Kommentar zum Vortrag von Prof.Baurmann Rationaler Fundamentalismus Susanne Neckermann (Lehrstuhl Prof. B.S. Frey) 1. 2. 3. 4. Einleitung ................................................................................................................ 1 Bemerkungen zur theoretischen Analyse................................................................ 3 Bemerkungen zur Anwendung auf das Thema Fundamentalismus ........................ 5 Ökonomische Interpretation.................................................................................... 5 a. Generelle Anmerkungen ..................................................................................... 5 b. Verwandte Forschungsfelder und Anwendungen in der Ökonomie ................... 6 1. Informationsökonomik .................................................................................... 6 2. Zum Thema Extremismus ............................................................................... 7 3. Erfahrungs- und Vertrauensgüter .................................................................... 8 c. Politikimplikationen ............................................................................................ 8 1. Störung des von Baurmann aufgezeichneten Kreislaufs ................................ 8 2. Ökonomische diskutierte Massnahmen gegen Terroristen ............................. 9 5. Literaturverzeichnis .............................................................................................. 11 1. Einleitung Herr Baurmann (2006) bezieht sich auf die Argumentation von Hans Albert (1980), der in seinem Traktat der kritischen Vernunft das „Prinzip der kritischen Prüfung als ein allgemeines Postulat auffasst, das überall in Betracht kommt, wo es um die Lösung von Problemen geht.“ Hans Albert argumentiert für eine strikte Überprüfung unserer Annahmen und Überzeugungen nach den Prinzipien des Kritischen Rationalismus in allen Sphären des sozialen Lebens. Ein solches Plädoyer, so Baurmann, scheint auch nur konsequent zu sein, wenn man das Prinzip der kritischen Überprüfung generell als das beste Prinzip zur Überprüfung der Qualität unseres Wissens und unserer Problemlösungsinstrumente ansieht. Herr Baurmann widerspricht der Auffassung nicht, dass das Prinzip der kritischen Prüfung tatsächlich für alle Wissensbereiche das beste Prinzip sein könne, um zu möglichst fundierten und robusten Erkenntnissen zu gelangen. Er lehnt allerdings die Forderung ab, dass sich dieses Prinzip in allen Sphären des sozialen Lebens durchsetzen könne und solle. Dem Einzelne sei es in vielen Sphären des sozialen Lebens überhaupt nicht möglich, eine solche Prüfung durchzuführen. Zentral ist für ihn die Frage, welche Rolle dieses Prinzip für den „Normalbürger“ bei seiner Orientierung in der natürlichen und sozialen Welt spielen kann und soll. Seine Analyse erfolgt in drei Schritten: Zuerst zeigt Herr Baurmann, dass der Einzelne aufgrund individueller Beschränkungen nicht in der Lage ist, alles Wissen selber zu erzeugen und zu Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 2 überprüfen. Hierin stimmt er mit der sozialen Erkenntnistheorie1 und dem Paradox des Wissens2 überein. In einem zweiten Schritt argumentiert er, dass der Einzelne auch kein - vor einer kritischen Prüfung bestehendes – Wissen darüber erlangen kann, ob und in wieweit die Wissenschaft Erkenntnisse produziert, die dem rationalen Prinzip der Wissensgenerierung standhalten. Der Einzelne ist demnach auf eine Wissensübernahme von anderen Parteien angewiesen, ohne dass er dieses selber überprüfen könnte. Die Situation gestaltet sich ähnlich einem Vertrauensspiel in der experimentellen Ökonomik. Der Einzelne kann dem Wissensgeber Vertrauen schenken und das Wissen als wahr annehmen oder eben nicht. Zu Vertrauen hat den Vorteil, dass sich der Einzelne durch das neue Wissen besser stellen kann. Allerdings kann die übermittelte Information auch falsch sein. Dann steht die Person schlechter da, als wenn sie nicht vertraut hätte. Der dritte Schritt in Baurmanns Argumentationskette ist demnach die Analyse, ob die Vertrauenswürdigkeit einer Person einer kritischen Prüfung unterzogen werden kann, d.h. ob dem Einzelnen die Prüfung der epistemischen Vertrauenswürdigkeit des Wissensanbieters möglich ist. Dies ist für den Einzelnen zumindest zum Teil möglich. Zur kritischen Prüfung der epistemischen Vertrauenswürdigkeit einer Person müssen laut Baurmann folgende Faktoren überprüft werden: 1) die Kompetenz und die Ressourcen des Wissensanbieters, 2) die extrinsischen Anreize und 3) die intrinsischen Anreize bzw. die persönliche Integrität. Der Einzelne kann zwar nicht die Ressourcen und Kompetenz der Autorität überprüfen und zum Teil auch nicht deren extrinsischen Anreize. Eine rationale Überprüfung der persönlichen Integrität der Autorität ist allerdings möglich. Eine solche Prüfung basiert auf allgemeinem sozialem Wissen, das keine besondere Fachkompetenz oder Ressourcenausstattung erfordert. Er trennt damit die individuelle epistemische Rationalität, die (realistischerweise) nur in rational fundiertem Vertrauen bestehen kann von der kollektiven epistemischen Rationalität, die das rational fundierte Wissen (die „Wahrheit“) umfasst. Ein Individuum, das epistemisch rational handelt, kann aufgrund seiner Ressourcenund Kompetenzbeschränkung lediglich die persönliche Integrität der Autorität prüfen. Fällt die Prüfung positiv aus, wird der Einzelne das Wissen/die Information von dieser Quelle als „wahr“ annehmen, unabhängig davon, ob dieses Wissen „korrekt“ ist. Das Wissen des Einzelnen kann deshalb von dem abweichen, was kollektiv als wahr gilt. Im zweiten Teil des Vortrages überträgt Herr Baurmann diese Theorie auf das Thema Fundamentalismus. Hier unterscheidet er vier Bausteine eines Gleichgewichtes des rationalen Fundamentalismus. Die „Soziale Erkenntnistheorie“ weist darauf hin, dass das Wissen der Einzelnen zu einem grössten Teil nicht durch sie selber erworben wird, sondern de facto auf das Zeugnis anderer zurückgeht und auch auf keine andere Weise erworben werden kann (vgl. Coady 1992; Goldman 1999; Matital und Chakrabarti 1994; Schmitt 1994; Welbourrne 1986; Böhm 2006). 2 Es kann als Paradox des Wissens bezeichnet werden, dass die „Verbreitung einer rationalen Wissenschaftspraxis und damit einhergehend die Zunahme eines rational fundierten Wissensbestandes in einer Gesellschaft zwangsläufig dazu führen muss, dass eine selbständige Anwendung der Prinzipien einer rationalen Wissensaneignung für den einzelnen immer weniger möglich ist. Zugespitzt: je umfassender das Prinzip der kritischen Prüfung kollektiv realisiert wird, desto weniger ist es individuell verfügbar.“ (Baurmann 2006) 1 Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 3 Der erste Baustein ist partikulares Vertrauen in lokale Autoritäten. Es ist für den Einzelnen rational Autoritäten zu vertrauen, die in der eigenen sozialen Gemeinschaft leben. Gleichwohl ist es rational für den Einzelnen, Autoritäten zu misstrauen, die aus anderen Gemeinschaften kommen. Der zweite Baustein ist die lebensweltliche Plausibilität der erhaltenen Informationen/Weltsicht. In fundamentalistischen Gemeinschaften werden oft die himmlischen Heilsgüter betont; die Übernahme eines Weltbildes einer Autorität bietet dem Einzelnen Gewissheit statt Zweifel. In der Realität erleben die Personen in fundamentalistischen Gebieten oft Konflikt, Kampf und Krieg. Extremistische Weltanschauungen über Gut und Böse erscheinen attraktiver als der Toleranzgedanke. Der dritte Baustein ist die epistemische Isolation. Informationen über andere Weltanschauungen bzw. alternative Autoritäten gibt es in der Regel nicht. Der Prozess wird verstärkt durch Indoktrination und soziale Erwünschtheit. Der vierte Baustein ist die soziale Isolation. In isolierten Gruppen ist das Äussern nicht akzeptierter Weltanschauungen eine Hochkostensituation. In der Regel werden anders Denkende verachtet, stigmatisiert und ausgeschlossen. Diese vier Bausteine bilden mit dem fundamentalistischen Glauben ein Gleichgewicht des rationalen Fundamentalismus. 2. Bemerkungen zur theoretischen Analyse Als Ökonomin ohne Hintergrundwissen in Philosophie und auf Basis einer Powerpoint-Präsentation ist eine kritische Diskussion der Analyse schwierig. Anbei der Versuch drei methodische Punkte zu diskutieren, die mir aufgefallen sind. Ich hoffe, Herrn Baurmanns Argumentation richtig interpretiert zu haben. Meiner Meinung nach geht Herr Baurmann auf den normativen Teil der aufgeworfenen Frage nicht ein. Die Tatsache, dass der Einzelne eine solche Prüfung nicht vornehmen kann, ist kein Argument gegen die normative Forderung, dass eine solche Prüfung aber durchgeführt werden sollte. Weiter ist mir nicht klar geworden, warum der Einzelne dem Prinzip der kritischen Überprüfung wirklich nicht folgen kann. Versteht man unter dem Prinzip, dass dessen Verfolgung zur Wahrheit führen muss, hat Herr Baurmann sicher Recht. Aufgrund der aufgezeigten Begrenzungen ist es dem Einzelnen nicht möglich, eine kritische Prüfung dergestalt vorzunehmen, dass sie zur Wahrheit führt. Die Ausnahme stellt die Überprüfung der persönlichen Integrität der Autoritätsperson dar. Versteht man unter dem Prinzip allerdings die Anwendung der Methode der kritischen Prüfung (ein Rezept), so ist der Einzelne dazu durchaus in der Lage. Er kann unter Berücksichtigung aller vorliegenden und mit vertretbarem Aufwand erreichbaren Informationen eine auf Basis dieser Informationen rationale Entscheidung treffen. Dies muss nicht notwendigerweise zum Erkennen der „Wahrheit“ führen. In der Argumentation werden diese beiden Arten der Interpretation des Prinzips der rationalen Prüfung (Finden der Wahrheit versus Anwendung bestimmter Techniken der Wahrheitsfindung) meiner Meinung nach vermischt. Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 4 Meiner Ansicht nach vertritt Herr Baurmann die erste Interpretation: das rationale Prinzip gilt als verfolgt, wenn die Wahrheit gefunden wird. Dies ist in seiner Analyse allerdings nur auf der Ebene der Prüfung der Vertrauenswürdigkeit der Autorität möglich. In diesem Sinne handelt das Individuum rational, wenn es der Autorität vertraut. Da ihm aufgrund seiner Beschränkungen keine anderen epistemologisch rationalen Wege der Übernahme von Wissen zur Verfügung stehen, wird er das Wissen dieser Autorität übernehmen. Damit führt das Vertrauen zu einer Übernahme von Wissen/Informationen deren epistemologische Richtigkeit nicht gewährleistet sein muss. Die epistemologisch rationale Entscheidung der Autorität zu vertrauen, kann somit zu einer epistemologisch irrationalen Weltsicht führen, ohne dass sich der Einzelne epistemologischer Irrationalität schuldig macht. Hier liegt meiner Meinung nach eine falsche Argumentation vor. Wieso macht sich der Einzelne keiner epistemologischen Irrationalität schuldig, wenn er Wissen (aufbauend vor einer epistemologisch rationalen Entscheidung des Vertrauens) übernimmt, dessen epistemologische Richtigkeit er nicht überprüfen kann. Die Frage, ob das Handeln des Einzelnen epistemisch rational ist, ist meiner Meinung nach unabhängig davon, ob er dazu realistischerweise überhaupt in der Lage ist. Man kann durchaus argumentieren, dass der Einzelne epistemologisch irrational handelt auf der Ebene der Übernahme des Wissens, wenn auch nicht auf der Ebene des Vertrauens in die Autorität. Die Diskussion spielt sich damit auf einer rein begrifflichen Ebene ab. Meiner Meinung nach schwankt der Autor zwischen dem Begriff der epistemologischen Rationalität und dem der ökonomischen Rationalität hin und her. Epistemologisch gesehen, ist die Übernahme von Wissen von einer Autorität irrational, auch wenn der Akt des Vertrauens epistemologisch nicht irrational ist; ökonomisch gesehen ist dies nicht so, da dem Einzelnen unter Beachtung der Einschränkungen denen er unterliegt keine bessere Alternative zur Verfügung steht. Der Begriff der epistemologischen Rationalität, der meiner Meinung nach von aktuellen Ressourcenbeschränkungen unabhängig besteht, wird hier vermischt mit dem Begriff der ökonomischen Rationalität. Eine weitere Anmerkung ist, dass der Autor lediglich den Erwerb nicht aber die aktive Erhaltung und Anwendung von erlangten Informationen behandelt. Gerade bei dem Thema Fundamentalismus scheint mir die Frage nach dem aktiven Behalten und Ausleben von Informationen und Weltanschauungen relevant. Hier müssen andere Überlegungen angestellt werden als bei der Frage nach dem Erwerb von Informationen im Kontext des epistemischen Rationalismus. Darüber hinaus geht Herr Baurmann nicht auf Anomalien im Verhalten von Menschen ein. Bestimmte Informationen können z.B. erlangt, aber nicht mehr vergessen werden, auch wenn sich das Individuum dies wünscht. Des Weiteren sind Verzerrungen bei der Evaluierung von Informationen ebenso relevant wie versunkene Kosten (Kosten die z.B. bei der Erlangung einer anderen Information entstanden sind, welche durch die neue Information obsolet würde). Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 5 3. Bemerkungen zur Anwendung auf das Thema Fundamentalismus Bei der Anwendung der Argumentation auf das Fallbeispiel Fundamentalismus werden meiner Ansicht nach zwei Ansätze vermischt. Das Paradox des Wissens, das – wie im ersten Teil erläutert – Vertrauen in Autoritäten rational sein lässt, wird vermischt mit dem Informationskostenansatz von Hardin. Das Paradox des Wissens bezieht sich in erster Linie auf reines Faktenwissen: niemand ist in der Lage alle Fakteninformationen, denen er sich im Leben gegenübersieht zu validieren und muss deshalb Autoritäten als Wissensgebern vertrauen. Dies trifft aber in der Regel nicht zu auf Entscheidungen über das eigene Weltbild oder die Frage nach dem „Guten“ und dem „Bösen“. Eine Überprüfung solchen Wissens scheint eher der Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit einer Autorität verwandt. Diese ist ja - laut Baurmann - für den Einzelnen prinzipiell möglich, da dafür kein konkretes Faktenwissen sondern eher allgemeine Menschenkenntnis, Lebenserfahrung und Introspektion erforderlich sind. Von daher lässt sich die epistemologische Rechtfertigung der Übernahme von Faktenwissen von Autoritäten nicht direkt auf Fundamentalismus übertragen. Hierbei sind weitere Argumente - wie die von Hardin - nötig: sozialer Druck und kognitive Dissonanz führen dazu, dass Normen von denen der Einzelne anfangs eventuell nicht überzeugt war, übernommen werden. Damit zeigt sich, dass der im ersten Teil vorgestellte theoretische Ansatz zu kurz greift, um für sich stehend das Phänomen des Fundamentalismus rational erklären zu können. 4. Ökonomische Interpretation a. Generelle Anmerkungen In der Argumentation von Herrn Baurmann ist die Übernahme von Wissen von Autoritäten dann rational, wenn die Vertrauenswürdigkeit der Autorität individuell geprüft wurde. Wie oben beschrieben, ist der Einzelne dazu nur im Hinblick auf die persönliche Integrität der Autorität in der Lage. Im Unterschied dazu handelt ein Agent im ökonomischen Sinne auch dann rational, wenn die Überprüfung der persönlichen Integrität der Autorität unterblieb, weil der erwartete Nutzen einer Überprüfung geringer als die Kosten ist. Des Weiteren kann auch die bewusste Übernahme von „falschem“ Wissen rational sein, wenn sich der Agent dadurch besser stellt, als wenn er die Wahrheit herausfinden bzw. annehmen würde. Für die ökonomische Disziplin ist unabhängig von dem Tatbestand der epistemologischen Rationalität und der Verfolgung des kritischen Prinzips die Schlussfolgerung von Herrn Baurmann zentral, dass ein Individuum im Rahmen seiner Möglichkeiten rational handelt, wenn er Informationen einer Autorität übernimmt. Im ökonomischen Sinne handelt ein Agent in diesem Fall sicherlich rational: er kann selber kein Wissen auf Richtigkeit überprüfen. Er kann lediglich Autoritäten auf Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 6 Vertrauenswürdigkeit prüfen von denen er (meist korrekt) annimmt, dass sie besser informiert sind als er selber (bessere kognitive Fähigkeiten haben, etc.). In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Agent eine Weltsicht aneignen muss, handelt er rational, wenn er die Weltsicht der lokalen Autorität übernimmt. b. Verwandte Forschungsfelder und Anwendungen in der Ökonomie 1. Informationsökonomik Die Informationsökonomik (economics of information) ist dasjenige Teilgebiet der Wirtschaftstheorie, welches die Rolle der Information in Wirtschaft und Politik untersucht. Die Informationsökonomie hat unter anderem zu einem vertieften Verständnis der Vertragstheorie, der Arbeitsmärkte, der Corporate Governance, der Aktienmärkte und der Versicherungsmärkte geführt. Ganz zentral sind hierbei Situationen mit asymmetrischer Information (z.B. Moral Hazard und Adverse Selektion). Im Gegensatz zur neoklassischen Theorie, in der von vollständiger Informiertheit der Akteure ausgegangen wird, beschreibt die Informationsökonomik Situationen, in denen dies nicht möglich ist. Darüber hinaus beschäftigt sich die Informationsökonomik mit der Akquisition von neuen Informationen. Informationen und „Wissen“ haben einen Wert als Ressource und können deshalb wie ein „normales“ ökonomisches Gut behandelt werden, für das es eine Nachfrage gibt. Bei der „Kauf“-Entscheidung werden auch bei Informationen Kosten und Nutzen gegenübergestellt und abgewogen. Zum Teil werden Informationen und Wissen ganz allgemein nachgefragt, z.B. in der Ausbildung. In diesem Fall hat der Einzelne keine genaue Vorstellung davon, wie er dieses Wissen konkret einsetzen wird. Trotzdem ist davon auszugehen, dass der Einzelne zumindest eine grobe Vorstellung davon hat, welchen Wert diese Informationen später für ihn haben werden. Nur so ist seine Investition in Form von Zeit, Geld und Opportunitätskosten erklärbar. In anderen Fällen werden sehr konkrete Informationen nachgefragt, z.B. der Zinssatz bei Spareinlagen. In diesem Fall weiss der Einzelne sehr genau, was der Wert der Information für ihn sein kann. Wie viel Zeit und Geld der Einzelne in diese Informationsbeschaffung investiert, hängt von der erwarteten Verbesserung der Anlagemöglichkeit durch eine weitere Zinsinformation ab. Die Akquisition von Informationen ist nicht kostenlos, so dass der Wert der Information/des Wissens mit anderen Verwendungsmöglichkeiten der gleichen „Geldsumme“ verglichen werden muss. Oft ist der Rückgriff auf Informationsintermediäre notwendig. Sunstein (2006) belegt, dass Märkte für Informationen oft zu besseren Informationen und damit zu besseren Entscheidungen führen als deliberative Diskussionen oder individuelle Informationsbeschaffungen. In diesem Sinne ist es für den Einzelnen nicht nur angesichts der hohen Kosten der eigenständigen Informationsbeschaffung rational, sich auf Informationsintermediäre zu verlassen. Ein weiterer konkreter Ansatz ist der von Hardin (2002), den Herr Baurmann in seiner Arbeit zitiert. Hardin beschreibt eine ökonomische Theorie des Wissens. Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 7 Diese Theorie unterscheidet sich von dem philosophischen dadurch, dass er den Glaubenden, den Träger des Wissens in den Mittelpunkt stellt. Die traditionelle Philosophie des Wissen bzw. der Epistemologie beschreibt Wissen als eine „gerechtfertigte wahre Aussage.“ Diese Debatte ist in der Regel unabhängig davon, ob der Einzelne die Wahrhaftigkeit seiner Aussage/Annahme überprüfen kann. Die philosophische Debatte bezieht sich demnach auf das Objekt des Glaubens, nicht den Glaubenden, den Träger einer Information/Annahme. Es werden Kriterien entwickelt zur Beurteilung ob das Objekt des Glaubens „wahr“ ist bzw. ob der Prozess der Wissensgenerierung so gestaltet ist, dass er zur Wahrheit führen wird. Hardins ökonomische Theorie setzt beim Individuum an. Die Frage ist also, warum Individuen welche Informationen einholen und für wahr halten. Die Theorie befasst sich demnach nicht mit den Objekten des Glaubens und ob diese objektiv wahr und richtig sind, sondern mit dem Prozess über den sich Personen bestimmtes Wissen einholen und danach handeln. Dabei stehen die Kosten und Nutzen des Erwerbs einer Information im Zentrum. Darüber hinaus werden die Kosten und Nutzens des aktiven Erinnerns einer Information sowie die Kosten und Nutzen einer gedanklichen Veränderung der Information analysiert. Die Kosten des eigenständigen Erwerbs und der eigenständigen Überprüfung von Wissen sind sehr hoch. Die meisten Personen verlassen sich deshalb auf Autoritäten und den Wissenstand in der Gesellschaft in der sie leben (siehe auch Hardin 1992, 1997). Unter den Kosten einer Information versteht Hardin auch die sozialen Konsequenzen: eine Person hat wenig Anreiz Wissen zu erwerben, das in der Gesellschaft, in der die Person lebt, nicht akzeptiert wird. 2. Zum Thema Extremismus Hardin (2002, 1997) überträgt seinen Ansatz auf das Thema Religion und Terrorismus. Fundamentalistische oder extremistische Ansichten florieren eher in isolierten Gruppen von Leuten mit ähnlichen Einstellungen. Zum einen stehen dem Einzelnen in einer solchen Situation kaum weitere Informationsquellen zur Verfügung. Zum anderen sind die Kosten der Übernahme von nicht-gesellschaftskonformem Wissen in einer solchen Situation besonders hoch, da soziale Sanktionen und Ausgrenzungen oft aktiv praktiziert werden. Personen mit abweichenden Meinungen werden ausgeschlossen, so dass am Ende eine relativ homogene Gruppe von „Gläubigen“ zurückbleibt und sich der Prozess der sozialen und wissensmässigen Isolation verstärkt. Extremismus verstärkt damit soziale Segregation und umgekehrt. Diese Sicht ist akzeptiert z.B. in der Literatur zu religiösen Sekten (siehe z.B. Knoke 1990). Wintrobe (2002) und Breton und Dalmazzone (2002) betonen die Rolle von politischen Unternehmern, die die Unterschiede zwischen isolierten Gruppen ausnutzen und vergrössern. Glaeser (2002) argumentiert ähnlich: Politiker schüren Hass3, wenn dies die Attraktivität einer vom Politiker favorisierten Politik fördert. Er schreibt weiter, dass die „Nachfrage“ nach Hass sinkt, wenn die Konsumenten mit der Zielgruppe interagieren. Dieser Prozess wurde in anderem Zusammenhang von 3 Glaeser (2002) definiert Hass als die Bereitschaft ein persönliches Opfer zu bringen um anderen zu schaden. Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 8 Becker (1957) beschrieben, der argumentiert, dass Hass die möglichen Gewinne aus sozialen Interaktionen schmälert. Auch Terroristen können entgegen der landläufigen Meinung als rationale Akteure charakterisiert werden, die zwischen legalen und terroristischen Aktivitäten entscheiden, um ihre politischen Ziele zu verfolgen (siehe z.B. Lichbach 1987). Enders und Sandler (1993) konnten empirisch nachweisen, dass Terroristen auf veränderte Kostenstrukturen reagieren. Sie finden sowohl substitutive wie auch komplementäre Beziehungen zwischen einzelnen Arten von Attacken. Sie evaluieren die Wirksamkeit von sechs Politikmassnahmen zur Begrenzung von Terrorismus. Die Existenz von Komplementen und Substituten bedeutet, dass Politiken, die eine Reduzierung der einen Angriffsart anstreben, die Anzahl und Intensität von anderen Arten von Attacken verändern werden. Die Installation von Metalldetektoren in Flughäfen hat z.B. die Anzahl der Flugzeugentführungen reduziert, führte aber zu einer Zunahme von anderen Arten von Geiselnahmen und Ermordungen. Langfristig gesehen hat die stärkere Sicherung von Botschaften die Zahl der Verbarrikadierung verringert, die Zahl der Ermordungen aber erhöht. 3. Erfahrungs- und Vertrauensgüter Ein weiterer verwandter Theoriestrang in der Ökonomie ist die Literatur zu Erfahrungs- und Vertrauensgütern4. Auch hier ist der Einzelne in der Regel auf Informationen und Erfahrungen anderer Parteien angewiesen, da er nicht alle Erfahrungsgüter selber überprüfen kann. Bei Vertrauensgütern ist eine eigenständige Überprüfung oft gar nicht möglich. c. Politikimplikationen 1. Störung des von Baurmann aufgezeichneten Kreislaufs Herr Baurmann zeigt ein Gleichgewicht des rationalen Fundamentalismus auf, in dem sich die oben erwähnten fünf Elemente: Partikulares Vertrauen, Fundamentalistischer Glaube, Lebensweltliche Plausibilität, Epistemische Isolation und Soziale Isolation gegenseitig bedingen. Sind Massnahmen gegen Fundamentalismus erwünscht, können sie an allen Stellen dieses Kreislaufes ansetzen. Fundamentalismus kann also nicht (nur) begrenzt werden, wenn direkt an den fundamentalistischen Glaubensinhalten oder deren Trägern angesetzt wird. Im Folgenden werden einige Massnahmen beispielhaft angeführt. Die lebensweltliche Plausibiliät des fundamentalistischen Gedankengutes kann gemindert werden, indem der weltliche Wohlstand über Entwicklungsmassnahmen erhöht wird. Auch politisch eingeleitete Friedensbemühungen in Konfliktzonen sollten – wenn richtig durchgeführt – fundamentalistische Tendenzen mindern. 4 Erfahrungsgüter sind Güter, deren Nutzen sich erst nach dem Kauf zeigt, da die Qualität erst dann ermittelt werden kann (Wied-Nebbeling 2004) Ein Beispiel ist die Dienstleistung des Friseurs. Vertrauensgüter können weder vor noch nach dem Kauf umfassend bewertet werden (Konsultation eines Arztes oder Rechtsanwaltes); der Verkäufer weiss mehr über seine Ware als der Käufer („Informationsasymmetrie“). Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 9 Die soziale Isolation kann z.B. durchbrochen werden durch die Förderung von internationalem und intergesellschaftlichem Austausch. Dies können z.B. schulische Austauschprogramme sein, staatliche geförderte Auslandslandsaufenthalte oder gemeinsame Einrichtungen für benachbarte isolierte Gemeinden. Solche Massnahmen können auch dazu dienen, das rational fundierte Misstrauen gegen andere Gemeinschaften zu mindern. Der epistemischen Isolation kann entgegengewirkt werden, indem Auslandsaufenthalte z.B. mit Besuchen von Universitäten verbunden werden. Die betreffenden Personen sollten dort die Gelegenheit haben im offenen Austausch mit Wissenschaftlern ihre Einstellungen zu diskutieren. Alternativ können Flugblätter und Informationszeitschriften in den betreffenden Gebieten verteilt werden. Dass sich Austausch und Kommunikation positiv auf die Kooperationsbereitschaft auswirkt, wurde z.B. im Bereich der experimentellen Ökonomik nachgewiesen (und das sogar bei Anonymität; siehe Frey und Bohnet 1999a, 1999b). In einer MetaAnalyse über soziale Dilemma-Experimente zeigt Sally (1995, 61), dass Diskussionen und Kommunikation zwischen den Teilnehmern einen sehr grossen Effekt auf die Kooperationsbereitschaft der Individuen hat. Soziologische Studien zeigen, dass auf das Wohngebiet bezogene Segregation oft eine entscheidende Ursache ist für regelmässig auftretende ethnische Konflikte (siehe Harris 1979 und Whyte 1986 für Irland, Diez Medrano 1994 für das Basken-Gebiet und Hasson 1996 für Israel). Ganz allgemein ist es sinnvoll die Opportunitätskosten der Fundamentalisten zu erhöhen. Die Opportunitätskosten von potentiellen Fundamentalisten bestehen in dem Nutzen, den sie erzielen könnten, wenn sie nicht als Terroristen tätig werden. Diese bestehen z.B. aus Aktivitäten denen sie nur ausserhalb der fundamentalistischen Gemeinschaft nachgehen können. Eine Erweiterung der Möglichkeiten ausserhalb der fundamentalistischen Welt erleichtert den Ausstieg von Fundamentalisten. Spannungen und Widerstände innerhalb der Gruppe werden verschärft, wenn sich den Mitgliedern gute Alternativen bieten. Die Autoritäten sind unter einem grösseren Rechtfertigungsdruck. 2. Ökonomische diskutierte Massnahmen gegen Terroristen Wie oben kurz erläutert können Terroristen in ihren Einstellungen und Handlungen als rationale Akteure verstanden werden. In der Literatur diskutierte Politikmassnahmen sind auch für den verwandten Fall des „Fundamentalismus“ relevant. Terroraktivitäten können deshalb vermindert werden, indem entweder die Kosten (Standardansatz) erhöht oder der Nutzen aus terroristischen Aktivitäten vermindert werden. Letzteres wird z.B. von Frey und Lüchinger (2004) vertreten. In diesem Papier schlagen sie eine stärkere Dezentralisation vor. Diese senke den Nutzen aus einzelnen Terroranschlägen auf zentrale Gebäude und Einrichtungen, weil es in einem dezentralen Staat zahlreiche repräsentative und wichtige Gebäude und Einrichtungen gibt. Ein anderer Ansatz ist in Frey und Lüchinger (2003) dargestellt. Sie argumentieren, dass Terrorismus bekämpft werden kann, indem positive Anreize gesetzt und damit die Opportunitätskosten der Terroristen erhöht werden. Dies unterscheidet sich Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 10 grundsätzlich von einer Politik der Abschreckung, die versucht die materiellen Kosten für potentielle Terroristen zu erhöhen. Vorgeschlagen werden unter anderem Anreize wie Geld und Strafminderung für das Verlassen der Terrororganisation sowie internationalen Austausch. Darüber hinaus sollten Terroristen am Diskussionsprozess in einer Bevölkerung beteiligt werden, in dem ihre Ziele und Sorgen ernst genommen werden und versucht wird, Kompromisse zu erarbeiten. Kommentar zu Professor Baurmann – CREMA Seminar 17.11.2006 Susanne Neckermann 11 5. Literaturverzeichnis Albert, H. (1980). Traktat über die kritische Vernunft. Tübingen. Baurmann, M. (2006). Kritische Prüfung ist gut, Vertrauen ist unvermeidlich? Individuelle und kollektive epistemische Rationalität. Unveröffentlichtes Manuskript. Becker, G.S. (1957). The Economics of Discrimination. Chicago: University of Chicago Press. Böhm, J. M. (2006), Kritische Rationalität und Verstehen. Beiträge zu einer naturalistischen Hermeneutik, Amsterdam-New York: North-Holland Publ. Co. Breton, A. and Dalmazzone, S. (2002). Information Control, Loss of Autonomy, and the Emergence of Political Extremism. In: A. Breton, G. Galeotti, P. Salmon and R. Wintrobe (Hrsg.), Political Extremism and Rationality. 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