Bernhard Grümme, Alteritätstheoretische Didaktik

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Bernhard Grümme,
Von der Fremdheit zum Vertrauten? Der Beitrag der Alteritätsdidaktik zu einer
zeitgemäßen Religionsdidaktik
In der gegenwärtigen Religionspädagogik und Religionsdidaktik ist wieder viel
von Erfahrung die Rede. Es geht, wenn wir genauer hinsehen, um
Wahrnehmungsschulung, um die Anbahnung von Erlebnissen, um daraus
Erfahrungen werden zu lassen, die tragfähig sind, die Sinn eröffnen, die uns
Perspektiven ermöglichen, Orientierungen schaffen. Es geht um Erfahrungen, wie
der Sozialphilosoph Hans Joas zu betonen nicht müde wird, aus denen heraus erst
jene Werte erwachsen, durch die wir verantwortungsvoll und gut leben können.
Auch von religiösen Erfahrungen ist wieder vermehrt die Rede. Manche reden von
einer Wiederkehr der Religion und vergessen dabei, dass die Religion entgegen
allen Postulaten der Säkularisierungstheoretiker nie ganz verschwunden ist.
Insofern kann sie auch nicht wiederkehren. Gleichzeitig wird aber auch übersehen,
wie sehr sich Religion transformiert hat und an Orten wiederkehrt, wo wir sie
eigentlich gar nicht vermuten. Längst hat sich bei einiger Sensibilität gezeigt, dass
sich Phänomene des Konsumrausches oder der körperfixierten Sportbegeisterung
ohne Kategorien wenigstens von Religiosität nicht verstehen lassen. Religiöse
Erfahrungen aber spielen vermehrt auch im Religionsunterricht wie in der
Religionsdidaktik eine Rolle. Die Pointe des Performativen Religionsunterrichts
liegt ja genau darin, Erfahrungen religiöser Art im Religionsunterricht selber
anzubahnen, damit das Ziel religiöser Bildung erreicht werden kann, Religion
kritisch beurteilen zu lernen. Auch der in letzter Zeit sehr stark gesetzte Akzent
auf Ästhetik geht in diese Richtung. Ästhetische Erfahrungen sollen der
Ansatzpunkt für religiöses Lernen sein. Vor allem Bilder der Kunst oder Musik
dienen dazu, religiöse Lernprozesse zu ermöglichen. Denn die in einem Bild von
Michelangelo, in einem Song der Toten Hosen oder von Jonny Cash explizit oder
1
versteckt eingewobenen Erfahrungen sollen in den Schülerinnen und Schülern
selber religiöse Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse anstoßen. Darüber, so
die Befürworter ästhetischen Lernens, sollen dann auch die in den Texten der
Bibel artikulierten Gotteserfahrungen in den Lernprozess eingespielt werden
können.
Überhaupt beginnt die Subjektorientierung in der Religionspädagogik einen ganz
neuen Drive zu erfahren. Man vergisst ja viel zu leicht, wie sehr die
Mittelpunktstellung des Schülers im Unterricht den herkömmlichen Konzepten der
Materialkerygmatik oder des hermeneutischen Unterrichts erst abgerungen werden
musste. Der enorme Aufbruch, der mit der anthropologischen Wende in der
Theologie und dem zweiten Vatikanischen Konzil, dessen Beginn sich in diesem
Jahr zum 50. mal jährt, auch für die Religionspädagogik und die Religionsdidaktik
verbunden war, der frische Wind, der das Kind und nicht die Inhalte in die Mitte
religiösen Lernens stellt, ist kaum noch in seiner geradezu herausfordernden, alte
Verkrustungen und Verobjektivierungen aufsprengenden Kraft zu spüren.
Erfahrungs- und Schülerorientierung sind spätestens mit dem Synodenbeschluss
zum Religionsunterricht Grundmaximen religiöser Bildungsprozesse geworden.
Wollte der Religionsunterricht hinter diesen Reflexionsstand zurückfallen, würde
er sich ins schulpädagogische Ghetto begeben, weil er nicht mehr dem schulischen
Bildungsauftrag dienlich sein kann. Ich glaube, ich mache keine übertrieben
wagemutige These wenn ich behaupte, dass gegenwärtiger Religionsunterricht
mehr oder weniger zumindest auf der normativen Ebene und auf der
Planungsebene subjektorientiert abläuft.
So schön, so gut, könnte man meinen. Und der regelrechte Boom dieser
ästhetischen
und
performativen
Ansätze,
die
weite
Verbreitung
in
Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern gefunden haben, unterstreicht diese
nachhaltige Wirksamkeit von Erfahrungs- und Subjektorientierung.
Gleichwohl stellt sich doch ein Verdacht ein. Sind nicht die Lernprozesse im
Religionsunterricht so angelegt, dass vor allem jene Erfahrungen thematisiert und
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eingespielt werden, die zu uns, die zu den Schülerinnen und Schülern passen? Ist
es nicht vor allem so, dass hier Passungen und weniger Irritationen gesucht
werden, Harmonie statt Provokation? Gewiss werden manche von Ihnen sagen:
wir haben doch unsere Korrelationsdidaktik. Deren Profil ist es doch gerade
Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler und die Erfahrungen, die in der Bibel
oder in der Tradition artikuliert sind, in ein wechselseitiges Gespräch zu bringen,
in einen Dialog. Ja, mehr noch und weitaus radikaler: Dieser Dialog soll ja kritisch
und produktiv sein, damit die Aussagen der Tradition und der Bibel ganz neu und
durchaus in ihrer Eigenständigkeit in unserer Gegenwart zu Wort kommen, und
die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler unter dem kritischen Eindruck
dieser Traditionen irritiert werden und möglicherweise neue Perspektiven
erfahren. Aber sieht man genauer hin, betrachtet man die unterrichtliche Realität
und analysiert man das Konzept der Korrelation genauer, stellt sich die Frage, ob
die Fremdheit in den Traditionen, ob das Irritierende in den Erfahrungen, ob das
Abseitige, das Nicht-korrelierbare angemessen gewürdigt wird? Wie soll in den
Prozessen von
Pluralisierung, die inzwischen alle Bereiche unseres Lebens
betreffen, angemessen von der Unterschiedlichkeit von Erfahrungen geredet
werden,
wie
sollen
diese
angemessen
gewürdigt
werden,
wenn
der
Religionsunterricht im Banne eines Konzeptes abläuft, das möglicherweise alle
Vielheit in eine letzte Einheit aufheben möchte? Und noch ein Punkt: Führt nicht
die starke Akzentsetzung beim Subjekt dazu, das fremde Erfahrungen, das
umwegige Lernwege, dass das Andere, ja das Alterität abgemildert werden zu
dem, was irgendwann doch noch vom Subjekt erfahren oder gar begriffen sein
wird. Der Verdacht legt sich nahe, dass der inzwischen geradezu mit der Dynamik
modischer Prozesse in der Religionspädagogik und im Begriff religiösen Lernens
um sich greifende Konstruktivismus diese Tendenz noch einmal verstärkt. Denn
auch wenn der konstruktivistisch verstandene Lernprozess von Perturbationen,
von Verstörungen lebt, so werden diese doch stets eingeborgen in den je größeren
Rahmen des erkennenden Subjekts. Müsste nicht überhaupt das Subjekt
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fragmentarischer gedacht werden, weniger von einem festen Identitätsbegriff her?
Wären dann nicht insgesamt Religionspädagogik und Religionsdidaktik
grundlegend neu anzulegen? Zwar darf aus den erwähnten Gründen die
Subjektorientierung nicht aufgegeben werden. Aber wäre sie nicht neu zu
konzipieren von den Erfahrungen des Anderen her? Wäre nicht ein
alteritätstheoretischer Erfahrungsbegriff zu erarbeiten, um beidem gerecht zu
werden: der Würde des Subjekts wie der Würde der biblischen Tradition, die
andernfalls in die Reihe anderer belangloser wie harmloser Erfahrungen gestellt
würde, weil sie die Kraft zum Herausruf, zur Irritation, zur Befreiung verloren
haben. Kurz: wäre nicht eine alteritätstheoretische Didaktik auszuarbeiten, um den
alles relativierenden Prozessen eines Vertrautwerdens jeglicher Fremdheit
entgegen zu wirken? Wie Sie dem Titel meiner Überlegungen entnehmen können,
geht meine These genau in diese Richtung.
Diese These will ich nun in folgenden Schritten näher erläutern und begründen:
In einem ersten Schritt will ich zeigen, dass die Entdeckung dieser Fragestellung
selber mit berufsbiografischen Erfahrungen zu tun hat. Ein zweiter Schritt arbeitet
dann
den
Ansatz
einer
alteritätstheoretischen
Didaktik
in
einer
Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff heraus, bevor dann drittens ein
alteritätstheoretischer Erfahrungsbegriff entwickelt wird. Dabei bewegen wir uns
auf der Ebene der Denkform. Konkreter wird es dann im vierten Schritt, wenn im
Lichte
einer
alteritätstheoretischen
Denkform
Konturen
einer
alteritätstheoretischen Didaktik gezeichnet werden. Abschließend soll dann diese
Didaktik am Beispiel des Judentums als Thema des Religionsunterrichts erprobt
werden.
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1. Berufsbiographischer Hintergrund
Philosophie, so hat es einmal der Philosoph Hegel formuliert, fasst ihre Zeit in
Gedanken. Ähnliches gilt für Theologie und Religionspädagogik. Wo diese sich
recht verstehen, sind ihre Konzepte, ihre Theorien und Ansätze nicht reine
Kopfgeburten in den Elfenbeinszenarien isolierter Schreibtischarbeit. Sie sind
eingebunden in lebensweltliche und berufsbiographische Erfahrungen.
Auch der Entwurf einer alteritätstheoretischen Didaktik ist in solchen
berufsbiographischen Erfahrungen verwurzelt. Wissenschaftstheoretisch sind
Genesis
und
Geltung,
sind
Entdeckungszusammenhang
und
Begründungszusammenhang zu unterscheiden. Aber sie sind nicht zu trennen. Der
Entstehungszusammenhang
dieses
Entwurfs
ist
die
Examensphase
des
Referendariats an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Es galt im Rahmen
der 2. Staatsexamensarbeit eine Unterrichtsreihe zum Thema Juden und Christen
für eine 10. Klasse zu planen, durchzuführen und kritisch zu reflektieren.
Ausgestattet
mit
korrelationsdidaktischen
dem
und
soeben
im
methodischen
Fachseminar
Rüstzeug
erworbenen
wurde
die
Arbeit
aufgenommen. Doch ein schnelles Resultat wollte sich nicht einstellen. Sowohl
bei der Planung als auch in der Durchführung zeigte sich, wie sperrig das Thema
Judentum für die Jugendlichen war. Der Eindruck einer radikalisierten,
gewissermaßen doppelten Fremdheit stellte sich ein. Hatte sich selbst in dieser
doch noch halbwegs katholisch sozialisierten Welt des Münsterlandes bereits
religionspädagogisches
Arbeiten
herausgestellt,
das
weil
in
der
Christentum
Schule
generell
inzwischen
den
als
schwierig
allermeisten
Heranwachsenden weitgehend fremd geworden war, so zeigte dies das Thema
Judentum in einer verschärften Dramatik. Hier gab es bei den allermeisten
Schülerinnen und Schülern keine nennenswerten lebensweltlichen Bezüge oder
Kenntnisse. Das Instrumentarium der Korrelationsdidaktik geriet in diesem Fall
vollends an seine Grenzen. Es liegt in der Logik dieser Korrelation, alles
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miteinander in Verbindung zu bringen, alles letztlich zu harmonisieren. Aber sie
ermöglichte es nicht hinreichend, das Nicht-Synthetisierbare, das Ausstehende,
eben das Fremde des Themas Judentum hinreichend didaktisch zu bedenken. Die
Suche nach den Gründen einer solchen Unzulänglichkeit führte nicht zu einer
totalen Verabschiedung der Korrelationsdidaktik. Dafür hatte sie sich in anderen
Themenbereichen des Unterrichts mehr oder weniger pragmatisch bewährt und
hatte gerade durch ihren Subjekt- und Erfahrungsbezug ihre Anschlussfähigkeit an
die Konzepte der anderen Fachdidaktiken (wie in meinem Falle der
Geschichtsdidaktik) erwiesen. Ohne irgendeine Form des Korrelierens drohte
Religionsunterricht in ein mehr oder weniger autoritäres, weil subjektloses
Unterfangen zu geraten. Es galt folglich, diese kritisch fortzuschreiben. Nur wie?
Bei der Analyse korrelationsdidaktischen Religionsunterrichts hatte sich
herausgestellt, dass die eigentlichen Probleme auf der Ebene der Denkform lagen,
der grundlagentheoretischen Begründung, nicht jedoch primär auf der Ebene der
praktischen Konkretisierung. Von dort aus, von einer Veränderung des
grundlagentheoretischen Begründungsgerüstes, waren daher neue Impulse für eine
veränderte, kritisch fortzuschreibende Korrelationsdidaktik zu erwarten. Wie
musste die Korrelationsdidaktik von ihren Grundfesten her weiter gedacht
werden? Die Kritik war also bis auf die grundlagentheoretische Ebene, bis auf die
Wurzel der Probleme voranzutreiben. Kategorien für die Analyse wie für die
kritische Fortschreibung lagen aus der Auseinandersetzung mit jüdischem Denken
im Rahmen meiner theologischen Promotion zu Karl Rahner und Franz
Rosenzweig bereit. Die radikale Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas
(Lévinas 1987) machte sensibel und bot zugleich das begriffliche Instrumentarium
für das Phänomen von Alterität, für die Erfahrung des Anderen, ohne dass die
Grenzen dieses Denkens übersehen werden konnten. Muss man nicht stärker die
Verstehensleistungen des Subjekts für das Zustandekommen von Erfahrungen
berücksichtigen, als dies Lévinas durchführt? Im besonderen Maße wurde deshalb
für mich die dialogische Philosophie Franz Rosenzweigs wichtig. Dessen
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dialogischer Personalismus verankert alles Denken, verankert die menschliche
Existenz im Wechselverhältnis von Ich und Du. Alles geschieht aus der
Begegnung des Ich mit dem Du heraus. ‚Ich’ kann der Mensch eigentlich niemals
aus sich selber heraus sagen, sondern erst aus dem Angesprochenwerden durch
das Du. Rosenzweig wurde auch deshalb wichtig, weil er im Unterschied zum
dialogischen Personalismus Martin Bubers deutlicher noch das Fremde des Du als
auch die gesellschaftlichen Verwurzelungen des Dialogismus betont. Als eine der
entscheidenden
Aufgaben
korrelationsdidaktischen
einer
Denkform
kritischen
kristallisierte
Fortschreibung
sich
freilich
dann
der
die
systematische Vermittlung dieser unterschiedlichen Positionen heraus.
2. Schwierigkeiten des Erfahrungsbegriffs
Für die alteritätstheoretische Didaktik ist es also die Denkform, mithin der
Erfahrungsbegriff
der
Religionspädagogik,
in
dem
die
Probleme
der
Korrelationsdidaktik aufzusuchen und in dem dessen kritische Fortschreibung
anzusiedeln sind. Doch wie ist dieser Erfahrungsbegriff zu verstehen?
Dieser Begriff ist wahrscheinlich einer der schillerndsten, unaufgeklärtesten
Begriffe der Philosophie- und Denkgeschichte. Von seiner Wortbedeutung her
besagt ‚Erfahrung‘ durch Fahren, Erkunden, Einholen eine Sache wahrnehmen,
aber auch mit einer Sache konfrontiert werden, sich ihr aussetzen, etwas erleiden,
sich dabei gar einer Gefahr überantworten (vgl. Ritter 1989, 89f.). Wichtig ist
zunächst einmal die Beobachtung, dass es keine unmittelbare Erfahrung gibt.
Immer resultiert sie aus Deutungen und Reflexionen von Erlebnissen. Erfahrung
bedeutet also, dass ich meine Erlebnisse, die sich in meinem Leben einstellen,
interpretiere. Erfahrung wird also in ganz erheblicher Weise durch meine Deutung
selber mitgeprägt. Sie bildet einerseits einen wesentlichen Weg, auf dem ich zu
neuen Erkenntnissen komme und etwa Neues lerne. Sie stellt andererseits immer
auch einen Teil meiner Lebenssicht, meiner Weltdeutung dar. Dafür verwende ich
stets eine Sprache, ein Zeichensystem, bestimmte kulturelle Verstehensmuster und
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Wertvorstellungen, in denen ich je schon lebe. Um es präziser zu sagen: In diesem
höchst dynamischen Erfahrungsprozess
spielen drei Momente in einer
dialektischen
ineinander:
Wechselwirkung
Erfahrungssubjekt,
Erfahrungsgegenstand und subjektiver Interpretationsrahmen. Erfahrungssubjekt
und Erfahrungsobjekt verändern sich in dieser Dialektik. Das Subjekt nimmt das
Erfahrungsobjekt
wahr,
deutet
es
vor
dem
Hintergrund
seines
Interpretationsrahmens und eignet es sich produktiv an, was wiederum auf diesen
Interpretationsrahmen zurückwirkt, das Subjekt selber verwandeln und auch das
Erfahrungsobjekt in einem anderen Licht erscheinen lassen kann. Erfahrung ist
also geprägt von Wahrnehmung und Deutung und darin abhängig vom
Vorverständnis der Subjekte. Sie beinhaltet „gleichermaßen Aktivität wie
Passivität, ‚Widerfahrnis’ wie ‚Leistung’“ (Ritter 1989, 187).
Wenngleich also Erfahrungen – grob gesagt – immer auf dieselbe Weise zustande
kommen, so gibt es doch Erfahrungen ganz unterschiedlicher Art. Aus unserem
spezifisch
religionspädagogischen
Alltagserfahrungen,
religiöse
Erkenntnisinteresse
Erfahrungen
und
heraus
christliche
lassen
sich
Erfahrungen
unterscheiden (Vgl. Lentzen-Deis 1995, 756-757). Der Interpretationsrahmen ist
dabei für das Zustandekommen der Erfahrung schlechthin essentiell, weil ohne ihn
das Erlebte und Wahrgenommene nicht im bisherigen Erfahrungszusammenhang
erschlossen, angeeignet oder auch an andere mitgeteilt werden kann (Biehl 2001,
421-426, 422-424). Folglich kann dieser Interpretationsrahmen insofern
problematisch werden, als er den Weg zur Erfahrung öffnen oder versperren kann,
je nach dem ob er bestimmte Dimensionen von Erfahrung wie Kreativität,
Spontaneität und Imagination erschließen oder - wenn man sich nur am empirisch
Feststellbaren ausrichten möchte - aus dem Erfahrungsbegriff ausschließen will
(Vgl. Laing 1969, 11f.). Verdeutlichen wir uns das Gesagte an einem gewiss sehr
verkürzten Beispiel aus der Medizin: Wir haben intuitiv und im Lichte
lebensweltlicher Zusammenhänge ein bestimmtes Bild von ärztlicher Kunst
aufgrund bestimmter Erfahrungen, die wir bisher damit gemacht haben. Nach
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einer Operation wird sich unser Bild davon immer verändern: entweder werden
wir noch weiter und intensiver an die ärztliche Kunst glauben oder sind in Zweifel
gesetzt worden. Diese Erfahrungen werden dann dazu führen, dass wir etwas
entspannter in die nächste Operation gehen oder vor Angst vergehen, wobei wir
uns nochmals diesen Erfahrungen stellen müssen.
Vor
diesem
Hintergrund
können
wir
nun
das
Problematische
der
Korrelationsdidaktik verstehen. Es sind weniger methodische und didaktische
Unzulänglichkeiten. Es ist die Art und Weise, wie die Korrelationsdidaktik auf der
Ebene der Erfahrungen funktioniert. Es ist auf grundlagentheoretischer Ebene der
Weg, wie Erfahrungen zustande kommen. Der Verdacht ist der, dass Erfahrungen
so
stark
vom Vorverständnis
der Subjekte
ausgehen, so
stark
alles
Wahrgenommene vom Subjekt her lesen, dass die eigene Wirklichkeit, die Würde
und damit immer auch die Fremdheit des Wahrgenommen abgeschwächt oder gar
beseitigt werden. Setzt nicht die Religionspädagogik die Annahme voraus, dass
alles Reden von Gott irgendwie zu unseren Erfahrungen passen und dass es sich
an unseren Erfahrungen bestätigen und bewahrheiten lassen muss (vgl. Lenhard
1996, 274)? Der Korrelationsgedanke besteht ja in der kritisch-produktiven
Wechselseitigkeit von Leben und Glauben, von Schülererfahrung und christlicher
Tradition. Beide, Schüler (Subjekt) und Tradition (Objekt) werden miteinander in
ein dialogisches Gespräch gebracht. Allerdings scheint dies nicht problemlos
möglich zu sein. Die Erfahrungen auf der Seite der Schüler wie die in der
Tradition artikulierten Erfahrungen sind nicht einfach vergleichbar. Dies gilt
besonders für zwischenmenschliche Erfahrungen. Menschen sind doch immer
auch füreinander fremd. In Erfahrungen begegnen uns die Menschen als Andere.
Und sind wir immer mit uns im reinen? Spätestens seit der Psychoanalyse
Siegmund Freuds wissen wir doch, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Haus
ist. Der Mensch ist nie ganz mit sich korrelierbar, immer auf der Suche nach sich
selbst (vgl. Hemmerle 1994, 308f.).
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Der Begriff einer von Vergleichbarkeit und Dialog ausgehenden Erfahrung ist vor
allem aber dann schwierig, wenn in diesen Erfahrungen von Gott die Rede ist,
dem Ganz Anderen, der in seiner Nähe bei den Menschen immer auch der Ferne
ist.
Dazu kommt ein Weiteres, das mit der Art und Weise des Verstehens, der
Hermeneutik zu tun hat. Wird wirklich im Erfahrungsbezug das Konkrete in seiner
Unverwechselbarkeit gewahrt? Das Besondere jeder Erfahrung droht doch in
einem Allgemeinen unterzugehen, das Vielfältige in dem Umfassenden
aufgehoben zu werden. Das Plurale wird dem Einen gleichgemacht. Ulrike
Greiner zeigt, wie sehr diese Art, den anderen zu verstehen, mit einer Tendenz der
Vereinnahmung und Gewalt zu tun haben kann, und nennt diese Verstehensweise
deshalb „Verschmelzungshermeneutik“, die letztlich alles gewaltsam sich
angleichen möchte (Greiner 2000, 290).
Man könnte nun einwenden, dass doch am Grund des korrelationsdidaktischen
Erfahrungsbegriffs eben ein Dialog stünde. Durch dieses dialogische Verhältnis
würden doch in dem Hin und Her des Dialogs eben beide Seiten, Subjekt und
Objekt, der Schüler wie die jüdisch-christliche Tradition, das Eigene und das
Andere, gleichermaßen zur Geltung gebracht. Doch zeigt eine genauere Analyse
der Dialogik, dass letztlich ein Dialog dazu tendiert, beide Teilnehmer auf
Augenhöhe zu sehen und die Fremdheit einzuebnen. Sie geht davon aus, dass am
Ende auch das Gegenüber im Rahmen des Dialogs verstanden werden kann. Die
Dialogik zwingt das Unverständliche, das Fremde, das Abwegige in ein festes
Schema – und entwichtigt es dadurch (Grümme 2007, 251-260). Das Dialogische,
wenigstens insofern es als Wechselseitigkeit von Ich und Du, von Subjekt und
Objekt angelegt ist, scheint eine problematische Kategorie zu sein, die wesentliche
Momente der Wirklichkeit nicht angemessen würdigen kann. Ist es beispielsweise
nicht so, dass erst der zuvorkommende Blick der Mutter, ihre anerkennende
Fürsorge und Zärtlichkeit, den Säugling zu einer eigenen Identität heranreifen
lässt? Ist es nicht so, dass der Blick eines unschuldig Leidenden uns in eine
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Verantwortung zwingt, die uns ganz anders werden lässt? Drängt dies uns nicht
eine ganz veränderte Sicht auf die Welt und die Menschen auf, eine dramatische
Umkehr unserer Lebensweise und Denkkategorien, die eben gerade nichts mehr
vom anderen erwartet und damit jedes Dialogische aufsprengt? Oder können die
schwierigen biblischen Texte, die von einem rachsüchtigen, gewalttätigen Gott
sprechen, wirklich in einem dialogischen Schema ausgelegt werden? Bleibt da
nicht ein Überschuss, der nicht dialogisch bewältigt werden kann? Kann die
biblische
Erfahrung
des
Auferstandenen
wirklich
im
Schema
eines
wechselseitigen Dialogs zum Ausdruck gebracht werden? Bleibt da nicht stets ein
Mehr, bleibt da nicht stets eine Ferne?
Religionspädagogisch
wie
theologisch
wäre
eine
solche
Verschmelzungshermeneutik fatal. Wie soll das den Anderen in seinem Anspruch
an mich ernst nehmen, den ich nicht immer schon verstanden habe? Wie kann dies
der Fremdheit und der Gebrochenheit, die jeder in sich selber spürt, gerecht
werden? Wie soll dies das Recht jedes Menschen auf seine je eigenen
Lebenswege, auf seine individuellen Erfahrungen hinreichend würdigen? Unsere
moderne Gegenwart ist doch zutiefst von Individualisierung und Pluralisierung der
frei gewählten Lebensentwürfe geprägt. Wie soll das der Fremdheit Gottes
entsprechen, der inmitten seiner geschichtlichen Nähe immer der Ausständige, das
Hl. Geheimnis bleibt? Jene Fremdheit ist aber wichtig, damit in unsere Gegenwart
und unsere ungefragten Selbstverständlichkeiten fremde Blicke, vergessene
Perspektiven, weiterführende Orientierungen und damit Widerstandspotential
eingebracht werden können. Gerade weil Gott als der Andere nicht zu uns passt,
kann er uns Kritik und Umkehr ermöglichen.
Andererseits müsste deutlich werden, inwiefern das Subjekt selber auf diese
Alterität verwiesen ist, inwiefern es überhaupt verstehen und annehmen kann, was
sich von Alterität her zusagen will. Wenn der Mensch überhaupt keinen Bezug
dazu hat, wenn er Alterität, wenn er den Anderen nicht wenigstens in Ansätzen
wahrnehmen und nichts von ihm verstehen könnte, wie sollte dann überhaupt der
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Andere für ihn Bedeutung haben? Wie sollte Gott, der ganz Andere, unter solchen
Bedingungen für den Menschen überhaupt das Heil sein können? Für eine gute
Theologie war es immer deutlich, dass sich Gott selber in seiner Liebe im
Menschen die Voraussetzungen schafft, damit der Mensch auf Gottes Liebe
überhaupt antworten kann. Nur so kann überdies religionspädagogisch eine ebenso
autoritäre wie subjektlose Fremdbestimmung des Glaubenlernens vermieden
werden, die die Schülerinnen und Schüler meint im Interesse einer ungebrochenen
Weitergabe des Gottesgedankens überspielen zu dürfen. Dies war ja in den
katechetischen Phasen des Religionsunterrichts nicht selten der Fall. Denn für die
jeweilige Existenz und die Identität der Schüler (Subjekte) sind die Erfahrungen
wichtig. Religiöse Lernprozesse dürfen demnach nicht die Erfahrungen der
Tradition in ihrer Fremdheit so starkmachen, dass die Subjekte sich darin nicht
mehr wiederfinden, dass sie sie nicht mehr verstehen können. Sie sollen ja mit
ihrer eigenen Lebenswelt und ihren Erfahrungen ins Gespräch gebracht werden.
Insofern müsste eine kritische Fortschreibung der korrelationsdidaktischen
Denkform sich gleichermaßen gegen zwei Einseitigkeiten verwahren: gegen eine
Subjektlosigkeit einerseits wie gegen eine Alteritätsvergessenheit andererseits. Es
gilt also religionspädagogisch Gott und Religion, Glaube und Leben, Offenbarung
und Erfahrung miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei dürfen weder die
Verstehbarkeit und Kommunikabilität der Botschaft von Gott, der existentielle
Ernst wie auch die Möglichkeitsbedingungen im Menschen für Sinn und Geltung
einer Offenbarung verloren gehen. Noch darf diese Botschaft vollends dem Sog
eines alles relativierenden Pluralismus ausgeliefert werden, für den alles letztlich
gleich gültig und damit gleichgültig ist. Es wäre, kurz gesagt, eine Denkform zu
formulieren, welche die Alterität würdigt, die Pluralität auch gegenüber der
Einheit wahrt, und die doch an der Kommunikabilität von Alterität und Subjekt
festhält. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, Dialogik zu verabschieden. Nur wie
wäre sie neu zu denken?
12
3. Ein Alteritätstheorem als Grundlage einer pluralitätsfähigen Denkform
Ein alteritätstheoretischer Erfahrungsbegriff beansprucht in dieser Situation ein
Doppeltes: Zum einen versucht dieser die Würde des Fremden, des Anderen, des
Ausgeschlossenen, des Einzelnen und Fragmentarischen als grundlegend für die
Erfahrung zu wahren. Zum anderen aber hat auch ein alteritätstheoretischer
Erfahrungsbegriff durchaus einen theoretischen Anspruch. Auch er will Denken
sein. Auch für ihn soll das Subjekt verstehen und nicht nur passiv der Alterität
gegenüberstehen. Deshalb fragt dieser Ansatz nach den Verstehensbedingungen
im Menschen. Wie muss der Mensch in seiner Existenz, in seiner Lebenswelt
beschaffen sein, wie muss er gedacht sein, damit er den Anderen überhaupt in
dessen Anderssein verstehen kann? Wie muss er konstituiert sein, damit er
überhaupt den Ganz Anderen erspüren und erfahren kann? Daher greift der
alteritätstheoretische Erfahrungsbegriff auch auf Denktraditionen zurück, die diese
Bedingungen der Möglichkeit unseres Erkennens und Handelns erforschen und die
wir im Vollzug unseres Lebens immer schon voraussetzen. Dazu gehört eben ganz
wesentlich die uneingestandene und nicht immer zu Bewusstsein gebrachte
Erfahrung, dass ich es bin, der bestimmte Erfahrungen macht. Entscheidend aber
für den alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriff ist es freilich, dass er nicht mehr
primär vom erfahrenden und erkennenden Subjekt her denkt. Er denkt vom
Einbruch des Anderen her.
Dafür greift dieser Erfahrungsbegriff wesentlich auf das Alteritätsdenken Franz
Rosenzweigs zurück, des berühmten jüdischen Philosophen. Der hatte sich in
Kategorien sprachlich vermittelten Freiheitsdenkens mit der Dialogik Martin
Bubers auseinandergesetzt. Aus seiner Interpretation des Liebesdialogs im
biblischen Hohen Lied entwickelt er ein dialogisch-intersubjektives Ich-DuVerhältnis. Dieses wird jedoch vom transzendenten Anderen her eröffnet, indem
er den Menschen bei seinem Namen ruft (Rosenzweig 1990, 221-228). Eine reine
Wechselseitigkeit von Ich und Du kann dem nicht entsprechen. Deshalb sprengt
Rosenzweig die rein wechselseitige Dialogik von Ich und Du bei Martin Buber auf
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und unterlegt ihr gleichsam ein Gefälle, eine grundlegende Asymmetrie. Die
dialogische Wechselseitigkeit von Ich und Du ist demnach nur dann richtig
angelegt, wenn sie auf einem Ungleichgewicht beruht, die von Alterität, die vom
Anderen her eröffnet wird. In dieser asymmetrischen Struktur der Dialogik liegt
das Bahnbrechende seines Ansatzes, den er deshalb Neues Denken nennt. Er
versteht es als antwortendes Denken, als „erfahrende Philosophie“ (Rosenzweig
1984, 150), weil sie sich um die schenkende Erfahrung von radikaler, darin Zeit
und Geschichte erst begründender Andersheit herum gruppiert. Die Pointe seines
Neuen Denkens liegt in dessen konstitutiver, dialogischer Abhängigkeit von
diesem sich ereignenden Ereignis der Alterität, also „im Bedürfen des Anderen,
und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit“ (Rosenzweig 1984, 167).
Für den alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriff ist diese Vorordnung des
Anderen im Dialog zentral. So sehr sie auch vom Ich erfahren und angeeignet
werden muss, so sehr man nach den Voraussetzungen des Verstehens im Ich
fragen muss, wird Erfahrung je vorgängig von Andersheit gestiftet. Diese
Vorordnung des Du vor dem Ich prägt dem Dialog eine asymmetrische Struktur
ein. Folglich wäre dieses Konzept als asymmetrische Dialogizität zu
kennzeichnen. Die wechselseitige, reziproke Dialogik basiert auf einer
Asymmetrie, die ihr je schon begründend und initiierend voraus liegt. Sie trägt in
die Dialogik eine konstitutive Unabgeschlossenheit ein, eine unauslotbare Tiefe,
eine offene, nie zu schließende Flanke. Immer durchwirkt die Wechselseitigkeit
ein fortwährendes Eröffnetsein von einer Alterität her, ein sich Entzogensein auf
ein Anderes, Größeres hin. Sie durchwirkt aber damit zugleich ein Gefälle, eine
nicht umzukehrende und damit zu verharmlosende Richtung. Diese verbürgt die
Vorgängigkeit, die Autorität und die inmitten aller Präsenz doch uneinholbare
Ferne des Gegenübers im Dialog. In dieser asymmetrisch grundierten Dialogizität
geht Alterität nie in der bloßen Wechselseitigkeit auf. Einheit und Vielheit,
Kommunikabilität und Fremdheit werden gleichermaßen gewürdigt.
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Uns allen kann in folgendem Beispiel deutlich werden, was damit gemeint ist und
was auch in Entwicklungspsychologie und Anerkennungstheorie bestätigt wird:
Jeder Säugling lebt von der zuvorkommenden Ansprache und Zärtlichkeit der
Mutter. So wie der Säugling erst dadurch zu einer personalen Identität befähigt
wird, kann er erst durch dieses Angerufensein schließlich in diesen Dialog
eintreten. Wurde oben in diesem Beispiel bereits das Ungenügen einer rein
wechselseitigen Dialogik sichtbar, wird jetzt die Relevanz der Asymmetrie am
Grund der Dialogik erkennbar. Das dialogische Verhältnis zwischen Mutter und
Kind ist getragen und ermöglicht von der zuvorkommenden Liebe der Mutter.
Ein solcher Erfahrungsbegriff ist nicht genuin theologisch entwickelt. Er ist aber
von
erheblicher
theologischer
Relevanz
und
gewinnt
theologisch
wie
christologisch weitere Kontur. Denn gerade weil er vom Einbruch des Anderen
ausgeht, könnte er jene unbedingte, unausdenkbare, alles ermöglichende göttliche
Liebe denken, die sich ganz den Menschen übereignete, sich für sie hat kreuzigen
lassen, und doch die rettende, mächtige, alles vollendende Liebe bleiben konnte.
4. Konturen einer Alteritätstheoretischen Didaktik
Aus diesem alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriff ergeben sich Konturen einer
Alteritätstheoretischen Didaktik. Diese erhebt nicht den weitausholenden
Anspruch einer religionspädagogischen Konzeption. Sie versteht sich eher als
religionsdidaktische Dimension, die der religionsdidaktischen Wirklichkeit eine
bestimmte Prägung verleihen möchte. Dies soll hier in kurzen Umrissen
schlaglichtartig angedeutet werden.
4.1 Subjekte: Kritische Subjektorientierung
Gegenwärtiger Religionsunterricht ist subjektorientiert angelegt. Die Schülerinnen
und
Schüler
sind
Subjekte
ihres
Lernens.
Der
alteritätstheoretische
Erfahrungsbegriff greift diese Subjektorientierung auf, spitzt sie aber weiter zu
und qualifiziert sie als eine kritische Subjektorientierung. Er kann die Schüler in
15
ihrer jeweiligen Suche nach Identität, kann sie in ihrer Freiheit, aber auch
Gebrochenheit würdigen, kann die unauslotbare Transzendenz des biblischen
Gottes
markieren,
ohne
allerdings
die
Verstehensmöglichkeiten
und
unterschiedlichen Lernwege auf Seiten der Subjekte zu vernachlässigen und damit
ein solches Lernen zu einem fremd bestimmenden und autoritären werden zu
lassen. So kann die gegenwärtig fremd gewordene Gottesrede eingebracht werden,
um die unhinterfragten Vorstellungsmuster der Schülerinnen und Schüler
aufzusprengen,
gesellschaftliche
und
lebensweltliche
Plausibilitäten
zu
durchbrechen und ihnen ein kritisches religiöses Urteil zu ermöglichen, ohne sie
zu Objekten des Lehrens oder - schlimmer noch - zu Marionetten der
Glaubensverkündigung herabzuwürdigen. Kritisch ist diese Subjektorientierung
damit deshalb, weil sie es ermöglicht, die biblische Botschaft als korrektivischen,
als aufrichtenden, als transformierenden Maßstab einzubringen, ohne die
gottgeschenkte Freiheit der Subjekte vor Gott zu verharmlosen. Vor allem die
Wucht der Propheten, die so stärker zur Geltung gebracht werden kann, markiert
die geschichtlich-gesellschaftliche Relevanz dieser Überlegungen.
4.2 Konzepte: Alteritätstheoretische Radikalisierung der Korrelation
Eine Alteritätstheoretische Didaktik versteht sich als kritische Fortschreibung der
Korrelationsdidaktik.
Die
Alteritätstheoretische
Didaktik
bewahrt
die
korrelationsdidaktischen Impulse dadurch, dass sie wegen ihrer Rezeption
dialogischen Denkens die Kommunikabilität von Subjekt und Objekt sichert. Sie
öffnet aber durch eine asymmetrische Anschärfung des Dialogischen den Horizont
des Korrelativen. Das erlaubt es ihr, weitaus radikaler als dialogische
Konzeptionen deren inhärente Tendenz zu einer Beschwichtigung von Fremdheit
gegenzusteuern.
Das
befähigt
sie
dazu,
weitaus
radikaler
Differenz
wahrzunehmen, um so den Gottesgedanken im Dienst der Wahrnehmungs-,
Handlungs- und Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler einzubringen und
16
in stärkerem Maße vielfältige, ungeahnte Formen praktisch vollzogener
Korrelation im Religionsunterricht denken zu können.
4.3
Didaktik:
Für
eine
vulnerable
Didaktik
zwischen
Aneignungs-
und
Vermittlungsparadigma
Fachdidaktisch gesehen erlaubt es eine solche Alteritätsdidaktik, noch stärker
didaktische Prozesse aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler anzulegen. Damit
gewinnt das Moment des Offenen und nicht in eindimensional zielorientierten
Lernprozessen Aufgehenden eine zentrale Bedeutung. Die Alteritätsdidaktik
könnte in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden die Wahrheit
individueller Lernwege, kreativer, innovativer Umwege oder auch differierender
Lerngeschwindigkeiten stärker würdigen, könnte das Recht der Kinder und
Jugendlichen auf eigene Glaubensbilder ausgeprägter wahren und mit einem
gemäßigten Konstruktivismus konzeptionell verankern, dass diese selber
Mitakteure und „Glaubensquelle“ (Hemmerle 1994, 306) sind. Sie könnte aber
auch fremde Erfahrungen einspielen, die ja angesichts der auf Schülerseite kaum
noch vorhandenen kirchlichen Sozialisation bereits in der Erfahrung gelebter
kirchlicher Praxis liegt. Insofern die Alteritätstheoretische Didaktik in ihrer
konstitutiven
Unabschließbarkeit
jeden
Anspruch
einer
umfassenden
Didaktisierbarkeit von Wirklichkeit konterkariert, indem sie sich also in ihrem
Anspruch vom Anderen her verwunden lässt, wäre sie als vulnerable Didaktik zu
charakterisieren. Sie wäre als eine Didaktik auszuarbeiten, die Raum gibt für das
Unplanbare, für das plötzlich sich Einstellende, für eine Erfahrung mit der
Erfahrung, in der mehr erfahren werden kann, als sich didaktisch planen oder gar
evaluieren lässt. Sie wäre so ein Element der Unterbrechung einer Schule und
Gesellschaft prägenden Kultur der Leistung, der Machbarkeit und der
Zweckrationalität und könnte dies kritisch-konstruktiv einbringen als Beitrag zum
schulischen Bildungsauftrag.
17
5. Judentum im Religionsunterricht als praktische Bewährungsprobe
Die alteritätstheoretische Didaktik wäre falsch verstanden, würde man meinen, sie
wäre letztlich nichts anderes als eine Ableitung aus philosophischen oder
fundamentaltheologischen Theorien. Sie ist, wie bereits erwähnt, aus konkreten
berufsbiographischen Erfahrungen in der Unterrichtspraxis erwachsen. Diese
praktischen Erfahrungen versucht sie zu analysieren, um darauf dann verstehend
und mit neuen, innovierenden Impulsen zurückzukommen. Theorie und Praxis
sind in ihr vermittelt. Gleichwohl ist sie primär auf der Ebene der
Grundlagentheorie angesiedelt. Es geht in der Tat darum, den Religionsunterricht
neu zu denken, nicht diesen Ansatz unmittelbar methodisch und didaktisch zu
operationalisieren. Dennoch liegen in ihr wegen der Verzahnung von Theorie und
Praxis erhebliche Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung. Berücksichtigt man
die
berufsbiographische
Entstehungssituation
dieser
Alteritätstheoretischen
Didaktik, bietet es sich deshalb an, deren gegenüber der Korrelationsdidaktik
weiterführenden Ertrag wiederum auf dem Themenfeld zu erproben, aus dem sie
hervorgegangen ist: dem Thema Judentum im RU. Wo liegt der Mehrwert
gegenüber der dialogischen Korrelationsdidaktik? Ich beschränke mich auf wenige
Aspekte.
5.1 Asymmetrie des Dialogs
Interreligiöses Lernen, angesichts der Migrations- und Globalisierungsphänomene
wohl eines der brisantesten und bildungstheoretisch zentralsten Aspekte des
Religionsunterrichts, ist ausgerichtet an dem Leitziel des Respekts und erfolgt
unter der „Leitregel der Wechselseitigkeit der Anerkennung auch bei
fortschreitendem Dissens“ (Nipkow 2005, 373). Was aber für das Verhältnis
zwischen dem Christentum und Islam gelten mag, gilt doch keineswegs für das
18
Verhältnis zwischen Christentum und Judentum im gleichen Maße. Beide in eine
„reziproke Gleichwertigkeit“ zu setzen (Nipkow 2005, 373) wird deren
einzigartigem Verhältnis nicht gerecht. Juden und Christen befinden sich in einer
Dependenzbeziehung, die deren dialogisches Stehen vor Gott durchwirkt. Beide
haben Anteil an der sich von Gott her als Gotteswahrheit schenkenden Wahrheit,
jeder auf seine Weise, beide aufeinander angewiesen. Beide dienen Gott „Schulter
an Schulter“ (Zef 3,9). Beide stehen als eigene von Gott getragene Heilswege
nebeneinander, doch sind die Christen grundsätzlich auf ihre „älteren Geschwister
im Glauben“ (Johannes Paul II.) in bleibender Abhängigkeit verwiesen, weil sie
erst durch Jesus in den ungekündigten Gottesbund hineinberufen wurden.
Zwischen ihnen besteht somit ein asymmetrisches Verhältnis. Diese Asymmetrie,
die damit verbundene Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein (J.B.
Metz) und damit „das „Bildungsziel einer starken, aktiven Toleranz“ (Nipkow
2005, 374) sind in einer alteritätstheoretischen Didaktik stärker als in einer
korrelativ-dialogischen Didaktik zu wahren.
5.2 Der Jude Jesus
Die Religionsdidaktik neigt nicht selten dazu, Jesus als Freund, als Bruder
vorzustellen, als jemandem, dem man alles sagen und dem man vertrauen kann.
Vor allem im Gang der religiösen Entwicklung der Heranwachsenden ist dieses
nicht unplausibel. Gerade aus bildungstheoretischen wie theologischen Gründen
käme es freilich darauf an, darüber den sperrigen, den schwierigen Jesus nicht zu
vergessen. Birgt dies bereits anspruchsvolle didaktische Herausforderungen, so
verschärft sich dies noch im Hinblick auf Jesu Judesein. Der fromme Rabbi Jesu,
seine Nähe zu Pharisäern, seine Einbindung in den jüdischen Gottesglauben und
doch sein messianischen Selbstbewusstsein: dies ist nicht nur angesichts des
christlichen Antijudaismus eine christologisch zwingende Präzisierung. Sie geht
religionsdidaktisch mit erheblichen Dekonstruktionen überkommener Jesusbilder
einher. In der Unterrichtspraxis könnte dies dann so aussehen: Jesu Fremdheit
19
kann als Perturbation eingebracht werden, die die oft harmonischen,
ungebrochenen
Jesusbilder
kritisch
unterläuft.
Jesus
beispielsweise
mit
Gebetsriemen zu präsentieren, ihn als frommen Juden vorzustellen, der gerade aus
seinem Glauben heraus die Gebote und die Feiertage hält, ein solcher jüdischer
Jesus würde durch eine kontrastive Gegenüberstellung zu ihrem eigenen
Vorverständnis bei den Schülerinnen und Schülern eine problemorientierte
Lernspannung hervorrufen, aus der heraus sie sich mit diesem Jesus näher
beschäftigen und sich mit ihrem eigenen Zugang zu ihm auseinandersetzen. Sie
könnten in der Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Judentum erkennen,
warum sich manche Zeitgenossen von diesem Jesus distanzierten. Sie könnten zu
verstehen versuchen, dass manche ihm aus ihrem eigenen Glauben nachfolgten,
weil sie in ihm die Gegenwart der ersehnten Rettung und des erhofften Heils
erfuhren, und könnten dies mit ihren eigenen Sehnsüchten und Heilsvorstellungen
korrelieren. Auf dieser Basis könnte dann eine vertiefte Auseinandersetzung mit
Jesus erfolgen, in der sie Jesus als den Fernen wie den Nahen entdecken. Den
„Mut, Jesus um den Hals zu fallen“ (Karl Rahner), kann und darf sich ein
alteritätstheoretisch strukturierter Religionsunterricht gewiss nicht zum Ziel
setzen, wohl aber eine alteritätstheoretische Korrelation, die durch das Lernen am
Widerstand die Schülerinnen und Schüler zu einer erfahrungsbezogenen wie
bildenden Begegnung mit Jesus freisetzt. Die Fremdheit Jesu spannungsvoll mit
den christologischen Selbstkonstruktionen der Kinder und Jugendlichen im
Interesse religiösen Lernens zusammen zu halten und diese Spannung nicht zu
einer Seite hin vorschnell aufzulösen, kann einer alteritätstheoretischen
Fundierung besser als rein dialogischen Ansätzen gelingen.
5. 3 Differenzkompetenz
Didaktisch schlägt sich dies in einer radikalisierten Möglichkeit nieder,
Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung und Perspektivenwechsel und dabei
den Wechsel von Innenperspektive und Außenperspektive spannungsvoll
20
einzuüben
und
eine
Differenzkompetenz
in
entwicklungspsychologischer
Perspektive bei den Schülerinnen und Schülern sequentiell anzubahnen. Es kommt
im Religionsunterricht darauf an, ein exotisches, folkloristisches Verständnis des
Judentums, wie es in manchen Religionsbüchern der Fall ist, zu vermeiden und es
in seiner höchst differenzierten Erscheinungsform wahrnehmen zu lernen. Das
Sperrige, das Fremde, das Anstößige, das etwa mit einer stark rituell geprägten
Frömmigkeit für Heranwachsende verbunden sein mag, kann intensiver als in
dialogischen Didaktiken gewürdigt, abwehrbesetzte Themen wie die christliche
Mitschuld an der Shoah könnten zugelassen werden. Daher würden ästhetische
wie anamnetische Lernformen eine massive Dynamisierung und Offenheit
erfahren.
6. Fazit
Der Beitrag des alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriffs zur gegenwärtigen
Religionsdidaktik besteht also darin, dass er einerseits das Anliegen der
Korrelationsdidaktik wahrt und deshalb an einer Dialogik festhält, dass er aber
anderseits diesen Dialog nicht je schon als einen Dialog zwischen Partnern auf
Augenhöhe sieht (wie sollte dies auch möglich sein im Verhältnis zwischen Gott
und Mensch?), sondern den Dialog anders denkt. Dieser Dialog wird von einem
Ungleichgewicht, von einer Asymmetrie geprägt. Der Dialog wird von Alterität
eröffnet. Man könnte also von einem asymmetrisch grundierten Dialog sprechen.
Religionsdidaktisch hätte dies erhebliche Konsequenzen. Eine vor diesem
Hintergrund entfaltete alteritätstheoretische Didaktik würde sich offen halten für
das Andere, für den Anderen, für die Umwege der Lehrenden und Lernenden.
Insofern wäre eine solche Didaktik eine pluralitätsfähige Didaktik.
21
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ROSENZWEIG, FRANZ (1990), Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von R.
Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt a. M., 221-228.
23
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