aber
dieser
Zeitlupenblick
des
harmlosen
Zuschauers enerviert sie. Sie merken, daß bei mir nichts
‚dahinter‘ steckt.“ (1984, 97, 7)
Ein Bruder im Geiste ist W ILHELM GENAZINO. In seinem
neuesten Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001,
vgl. auch „Die Kassiererinnen“ 1998) - schickt GENAZINO
seinen
Helden,
der
sein
Geld
als
Probeläufer
für
Luxusschuhe verdient, flanierend durch die Stadt. Hier ist er
wieder, dieser von HESSEL her vertraute Sound: „Rechter
Hand liegt das große Autohaus Schmoller & Co. Jeden
Freitag um die Mittagszeit werden die großen Schau- und
Verkaufsräume des Autohauses gereinigt. Ein junger Mann
und eine junge Frau, vermutlich ein Ehepaar, ziehen große,
eimerförmige Staubsauger hinter sich her. Der Lärm der
beiden Staubsauger dringt bis auf die Straße hinaus. Ich
bleibe vor einem Schaufenster stehen und tue so, als würde
ich mich für neue Autos interessieren. Tatsächlich schaue
ich das Kind an, das die beiden Putzleute jedesmal
mitbringen. Es ist ein etwa siebenjähriges Mädchen, das
zwischen den Autos herumsteht und mit den Blicken nach
83
seiner Mutter sucht, die ganz in der Nähe und doch
unerreichbar
ist.
Eine
staubsaugende
Mutter
ist
so
abwesend wie der Tod. Die Mutter stößt das Saugrohr mit
der Bürste vorne dran immer wieder unter die Autos und
vermeidet
dabei
mit
dem
Kind
zusammenzutreffen.
Wahrscheinlich liebt den Staubsauger, weil das Gerät ihr
vortrefflich dabei hilft, unerreichbar zu sein.“ (26)
Das
Flanieren
gelingt
dem Erzähler nicht
mehr so
unbeschwert wie bisher, weil seine Freundin Lisa seine
Ungenügsamkeit („Ich besitze nur ein Sakko, einen Anzug,
zwei Hosen, vier Hemden und zwei Paar Schuhe“, 41) nicht
für ganz freiwillig hält und auszieht. Empfindlich gestört wird
sein Lebensstil zudem, weil die Gutachten, die er als
Schuhtester erstellt, nicht mehr mit 200 sondern nur noch
mit schnöden 50 DM vergütet werden.
In jeder Hinsicht absichtslos erfindet er ein Institut für
Gedächtniskunst und hat damit bei Frauen Erfolg, ebenso
absichtslos
findet
er
einen
Job
als
freiberuflicher
Kulturredakteur, und ebenso absichtslos geht er ein
Verhältnis mit einer alten Bekannten Susanne ein. (Auch die
Sexszenen, die er mit der Friseuse Margot und dann mit
Susanne, einer gescheiterten Schauspielerin hat, erinnern in
ihrer absichtslosen Hilflosigkeit und selbstgenügsamen
Komik an W OODY ALLEN.)
Eine Passage, in der der Held für eine vergleichende
Schuldwissenschaft plädiert, liest sich wie ein ironisches
Bekenntnis zum reflexiv gebrochenen Skeptizismus: „(W)ir
alle leben in Ordnungen, die wir nicht erfunden haben, wir
können nichts für diese Ordnungen, sie befremden uns. Sie
befremden uns deswegen, weil wir merken, daß wir mit der
Zeit die Schuld dieser Ordnungen übernehmen. Die
faschistische Ordnung bringt faschistische Schuld hervor,
die kommunistische Ordnung bringt kommunistische Schuld
hervor, die kapitalistische Ordnung bringt kapitalistische
84
Schuld hervor. – Ahh so! ruft Herr Auheimer, jetzt verstehe
ich Sie! Sie meinen, Schuld entsteht, wenn Menschen die
Systeme wechseln?! – Soweit kommt es bei den meisten ja
gar nicht, sage ich mit sinnloser Genauigkeit, es ist wie mit
der Liebe! Ich meine die gewöhnliche Schuld der Systeme,
die langsam in uns einwandert, indem wir schuldlos in
diesen
Ordnungen
zu
leben
meinen.
Alle
politische
Ordnungen wollen dasselbe, nämlich die Abschaffung des
Leids. Eben deswegen sind sie gar keine politischen
sondern phantastischen Bewegungen, verstehen Sie? Weil
man die Abschaffung des Leids nicht wirklich wollen kann! Und wo ist jetzt wieder die Schuld? fragt Herr Auheimer. –
Die Schuld entsteht, sage ich, weil wir das im Prinzip alle
wissen, aber trotzdem auf Leute hereinfallen, die uns ein
Leben ohne Leid vorgaukeln. – Ach so! ruft Frau Dornseif!
So meinen sie das! – Plötzlich reden alle am Tisch davon,
was sie einmal geglaubt haben und wie sie deswegen
schuldig geworden sind.“ (103)
Mit diesen Debatten gewinnt er, ohne es wirklich zu wollen,
das Herz von Susanne, die im Kern so melancholisch ist wie
er, ohne es allerdings zu wissen: „Die Materialkulte um sie
herum
(zuviel
Sinnsuche,
Klamotten,
zuviel
zuviel
Dekoration)
Unterhaltung,
deuten
eher
zuviel
auf
ein
Nichtwissen hin. – Du mußt dich trauen, langweilig zu sein,
sage ich. – Warum? – Es ist nicht möglich, die Langeweile
der Liebe auf Dauer zu leugnen. – Das kann ich mir nicht
leisten, sagt Susanne. – Was hindert dich? – Ich kämpfe
sowieso schon mein halbes Leben lang gegen die
Vorstellung, daß ich gar nicht da bin. – Die langweiligsten
Frauen bringen es am weitesten; ihre Liebe ist dauerhaft und
tief,
sage
ich."
(140)
Unterschwellig
mit
KUNDERA
kommunizierend, feiert GENAZINO – allerdings entschieden
leiser - nicht die Zellulitis, sondern das Doppelknie. „Siehst
du nicht, sagt Susanne, daß mir unterhalb der Knie noch ein
85
paar weitere Knie nachgewachsen sind? – Ich schweige und
betrachte Susannes Knie. – Am Anfang waren es nur
undeutliche, knollenartige Erhebungen, sagt Susanne, ich
habe geglaubt, die gehen nach einiger Zeit wieder weg. Von
wegen! Sie wurden größer und runden sich immer mehr, und
jetzt sieht es aus, als hätte ich an jedem Bein zwei Knie. Ich
habe Beine wie eine alte Frau! Susanne drückt an ihren
Beinen herum wie an kranken Körperteilen. Ich lege Hemd
und Hose ab und sage: Es gibt nur zwei wirkliche
Veränderungen beim Älterwerden; bei Männern werden die
Ohren länger, bei Frauen die Nasen. – Susanne lacht und
vergißt ihr Doppelknie, jedenfalls für den Augenblick.“ (141)
Dieser Roman ist der gültige Versuch zu erzählen, wie man
mit skeptischen Kunstgriffen das Leben halbwegs in den
Griff bekommen kann. Halbwegs. So wie bei WOODY ALLEN.
„Wir wissen nicht, ob es Gott gibt, aber es gibt Frauen“,
erläutert Harry Block, der – nomen est omen - unter einer
Schreibblockade leidet – seinem Sohn. Er ist, wie er später
selbst zu Papier bringt, „eine Figur, die zu neurotisch ist, um
im Leben zu funktionieren, die nur in der Kunst funktioniert.“
Wie häufig in ALLENS Filmen, so glaubt man auch in dem
Streifen ‚Harry ausser sich‘, englisch sehr viel treffender
‚Deconstructing Harry‘ (1997) getauft, einer öffentlichen
Beichte beizuwohnen, die letztlich in dem Geständnis
mündet, „Panik vor Nähe“ zu haben.
Der Film beginnt mit einer Idylle. Eine Barbecue-Party. Und
man ahnt: Diese Idylle kann, allein wegen des hysterischen
Geschnatters, nicht lange halten. Also geht eine der zwei
jungen Frauen nach innen um Martinis zu mixen (oder zu
schütteln), trifft dort auf ihren Schwager, der noch schnell
einen Homerun – guter Gag – im Fernsehen verfolgen will,
man küsst sich, er öffnet die Hose, sie hockt sich hin, er
schreit etwas nach draußen, seine Schwägerin erschrickt
sich, der Schwager hat jetzt wirklich Grund zum Schreien,
86
sie
wird
ermahnt,
technisch
sauberer
zu
arbeiten,
offensichtlich erfolgreich, denn sie treiben es vor dem
Fenster, werden von der blinden Oma überrascht, kommen
aber zum glücklichen Finale. Ein müder komischer Auftakt.
(Vgl. zur Komik bei ALLEN den Essay von VITTORIO HÖSLE,
2001)
In der zweiten Szene rauscht eine Frau in die Wohnung von
Harry Block (W OODY ALLEN) und macht eine riesige Szene.
„Ich werde dir die Kehle durchschneiden“, schreit sie mit wie
von Strom aufgeschreckten Haaren. „Du bist, glaube ich,
erregt“, antwortet Harry sehr gelassen. Der Grund für den
Auftritt: Harry hat in seinem jüngsten Roman genüsslich
seine Liebesbeziehungen ausgebreitet, dabei die Namen der
beteiligten Damen nur mühsam kaschiert: Lucy zu Leslie
oder Jane zu Janette verfremdet, und auch die Fellatio beim
Barbecue sehr plastisch beschrieben.
Als Zuschauer ist man irritiert: Die Szene, die hier lautstark
diskutiert wird, war im Film mit anderen Schauspielern
besetzt. Dann dämmert einem langsam das Prinzip. ALLEN
setzt in einer Art Zweitverwertung den göttlichen Einfall aus
‚A Purple Rose of Cairo‘ ein. Dort war ein Filmschauspieler
real geworden und aus der Leinwand geklettert, hier führen
die Figuren des Roman ein Eigenleben und wenden sich
sogar gegen den Autor. Filmtechnisch arbeitet ALLEN mit
Iterationen und mit dem hübschen Einfall, dass die Figuren
unscharf werden: Identitäten verschwimmen, sind nicht
länger randscharf – so die ironische Aufnahme einer These
aus
der
in
philosophischen
den
späten
Bewegung
Neunzigern
des
gefeierten
Dekonstruktivismus.
(Zunächst ist es Mel, ein Schauspieler, und einer von
mehreren alter egos von Harry im Film, der unscharf wird –
erste Anamnese der Ehefrau: Hast du etwas gegessen,
worauf du allergisch reagierst? - und damit zunehmend für
seine
Familie
eine
Belastung,
bis
die
bei
einem
87
Ophtalmologen Brillen verschrieben bekommen, um Gatte
und Vater wieder ungetrübt sehen zu können. Später im Film
ist es Harry selbst, dessen Identität mächtig verschwimmt.)
Harry gelingt es, seine Exschwägerin, er hat Frau und
Schwägerin
verlassen,
vor
zu
Jahren
beruhigen,
wegen
einer
indem
er
jüngeren
ihr
erzählt,
Frau
wie
unglücklich er sei. Eingeblendet werden Szenen aus den
ersten zwei Ehen. (Ein schöner Gag. Harry betrügt seine
erste Ehefrau mit einer chinesischen Hure in der Wohnung
eines Freundes, gibt sich als dieser Freund aus und kommt
in Erklärungsnöte, als der Tod klingelt und den Freund
abholen will.) In der zweiter Ehe ist er mit seiner Analytikerin
verheiratet, die urplötzlich zu orthodox-jüdischen Ritualen
zurück findet und diese in jeder Situation anwendet, auch
dann, wenn sie sich nächtens seiner erbarmt.
Zum Ende hin nimmt der Film noch einmal Fahrt auf. Gegen
den Willen seiner Exehefrau überredet Harry seinen Sohn,
ihn - zusammen mit einer Prostituierten und einem Freund zu einer Universitätsfeier zu seinen Ehren zu begleiten. Auf
dem Weg dort hin stirbt sein Freund im Auto - ein Zitat aus
dem JIM-JARMUSCH-Film ‚Night on Eath‘ – Harry wird wegen
Kindesentführung verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, vom
Ehemann seiner letzten Geliebten auf Kaution hin entlassen,
dann das Finale mit allen Figuren seiner Bücher.
Harrys
(ALLENS)
Lebenskunst
kommt
–
gleichsam
deconstruiert – im antiliberalen Furor seines orthodox
gesinnten Schwagers zum Durchbruch, Harry ist ein AntiEiferer
und
Werteverweigerer
(„Nihilismus,
Zynismus,
Sarkasmus, Orgasmus“), hübsch in einen Weisheitssatz für
Hollywood gepackt: „Wäre es nicht eine bessere Welt, wenn
nicht jede Gruppe glauben würde, sie hätte einen direkten
Draht zu Gott?“
Nirgends ein helles Glücksversprechen (der tote Freund sagt
einmal ironisch: „Wenn man lebt, ist man schon glücklich!“),
88
allenfalls der milde Imperativ, sein eigenes Leben zu leben
und eine Epoché den Glücksversprechen der Spaßgesellschaft
mit
ihren
teueren
Hobbys,
den
lauten
Maschinen (vgl. Celebrity – Schön, reich und berühmt, 1999)
und den überreizten Hormonen gegenüber einzulegen –
etwa, indem man Bücher schreibt.
In einer nur kurzen Sequenz behauptet eine Studentin, sie
deconstruiere die traurigen Charaktere der Bücher, die dann
fröhlich erscheinen. Das ist die ALLENSCHE Kunst der
Resignation:
Die
ewige
postkoitale
Melancholie
wird
aufgehellt von einem somatischen Weißmacher, dem
Lachen, das sich Bahn bricht gegen die Übersexualisierung
des eigenen Lebens und Oeuvres.
89
3.5 Hetärengespräche
Ein Gespräch am Pool zwischen Lisbeth, Susanna und
Jackie
L i s b e t h: Sonnenbrillentester. Das ist keine
Berufsbezeichnung. Das ist ein Psychogramm. Ich fand ihn
zunächst ganz witzig. Aber eigentlich war er praktisch immer
in Pension. Ein Frührentner ohne sichtbare Gebrechen.
Leider
krankenschein-
und
rentenuntauglich.
Er
war
eigentlich stinkefaul und hatte immer Angst, er könnte sich
verheben. Früher hat er unbedeutendes Geschreibsel bei
unserer mickrigen Heimatzeitung abgeliefert. Aber das war
ihm dann plötzlich auch zu anstrengend. Er wollte sich mit
Geld in keiner Weise kontaminieren. Ich hob das Geld ab
und er bediente sich dann. Sponsering fürs Nichtstun. Heute
wundere ich mich, wie ich das so lange durchgehalten habe,
aber ich war eben selbst mit den Nerven fertig und habe
mich einfach nicht aufgerafft. Nett war er ja. Und, wie
gesagt, ganz witzig. Aber so ohne Mumm. Ich brauchte
jemanden, an dem ich mich aufrichten konnte.
J a c k i e: Aufrichten konnte man sich an Harvey weißgott
auch nicht. Harvey war nie ausser sich. Nervös, ja.
Neurotisch, ja. Aber nie hysterisch. Selbst als ich mit einem
Messer bei ihm aufgekreuzt bin und dem Hurensohn die
Hölle heiß gemacht habe, schaffte er es, dass man mit ihm
schließlich Mitleid hatte. Dabei fühlte ich mich wie eine
verschlissene zweite Garnitur. Gut. Unsere Beziehung hatte
längst das Verfallsdatum überschritten, aber dass er mit
einer billigen Studententussi durchgebrannt war und dann
90
alles in einer peinlichen Beichte in Romanform ausbreitete,
hat mich innerlich total getroffen. Eine Treuemedaille wollte
ich mir wirklich nicht verdienen. Aber. Nur zwei Dinge
beschäftigten Harvey: Wie überwinde ich meine postkoitale
Melancholie und wie finde ich schnell wieder hinein. Rein.
Raus. Rein. Raus. Fertig.
S u s a n n a: Also, ihr werdet mich wahrscheinlich steinigen,
aber – ich finde meinen neuen Mann wirklich entstressend.
Lisbeth, vielleicht lag es bei dir daran, dass du wegen deiner
Frühberentung
–
mit
schwerstpubertierenden
Kindern
arbeiten zu müssen, stelle ich mir in der Tat wahnsinnig
nervend vor – eine andere Ablenkung gebraucht hast. Das
musste zu Konflikten führen. Ich aber finde das Leben mit
ihm sehr leicht. Unerhört leicht. Er akzeptiert sogar meine
materialermüdeten Brüste. Alles bleibt bei ihm in einer so
herrlichen Schwebe. Er ist das Gegenteil eines Bornierten.
Revolutionen kann man mit ihm nicht machen. Das nicht.
Der wäre wie Godot. Auf ihn würde man warten, bis man
schwarz ist. Er sagt auch nie ‚Ich liebe dich‘, sondern ‚Es ist
gut so‘.
J a c k i e: Und ihr langweilt euch nie? Sprichst du vom
Glück oder vom Koma?
S u s a n n a: Macht euch nur lustig. Bei uns gibt es keinen
Kampf um die Fernbedienung.
J a c k i e: Klingt wirklich aufregend.
S u s a n n a: Ein mentaler Pazifist kann durchaus witzig
sein. Ehrlich.
91
4. Das Glück der Harmonie
4.1 Heroengespräche
Kleines Werbegespräch des PAULUS mit dem Stoiker
KLEANTHES
VON
ATHEN,
dem Skeptiker KARNEADOS
DEM
KLEINEN und dem Epikureer HERMACH VON PITANE.
K l e a n t e s: (leise zu Karneados) Was für ein Lotterbube.
Wie ungepflegt sein Bart ist. Und dann diese hitzige Art der
Rede. Er hat Schaum vor dem Mund, als wolle er Polygnot
für ein Reiterbild Modell stehen.
H e r m a c h: (lacht) Er wird noch die Jugend verführen wie
weiland Sokrates.
K a r n e a d o s: Ich hätte nicht wenig Lust, diesen
mürrischen Kerl an seinem Bart hinaus zu schleifen.
K l e a n t e s: Mich wundert, dass die Vielen ihm
nachlaufen. Lasst uns hören, womit er sich und uns so
abquält. Vielleicht will er uns neue Götter verkündigen.
H e r m a c h: Neuigkeiten, ich bin ganz versessen auf
Neuigkeiten. (Sie gehen zu Paulus). Hör guter Mann, den
die Vielen Paulus von Tarsus nennen, sag uns doch dies:
Was lehrst du die Vielen?
P a u l u s: Ihr Männer von Athen. Ich sehe, dass ihr in allen
Stücken
gar
sehr
die
Götter
fürchtet.
Ich
bin
herdurchgegangen und habe gesehen eure Gottesdienste
und fand einen Altar, darauf stand geschrieben: Dem
unbekannten Gott. Nun verkünde ich euch diesen, dem ihr
unwissend Gottesdienst tut. Gott, der die Welt gemacht hat
und alles, was darinnen ist, er, der ein Herr ist Himmels und
der Erde, wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht; sein
wird auch nicht von Menschenhänden gepflegt, als der
jemands bedürfe, so er selber jedermann Leben und Odem
92
allenthalben gibt. Und er hat gemacht, dass von einem Blut
aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden
wohnen, und hat Ziel gesetzt und vorgesehen, wie lange und
wie weit sie wohnen sollen; dass sie den Herrn suchen
sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und
führwahr, er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns.
Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch etliche
Poeten bei gesagt haben: „Wir sind seines Geschlechts.“
K a r n e a d o s: (leise zu Kleanthes) Sieh an! Er hat deinen
Namenspatron studiert. Er schmeichelt dir als Stoiker. Von
seiner äußeren Erscheinung her, hätte ich ihn eher zu
Hermach gerechnet.
P a u l u s: So wir denn göttlichen Geschlechts sind, sollen
wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen,
silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst
und Gedanken gemacht. Und zwar hat Gott die Zeit der
Unwissenheit übersehen; nun aber gebietet er allen
Menschen an allen Enden, Buße zu tun, darum, dass er
einen Tag gesetzt hat, an welchem er richten will den Kreis
des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den ich
euch als Gekreuzigten vor Augen male, und in welchem er’s
beschlossen hat und jedermann vorhält den Glauben,
nachdem er ihn von den Toten auferweckt.
H e r m a c h: Was soll man nun dazu sagen. Er hat wohl
nicht Demokrit studiert, andernfalls wüsste er, wie unsinnig
es ist, von einer Auferstehung der Atome zu schwätzen.
K a r n e a d o s: Vielleicht irrt Demokrit, vielleicht irrt er
nicht. Aber sein Griechisch ist wahrlich schauderhaft. Komm,
lieber Kleanthes, wir gehen.
K l e a n t h e s: Geht nur voran, ich will noch kurz verweilen.
93
4.1 Zeugen im Hässlichen ?
PAULUS, Beruf: Zeltmacher, Eigenschaften: frauenfeindlich,
leibfeindlich, weltverachtend – die Liste der Vorurteile ist
lang. Seine ikonographischen Merkmale: langes, kahles
Gesicht mit langem Bart wie ein leibhaftiges Ausrufezeichen
haben die Sympathiewerte stets auf niedrigem Niveau
belassen. Bevor ich ihn als Theologe näher kennen lernte,
erinnerte ich ihn nur als miserablen Reiter auf dem Bild von
CARAVAGGIO. Inzwischen schätze ich ihn als klugen Kritiker
der Philosophie seiner Umwelt, getreu seinem eklektischen
Leitsatz: „Prüfet alles und behaltet das Gute.“ (Thess 5,21)
Die Areopagrede des PAULUS, die die Apostelgeschichte
tradiert, verrät eine gründliche Kenntnis der pharisäischen
(ob PAULUS bei dem führenden Pharisäer GAMALIEL I
studierte, ist ungewiss) und vor allem der hellenistischen
Tradition, denn PAULUS zitiert an entscheidender Stelle den
Stoiker KLEANTHES: „Wir sind seines Geschlechts“. Die
Vereinnahmung der Stoa geht mit einer Denunzierung des
Epikureeismus einher: Auferstehung und Gericht sind
Vorstellungen,
Aufnahme
die
der
DEMOKRITS)
Gründervater
früh
und
für
EPIKUR
ihn
(in
der
entlastend
verabschiedet hat. Ebenso eindeutig ist das Verhältnis zu
den Skeptikern zu beschreiben: PAULUS beruft sich auf eine
Offenbarung, die Gewissheit verleiht. Besonders markant
aber positioniert er sich in ein Gegenüber zur platonischen
Tradition: „Im Häßlichen will er niemals zeugen“, heißt es im
Symposion bei PLATON. Und genau das tut PAULUS, wenn er
in den Briefen den Gekreuzigten, also den geschundenen
und dreckigen Körper vor Augen malt (prosegrafein, Gal
3,1). Zwar spricht PAULUS vom auferweckten Gekreuzigten,
aber namentlich gegen die korinthische Gemeinde (1 Kor
2,2) korrigiert er die einseitige Spekulation über die
94
Herrlichkeit des Auferstandenen durch den Nachdruck auf
das Kreuz und auf seine eigene, machtlose Erscheinung:
„Zudem kam ich in Schwäche und in Furcht, zitternd und
bebend zu euch“ (2,3).
PAULUS beansprucht in seinen Briefen, was der platonische
SOKRATES glaubte nicht leisten zu können, nämlich Einsicht
zu zeugen: „Meine lieben Kinder, welche ich abermals mit
Ängsten gebäre, bis daß Christus in Euch Gestalt gewinne“
(Gal 4,19), oder 1 Kor 4,15: „denn ich habe Euch gezeugt in
Christus Jesus durchs Evangelium.“
Die oft gemutmaßte Leibfeindlichkeit des PAULUS hängt mit
diesem Paradigmenwechsel vom Schönen zum Hässlichen
zusammen, ein Paradigmenwechsel, der zu einer ganz
anderen Wahrnehmung der Leiblichkeit und tätiger Diakonie
führte, die, glaubt man POHLENZ, für den Untergang der Stoa
und der Akademie nicht unerheblich war. Und die eifrig
vorgetragene und denunzierte Weltflüchtigkeit des PAULUS
ist nicht (nur), wie immer wieder behauptet wird, eine
Konsequenz der Naherwartung (diese Lesart trifft weit eher
auf die Frage der latenten Frauenfeindlichkeit zu, das
sogenannte Schweigegebot der Frau in der Gemeinde ist
übrigens ein nachpaulinischer Einschub), sondern rekurriert
auf das asketische Selbstverständnis des JESUS
VON
NAZARET, der die Autarkie der Kyniker durch die Idee der
Gottesherrschaft umcodierte. Antiplatonisch ist auch die
Hochschätzung
Augenzeugen
der
(zu
Schriftlichkeit,
denen
PAULUS
Präsenzerfahrung des JESUS
VON
die
selbst
den
zählt)
Nichteine
NAZARET erlaubt. Das
geschieht durch die lese-strategische Einsetzung einer
semantischen
Anagnorisis
Doppelbedeutung
als
‚lesen‘
und
der
griechischen
‚wiedererkennen‘.
(Dazu
ausführlich meine Ästhetische Theologie, Bd 1., 2000.)
Schwieriger ist das Verhältnis zur Lebenskunst und
Glücksfrage zu bestimmen, die für (beinahe) alle antiken
95
Schulen
in
der
Ataraxie
(Apathie)
kulminierte.
Am
markantesten ist der Abstand zu den Skeptikern. Skeptiker
sind (wie gesagt: das macht sie extrem sympathisch) AntiEiferer.
SEXTUS
sagt
in
seiner
Schrift
‚Adversus
Mathematicos‘ unzweideutig: „Alle Unglückseligkeit entsteht
durch irgendeine Beunruhigung. Alle Beunruhigung aber
begeleitet die Menschen entweder durch das eifrige
(suntonos) Verfolgen bestimmter Dinge oder durch das
eifrige Meiden bestimmter Dinge. Alle Menschen nun
verfolgen mit Eifer das von ihnen vermeinte Gute und
meiden
das
angebliche
Übel.
Also
entsteht
alle
Unglückseligkeit durch das Verfolgen des Guten als Guten
und das Meiden des Übels als Übel.“ (31999, 34)
Nach eigenem Bekunden war SAULUS-PAULUS zunächst ein
Eiferer (zélotés) in der Verfolgung der Christen (Gal 1,14),
bis er in der Berufungsszene vor Damaskus (ca. 33) vom
Pferd fiel
- nach Apg 22 ist es ein gleißendes Licht
gewesen, das ihm die Offenbarung ermöglichte, in 1 Kor 9,1
behauptet er, der Auferstandene sei ihm selbst begegnet.
Nach dieser für ihn be-stürzenden Krise, macht er in den
Diasporagemeinden
in
Damaskus
und
Antiochia
Erfahrungen mit einem gesetzesfreien Christentum und
brachte ab ca. 50 mit dem 1 Thessalonicher-Brief eine
reiche Briefliteratur – zumeist Gelegenheitsschriften - auf
den Weg. In (allerdings spärlichen Belegen) wird von PAULUS
der Eifer für das Gesetz dem Eifer für die geistigen Gaben
entgegengesetzt (1 Kor 14,1).
Häufiger positiv besetzt ist ‚Eifer‘ bei den Stoikern, etwa bei
EPIKTET. Hier bietet die Logoslehre Anschlüsse. Auch der
apokryphe Briefwechsel zwischen SENECA und PAULUS
deutet die Mission als vom Logos verliehene Kraft. (1964,
87) Und doch täuscht der fingierte Briefwechsel, der die
sittlichen
Ermahnungen
der
Briefe
lobt,
über
einen
gravierenden Unterschied hinweg. Nirgends bei PAULUS
96
tauchen die zentralen Begriffe der Apathie oder Ataraxie auf.
Um es plakativ zu formulieren: Das Christentum kennt keine
Lebenskunst, weil das gerechtfertigte Leben ‚in Christus‘
(Gal 5,17), das eine grundsätzliche Entlastung von sittlichen
Überforderungen einschließt, sich der geschenkten Liebe,
als der Gnade verdankt und sich in Geistgaben, etwa der
Diakonie oder vielleicht allgemeiner: in nicht selbstsüchtigem
Handlungen bewährt. Die mentale Verfassung liest sich so:
Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue,
Sanftmut und Selbstbeherrschung (Gal 5, 22f.). Der Katalog
der sogenannten ‚Werke des Fleisches‘ (unter Fleisch
versteht
PAULUS
verzeichnet:
immer
Feindschaft,
die
natürliche
Streit,
Lebensform)
Eifersucht,
Eigennutz,
Spaltungen, Neid, Zorn, Mißgunst (vgl. Gal 5, 19f.), ein
Katalog, der durchaus den Tugendkatalogen seiner Umwelt
entspricht.
Wirklich
neu
ist
die
Begründungsleistung:
Zunächst wird das Sein in Christus thematisiert, dann folgt
die sittliche Ermahnung. Diese Zuordnung von Indikativ und
Imperativ ist unvergleichlich: Der Christ ist erlöst, muss aber
den Spielraum dieser Erlösung im konkreten Alltag durchaus
eigenverantwortlich umsetzen. (Zu PAULUS vgl. SANDERS,
Stuttgart 1995; eine ausgezeichnete „Kleine Theologie des
Neuen Testaments“ bietet PORSCH 1995.)
Wären nur die Briefe des PAULUS überliefert, dann bliebe
rätselhaft, wie die ‚Neuschöpfung in Christus‘ geschieht, die
sich in einer lebendigen Erfahrungswirklichkeit doch auch
irgendwie
zeigen
und
ausweisen
muss.
Durchaus
konsequent, wenn die Bibel die vier Evangelien, die
späteren Datums als die Briefe sind, an den Anfang
platzierte. Nur so ist es nämlich möglich, dass auch spätere
Leser Erfahrungen mit der Gestalt des Zimmermanns JESUS
VON
NAZARET (THEIßEN, MERZ 1996, THEIßEN 141999) machen
können. Die literarischen Porträts der Urschriftsteller bieten
zugleich einen sehr viel größeren – auch theologischen 97
Focus als die Briefe des PAULUS. Namentlich LUKAS ergänzt
das paulinische Zeugen im Hässlichen durch die Freude und
Schönheit des Weihnachtsevangeliums. Das Christentum
hat also beides: Ein Zeugen im Schönen und im Hässlichen.
Nochmals: Theologische Sympathisanten PLATONS wie
SCHLEIERMACHER legen gerne den Nachdruck auf das
Weihnachtsgeschehen,
weniger
stark
auf
das
Kreuzigungsgeschehen. Das geschieht unterschwellig aus
einer
Abwehrhaltung
einer
hoch
problematischen
Sühnetodchristologie gegenüber, die mit dem Namen
PAULUS verbunden ist. Nun ist es durchaus möglich, den
Gedanken des Zeugen im Hässlichen, der mir zunehmend
wichtiger
wird,
aufzunehmen,
ohne
eine
alte
Sühnetodtheologie mit einzukaufen. (Allerdings: Es gibt
nachdenkenswerte
Versuche,
im
Anschluss
an
die
Überlegungen des Literaturwissenschaftlers RENÉ GIRARD
das Sündenbockritual 1988 auf seine gewalteindämmende
Macht hin zu thematisieren. Ein religiöser Opfertod für die
Gegenwart ist, wenn der Sündenbockmechanismus mit
Jesus ein- für allemal umcodiert worden ist, nicht mehr
möglich, eine für die aktuelle Situation mehr als interessante
Lesart.)
Im Rekurs auf die Miniaturdramen des JESUS
VON
NAZARET,
vulgo: seine Gleichnisse, lässt sich verständlich machen, wie
die Neuschöpfung real erfahrbar wird. JESUS selbst hat
nichts Schriftliches hinterlassen und nur einmal – exakt wie
SOKRATES
–
etwas
in
den
Sand
geschrieben
oder
gezeichnet, aber seine Gleichnisse, deren Urgestalten
neutestamentliche Forschung bravourös herausgeschält hat,
sind
gleichsam
Selbstporträt
ein
seiner
Selbstabdruck,
Lebensform.
ein
Sie
literarisches
kreisen
im
semantischen Spiel von Nähe (als Nähe des Himmelreichs)
und Nächster.
98
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, das mir das
wichtigste zu sein scheint, zeigt, wie die Nächstenliebe als
Imperativ sich einem Indikativ verdankt. Dazu bedarf es
einer textlich inszenierten Offenbarung, genauer: einer
Wahrnehmung oder einem Verstehen des Anderen als
jemandem, dem ich immer schon verbunden bin, also: dem
Nächsten. Das Gleichnis zeigt an einem verdreckten, mit
Verlaub:
verschissenen
und
halbtot
geschlagenen
Menschen – wiederum ein Zeugen im Hässlichen - , wie
dieses Verstehen geschieht: Im Unterschied zu den
Kultvertretern des Leviten und Priesters erbarmt sich der
‚unreine‘ Samariter über den Halbtoten. Aber erst als der
Pharisäer, der die Frage nach dem Nächsten Jesus gestellt
hat und als Antwort die Geschichte vom Barmherzigen
Samariter hört, genötigt wird, sich mit dem Sterbenden
spielerisch zu identifizieren, also: sich selbst zu entsockeln,
weiß
er,
wer
wem
zum
Nächsten
geworden
ist.
Unzweideutig.
Die Pointe ist eine doppelte: Die Vertreter der Kultklassen
nehmen
den
Menschen
durch
eine
kultische,
von
Reinheitsgeboten verdunkelte Optik wahr und verfehlen
damit die Erfahrung einer ursprünglichen Verbundenheit
zwischen den Menschen. Erst als der Pharisäer sich mit
dem Sterbenden identifiziert, erfährt er sich als vom
Samariter, den die Juden mit mehr als Argwohn begegneten,
geliebt. Zweitens spielt das Miniaturdrama mit einer
Doppelbedeutung von Barmherzigkeit: Barmherzigkeit meint
1. Eingeweide (zumeist eines Opfertieres); Mutterschoß; 2.
übertragen: Blutverwandte, das eigene Fleisch und Blut; das
Innere, Herz, Gemüt. Zwar ist die Bedeutungskraft dieses
Wortes arg verschlissen, es dürfte aber die Urmetapher des
Christentums sein. Das Glück ist also die Heilung der
Zerrissenheit zwischen den Menschen.
99
RUDOLF BULTMANN hat in seinem Aufsatz „Das christliche
Gebot der Nächstenliebe“
(1966, 229f) sehr scharfsinnig
Griechentum und Christentum voneinander abgegrenzt.
(Leider
aber
eine
Konkretion
unterlassen.)
„Das
Griechentum faßt (...) das Verhältnis von Mensch zu
Mensch, sofern es unter einem Sollen steht, unter dem
Gesichtspunkt der paideia, der Bildung und Erziehung auf.
Der andere ist nicht mein ‚Nächster‘, sondern er steht wie ich
unter der Forderung der Idee.“ (232f.) Ganz anders die Liebe
im Christentum. „Die Liebe ist nicht und enthält nicht einen
zu realisierenden Wert; sie ist vielmehr ein ganz bestimmtes
Verstehen der Verbundenheit von Ich und Du und zwar nicht
ein theoretisches, sondern ein praktisch-geschichtliches
Verstehen, und so entdeckt sie das Was des Handelns, leitet
so entdeckend den Vollzug der Handlung. (...) Liebe ist also,
formal charakterisiert, ein von einem bestimmten (nämlich
liebenden) Verstehen der Verbundenheit von Ich und Du
geleitetes Tun.“ (235) Liebe ist also nicht ein ethisches
Prinzip,
das
im
Sinne
eines
humanistischen
Ideals
Anleitungen zur Lebensführung bietet. Als „Umkehrung der
Lebensrichtung des natürlichen Menschen“ (238), der auf
eine Durchsetzung seiner Ziele dem anderen Menschen
gegenüber beharrt, macht der Mensch die Erfahrung, dass
Liebe eine Wirklichkeit ist, in der er sich als Geliebter immer
schon vorfindet. Sagt BULTMANN, diese Liebe sei nur dem
Glauben sichtbar (241), dann darf man dekonstruierend
sagen, dass dieser ‚Glaube‘ nichts anderes meint als eine
Erfahrung, die der Text inszeniert. Leben in Christus meint,
den anderen Menschen als Blutsverwandten zu erkennen.
Das ist der Indikativ. Der Imperativ folgt zugleich.
Die dem Indikativ sich verdankende Lebensform drückt sich
in spezifischen Gesten aus, die in unserer Kultur sehr
wesentlich
durch
die
Passionsgestik
bestimmt
ist,
100
gleichberechtigt aber gehören die Gesten der Fröhlichkeit
zum Kanon dazu.
101
4.3 Die Kunst der Nähe
Eine
Cover-Version
dieser
ursprünglichen
jesuanisch-
paulinischen Einsicht ist auf den ersten Blick mit besonders
gewichtigen Problemen beschwert. Man muss nur zwei
Stichworte abrufen, um die Schwerkraft zu benennen, die zu
stemmen ist: Spaß- oder Erlebnisgesellschaft und Ende der
Gutenberg-Galaxie. Anders gefragt: Lassen sich überhaupt
Symbolisierungen des Glücks als Erfahrungen einer tiefen
Verbundenheit zwischen den Menschen und damit, da wir
göttlichen Geschlechts sind, zwischen Menschen und Gott in
der Gegenwart machen? Sind wir nicht erfolgsorientierte
Glücksritter und Glücksoptimierer in der ökonomisch und
medial
gesteuerten
Erlebnisindustrie?
Wird
eine
Lebensstilbildung, die, wie im Christentum, im Medium der
Schrift und der schriftvermittelten Erfahrung verortet ist, nach
der Ablösung des Leitmediums Schrift und Lektüre durch
audiovisuelle Medien nicht letztlich atopisch?
Zunächst zum Aufwärmen: Die soziokulturelle Signatur der
Gegenwart ist mit den traditionalen Gesellschaften in der Tat
nicht mehr zu vergleichen. Unbestritten ist, dass es dank der
Enttraditionalisierung und funktionalen Differenzierung der
Gesellschaft größere Freiheitsspielräume gibt. Durch die
Mobilität und Flexibilität alltäglicher Lebensvollzüge, durch
die Entstandardisierung der eigenen Biographie, ist der
Einzelne freigesetzt, Arbeit, Lebensform und Religion freier
zu wählen, als das anderen Generationen möglich war.
Glaubt man dem Soziologen GERHARD SCHULZE, dann ist der
horizontbildende
Spielraum
für
die
eigene
Lebens-
orientierung die Erlebnisgesellschaft (31993). Weil die
Bindungswirkung
von
bisher
kollektiv
verbindlichen
Sinndeutungsangeboten abnimmt, muss das Individuum
dem kategorischen Imperativ des ‚Erlebe dein Leben‘ gemäß
alles auf die sogenannte ‚Innenorientierung‘ umstellen:
102
Glück verspricht, was eine innere Wirkung, also Erlebnis und
damit Spaß verspricht. Mit dieser Innenorientierung ist
durchaus kein reiner Autismus verbunden, vielmehr wählt
das Individuum ganz nach Gusto temporäre Erlebnisgemeinschaften aus, die entsprechende Events verstärken,
etwa die Love-Parade oder das Formel 1-Rennen oder
Straßen-Happenings.
Aufgabe
der
Gesellschaft
ist
es,
Wahlmöglichkeiten
anzubieten, die die Glücksversprechen einlösen. Allerdings
sind die Angebote, wie SCHULZE in seinem neuen Buch
‚Kulissen
des
Glücks‘
Orientierungsleistungen,
(1999)
weil
die
zeigt,
ohne
Angebote
gültige
Erlebnisse
schematisieren, also vereinheitlichen, die der Rezipient nur
aufgrund der bereits vertrauten Erlebnisse auswählt. Dieser
‚Kreislauf des Subjektiven‘ wird exemplarisch an der
Lachkultur der neunziger Jahre aufgezeigt: Die Comedy
setzt dem Zuschauer vor, was er komisch findet, um
möglichst schnell entsprechende Erlebnisse auszulösen.
(Die große Bedeutung, die der Skeptiker, wie gesehen, noch
dem Lachen zuspricht, wird von SCHULZE kulturkritisch
hinterfragt.) In seinen ‚Streifzügen durch die Eventkultur‘
untersucht SCHULZE die Routinen folkloristischer Schemata,
die die Medien den Zuschauern aufnötigen. Das Ergebnis ist
eine bombastische Selbstbefriedigungsmaschinerie: Das
Individuum ist Definitionsinstanz für den eigenen Lebenssinn
und die medial vermittelte Kultur macht ihm Angebote, seine
Vorlieben möglichst umstandslos zu befriedigen – die freilich
auf die Dauer (postcoital) ermüden.
SCHULZE unterlegt seinen soziologischen Befund mit einem
sehr kritischen Unterton, klagt gegen den ‚Kreislauf des
Subjektiven‘ Momente des Objektiven ein und plädiert für ein
‚eigensinniges‘ Subjekt. Diese Analysen drängen eine
theologische Interpretation förmlich auf.
103
Religiöse Glückserfahrungen orientieren sich, wie gesehen,
im Gegenentwurf zur Innenorientierung. Gesucht werden
also Erlebnisse, die nicht den schnellen Erlebniskick
versprechen, sondern entlastend ein Geliebt-werden von
Außen
erfahrbar
machen.
Das
Eigensinnige
des
Christentums besteht nun darin, diese Glückserfahrungen
auch am Hässlichen inszenieren zu können, am Leiden, am
Tod, an der Krankheit.
Wie aber soll diese Erfahrung heute gemacht werden, wenn
das Christentum diese Erfahrung am Leseakt festmacht,
Lesekultur aber nur noch eine Kultur der Eliten ist?
Ich verschreibe an dieser Stelle eine antiapokalyptische
Wundsalbe – bitte dick auftragen! (Siehe Beilagenzettel!)
Zwar ist das Buch nicht mehr Leitmedium – das Buch ist in
der Tat durch die audiovisuellen Medien vom ersten Platz
verdrängt worden -, aber es verschwindet nicht. Zudem ist
eine zunächst buchschriftlich vermittelte Erfahrung durchaus
in
andere
Medien
übersetzbar.
Vielleicht
sind
die
Miniaturdramen der jesuanischen Gleichnisse und die darin
gespeicherten Stoffe im audiovisuellen Medium sogar
besser zu inszenieren als im Medium der Schriftlichkeit.
Gegen SCHULZES Generalverdikt den Medien gegenüber, ist
durchaus
etwas
mehr
Gnädigkeit
angemessen.
Der
folkloristische Verblendungszusammenhang ist nicht ganz
so eng, wie SCHULZE argwöhnt. Es gibt, sogar in Hollywood,
ganz ausgezeichnete Verdichtungen von Erfahrungen, die
diese liebende Verbundenheit der Menschen erfahrbar
machen. Nicht nur im europäischen Autorenfilm, auch in
Hollywood, produziert man Filme, die ein Nachdenken über
den eigenen Lebensentwurf in Gang setzen, sofern man sich
spielerisch mit den Helden der Filme (oder auch der VideoHelden) identifiziert.
Mir ist dieser Gedanke sehr wichtig. Die durch die neue
Signatur der Gesellschaft geschaffenen Spielräume werden,
104
so darf man vermuten, oft (auch) als Bedrohung erfahren
und bleiben häufig ungenutzt. Die Überforderung, die die
Innenorientierung hervorruft, ist immens. Nur eine kleine
kulturelle Elite wird in der Lage sein, eine PatchworkIdentität glücklich zu leben. Die Vielen werden auf personale
Orientierungen angewiesen sein. Ich schlage deshalb vor,
diese personalen Orientierungen mit einem alten Wort zu
benennen: Legenden.
Vereinfachend gesagt sind Legenden das Gegenmodell zur
folkloristischen Schematisierung:
Legenden produzieren
durch ihr – traditionell ‚heilig‘ genanntes - Auftreten eine
Distanz zum Alltagshandeln und stehen immer im Konflikt
mit den gesellschaftlichen Routinen. Relevant wird das
Handeln dieser Legenden für die Zuschauer, wenn es
gelingt, deren Biographie zu unterstützen. (Vgl. zum Thema
Legende ECKER 1993.)
Mich
interessieren
selbstredend
Legenden,
die
die
besprochene entlastende Erfahrung transportieren, also
charismatische Nachbildungen der Legende sind, die das
Neue
Testament
tradiert.
(Es
gibt
auch
andere
legendarische Angebote, die Strenge und Kälte verkörpern
und
das
Fragmentarische
und
Unvollkommene
des
Menschen nicht als Eigenwert wahrnehmen.) Die gesuchten
Legenden
können
Marius
Müller-Westernhagen
oder
Madonna, Forrest Gump (Tom Hanks) oder Truman Burbank
(Jim Carrey) heißen, reichen von ‚Schlaflos in Seattle‘ über
‚Dancer in the Dark‘ bis ‚Das Leben ist schön‘. Diese
legendarischen
Figuren
erlauben
eine
Erfahrung
der
Präsenz des Heiligen, die eine Neuorientierung möglich
macht. (Dass Theologie im Kino die inszenierte Religion
aufsuchen muss, wird Theologen alter Schule vielleicht
etwas ratlos machen. Das aber ist der Preis, den derjenigen
zahlen muss, der akzeptiert, dass Religion sich aus der
Vormundschaft der Theologie befreit hat.)
105
Kulturkritiker mögen argwöhnen, dass die Popikonen von
MTV oder Hollywood Inhalte annektieren und schnöde
ausbeuten, um letztlich doch nur dem Gott des Geldes zu
opfern. Gemach. Es gibt eine Intrige medialer Inszenierung,
die im ökonomischen Kalkül nicht eindimensional aufgeht.
Natürlich. Von Jesus von Nazaret durfte man erwarten, dass
er die Geschichten, die er erzählt hatte, auch wirklich lebte.
Vergleichbares von den Stars zu fordern, die die Legenden
verkörpern, käme einer sehr unchristlichen Überforderung
gleich. Es gibt aber auch keinen Grund, den Stars eine
zumindest
partielle
Indentifizierung
mit der
Rolle
zu
unterstellen. Aber dieser Vorbehalt ist zweitrangig. Auch die
Figuren der Gleichnisse sind fiktive Gestalten, die zu einer
spielerischen Identifikation mit der Figur einladen.
Aufgabe der Theologie ist es, diese legendarischen
Angebote als immer noch wirkungsmächtiges Element der
Überlieferungsgeschichte des Christentums zu entdecken
und im Kontext der konkreten Kultur auszulegen. Diese
Theologie ist als Kunst der Wahrnehmung (Wahrnehmung in
der griechischen Bedeutung als aisthesis) eine ästhetische
Theologie, die die Aufmerksamkeit auf jene Gesten und
Szenen
lenkt,
in
denen
sich
ausdrückt,
was
der
Innenorientierung eher unangenehm ist. Damit ist aber
gerade jene kritische wie auch konstruktive Distanz zur
folkloristischen Welt bezeichnet, die für das christliche
Glücksverständnis
eigentümlich
ist.
Glück
meint
eine
eigentümliche, durchaus gelassene Form der Freiheit, die
eine ursprüngliche Verbundenheit mit den Menschen und
Gott voraussetzt und als Geliebt-werden eine Entlastung
schafft,
die
die
Energie
liefert,
jene
Gesten
und
Symbolisierungen im Alltag zu wählen, in denen die Güte
Gestalt gewinnt. Eine ästhetische Theologie legt allen
Nachdruck auf die Wahrnehmungen und Inszenierungen
106
dieser Glückserfahrungen, um entsprechend die eigene
Lebensführung zu konkretisieren.
Nochmals: Damit ist nicht behauptet, dass es Freiheit und
Glück in anderen Lebensdeutungen nicht gibt. Aber die
Eigensinnigkeit des Christentums liegt in einer doppelten
Entlastung, zunächst in der Entlastung vom Wellness- und
Schönheitsterror, in der Akzeptanz der Fragmentarität und
Hässlichkeit menschlichen Lebens, sodann in der Entlastung
von Anstrengungen, das Glück aus eigener Kraft auf den
Weg zu bringen.
Und das ist auch gut so.
107
4.4 Bin ich empfindsam?
Der
Chronist
Landvermesser
der
der
Mittelgewichts-Ehen
zerklüfteten
religiösen
und
der
Landschaft
Amerikas, JOHN UPDIKE, beginnt seine Familiensaga „Gott
und die Wilmots“ mit der Geschichte eines Pfarrers, der zu
Beginn unseres Jahrhunderts plötzlich fühlt, wie sein Glaube
endgültig und deutlich hörbar entweicht: „Reverend Clarence
Arthur Wilmot im Pfarrhaus der Vierten Presbyterianischen
Kirche unten an der Ecke Straight Street und Broadway
(spürte), wie die letzten Reste seines Glaubens ihn
verließen. Es war eine sehr deutliche Empfindung - ein
Kapitulieren in den Eingeweiden, eine Hand voll dunkler
funkelnder Luftbläschen, die nach oben entwichen. Er war
ein großer schmalbrüstiger Mann von vierundvierzig Jahren,
mit herabhängendem sandfarbenen Schnurrbart und einem
gewissen Nachglühen maskuliner Schönheit, trotz des
vagen Ausdrucks eines schleichenden Unwohlseins. Er
stand im Augenblick, da er den vernichtenden Stich empfing,
im Erdgeschoss des Pfarrhauses und überlegte, ob er in
Anbetracht der Hitze den Rock aus schwarzem Serge
ablegen sollte. (...) Clarences Geist war ein vielbeiniges,
flügelloses Insekt, das lange und mühselig versucht hatte,
an
den
glatten
Wänden
eines
Porzellanbeckens
hinaufzuklettern, und jetzt spülte ein jäher unwirscher
Wasserstrahl es in den Abfluss hinunter. Es gibt keinen
Gott.“ (15f.)
Clarences Bücher erweisen sich in seinem Glaubenskampf
nur als papierene Schilder gegen die glühend heißen
Wahrheiten der harten Wissenschaften und als trostloser
Pergament-Haufen
am
Bett
eines
sterbenden
Seidenwebers, der wissen will, ob er sich zu den Erwählten
rechnen darf. (Stichwort: Calvins Lehre von der doppelten
108
Prädestination, Gottes Vorherbestimmung eines Menschen
zum Erwählten oder Verworfenen). Wilmot argumentiert in
etwa wie heute FRANZ JOSEF W ETZ. Zu den schönsten
Passagen des Romans gehört, wie Wilmot - klug, milde und
auch sympathisch konsequent - beim Moderator des
Presbyteriums um seine Entlassung bittet und dort auf einen
ungeduldigen
und
theoretischen
alerten
Menschen
Kurzeinsätzen
trifft,
die
der
in
geschmeidigen
Diskussionen skizziert, die in den nächsten Jahrzehnten die
theologischen Debatten beherrschen werden.
Clarence Wilmot legt nach einjähriger Bedenkzeit sein Amt
nieder,
missioniert
Volksenzyklopädie
verhungert
dann
für
den
in den Straßen
schließlich
an
Verkauf
einer
seiner Stadt
und
Folgen
einer
den
Speiseröhrentuberkulose. Sein jüngster Sohn Teddy wird
Briefträger von Basinkstoke, heiratet Emily, zeugt mit ihr die
aufregend schöne Essie, die sich in Hollywood durchbeißt
und durchschläft und wenig Zeit für ihren Sohn Clark findet.
Clark
schließt
sich
frustriert
und
vereinsamt
einer
adventistisch-fundamentalistischen Kommune an und wird
während der Stürmung ihrer „Festung“ durch die Polizei
erschossen, stirbt aber immerhin als Held, weil im letzten
Moment jener „Schwarm funkelnder dunkler Luftbläschen“
(722) - der nach dem Austritt aus seinem Großvater
offensichtlich in der Atmosphäre überwintert hat - in Clark
Eingang findet und ihn bewegt, den falschen Propheten, der
die
Kinder
opfern
möchte,
zu
erschießen.
Updikes
Jahrhundertbilanz verzeichnet seismographisch die Krisen
des
Religiösen:
das
wissenschaftliche
Weltbild,
die
Vereinsamung in der Medienwelt, die Entlastung durch die
Anlehnung an fundamentalistische Modelle. Glücklich – das
Ideal von Liebe verkörpernd - ist nur der einfache
BriefträgerTeddy.
109
In dem Roman ‚Das Buch Ruth‘ habe ich die Geschichte
eines Ehepaares im protestantischen Milieu erzählt, dass
friedensbewegt und aktionsmilitant die eigene Liebe aus den
Augen verloren habt, bis Ruth schließlich zuschlägt und im
Krankenhaus, am Bett ihres komatösen Mannes, Rückschau
hält:
„Georg war kein Kuscheltyp. Leider. Manchmal fühlte ich
mich in seiner Gegenwart so verlassen wie ein Strandkorb
im Schnee. Er konnte keine Nähe ertragen. Vielleicht sind
wir deshalb immer voreinander geflohen.
Wir führten weißgott keine Spießerehe. (Ich glaube, ich habe
während unserer gemeinsamen Zeit nicht ein einziges Mal
Erdnüsse oder Chips eingekauft. Wenn einer Cracker kaufte,
dann Maike!) An Langeweile ist unsere Beziehung nicht
gescheitert. Vielleicht wäre Langeweile manchmal sogar
entlastend gewesen. Wir waren immer ruhelos mit unseren
Aktionen und Plänen beschäftigt. Aber nur sehr selten mit
unseren ganz privaten Gefühlen. Wenn Georg mich tief
verletzte, dann stürzte ich mich kopfüber in die nächste
Aktion.
Georg
meinte,
unser
Aktionismus
nähre
sich
aus
Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den 68ern. Weil wir
mehr als zehn Jahre zu spät gekommen seien, wären wir und er meinte vor allem mich - Aktions-Streber geworden.
„Dein Vater war zu alt für die Revolution, du zu jung. Wenn
das kein Familienschicksal ist!“ Vielleicht lag Georg mit
seiner Meinung gar nicht falsch.
Mein Vater. Wie oft habe ich mir gewünscht, man könne die
Verletzungen, die Georg mir zufügte, behandeln, so wie
früher mein Vater einmal einen Holzspeil, der beim Spielen
tief in die Handfläche gedrungen war, mit der Pinzette zog;
sofort ließ der Schmerz nach. Aber es gab nirgendwo diese
Pinzette. Und ich konnte mich nicht selbst therapieren.
Natürlich habe ich immer die Risse in unserer Beziehung
110
gesehen, aber wie bei einem Haarriss in der Lieblingstasse,
der langsam braun wird, glaubt man nicht daran, dass die
Tasse wirklich kaputt geht. Und dann gibt sie eines Tages
doch den Geist auf.
Ja. Vielleicht habe ich Georg überfordert. Vielleicht waren
meine Erwartungen an die Liebe zu hoch. Ich habe sogar
einmal eine Predigt missbraucht, um Georg zu verletzen. Als
ich hörte, dass er - das geschah eher selten - einen
Gottesdienst von mir besuchen wollte, habe ich als
Textstelle einen Hiobvers gewählt: „Ich habe einen Bund
gemacht mit meinen Augen, daß ich nicht achtete auf eine
Jungfrau.“ Er hat tagelang mit mir kein Wort gewechselt. Zu
Recht.“ (2000, 250f.)
In dem jüngsten Roman ‚Zweiter Aufschlag‘ habe ich eine
Pietá-Szene beschrieben, Augenblicke einer überraschenden Nähe zwischen dem Sohn Fritz, der seine Mutter um
eine Lebensversicherung erleichtert hat, und der inzwischen
unter Altersdemenz leidenden Mutter.
„Und dann ist sie weg. Plötzlich und nicht ganz unerwartet.
Hinterher ist man klüger.
Fritz sucht das ganze Haus ab, den Keller auch, den
Speicher
zuletzt.
Nichts.
Er
ruft
Bekannte
an.
Ihre
Freundinnen. Ärzte. Das Krankenhaus. Die Polizei. Er sucht
alle Lieblingsplätze ab, den Stadtpark, das Café am
Rathaus, den Vechtesee. Nichts. Er bittet Philip, ihm zu
helfen. „Kette sie doch nachts einfach an. Es gibt fette
Halsbänder. Echt.“ Er steigt in die Turnschuhe und bleibt
demonstrativ zehn Schritte hinter Fritz, ruft im Stadtpark:
„Put, put, put. Fressen. Put, put. Put.“ Nichts.
Es wird neun Uhr. Es wird zehn Uhr. Fritz sucht mit einer
Stange den Teich ab. Endlich kommt Elke von der
Spätschicht.
„Deine Lieblingsfeindin hat sich vom Acker gemacht“,
empfängt Philip seine Mutter.
111
„Erika? Seit wann ist sie weg?“
„Seit zehn Uhr heute morgen. Beim Zahnarzt ist sie nicht
angekommen.“ Fritz Stimme klingt angestrengt.
„Freundinnen angerufen? Cafés abgesucht? Krankenhäuser
gecheckt?“
„Alles“, sagt Fritz müde.
Sie sitzen im Wohnzimmer, mit geöffneter Terrassentür,
starren in die Dunkelheit. Fritz hält die ganze Zeit das
Telefon in der rechten Hand.
„Weckt mich, wenn Erika von ihrem Liebhaber zurück ist“,
verabschiedet sich Philip.
Sie sitzen und warten. „Wir können nur warten.“
Gegen zwei Uhr holt sich Elke eine Decke und legt sich auf
die Couch. Fritz bleibt sitzen. Um sieben Uhr ruft die Polizei
an. Man habe die Mutter gefunden. Auf einer Parkbank an
der Vechte in der Nähe des Wehrs.
„Ich gehe allein“, sagt Fritz.
Er steigt ins Auto, fährt zur Vechte, parkt seinen Wagen in
der Nähe des Stadtparks, bedankt sich bei den Polizisten.
Nachdem er sich neben seine Mutter gesetzt hat, schwenkt
sie die Beine auf die Sitzfläche, in einer einzigen anmutigen
Geste als wäre sie eine Frau von fünfundzwanzig, und legt
den Kopf auf Fritz Schoß. Fritz sitzt für Sekunden erstarrt,
legt dann eine Hand unter ihren Kopf, die andere auf ihre
Schulter.
„Du machst aber Sachen“, sagt er leise, eher bewundernd
als vorwurfsvoll.
„Das war doch eine gute Idee von mir, den Polizisten zu
sagen, sie sollten dich anrufen und herzitieren, damit du
auch diesen herrlichen Sommermorgen genießen kannst,
oder?“
Seine Mutter blinzelt kurz zu ihm hoch.
„Weißt du, mit meinem ersten Bräutigam habe ich nämlich
auch hier gesessen, bevor er zurück musste in den Krieg.
112
Wir haben hier die ganze Nacht verbracht. Natürlich nicht
auf solch einer Bank, aber auf einer Decke. Die Vechte war
damals noch nicht reguliert. Bänke und Fahrradwege gabs
nicht. Nein. Nein. Es war ein herrlicher Sonnenaufgang. So
friedlich. Danach war die Sonne nie wieder so honiggelb. Ich
habe dort so gelegen wie jetzt hier. Es war traurig und schön
zugleich.“
Sie macht eine kleine Pause.
„Später dann habe ich oft mit deinem Vater hier gesessen.
Ich habe ihm natürlich nie erzählt, dass ich bereits eine
Nacht mit einem anderen hier verbracht habe. Wo denkst du
hin! Dein Vater hatte dickere Beine als mein erster
Bräutigam. Es war etwas bequemer.“ Sie lacht.
„So wie bei dir. Du bist ja überhaupt ganz wie dein Vater.
Und ich bin so stolz auf dich.“
Fritz streichelt ihr über die Schulter.
„Wir machen das jetzt öfter Fritz. Aber nächstes Mal musst
du gleich abends mitkommen. Dieses Mal hast du noch
gemogelt. Nächstes Mal lasse ich dir das nicht mehr
durchgehen.“
Sie schauen eine ganze Zeit auf das Wehr, dann sagt seine
Mutter: „Fritz, ich glaube, ich verliere meinen Verstand. Ich
kann mir keine Namen mehr merken. Kürzlich habe ich
sogar deinen Namen nicht mehr erinnert. Stell dir vor, Fritz,
mein Junge. Ich habe deinen Namen vergessen, als hätte
ich dich bereits vor Jahren verlassen.“
Fritz spürt, wie Tränen sein Hosenbein durchnässen. Er
kneift die Augen zusammen, räuspert sich, sagt: „Mein Gott,
Mama. Du hast mich nicht verlassen. Ich bin ganz nahe bei
dir.““
Und dann gibt es seit 1999 Magnolia. Der Film von PAUL
THOMAS ANDERSON ist, nach dem Genital-Drama ‚Boogie
Nights‘, eine Art biblische Cover-Version (keine LightVersion!) von ROBERT ALTMANS ‚Short Cuts‘. Beschränkte
113
sich ALTMAN darauf, die Schicksale seiner Charaktere aus
sicherer
Kameradistanz
aufeinanderprallen
zu
zynisch
lassen,
und
malt
bissig
ALTMAN
nur
ein
Sittenfresko vor Augen, ringt ANDERSON mit dem ungleich
komplizierteren
Projekt,
dreistündigen
Empfindung
am
Inszenierung
zu
Ende
seiner
Sekunden
präsentieren.
ANDERSON
mehr
als
der
wahren
ist
ungleich
protestantischer (er ist gebürtiger Katholik) als ALTMAN, wenn
er die Archetypen der spätmodernen amerikanischen
Gesellschaft, hübsch aufgereiht am Magnolia Boulevard,
den
unnahbaren
Fernsehmoderator,
Prostituierte,
den
menschelnden
Filmproduzenten,
das
TV-Wunderkind,
barmherzigen
Cop,
den
den
die
alerten
koksende
Gutmenschen,
den
TV-Macho-Guru,
die
Ehegewinnlerin und den notorischen Versager mit biblischen
Archetypen überblendet: Vom verlorenen Sohn über den
barmherzigen Samariter bis zu Maria Magdalena ist alles
vertreten.
Etwas dick!, wird man argwöhnen. Aber mit einem herrlich
ironischen, gleichsam proleptischen Einspruch gegen diesen
Vorbehalt beginnt der Film mit drei Episoden, die sich
tatsächlich so ereignet haben: 1911 wurden drei Männer
hingerichtet, Green, Berry und Hill, die einen Apotheker in
Greenberryhill ermordet hatten; ein Taucher wird von einem
Löschflugzeug bei der Wasseraufnahme erfasst und stirbt in
voller Montur in einem Baum. Der Pilot hatte am Vortag mit
dem Mann, von Beruf Croupier, im Casino einen Streit. Als
der Pilot vom Tod des Croupiers erfährt, bringt er sich um;
ein potentieller Selbstmörder wird beim Fall vom Hochhaus
durch einen Schuss getötet, der sich beim Streit zwischen
seinen Eltern just in dem Augenblick löst, als er am Fenster
vorbeifällt. Weil Fassadenarbeiter am Vortag ein Netz
gespannt
haben,
Selbstmordversuch
wird
ein
aus
geglückter
einem
missglückten
Totschlag.
„Solche
114
eigenartige Dinge passieren andauernd‘, sagt eine Stimme
aus dem Off und senkt damit die Vorbehalte gegen den am
Ende des Films einsetzenden Froschregen deutlich ab. Erst
dann beginnen die episodisch verschränkten Lebensfragmente von neun Personen.
Da ist zunächst der Filmtycoon Earl Partridge, der, von
Krebs zerfressen, noch einmal seinen Sohn sehen möchte,
der mit ihm gebrochen hat, weil er ihn mit der sterbenden
Mutter alleine ließ. Seine bisher coole und Markenverwöhnte Ehefrau Linda wird durch den Krebstod zu einem
emotionalen und höchst skrupolösen, von Schuldkomplexen
aufgeschreckten Wrack. Kontakt mit dem Sohn nimmt der
Pfleger
Phil
(ein,
wie
der
Name
sagt,
wahrer
Menschenfreund) auf. Der Sohn Frank Mackey coacht in
Seminaren, Radio- und Fernsehsendungen Männer, wie
man aus Frauen gefügige Sex-Maschinen macht:
Sein
Bestseller und heimliches Credo, das er seinen Schützlingen
einimpft, heißt: Verführe und zerstöre. „Respektiere den
Schwanz!“, verkündigt der Sexpriester den Gläubigen. Sein
Vater macht(e) sein Geld mit der seit dreißig Jahren
quotenträchtigen Show ‚What do kids know?‘ Der ehemalige
Kinderstar Donnie Smith ist heute ein verklemmter und
überschuldeter kleiner Angestellter, der von einer teuren
Zahnspange träumt, um damit seinem Dreamboy näher zu
kommen. Aktuelles Opfer dieser Sendung ist Stanley
Spectator, der von seinem Vater gedrillt wird, um den Preis
von einer halben Million Dollar zu gewinnen. Moderiert wird
die Sendung von Jimmy Gator, der wie sein Produktionschef
an Krebs erkrankt und ebenfalls versucht, sich mit seiner
inzwischen koksenden Tochter Claudia zu versöhnen, die er
offensichtlich vor Jahren sexuell missbraucht hat. In Claudia
verliebt sich der Cop Jim Kurring, eine Art liebender Engel,
der ungern straft.
115
In
bester
Patchwork-Manier
werden
die
Vater-Kind-
Geschichten als Geschichten vom verlorenen Sohn und vom
verlorenen
Vater
verschränkt.
„Wir
haben
mit
der
Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht
mit uns“, heißt es leitmotivisch im Film. Die von Geld,
Drogen und Einsamkeit metastasierte Gesellschaft wird in
eindringlichen Kamerafahrten verfolgt. Als emotionalen
Verstärker dienen Lieder von Aimee Mann. Am Anfang heißt
es: „One is the loneliest number“, auf dem Höhepunkt der
Verzweiflung singen alle Protagonisten ‚Wise up‘ (eine
filmische Wiederentdeckung des griechischen Chors in der
Tragödie, die auch LARS
VON
TRIER in ‚Dancer in the Dark‘
probiert hat.) Diese Liedzeile korrespondiert mit der
Eintrübung des Wetters. Zwar ist die Parallelisierung von
Meterologie und Charakterologie nicht neu, aber ANDERSON
gewinnt dem Einfall eine Pointe ab, wenn er drei Mal
Wetterberichte
szenisch
einfügt
und
damit
den
dramaturgischen Hitze- bzw. Nässegrad ablesbar macht, bis
die sintflutartigen Regenfälle in einem reinigenden Gewitter
münden.
Etwas holzschnittartig wird das ganze Sündenregister
abgearbeitet um den – nahezu wörtlichen – paulinischen
Tugendkatalog zu reinszenieren. Schließlich kehrt der
verlorene Sohn (von TOM CRUISE großartig gespielt), der
Sex-Maniac Jack (the Ripper?), der sich zwischenzeitlich
umbenannt hatte, an das Bett des Filmmagnaten, des
verlorenen Vaters, zurück und liegt in der Schlusseinstellung
in embryonaler Haltung auf dem väterlichen Sofa. Der Cop
Jim
hilft
dem
ungeschehen
alternden Wunderkind
zu
machen
und
liebt
einen
Einbruch
Claudia
ohne
Moralapostelei, eine Entlastung, die ihr hilft, die Sucht zu
überwinden. Und das neue Wunderkind lehnt sich zum
ersten Mal gegen den eigenen Vater auf: „Du musst netter
zu mir sein!“
116
Der eigentliche filmische Geniestreich von ANDERSON
besteht
aber
zusammenhang
darin,
den
sündhaften
Verdunklungs-
ein
reinigendes
Froschgewitter
durch
aufzuhellen. Der geldige Pharao, so die alttestamentarische
Szene, wird von zehn Plagen heimgesucht, um die Israeliten
ziehen zu lassen. Die zweite Plage ist die Froschplage: „Und
Aaron reckte seine Hand aus über die Wasser in Ägypten,
und es kamen Frösche herauf, so daß Ägyptenland bedeckt
wurde“, heißt es in Exodus 8,2. (Mit dieser Zahl spielt der
Film an zumindest elf Stellen. Wörtlich zitiert werden die
Stellen in der Quizshow und auf einem Plakat in einem
Bushäuschen. Der zum Tode verurteile Verbrecher in der
erste Szene trägt auf seinem Pullover eine 82, das
Flugzeug, das den Taucher aufnimmt, ist ebenfalls mit der
Zahl 82 beschriftet, im Casino sieht man Karten mit einer
Acht und einer Zwei, die Gerichtsmedizinveranstaltung der
dritten Episode beginnt um 8.20 Uhr, Taue auf einem Dach
sind in der Form einer Acht und einer Zwei drapiert, der
Selbstmörder springt von einem achtstöckigen Hochhaus mit
zwei Türmen; die Chiffre für die Bekanntschaftsanzeige des
Cops Jim Kurring ist die 82; die Regenwahrscheinlichkeit zu
Anfang des Films beträgt 82%, in Donny’s Stammkneipe
vermeldet das Dart-Brett einen 8:2 Stand.) Die neue Welt ist
eine von Geld, Macht und Drogen regierte Welt. Die
Froschplage ist das Menetekel für den Pharao des Geldes
und der Medienmacht, das Volk ziehen zu lassen. Ein
wirklich grandioser Einfall.
Und
um
das
Neue
Testament
nicht
sträflich
zu
vernachläsigen, wird in der Story zwischen Claudia und Cop
Jim auf Lukas 8,2 angespielt. Dort wird berichtet, dass böse
Geister aus Maria Magdalena ausfahren. Entsprechend sitzt
der Cop am Bett von Claudia, sagt ihr, dass sie ein guter
Mensch sei und endlich, zum ersten Mal im Film, beginnt sie
zu lächeln.
117
Die von GERHARD SCHULZE gemutmasste folkloritische
Schematisierung unserer Wahrnehmung durch die Medien
wird von dem Film ‚Magnolia‘ hübsch unterlaufen. Man muss
den Film nicht mögen, man darf das zuweilen hohe Pathos
mit mentaler Gänsehaut quittieren, aber eins kann man dem
Film nicht absprechen, er bietet einen Strauss von
Identifizierungsmöglichkeiten,
um
Erfahrungen
mit
der
eigenen Biographie zu machen und damit, was es heißt, von
Samaritern oder Heiligen wie dem Cop Jim und dem Pfleger
Phil geliebt zu werden.
118
4.5 Hetärengespräche
Go(o)d Cuts zwischen Ruth, Mutter und Clara
R u t h: Ich habe einen protestantischen Defekt. Genetisch,
versteht ihr? Fit for fun? Eher nicht. Ich war immer
hundertfünfzigprozentig
und
spaßunfähig.
Ergaben
Umfragen, dass Kuhmilch belastet sei, verbannte ich sie aus
dem Kühlschrank. Grüner Tee verhinderte Krebs? Ich kaufte
eine ganze Schiffsladung. Lautete das Vorurteil, Pastoren
seien faule Säcke, versuchte ich stellvertretend das Vorurteil
abzubauen. Hieß es, zwanzig Sit ups täglich straffen die
Bauchmuskulatur, machte ich morgens im Schlafzimmer
dreißig. Begleitet von Georgs zynischen Kommentaren. Las
ich, dass der Widerstand in Gorleben erlahmte, rangierte ich
Termine und fuhr selbst hin. Georg las immer nur das, was
ihn bestätigte. Rotwein sei gut für das Herz? Georg müsste
also mindestens hundert Jahre alt werden. Belegte eine
Professorin
in
den
Fortbildungsseminaren
zur
Familientherapie mit empirischen Daten (aber Professoren
können immer alles belegen!), schuld an der Langeweile im
Schlafzimmer und den kleinen Fluchten der Männer seien
auch die lustmüden Ehefrauen, dann lieh ich in Oldenburg
entsprechende Bücher mit Tipps aus. Leider fehlen mir
offensichtlich einige Gelenke. Meine Patientinnen winkten
auch nur müde ab.
M u t t e r: Mein Gott, armes Kind! Ich weiß nur zu gut, was
Sie durchgemacht haben. Wir scheitern immer an der Nähe.
Immer.
Im
Norden
sind
wir
zudem
noch
taktile
Analphabeten, nicht? Wenn plötzlich die Enkel in der
Pubertät sind und der Mann tot, dann hat man niemanden
mehr, den man in den Arm nehmen kann. Selbst wenn ich
meinem Enkel einen Fünfziger in die Hand drückte und ihn
dann kurz in den Arm nahm, ließ er es über sich ergehen als
119
hätte ich Aussatz. Er versteinerte augenblicklich in meinen
Armen. Aber meinen Sohn, den habe ich kürzlich überlistet.
Ich habe auf einer Bank gesessen und als er dann kam,
habe ich, ohne ihn vorzuwarnen, meinen Kopf auf seinen
Schoß gelegt, und Sie werden es nicht für möglich halten, er
hat mich sogar sehr zärtlich gestreichelt – zum ersten Mal
vielleicht
sogar
ohne
Hintergedanken,
denn
meine
Lebensversicherung hatte er längst kassiert. Er konnte mich
sogar trösten, weil ich doch so vergesslich geworden bin, so
wie ich ihn damals getröstet habe, wenn er von seinen
Freunden aufgezogen wurde.
C l a r a: Ich weiß gar nicht, ob ich dass ertragen kann, wenn
mich einer gerne hat. Ich bin eine Zicke. Ich kokse. Ich
nehme schon mal einen mit aufs Zimmer, wenn ich dringend
Geld brauche. Und der spielt den barmherzigen Samariter!
Sitzt an meinem Krankenbett und säuselt, wie gerne er mich
hat.
R u t h: Aber was ist daran nicht ok?
C l a r a: Schon, wenn man ganz unten ist, hört man das
gerne. Und so übel sieht er auch gar nicht aus. Ich mache
einfach eine Probe. Wenn er sich vier Wochen Mühe gibt
und mir nicht sofort an die Wäsche will, glaube ich ihm.
Dann ist er ein Heiliger. Oder impotent.
120
Nachspiel
Himmlische Medizin - Frei von Nebenwirkungen
Vier Modelle also – das scheint mir noch übersichtlich genug
zu sein. Will ich mir nicht selbst ins Wort fallen und mich zum
Eiferer aufschwingen, muss ich Ihnen, den Lesern, die
Entscheidung überlassen, welches Modell Sie wählen. Und
um Sie sogleich zu beruhigen: Letzte Wahrheiten sind in
Glücksfragen, gleich gültig, ob religiöse oder philosophische
Deutungspraktiken angewendet werden, nicht zu haben.
Allerdings:
Als
empirischer
Autor,
durchaus
nicht
unabhängig vom sozial-religiösen Apriori meiner Selbst- und
Weltdeutung, habe ich eine bestimmte Vorliebe. Eine,
hoffentlich ironisch gebrochene, harmoniesüchtige Euphorie
durchzieht, wie ich bei der nochmaligen Lektüre festgestellt
habe, den Text. Sie ist Ausdruck für eine milde Verliebtheit,
die alten Ehepaaren nach vielen Stürmen eigen ist.
Wie gesagt: Zellulitis. Ein Ehemann oder auch Liebhaber
kann Zellulitis als beglückend (und entlastend erfahren), eine
subjektive Erfahrung, die durchaus nachvollziehbar ist. Zu
einer lächerlichen Missionstätigkeit würde allerdings der
Versuch, Zellulitis als Kriterium auf Schönheitswettbewerben
durchsetzen zu wollen. So verhält es sich auch mit meinem
Angebot. Ich habe viel Sympathie für die christliche
Lebensform. Die entlastende Erfahrung geliebt zu werden,
Glück qua Heil also als, theologisch gesprochen, Gnade zu
erfahren, die von den Anstrengungen Glück in der Ich-AG
(TOM PETERS) zu erlangen befreit; und die entlastende
Erfahrung, dass Hässlichkeit und Leiden keine Defizite für
persönliches Glück darstellen, halte ich für ausgesprochen
lebenstüchtig. Und die Probe auf die Lebenstüchtigkeit ist
eine
strenge
aber
gerechte
Prüfung
für
Lebens-
deutungsmodelle.
121
Nochmals – aber diese Rhetorik streift schon wieder den
Eifer -: Ich verschreibe auch meiner Zunft eine gehörige
Portion Skepsis. Wir haben es mit Deutungen zu tun, die
sich als lebensfähig (oder als lebensuntauglich) erweisen.
Nicht mehr und nicht weniger. Ich kann mir durchaus andere
religiöse oder philosophische Deutungen vorstellen. (Das
schließt meine grundsätzliche Skepsis Modellen gegenüber
ein, die ein Weltethos auf den Weg bringen wollen. Selbst
konsensualen Modellen gegenüber traue ich nur soweit, wie
sie regionalen Deutungshemisphären entsprechen.)
Vier Modelle also. Alle vier singen das hohe Lied der
Gelassenheit in Geschichte und Gegenwart. Ob allerdings
eine gegenwärtige Gelassenheit in unserer westlichen Kultur
den Manipulation und Zurichtungen durch Märkte (STRASSER
2001) und globale Finten des Kapitalismus ohne religiöse
Deutungen auskommen kann, ist eine bis auf weiteres
offene Frage. Die religiöse Deutungsoption ist dabei eine
lebensfähige Option. Darin ist dem eingangs zitierten PASCAL
BRUCKNER zustimmen: Ohne Himmel wird das Glück zur
überfordernden Zumutung.
Für das Christentum gehören Glück als Heil und Himmel
zusammen. Nur soviel lässt sich sagen: Der Himmel ist nahe
im unverdienten Glück der Nähe. Aussichten in die Ewigkeit
sind dort zu erlangen. Oder, gleichsam stellvertretend, im
Medium der Literatur und des Films, sofern denn Literaten
und Filmemacher mit Hingabe den Nöten und Verletzungen
der Menschen nachspüren. Das war die gültige Pointe der
jesuanischen Meistererzählungen: Die Gleichnisse heilen die
Menschen, indem sie Deutungen abbauen, die die (religiöse)
Bestimmung des Menschen als Verbundenheit mit anderen
Menschen verhindern. In dieser Hinsicht gehören Erzählen
und Heil oder Glück zusammen. Das ist zugleich das
christliche Movens von Literatur und Filmkunst.
122
Konsequenz: In der Bibliothek und im Kinosaal (siehe
ANDERSON; siehe
VON
TRIER) kann man dem Himmel sehr
nahe kommen. Und damit dem Glück.
Buch und Film – im Idealfall eine himmlische Medizin ohne
gesundheitsschädigende Nebenwirkungen.
Literatur
Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften 4, Minima
Moralia, Frankfurt am Main 1980.
Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968.
American Beauty, Regie: Sam Mendes, Film, (1999), 2000.
Allen, Woody, Purple Rose of Cairo, Film, (1985), 1994.
Allen, Woody, Harry ausser sich (Deconstructing Harry),
Film, (1997), 1998.
Allen, Woody, Celebrity – Schön, reich und berühmt, Film,
1999.
Aurel, Marc, Wege zu sich selbst. Herausgegeben und
übersetzt von Rainer Nickel, München und Zürich 1992.
Bruckner, Pascal, Verdammt zum Glück. Der Fluch der
Moderne. Ein Essay, Berlin 2001.
Bultmann, Rudolf, Das christliche Gebot der Nächstenliebe,
in Glauben und Verstehen, Bd 1. Tübingen 1966, 229 –
244.
Der Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, in: Wilhelm
Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen.
Bd. II. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes,
Tübingen 1964, 84-89.
123
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Ecker, Hans-Peter, Die Legende: kulturanthropologische
Annäherung an eine literarische Gattung, Stuttgart,
Weimar 1993.
Ellis, Bret Easton, Unter Null. Roman. Deutsch von Sabine
Hedinger, Köln 21999.
Diogenes Laertius (!), X. Buch, Epikur, Hamburg 1968.
Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen. Aus
dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von
Fritz Jürß, Stuttgart 1998.
Genazino, Wilhelm, Die Kassiererinnen, Roman, München
1998.
Genazino, Wilhelm, Ein Regenschirm für diesen Tag,
Roman, München 2001.
Girard, René, Der Sündenbock, Düsseldorf 1988.
Hessel, Franz, Ein Flaneur in Berlin. Mit Fotografien von
Friedrich Seidenstücker, Walter Benjamin’s Skizze ‚Die
Wiederkehr des Flaneurs‘ und einem ‚Waschzettel‘ von
Heinz Knobloch, Berlin 1984.
Hösle, Vittorio, Versuch über das Komische, München 2001.
Hossenfelder, Malte, Philosophie der Antike 3: Stoa,
Epikureismus und Skepsis, Geschichte der Philosophie,
hg. von W. Röd, Bd. III, München 1985.
Houellebecq, Michel, Ausweitung der Kampfzone. Aus dem
Französischen von Leopold Federmair, Berlin 1999.
Houellebecq,
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Stoa und Stoiker. Die Gründer. Panaitios. Poseidonios.
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Stuttgart 1950.
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2000.
126
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