Schlesisches Tagebuch Aus „Schlesien heute“ Nr. 06/2008 von Alfred Theisen In Oberschlesien lebt die größte deutsche Minderheit außerhalb der Grenzen Deutschlands. Doch kaum ein Deutscher und auch kein deutscher Politiker kennt diese Deutschen. Selbst viele vertriebene Niederschlesier haben bis heute nicht zur Kenntnis genommen, dass anders als aus Breslau, Liegnitz und Lauban, wo nahezu alle Deutschen vertrieben wurden, in Oberschlesien fast die Hälfte der Deutschen - bis zu einer Million - bleiben konnten. So sind seit 1950 etwa anderthalb Millionen deutsche Aussiedler aus den Oder-Neiße-Gebieten, vor allem aber aus Oberschlesien, nach Deutschland gekommen. Doch zu kommunistischen Zeiten waren diese verbliebenen Deutschen einer rigorosen Zwangsassimilierung ausgesetzt. Ihre Namen wurden polonisiert und das Benutzen der deutschen Sprache mit Gefängnis bestraft. Überall in der damaligen „Volksrepublik" Polen wurde an Schulen und Universitäten Deutsch gelehrt, nur in Oberschlesien nicht. Als 1989 die Mauer fiel, witterten auch die Deutschen in Oberschlesien Morgenluft. Hunderttausende trugen sich damals in Unterschriftenlisten ein, um die überraschten polnischen Nachbarn, aber auch die internationale Öffentlichkeit von ihrer bloßen Existenz in Kenntnis zu setzen. Landesweit entstanden zwischen Kattowitz, Oppeln, Ratibor und Kreuzburg „Deutsche Freundschaftskreise", die deutsche Chöre, Volkstanzgruppen und Bibliotheken gründeten und sich um Deutschunterricht bemühten. Aus Deutschland kam materielle und ideelle Unterstützung. Knapp 300.000 Deutsche in Polen haben seit 1990 einen deutschen Pass bekommen. Doch das Wohlstandsgefälle zum Westen bildete den stärksten Gegenwind für alle Versuche, auch die deutsche Kultur in Oberschlesien wieder heimisch werden zu lassen. Der deutsche Pass wirkte wie ein Staubsauger, der die Jugend aus dem Lande Richtung Westen holte. Rund 100.000 Oberschlesier arbeiten bis heute ständig als Pendler in Deutschland und Holland. Um der Abwanderung und der die Familien zermürbenden Wanderarbeit entgegenzuwirken, förderte die Bundesregierung seit Anfang der 1990er Jahre massiv über Strukturen der deutschen Minderheit Infrastruktur und Mittelstand in Oberschlesien. Die bei Wahlen im Lande anfangs erfolgreichen Deutschen - man stellte Mitte der 1990er Jahre mehrere Sejmabgeordnete, Landräte und einige Dutzend Bürgermeister machte auch angesichts der reichlich fließenden deutschen Gelder erfolgreich Politik, aber zu wenig deutsche Identitätsarbeit. Nicht Kenntnisse in der deutschen Sprache, Literatur, Geschichte und Kultur waren gefragt, sondern machtpolitischer Instinkt und administrative Kompetenz. Führende Repräsentanten der deutschen Minderheit wie der einzige verbliebene Sejmabgeordnete Ryszard Calla, sprechen kein Deutsch. Auf Vereins- und Verbandstagungen wurde zuletzt kaum noch Deutsch gesprochen. Dies gilt besonders für das Oppelner Land, wo die meisten Deutschen leben und in der Sozial-kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien (SKGD) über eine mitgliederstarke und in der Region einflussreiche Organisation verfugen. Erste Stimmen warnten zuletzt vor der Gefahr einer Selbstpolonisierung in Freiheit. Ungeachtet ihrer langjährigen Präsenz im Sejm, ihrer Zugehörigkeit zur Regierung der Woiwodschaft Oppeln und der Förderung aus Deutschland gelang es so zum Beispiel den Politikern der deutschen Minderheit in den vergangenen Jahren nicht, auch nur eine einzige deutsche Schule zu gründen. Viele Deutsche in Oberschlesien wandten sich daher von der SKGD ab, der sie mangelnden Einsatz für die deutsche Kultur und Vetternwirtschaft vorwarfen. Zuletzt beeinflußte ein „Offner Brief“ von drei jungen Frauen die öffentliche Diskussion in Oberschlesien, die dem SKGD-Vorstand auch autoritäre Tendenzen vorwarfen. Unter dem Eindruck dieser Diskussionen wurden auf der Bezirksversammlung der Deutschen in Oberglogau am 26. April die Weichen neu gestellt. Als Nachfolger von Henryk Kroll, der fast zwei Jahrzehnte als einflussreichster Politiker den Weg der Deutschen in Oberschlesien maßgeblich geprägt hat, und der in seiner Person die Losung „Politik statt Kultur" nahezu verkörperte, wurde überraschend Norbert Rasch zum neuen Vorsitzenden gewählt. Für die Bundesregierung war Christoph Bergner nach Oberglogau gekommen, um in einer bemerkenswerten Ansprache, einen Wandel in der Förderpolitik für die Deutschen in Oberschlesien anzukündigen. Buchstäblich „Fünf vor zwölf scheinen Bundesregierung und SKGD zu einer realistischen Politik zu finden, die eine nachhaltige Stärkung und nicht eine weitere Austrocknung der deutschen Wurzeln in Oberschlesien bewirkt. So stehen die Zeichen nicht schlecht, dass Oberschlesien auch in Zukunft von dem Reichtum seiner vielen Kulturen zehren wird, zu denen neben der mährischen und der polnischen auch die deutsche Komponente gehört. Man kann zu recht Defizite bei der Formulierung und der Umsetzung des Minderheitengesetzes in Polen kritisieren, dass der polnische Staat überhaupt zu wenig Bereitschaft zeigt, Wiedergutmachung für das seinen deutschen Bürgern in den vergangenen Jahrzehnten angetane Unrecht zu leisten. Ihre gedeihliche Zukunft aber halten die Deutschen in Oberschlesien heute in Freiheit zuerst selbst in ihren Händen.