KLAUS HELD

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Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der
Begriff der Lebenswelt
In: Carl Friedrich Gethmann (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum
Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie. Bonn [Bouvier
Verlag] 1991, S. 79-113
Von allen Begriffen der durch Edmund Husserl begründeten Phänomenologie hat
wohl der der Lebenswelt innerhalb und außerhalb der Philosophie bis heute das
stärkste Echo ausgelöst. Den Gebrauch dieses Begriffs in der soziologischen,
pädagogischen und umweltkritischen Literatur des letzten Jahrzehnts in Deutschland
darf man bald schon als inflationär bezeichnen. Was dabei unter Lebenswelt
verstanden wird, hat freilich vielfach nur noch sehr wenig mit den Überlegungen des
Werks zu tun, worin der Begriff eingeführt wurde. Es handelt sich um Husserls letzte
von ihm selbst veröffentlichte Schrift: Die Kritis der europäischen Wissenschaften
und die transzendentale Phänomenologie von 1936.1
Das erste Mißverständnis widerfuhr dem Begriff bereits innerhalb der
phänomenologisch orientierten Philosophie, als maßgebende Husserl-Interpreten
behaupteten, die Krisis-Abhandlung und der darin im Mittelpunkt stehende
Lebenswelt-Begriff bezeichneten eine fundamentale Kehrtwendung des
Husserlschen Denkens in seinen letzten Lebensjahren. In Wahrheit stellt diese
Abhandlung in Husserls Entwicklung nichts umstürzend Neues dar, sondern steht in
einer Kontinuität mit den programmatischen Werken, die Husserl selbst vorher
veröffentlicht hatte, den Ideen Ivon 1913 und den Cartesianischen Meditationen von
1930, aber auch mit den letzten großen Vorlesungen, die er in den zwanziger Jahren
gehalten hatte und von denen die Phänomenologische Psychologie und die Erste
Philosophie im Nachlaß veröffentlicht sind.
Alle diese Texte kreisen um eine Aufgabe, die Husserl zumindest in den
letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens am meisten bewegt hat: den geeigneten
Weg zur „transzendentalphänomenologischen Reduktion“, d. h. allgemeiner
gesprochen: die Einführung in die transzendentale Phänomenologie, also in das, was
Husserl unter Philosophie begriffen hat. Auch die Krisis versteht sich als solche
1
Im folgenden verweise ich auf dieses Werk durch bloße in Klammern gesetzte Seitenzahlen
im Text. Die Zahlen beziehen sich auf die historisch-kritische, von W. Biemel besorgte
Ausgabe im 6. Band der Hussiana, Den Haag 1954. Auf andere Werke Husss und
Sekundärliteratur verweise ich in den Fußnoten.
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Einführung, wie schon der zu wenig beachtete Untertitel zeigt, mit dem Husserl sein
Werk als „eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie“ charakterisiert (vgl.
auch XIV, Anm. 3, u. 439). Der Begriff der Lebenswelt gehört so in den
Zusammenhang der spezifisch Husserlschen Lösung für ein klassisches Problem der
Philosophie und insbesondere der Transzendentalphilosophie: das der Einführung in
die Philosophie, oder transzendentalphilosophisch ausgedrückt: des Übergangs von
der natürlichen zur transzendental-philosophischen Einstellung. Man könnte dieses
Problem auch als das des Zusammenhangs von philosophischer Propädeutik und
Philosophie bezeichnen. Es ist ebenso schon das Grundproblem der frühen
Platonischen Dialoge wie noch von Hegels Phänomenologie des Geistes.
Der Weg der „Einleitung“ in die phänomenologische
Transzendentalphilosophie, den Husserl in der Krisis-Abhandlung einschlägt,
unterscheidet sich nur dadurch von seinen früheren Einführungsversuchen, daß
Husserl hier mit einer Kritik der modernen Wissenschaften ansetzt (man könnte auch
sagen: mit einer Kritik unserer Epoche, denn die Wissenschaften prägen nach
Husserl das Leben im gegenwärtigen Zeitalter). Durch diesen Ansatz entsteht die
Lebensweltproblematik. Aber um zu verstehen, wie Husserl dazu kam und welchen
Sinn es für ihn hatte, über eine Wissenschaftskritik in die Philosophie einzuführen,
muß man sich zunächst klarmachen, was Einführung in die Philosophie bei ihm
schon vor der Krisis bedeutet. Dann zeigt sich, daß der Begriff der Welt bereits im
Rahmen der früheren Einführungsproblematik eine zentrale Rolle spielt und daß es
nur der in seinen Grundbestimmungen längst festliegende Weltbegriff ist, der unter
dem Titel „Lebenswelt“ in der Krisis aufgrund des Einstiegs bei der
Wissenschaftskritik weiter entfaltet wird.
Ich werde im I. Teil den Weltbegriff im Zusammenhang der früheren
Husserlschen Einführungsproblematik entwickeln. Im II. Teil möchte ich zeigen, wie
sich diese allgemeine Einführungsproblematik erstens dadurch spezifiziert, daß
Husserl sie in der Krisis-Abhandlung über eine Wissenschaftskritik laufen läßt und
wie sich daraus zweitens die Fortbestimmung des Weltbegriffs zum
Lebensweltbegriff ergibt. Ich werde hier auch auf die Hauptschwierigkeit eingehen,
die die Interpreten im Lebensweltbegriff gesehen haben, und werde eine Lösung
vorschlagen, von der ich glaube, daß sie sich zwanglos aus Husserls Ansatz ableiten
läßt.
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I.
Das Einführungsproblem kann man zunächst formelhaft in die Frage kleiden: Wie
läßt sich die natürliche Einstellung in die philosophische überführen? Unter
„natürliche Einstellung“ ist diejenige Haltung zu verstehen, die allen Einstellungen
zugrunde liegt, die der Mensch in seinem Leben vor oder außerhalb der Philosophie
einnehmen mag. Alle diese Einstellungen können dem Menschen bewußt werden als
Haltungen, die auf seiner Entscheidung, d. h. auf einem von ihm verantworteten und
in diesem Sinne subjektiven Vollzug beruhen. Die natürliche Einstellung ist
demgegenüber diejenige Einstellung, die der Mensch in seinem
außenphilosophischen Leben nicht als Einstellung zu durchschauen vermag. Daß
auch die Einnahme dieser Einstellung ihm selbst als einem verantwortlich
entscheidenden Subjekt anheimgegeben ist, kommt überhaupt erst durch den
Übergang zur philosophischen Einstellung zum Vorschein. Insofern ist die natürliche
Einstellung durch die Selbstvergessenheit ihres Subjekts definiert. Entsprechend läßt
sich die philosophische Einstellung kennzeichnen als die Aufhebung der
Subjektvergessenheit, die für die natürliche Einstellung konstitutiv ist.
Nun ist jede Einstellung eine Einstellung-zu-etwas; jede Einstellung hat in
diesem Sinne ihr Korrelat: Bestimmte Einstellungen machen uns blind oder auch
aufgeschlossen für bestimmte Dinge, Menschen, Aufgaben usw., d. h. für die
jeweiligen „Gegenstände“ im weitesten Sinne des Wortes, also alles, was jemandem
auf irgendeine Weise als identifizierbare Einheit begegnen kann. So variieren mit
dem Wechsel der vielfältigen Einstellungen im außenphilosophischen Leben auch
die Gegenstände, mit denen wir im Rahmen unserer jeweiligen Einstellung zu tun
haben. Die natürliche Einstellung überdauert als die schlechthin grundlegende
Einstellung alle Einstellungswechsel innerhalb unseres außenphilosophischen
Lebens. Daraus folgt, daß es für diese Einstellung keinen Wechsel ihres Korrelats
geben kann. Dieses Korrelat müßte eine Konstante bilden, mit der es der Mensch
immer zu tun hat, unabhängig davon, mit welchen Gegenständen er sich
entsprechend seinen wechselnden Einstellungen jeweils beschäftigen mag.
Nach Husserl gibt es ein solches Korrelat der natürlichen Einstellung. Er nennt
es „die Welt“. Wieso ist gerade die Welt die fragliche Konstante, also die
Voraussetzung für jeden Gegenstandsbezug des Menschen im
außenphilosophischen Leben? Husserl antwortet: weil alle Gegenstände für uns
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auftreten als Teile eines sie in ihrer Gesamtheit umfassenden Ganzen, es begegnet
uns kein Gegenstand, der völlig isoliert wäre; alles steht in irgendeinem
Zusammenhang mit anderem, und der Gesamtzusammenhang, dem sich alle diese
Zusammenhänge einfügen, ist die Welt.
Allerdings läßt sich gegen diese These sogleich folgender Einwand erheben:
Daß alle Gegenstände sich als Teile eines Ganzen verstehen lassen, ist
unbestreitbar, wenn man unter diesem Ganzen nur die Summe aller Gegenstände
versteht. Eine Summe ist aber nur das Resultat der Addition der Summanden; d. h.,
die Welt als die Summe aller Gegenstände setzt die Gegenstände voraus und nicht
umgekehrt. Husserls Behauptung lautet aber, das Auftreten der Gegenstände für uns
setze die Habe der Welt voraus. Diese These bedarf also eines eigenen
Nachweises.
Husserl führt ihn mit folgender Überlegung: In unserem alltäglichen Leben
kehrt ständig eine Überzeugung wieder, die Überzeugung, daß ein bestimmter
Gegenstand existiert und diese oder jene Beschaffenheiten aufweist. Gleichermaßen
ist uns aber auch die Erfahrung vertraut, daß solche Überzeugungen sich von Fall zu
Fall als unhaltbar erweisen. Alle solchen „Enttäuschungs“- Erlebnisse haben nun
eine Eigentümlichkeit: In ihnen verlieren zwar einzelne Gegenstände, die uns jeweils
als existierend und als so und so seiend gelten, diese ihre „Seinsgeltung“; aber die
Korrektur unseres Erfahrungszusammenhangs, die wir mit der „Durchstreichung“
einer Seinsgeltung vornehmen müssen, führt nie zu einem völligen Abbrechen der
Erfahrung von Existenz und Beschaffenheit, also nie zu einem völligen Nichts,
sondern immer nur zu einem: „nicht so, sondern anders“. Ein Zusammenhang der
Erfahrbarkeit bleibt erhalten, und damit zeigt sich: Von allen Enttäuschungen und
Durchstreichungen hinsichtlich der einzelnen Gegenstände bleibt eine
Grundüberzeugung unberührt: der Glaube, daß der Gesamtzusammenhang der
Erfahrbarkeit, in den wir alle Gegenstände einordnen, Bestand hat (vgl. 464). Die
Welt ist nicht die Summe aller Gegenstände, sondern dieser
Gesamtzusammenhang. Als das ist sie, wie Husserl das ausdrückt, der Boden, auf
den wir alle Gegenstände stellen. Dieser Weltboden bleibt durch alle Modifikationen
der Einzelerfahrung mit Gegenständen hindurch erhalten. Die Seinsgeltung der
Gegenstände besitzt immer nur vorläufigen Charakter. Die Welt hingegen hat für uns
„Endgeltung“; sie bleibt stillschweigend jederzeit als seiend vorausgesetzt. Dies
nennt Husserl die „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ oder auch einfacher
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den „Weltglauben“ (vgl. 112). Die natürliche Einstellung läßt sich in diesem Sinne
kennzeichnen als die weltgläubige, oder wie Husserl sagt: „mundane“, Einstellung.
Dieser Aufweis zeigt in einer ersten und vorläufigen Weise: Der Weltglaube ist
bei jeder Gegenstandshabe vorausgesetzt. Also ist die Welt das Korrelat der
natürlichen Einstellung. Damit tritt neben die erste Grundbestimmung der natürlichen
Einstellung, die Subjektvergessenheit, eine zweite: die Weltgläubigkeit oder
„Mundanität“.
Mit Hilfe dieser Doppelbestimmung läßt sich nun das Einführungsproblem
konkret formulieren. Dieses Problem enthält zwei Teilfragen: Die erste ist – um eine
Unterscheidung Kants aufzunehmen – die nach dem principium diiudicationis der
Entscheidung für die philosophische Einstellung, d. h. die Frage nach dem Urteil, das
dieser Entscheidung zugrundeliegt. Die Frage könnte lauten: Wieso ist es die
natürliche Einstellung wert, verlassen zu werden, bzw. die philosophische,
angestrebt zu werden? Diese Frage beantworten, heißt für die Philosophie: ihre
eigene Existenz gegenüber der natürlichen Einstellung rechtfertigen. Die
Rechtfertigung kann ihr nur mit Hilfe einer Kritik der natürlichen Einstellung gelingen.
Das Einführungsproblem stellt sich so zunächst in Gestalt der Frage: Wieso ist die
natürliche Einstellung überhaupt kritikwürdig? Auf diese Frage gibt Husserl,
verglichen mit der transzendentalphilosophischen Tradition vor ihm, sachlich keine
neue Antwort. Er argumentiert: Solange die natürliche Einstellung nicht als
Einstellung durchschaut wird, ist die grundlegende Haltung, auf der unser ganzes
Leben beruht, noch nicht zu einer Sache der eigenen rechenschaftlich vollzogenen
Entscheidung geworden, d. h. wir haben die letzte Verantwortung für unser Leben
noch nicht übernommen (vgl. 140, 272f.). Diese Auskunft wirft neue Probleme auf,
die ich jetzt ausklammere.
Ich unterstelle einmal, die Frage nach der Kritikwürdigkeit der natürlichen
Einstellung wäre zureichend beantwortet. Dann nimmt das Einführungsproblem die
Gestalt der zweiten Teilfrage an. Diese Frage, die sich mit der Beantwortung der
ersten nicht erledigt, ist die nach dem principium executionis der Entscheidung für
die philosophische Einstellung, d. h. die Frage nach dem Beweggrund dafür, von der
natürlichen Einstellung zur philosophischen überzugehen. Einführen heißt im
Zusammenhang dieser Frage: den Menschen der natürlichen Einstellung zur
Annahme der philosophischen Einstellung motivieren. Diese Aufgabe enthält
wiederum zwei Teilprobleme: Das erste ist die Frage: Was kann überhaupt
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solchermaßen motivieren; wie ist es – in Husserlscher Sprache formuliert –
wesensmäßig möglich, die natürliche Einstellung zu verlassen? Das zweite ist die
Frage: Was gibt faktisch den Anstoß dafür, daß diese Möglichkeit von jemandem
ergriffen und Wirklichkeit wird? Diese Frage sei noch zurückgestellt, weil ihre
Beantwortung die Lösung des ersten Teilproblems voraussetzt.
Die Lösung des ersten Teilproblems scheint zunächst gegenüber der eben
skizzierten Kritik der natürlichen Einstellung nichts Neues enthalten zu können; denn
es kann nur diese Kritik sein, die zum Verlassen der natürlichen Einstellung motiviert.
Aber was garantiert, daß die natürliche Einstellung sich durch diese Kritik auch so
getroffen fühlen kann, daß dadurch eine Bereitschaft entsteht, wirklich die Bewegung
des Übergangs zur philosophischen Einstellung zu vollziehen? Das Problem der
möglichen Motivation für den Einstellungswechsel stellt sich demnach als die Frage:
Woran kann die Kritik der natürlichen Einstellung innerhalb dieser überhaupt
anknüpfen; wie ist es von dieser Einstellung selbst her möglich, daß sie sich den
Schuh der philosophischen Kritik auch anzieht?
Die Schwierigkeit bei diesem Problem liegt darin, daß die natürliche
Einstellung durch Subjektvergessenheit definiert ist, d. h. dadurch, daß diese
Einstellung sich selbst grundsätzlich nicht als Einstellung durchschaut. Wie kann sie
dann aber überhaupt von ihr selbst her aufgebrochen werden? Sie muß einerseits
von sich her über sich hinausweisen in Richtung auf die Philosophie; d. h., die
Subjektvergessenheit muß aufhebbar sein; sonst redet die philosophische Kritik an
der natürlichen Einstellung vorbei. Andererseits ist diese Einstellung aber gerade als
diejenige Befangenheit definiert, die es unmöglich macht, den subjektiven
Vollzugscharakter der Einstellung zu durchschauen.
Aus der Subjektvergessenheit der natürlichen Einstellung ergibt sich also für
den Motivationsaspekt der Einführungsproblematik, daß diese Einstellung einen
Doppelcharakter haben muß: Aufhebbarkeit der Subjektvergessenheit bei
gleichzeitiger Befangenheit in dieser Vergessenheit. Wie lassen sich diese beiden
Bestimmungen miteinander vereinbaren? Husserl versucht die Lösung dieses
klassischen transzendentalphilosophischen Problems über die zweite
Grundbestimmung der natürlichen Einstellung: den Weltglauben.
Zunächst liegt es nahe, folgenden Zusammenhang herzustellen: Wenn wir in
der natürlichen Einstellung subjektvergessen sind, dann deshalb, weil das Andere
zum Subjekt, der Gegenstand, gewissermaßen unsere Aufmerksamkeit absorbiert:
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Die Subjektvergessenheit ist ein Verschossensein – das ist ein Ausdruck Husserls
(vgl. z. B. 179) – in den Gegenstand. Das natürliche Leben vollzieht sich – ich
gebrauche eine weitere Husserlsche Wendung (vgl. z. B. 146, 153) – im „Geradehin“
der Hingabe an die Gegenstände. Mit dieser Denkfigur bewegt sich Husserl, noch in
den Bahnen des traditionellen Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Aber Husserls
Grundbestimmung der natürlichen Einstellung ist nicht der Gegenstandsbezug,
sondern der Weltglaube. Und mit den Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, geht
er über die klassische transzendentalphilosophische Tradition hinaus.
Freilich ist zu beachten: Husserl entwickelt die Weltbezogenheit der
natürlichen Einstellung vom Gegenstandsbezug her (vgl. 160, 162). Dieses
Vorgehen ist aber, wie sich noch zeigen wird, durch die Struktur des Weltglaubens
gerechtfertigt. Zunächst stellt sich die Aufgabe, den Doppelcharakter der natürlichen
Einstellung am Gegenstandsbezug aufzuweisen. Er muß so beschaffen sein, daß wir
einerseits sagen können: das Haben eines Gegenstandes bedeutet
Selbstvergessenheit des Subjekts, und andererseits: das Haben eines
Gegenstandes läßt die Aufhebung der Subjektvergessenheit möglich erscheinen; d.
h. es verschließt dem Subjekt nicht völlig den Zugang zu sich selbst. Im
Gegenstandsbezug weiß der Vollzieher der Gegenstandshabe zugleich etwas von
sich selbst, und zwar von sich selbst als demjenigen, der seine Einstellung zu etwas
ändern kann.
Im alltäglichen Umgang mit irgendetwas weiß ich, daß das, womit ich zu tun
habe, sich mir anders zeigt je nach der Einstellung, die ich dazu einnehme. Das
einfachste und von Husserl bevorzugte Beispiel hierfür ist die Wahrnehmung eines
raumzeitlichen Gegenstandes. Dieser Tisch hier weist für mich andere
Bestimmungen auf, je nachdem ich mich entscheide, ihn von hier oder von dort aus
zu betrachten. Der Gegenstand bietet sich anders dar je nach der Erlebnissituation,
in die ich mich begebe und die mir „okkasionell“, d. h. jeweils nach Maßgabe der sich
bietenden Gelegenheit, gewisse Perspektiven zur Erfassung des Gegenstands
eröffnet. Wenn man den Begriff „Perspektive“ über die optische Bedeutung hinaus
erweitert und in einem ganz weiten Sinne benutzt, kann man sagen: Als was uns die
Gegenstände gegeben sind, hängt von der situativ-okkasionellen Perspektive ab, in
der sie uns erscheinen. Die Wahl dieser Perspektive aber ist Sache unseres
subjektiven Vollzugs. Alle Gegenstände sind uns „perspektivisch“ gegeben, und im
Vollzug der perspektivischen „Erscheinungs“- oder „Gegebenheitsweisen“ bin ich
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meiner selbst als desjenigen, der den Vollzug steuern kann, bewußt. Dieses
Bewußtsein bleibt zwar zumeist unausdrücklich. Ich kann aber die subjektive
Beteiligung am Vollzug des perspektivischen Erscheinens auch ausdrücklich zum
Thema meiner Aufmerksamkeit machen, z. B. dann, wenn ich mich mit einem
anderen streite und sage: deine Auffassung des Gegenstandes ist nur eine Folge der
von dir gewählten Perspektive, ein Resultat deiner Einstellung. Insofern ist die
Gegenstandserfahrung so beschaffen, daß sich die Subjektvergessenheit aufheben
läßt (vgl. zum ganzen 146ff.).
Wieso bedeutet die Gegenstandserfahrung dann aber zugleich eine
Befangenheit in dieser Vergessenheit? Bisher wurde klar: ich kann auf meine oder
irgendjemandes Verantwortlichkeit für bestimmte perspektivische Einstellungen
aufmerksam werden. Aber normalerweise geschieht dies gerade nicht. Ich
interessiere mich nämlich im Normalfalle nicht für die Perspektive, in der mir etwas in
situativer Jeweiligkeit erscheint, sondern für das, was da erscheint, selbst; nicht die
Mannigfaltigkeit der Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes bildet gewissermaßen
das „Thema“ meiner Aufmerksamkeit, sondern der Gegenstand selbst. Ich bin mir
zwar irgendwie dessen bewußt: der Gegenstand kann mir nur in irgendwelchen
perspektivischen Erscheinungsweisen gegeben sein; aber diese
Erscheinungsweisen bleiben unthematisch, sie fungieren für mich nur als
notwendiger Durchgang zum Gegenstand selbst. Ich habe nämlich das Bewußtsein:
auf die Gegebenheitsweisen kommt es nicht an; der Gegenstand ist, was er ist, „an
sich“, d. h. unabhängig von der Weise, wie er jeweils situativ „für mich“ ist, d. h.
erscheint. Der Gegenstand ist den Erscheinungsweisen, die von meinem subjektiven
Vollzug abhängen, transzendent. So bleiben diese Erscheinungsweisen für mein
Bewußtsein im Schatten zugunsten der Helle, in der sich mir der Gegenstand
thematisch darbietet. Und in dieser Fixierung meines Interesses auf den
Gegenstand, in diesem Überspringen der Gegebenheitsweisen auf ihn hin, bin ich
subjektvergessen; denn um ausdrücklich subjektbewußt zu sein, müßte ich mich –
statt für den Gegenstand – für seine perspektivischen Erscheinungsweisen
interessieren, deren Vollzug von mir selbst abhängt.
Damit ist das phänomenologische Grundmodell der Gegenstandshabe
skizziert. Das Phänomenologische an diesem Modell liegt für Husserl darin, daß es
sich am Erscheinen, nämlich am Erscheinen-in-Gegebenheitsweisen orientiert.
Dieses Modell bietet für Husserl nun aber auch die Grundlage für die Aufklärung des
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Zusammenhangs zwischen Weltglaube und Subjektvergessenheit der natürlichen
Einstellung. Der Weltglaube hat mit dem Gegenstandsbezug eine Strukturähnlichkeit.
Die natürliche Einstellung bezieht sich auf die Welt in Form der Generalthesis. Diese
Thesis besagt: Die Welt als Boden ist, auch wenn sich die Einzelerfahrung von
Gegenständen modifiziert. Eine entsprechende These ließe sich auch mit Bezug auf
die einzelne Gegenstandserfahrung formulieren: Der einzelne Gegenstand ist, auch
wenn sich die Erscheinungsweisen, in denen er perspektivisch gegeben ist,
modifizieren; ob ich den Tisch von hier oder von dort aus sehe, – immer bin ich
überzeugt: ich habe es mit etwas zu tun, das sich zwar notwendig in einer
Mannigfaltigkeit von Erscheinungsweisen darbietet, aber in seiner verharrenden
Identität diese Mannigfaltigkeit transzendiert. Ebenso ist die Welt in ihrer Identität
etwas Beharrendes; daher der Ausdruck „Boden“.
Soll sich diese Parallelisierung der Strukturen als stichhaltig erweisen, muß
allerdings noch gezeigt werden, daß die einzelnen Gegenstandserlebnisse für den
Weltglauben so etwas sind wie die notwendigen perspektivischen
Erscheinungsweisen für das Gegenstandserlebnis. Dieser Parallelisierung scheint
zunächst eine einfache Beobachtung zu widersprechen: Die Erscheinungsweisen bei
der Gegenstandserfahrung sind das Unthematische, und der Gegenstand ist das
Thema. Beim Weltglauben ist es umgekehrt: Thematisch interessiert bin ich an den
einzelnen Gegenstandserfahrungen; wenn ich in ihrem Verlauf Enttäuschungs- oder
Durchstreichungserlebnisse habe, dann interessiert mich nicht der Umstand, daß
meine Erfahrung trotz der Aufhebung der Seinsgeltung meines bisherigen
Gegenstandes nicht völlig ins Leere läuft, d. h. daß trotz der Enttäuschung für mich
Welt erhalten bleibt; sondern mein Interesse richtet sich auf den neuen Gegenstand,
der an die Stelle des alten tritt. Den Fortbestand der Endgeltung der Welt und damit
die Kontinuität meiner Erfahrung bemerke ich nicht als solche, sondern nur indirekt
darin, daß mir die Kontinuität des Weltglaubens erlaubt, die jeweils erlebte
Enttäuschung durch eine Modifikation des gegenständlichen Gehalts meiner
Erfahrung zu kompensieren.
Die Welt ist also in der Tat für die natürliche Einstellung unthematisch, und
zwar in einer radikalen Weise: Wir bemerken in dieser Einstellung die ständig
vorausgesetzte Generalthesis so wenig, daß wir stets nur den Gegenständen,
niemals aber der Welt, auf deren Boden wir sie stellen, Sein zusprechen. Wir können
in der natürlichen Einstellung offenbar überhaupt nur in der Weise Welt haben, daß
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wir ihre Seinsgeltung gewissermaßen abfärben lassen auf die Seinsgeltung, die wir
thematisch den einzelnen Gegenständen zuschreiben.
Mit diesem Gedanken hat sich aber die Parallelität zwischen
Gegenstandserlebnis und Weltbezug bestätigt. Die einzelnen
Gegenstandserlebnisse sind für die Welthabe in der natürlichen Einstellung genauso
notwendig wie die Erscheinungsweisen für die Habe des einzelnen Gegenstandes,
und zwar gerade deswegen, weil die Welt im Unterschied zum einzelnen
Gegenstand prinzipiell unthematisch bleibt.
Aber ist das nicht doch eine ganz äußerliche Parallelisierung? Wenn die
einzelnen Gegenstandserlebnisse für die Welthabe notwendig sind, heißt das ja noch
nicht, daß sie ihrer inneren Struktur nach so etwas wären wie die
Erscheinungsweisen der Welt. Dieses Bedenken erledigt sich durch eine weitere
Konkretisierung des Begriffs der Generalthesis.
Die Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes stehen mir als ihrem Vollzieher
zur Disposition. Es liegt in meiner Entscheidungsvollmacht, in welchen
Erscheinungsweisen ich mir den Gegenstand zur Gegebenheit bringe. Die
Erscheinungsweisen sind Möglichkeiten meines freien subjektiven Vollzugs, sie sind
– wie Husserl dies ausdrückt – meine „Vermöglichkeiten“, d. h., sie sind Weisen
meines Erfahren-Könnens. Weil mein Vermögen, die Einstellungen bzw.
Perspektiven zu wechseln, frei ist, ist es nicht daran gebunden, sich dabei jeweils
ausschließlich auf einen Gegenstand zu beziehen, und normalerweise wird es sich
diese Bindung auch nicht auferlegen, es wird vielmehr von Gegenstand zu
Gegenstand schweifen oder mehr oder weniger komplexe Zusammenhänge von
Gegenständen erfassen. Allerdings wird dies in einer geregelten Weise vor sich
gehen. Die Vermöglichkeiten, die sich in meinem gerade aktuellen Erlebnis eines
Gegenstandes oder Gegenstandszusammenhangs eröffnen, werden auf andere
daran anschließende Erscheinungsweisen anderer Gegenstände verweisen. Indem
mir dieser Tisch beispielsweise als etwas bewußt ist, was in einem Raum steht, ist
damit unthematisch schon die Möglichkeit vorgezeichnet, die Aufmerksamkeit der
Frage zuzuwenden, wie man aus diesem Raum hinausgehen oder hinausschauen
kann. Diese Vermöglichkeiten implizieren ihrerseits etwa den unthematischen
Verweis auf das Haus, in dem sich dieser Raum befindet, auf die Stadt, in der das
Haus steht, usw.
Das unthematische Bewußtsein der Gegebenheitsweisen erweist sich damit
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bei genügend konkreter Betrachtung als das Bewußtsein von einem umfassenden
Verweisungszusammenhang, mit dem wir unthematisch in der Weise vertraut sind,
daß wir über Vermöglichkeiten verfügen, die bereitliegen und geweckt werden
können. Diesen in den Gegebenheitsweisen bewußten Verweisungszusammenhang
nennt Husserl Horizont und das Vermöglichkeitsbewußtsein, in dem der Horizont als
weckbarer Zusammenhang gegenwärtig ist, Horizontbewußtsein (vgl. 152, 160 f,
165, 267)2 In jedem Erlebnis-von-etwas eröffnen sich Horizonte, aber diese
Horizonte bestehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind im konkreten
Erlebniszusammenhang durch Verweisungsverhältnisse aufeinander beziehbar. Der
eine und einzige umfassende Zusammenhang der Beziehbarkeit aller Horizonte
aufeinander hat selbst den Charakter des Horizonts. Dieser Universalhorizont (147)
ist nichts anderes als die Welt.
Damit konkretisiert sich der Gedanke der Generalthesis und die Behauptung,
die Welt sei in allen einzelnen Gegenstandserfahrungen vorausgesetzt. Der
Weltboden, den wir mit keinem Durchstreichungs- oder Enttäuschungserlebnis
verlassen können, ist die Welt als der eine Universalhorizont. Hieraus wird nun
ersichtlich, wieso die einzelnen Gegenstandserlebnisse auch ihrer inneren Struktur
nach so etwas sind wie Gegebenheitsweisen von Welt. Jedes thematische
Gegenstandsbewußtsein eröffnet in Form von mannigfaltigen Verweisungen einen
unthematischen Spielraum von möglichen Erlebnissen, also einen Horizont. Indem
jeder solche Horizont seinerseits unthematisch auf den umfassenden
Universalhorizont verweist, meldet sich in jedem Gegenstandserlebnis über das
jeweils zugehörige Horizontbewußtsein die eine Welt (vgl. 146, 267). In diesem
Sinne ist die Mannigfaltigkeit der einzelnen Gegenstandserlebnisse so etwas wie die
Mannigfaltigkeit der Erscheinungsweisen der einen Welt.
Die wirkliche und unthematische Habe der einen identisch verharrenden Welt
vollzieht sich im Durchgang durch die Mannigfaltigkeit der horizonthaft möglichen
thematisch interessierten Gegenstandserlebnisse. Und komplementär dazu: die
wirkliche und thematisch interessierte Habe eines einzelnen mit sich identischen
Gegenstands vollzieht sich im Durchgang durch die Mannigfaltigkeit der möglichen,
unthematischen, horizonthaft vorgegebenen Erscheinungsweisen. Welt- und
Gegenstandsbewußtsein sind also über das Mittelglied des jeweils im Vollzug der
2
Vgl. auch E Husserl: Erfahrung und Urteil. Redigiert und hrsg. von L. Landgrebe. Hamburg 5.
Aufl. 1976. 26 ff.
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Gegebenheitsweisen bewußten Horizonts miteinander verschränkt. Hierin liegt nun
auch die sachliche Rechtfertigung dafür, daß Husserl bei der Analyse des
Weltglaubens vom einzelnen Gegenstandserlebnis ausgeht.
Aus all dem ergibt sich für das Einführungsproblem folgendes: Der
Doppelcharakter der natürlichen Einstellung – Aufhebbarkeit der
Subjektvergessenheit bei gleichzeitiger Befangenheit in dieser Vergessenheit – war
zunächst in vorläufiger Weise am einzelnen Gegenstandserlebnis sichtbar geworden.
Jetzt läßt sich dieser Doppelcharakter am Weltglauben explizieren. Die Überwindung
der Subjektvergessenheit ist möglich, weil der nie abreißende Weltglaube konkret im
jeweiligen Horizontbewußtsein gegenwärtig ist und weil dieses ein Bewußtsein von
Potentialitäten subjektiven Vollzugs ist. Andererseits macht uns derselbe Weltglaube
normalerweise unaufhebbar befangen in der Subjektvergessenheit, und zwar
deswegen, weil die Welt für die natürliche Einstellung das grundsätzlich
Unthematische ist. Die Fraglosigkeit der Endgeltung der Welt, also die
Unverbrüchlichkeit des Weltglaubens ist nur die Kehrseite dieser Unthematizität.
Könnte die Welt je in der natürlichen Einstellung zum Gegenstand eines
thematisierenden Interesses werden, dann wäre ihre Seinsgeltung ebenso durch
Enttäuschungs- und Durchstreichungserlebnisse gefährdet wie die Seinsgeltung der
einzelnen thematischen Gegenstände in der Welt. Aber eben diese Konstanz des
Weltglaubens hält die natürliche Einstellung in ihrer Subjektvergessenheit.
Der Mensch in der natürlichen Einstellung kann sich zwar der normalerweise
unthematischen Gegebenheitsweisen als subjektiver Vollzüge bewußt werden, und
damit werden ihm in gewisser Weise auch die damit eröffneten Horizonte als
subjektive Potentialitäten bewußt. Aber die Welt, der eine Universalhorizont für die
Mannigfaltigkeit dieser vielen Horizonte, bleibt unthematisch, sie kann niemals
Gegenstand eines Thematisierungsinteresses werden. Die verharrende Identität
dieser einen und einzigen Welt meldet sich immer nur indirekt in der Identität des
jeweils in Seinsgeltung befindlichen Gegenstands (vgl. 146). Sie färbt, wie ich sagte,
gewissermaßen auf ihn ab. Und das ist der eigentliche Grund dafür, weshalb der
Mensch in der natürlichen Einstellung notwendig subjektvergessen in die
Gegenstände seiner Erlebnisse verschossen bleibt und immer nur daran interessiert
ist, nach einem Enttäuschungserlebnis einen neuen Gegenstand zur Seinsgeltung zu
bringen. Auch diese Behauptung konnte im Rahmen der Erörterung des
Gegenstandserlebnisses nur vorläufigen Charakter haben. Jetzt hat sie sich
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bestätigt.
Die bisherigen Überlegungen gaben nur auf die Frage nach der Bedingung
der Möglichkeit des Übergangs von der natürlichen zur philosophischen Einstellung
eine Antwort, nicht hingegen auf die bisher zurückgestellte Frage, die man die nach
der Bedingung der Wirklichkeit dieses Übergangs nennen könnte. Bisher wurde nur
die wesensmäßig mögliche, aber nicht die faktische Motivation zum
Philosophietreiben erklärt, wie sie weltgeschichtlich erstmals bei den Griechen
stattgefunden hat und wie sie sich auch heute noch wiederholen muß, wenn es
geschehen soll, daß irgendjemand in seinem Leben zum Philosophieren gelangt.
Eine faktische Motivation kann nur von einem faktischen Ereignis, einer wirklichen
Erfahrung ausgehen. Welches ist diese Erfahrung? Im Wiener Vortrag, der ersten
Vorstufe der Krisis-Abhandlung (vgl. XIIIf) greift Husserl auf die Auskunft von Platon
und Aristoteles zurück, diese Erfahrung sei das Staunen, das thaumázein (vgl. 331f).
Warum er diese Auskunft akzeptiert, deutet er dort nur an: Der Bruch mit der
natürlichen Einstellung führt zur Philosophie als einer wissenschaftlichen
Welterkenntnis, zu der – wie zu jeder Erkenntnis – ein Bereich von erkannten
Gegenständen gehört, auf die sich das thematisierende Interesse der Wissenschaft
richtet. Damit kommt es hier erneut zu einem Thematisieren, wie es auch die
natürliche Einstellung gekennzeichnet hatte. In ihrer ursprünglichen
Selbstunterscheidung von der natürlichen Einstellung hat es die Philosophie aber
gerade mit der Welt als dem schlechthin Unthematischen zu tun. Im
philosophiemotivierenden Erlebnis des Staunens ist darum die Welt nicht als
Gegenstand eines thematisierenden Interesses bewußt, sondern auf
vorgegenständliche und nicht-interessenhafte Weise als Welt. Im Staunen beginnt
eine Haltung, die das „Geradehin“ des Thematisierungsinteresses, das
„Verschossensein“ in die Gegenstände nicht mehr mitmacht. Das thematisierende
Interesse hat die Tendenz, den Gegenstand in seiner Identität zu erfassen, darum
löst es eine vom Vollzieher der Erfahrung ausgehende und auf den Gegenstand
gerichtete Aktivität aus, die Husserl Intentionalität nennt. Das vorgegenständliche
Erlebnis der Welt als Welt ist von solchem Interesse frei, es beruht auf einem
Nichtmitvollziehen jeglichen intentionalen Interesses, das Husserl mit einem Begriff
aus der stoisch-skeptischen Tradition als Epoché bezeichnet (vgl. 151f.) Welt als
Welt, d. h. als der immer schon vertraute, weil in seiner Seinsgeltung niemals
gefährdete, Boden ist die Urvorgegebenheit, die vor allem aktiven Intendieren bloß
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hinzunehmen ist. Demgemäß hat das philosophiemotivierende Erlebnis nicht den
Charakter des aktiven Sich-Richtens-auf, sondern den des hinnehmenden
Empfangens. Im Blick auf die so verstandene „Desinteressiertheit“ und „Passivität“
kennzeichnet Husserl das Staunen an der besagten Stelle im Wiener Vortrag als
„bloße universale Schau“ (vgl. 332).
Hiermit ist freilich das Erlebnis des Staunens noch nicht hinreichend
gekennzeichnet. Wesentlich für dieses Erlebnis ist sein affektiv-stimmungshafter
Charakter. Auf ihn geht Husserl im Wiener Vortrag nicht ein, aber nur er erklärt,
wieso es gerade das Staunen ist, welches faktisch den Wechsel von der natürlichen
zur philosophischen Einstellung motiviert. Dieses Motivationserlebnis muß mehrere
Bedingungen erfüllen. Als Bruch mit der natürlichen Einstellung muß es nicht nur
vom Verschossensein in die Gegenstände und zur Offenheit für die Welt als Welt,
sondern auch von der Subjektvergessenheit befreien. Die Welt ist deswegen für die
natürliche Einstellung kein Gegenstand, weil sie als universaler
Verweisungszusammenhang der Spielraum meiner Vermöglichkeiten ist. Deshalb ist
die vorgegenständliche Bewußtwerdung der Welt meins die ebenso
vorgegenständliche Bewußtwerdung meiner selbst als desjenigen, der für den
Fortgang der Welterfahrung im Ergreifen bestimmter Vermöglichkeiten frei
verantwortlich ist. Eine solche Bewußtwerdung von Welt und Ich in einer vorgegenständlichen Einheit beider vollzieht sich aber in den Daseinslagen, die wir
Stimmungen nennen.
Das Spezifische der Gestimmtheitslage des Staunens zeigt sich bei
Beachtung zweier weiterer Bedingungen. Die Überwindung der Subjektvergessenheit
muß erstens von der natürlichen Einstellung her und für diese den Charakter des
vollkommen Unerwartbaren, absolut Überraschenden haben; denn das wesentliche
Merkmal dieser Einstellung ist ihre Subjektvergessenheit. Weil in der
philosophiemotivierenden Gestimmtheit Ich und Welt in einer Einheit bewußt werden,
muß dieser Überraschungscharakter zweitens auch an der Weise hervortreten, wie
hier Welt vorgegenständlich als Welt erlebt wird. Für die natürliche Einstellung ist die
Welt in ihrer Unthematizität das völlig Vertraute, der in seiner Existenz niemals
fragliche Totalhorizont, der in seiner Tragfähigkeit für jegliche Erfahrung
unerschütterliche Boden. Die Überraschung aller Überraschungen kann nur die
Erfahrung sein, daß dieses ganz und gar Vertraute sich plötzlich als etwas
Unvertrautes, Rätselhaftes erweist, als etwas, das in seinem Daß fraglich erscheint.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 15
Das sprachlose Überwältigtwerden von diesem Daß – „sprachlos“, weil es das auf
Gegenstände gerichtete Interesse an einem Benennen hinter sich gelassen hat – ist
der spezifische Gestimmtheitscharakter des Staunens.
Die These, daß das so verstandene Staunen die Entstehung der Philosophie
faktisch motiviert, provoziert freilich eine weitere Frage: Wie ist dieses Erlebnis
wiederum von der natürlichen Einstellung her möglich? Wenn im Staunen die Welt in
einer nicht-interessehaft-aktiven, sprachlosen Schau erscheint, dann muß sich diese
Weise der Welthabe irgendwie schon im Weltbezug der natürlichen Einstellung
vorbereiten, sonst könnte sie nicht im Akt des Staunens aufbrechen. Die
interessefrei-anschauende Haltung der Epoche muß schon im natürlichen
Weltverhältnis vorgebildet sein. Diese Konsequenz wird für den Begriff der
Lebenswelt bedeutsam werden.
II.
In der Einführung in die Philosophie, die Husserl in der Krisis versucht, tritt an die
Stelle der Kritik der natürlichen Einstellung die Kritik der modernen Wissenschaften.
Diese können deswegen die Stelle der natürlichen Einstellung einnehmen, weil nach
Husserls Auffassung in der Erkenntnishaltung der Wissenschaft überhaupt und der
neuzeitlichen Wissenschaften im besonderen ein Grundzug der natürlichen
Einstellung wiederkehrt. Mit einer gewissen Überspitzung, auf deren mögliche
Mißverständlichkeit ich im folgenden noch zu sprechen komme, kann man deshalb
HusserlS These so formulieren: Die wissenschaftliche Einstellung ist eine natürliche
Einstellung zweiter Stufe. Das wissenschaftliche Erkennen hat zwar seinen Ursprung
in einem Bruch mit der natürlichen Einstellung; aber im Selbstverständnis der
Wissenschaften wird deren Überwindung nicht konsequent eingehalten, und so fällt
die wissenschaftliche in die natürliche Einstellung zurück.
Die These enthält zwei Teilbehauptungen. Die erste lautet: der Ursprung
wissenschaftlicher Erkenntnis liegt im Bruch mit der natürlichen Einstellung. Damit ist
gesagt: der Ursprung der Wissenschaft ist mit dem der Philosophie identisch, denn:
nicht mehr ungebrochen in der natürlichen Einstellung stehen – das heißt ja nichts
anderes als Philosophie treiben. Husserl siedelt also die Philosophie nicht in einem
Bereich völlig abseits der Wissenschaften an, Philosophie und Wissenschaften
liegen ursprünglich auf einer Linie, weil sie gleichermaßen aus der
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 16
Selbstunterscheidung von der natürlichen Einstellung hervorgehen. Sie bilden vom
ursprünglichen Sinn ihrer Motivation her (vgl. 360), ihrer „Urstiftung“, wie Husserl sagt
(vgl. z. B. 366), die Einheit einer einzigen umfassenden Erkenntnisbewegung, einer
einzigen Universalwissenschaft (vgl. 197 f, 218, 321).
Diese Einheit kommt denn auch in der klassischen Tradition darin zum
Vorschein, daß die Welt, der bis dahin unthematische Universalhorizont, in beiden
erstmals thematisch wird: in der Philosophie, insofern sie – nach der Auskunft des
Aristoteles – das Seiende als solches und im ganzen befragt, in den Wissenschaften,
sofern sie Gebiete bearbeiten, die ausdrücklich durch Ausgrenzung aus dem
Universalhorizont des Seienden im ganzen definiert sind.
Wie ist dann aber die zweite Teilbehauptung zu verstehen, daß die
Wissenschaften trotzdem von der natürlichen Einstellung wieder eingeholt werden?
Man muß zunächst darauf achten, wodurch sich das philosophische und das
wissenschaftliche Erkennen gemeinsam vom Erkennen auf dem Boden der
natürlichen Einstellung unterscheiden. Zwei Erkenntnisse können sich durch ihren
Gegenstand oder durch die Weise ihres Vollzugs, also auf ihrer objektiven oder ihrer
subjektiven Seite voneinander unterscheiden. Im I. Teil zeigte sich: das Korrelat der
natürlichen Einstellung ist die Welt, und die Philosophie macht eben diese bis dahin
unthematische Welt als solche zum Thema. Also bedeutet der Bruch des
philosophisch-wissenschaftlichen Denkens mit der natürlichen Einstellung nicht, daß
das Erkennen nun mit etwas anderem zu tun hätte. Es befaßt sich mit demselben,
der Welt, aber auf andere Weise. Der Grund für den Unterschied zwischen
natürlicher und philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis liegt ursprünglich nicht
auf ihrer objektiven Seite.
Demnach kann es innerhalb des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens
nur dadurch zu einem Rückfall in die natürliche Einstellung kommen, daß dieses
Denken den Grund für seine Unterschiedenheit vom natürlichen Erkennen nicht in
der neuen Weise des Erkenntnisvollzugs sieht, sondern ihn auf die objektive Seite
verlagert. Genau dies ist nach Husserl in der Geschichte des Denkens geschehen, –
und zwar mit einer gewissen Unvermeidlichkkeit:
Das philosophisch-wissenschaftliche Denken thematisiert die Welt, die in der
natürlichen Einstellung schlechthin aller Thematisierung entzogen war. Aber die von
der Philosophie und Wissenschaft thematisierte Welt ist dieselbe wie die der
natürlichen Einstellung. Sie bleibt also das prinzipiell unthematische Korrelat der
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 17
natürlichen Einstellung.3 Folglich darf sie im philosophisch-wissenschaftlichen
Denken nicht so zum Thema gemacht werden, als ob sie dasselbe wie einer der
thematischen Gegenstände wäre, wie sie die natürliche Einstellung kennt. D. h., sie
muß von der Philosophie als das prinzipiell Unthematische thematisiert werden. Eine
solche Thematisierung der Welt als des Unthematischen-als-solchen hat nach
Husserl in der geforderten Bewußtheit und Konsequenz erst die durch ihn
inaugurierte phänomenologische Philosophie in Angriff genommen, nämlich
vermittels der systematischen Reflexion auf die Gegebenheits- oder
Erscheinungsweisen, die ich im I. Teil skizziert habe. Die ganze philosophischwissenschaftliche Tradition hingegen ist der naheliegenden Gefahr erlegen: Sie hat
der Welt durch ihre Thematisierung den Charakter der Unthematizität genommen
und sie zu einem thematischen Gegenstand wie andere Gegenstände gemacht.
Husserl stellt den Ursprung dieses Irrwegs in einer Beilage der Krisis (Beilage
XVII, 459 M folgendermaßen dar: Mit der Entstehung des philosophischwissenschaftlichen Denkens kommt es zu der Möglichkeit, daß Menschen sich zu
solchem Denken berufen fühlen und es in diesem Sinne zu ihrem „Beruf“ machen.
Für die in diesem Beruf Tätigen wird nun erstmals die Welt Thema, und zwar als der
Horizont ihres Denkens – so wie auch für andere Berufs-Tätige das Gebiet, auf dem
sie arbeiten, den thematisch artikulierbaren Horizont ihrer Tätigkeit bildet. Damit aber
droht auch schon die Gefahr, daß die zum thematisier-baren Berufshorizont
gewordene Welt mit der schlechthin aller Thematisierung entzogenen Welt
verwechselt wird. Alle Berufshorizonte, auch der eines philosophischwissenschaftlichen Erkennens, stellen nur – in gewissen Grenzen thematisierbare –
„Sonderwelten“, niemals aber „die“ Welt, den niemals thematisierbaren einen
Horizont aller Horizonte dar.
Das zum Beruf gewordene philosophisch-wissenschaftliche Denken hält die
Unthematizität als grundlegende Bestimmung des von ihm thematisierten
Universalhorizonts, der Welt, nicht fest. Das bedeutet zugleich: Es verbleibt nicht in
der Einstellung des reinen Staunens, welches die philosophisch-wissenschaftliche
3
Diese Unthematizität für die natürliche Einstellung ist – das sei noch einmal unterstrichen – die
Husserlsche Grundbestimmung der Welt und damit dann auch der Lebenswelt. Im wichtigen §
38 der Krisis wird dieser Gedanke mit Nachdruck vorgetragen. Die Überschrift des Paragraphen,
worin -die naiv-natürliche Geradehineinstellung“ als eine Weise der Thematisierung der Welt
bezeichnet wird, ist falsch. Nur die ebenfalls in der Überschrift genannte und im
Paragraphentext behandelte Philosophisch-reflexive Einstellung auf die Gegebenheitsweisen
ist die Thematisierung der Welt.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 18
Erkenntnisbewegung auslöst. Das Staunen, die vorgegenständliche Verwunderung
darüber, daß Welt überhaupt ist anstatt nicht zu sein und daß sie als
Universalhorizont den Reichtum des vermöglich Erfahrbaren erscheinen läßt, ist
ursprünglich, als Gestimmtheit, die sprachlose Überwältigung durch das Wunder der
Welt. Es drängt aber über die Sprachlosigkeit hinaus zu einem Fragen und Sprechen
und motiviert so eine neuartige Neugier, die theoretische Neugier (vgl. 332). Diese
richtet sich nun im Rahmen des beruflich werdenden philosophischwissenschaftlichen Denkens auf das zur wissenschaftlichen wie zu jeder
Berufstätigkeit gehörige Gebiet und auf die Gegenstände innerhalb seiner. Das
philosophisch-wissenschaftliche Erkennen etabliert und reklamiert so für sich ein
„Gebiet“, nämlich die Welt. Indem diese so zum thematischen Gegenstand wird,
erscheint sie wegen der Universalität, die sie als Universalhorizont besaß, als
derjenige Gegenstand, der alle Einzelgegenstände in sich enthält. Damit wird die
Welt zum Inbegriff der in theoretischer Neugier befragbaren und erforschbaren
Gegenstände, die das wissenschaftliche Erkennen zu seinem Thema hat.
Durch die Vergessenheit der Welt-Unthematizität als solcher kommt die Welt
nur als Inbegriff von Gegenständen und nicht in ihrem Horizontcharakter, d. h. nicht
als Wie des Erscheinens-von-Gegenständen, zum Vorschein. Nur wenn Welt als
Horizont gedacht wird, kann aber das Subjekt als der Vollzieher dieses Erscheinens
bewußt werden. Geschieht dies nicht, vergißt sich das Vollzugs-Ich an die von ihm
thematisierten Gegenstände. So entsteht mit der Verberuflichung der philosophischwissenschaftlichen Welterkenntnis und der damit einhergehenden ersten
Institutionalisierung eines Forschens aus theoretischer Neugier eine neue
Subjektvergessenheit in der Hingabe an die Objekte der Forschung. Husserl nennt
diese innerhalb des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens selbst angesiedelte
Subjektvergessenheit „Objektivismus“ (vgl. 339).
Zufolge dieses Objektivismus erscheint nun als Gegenstand der
philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, griechisch gesprochen der epistéme,
nicht mehr dieselbe Welt wie die der natürlichen Einstellung, nur in anderer
Einstellung betrachtet, sondern eine andere Welt. Die epistéme erklärt gegen die
natürliche Einstellung: Die Welt, mit der es der Mensch vor dem Eintritt in das
philosophisch-wissenschaftliche Denken im alltäglichen Leben zu tun hat, ist nicht
die wahre Welt, die wahre Welt ist die von der Wissenschaft erkannte. Durch das
objektivistische Selbstverständnis des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 19
entwickelt sich innerhalb seiner ein von der Neugier für bestimmte Gebiete der
wahren Welt geleitetes Forschen: die Wissenschaften. Aber auch der Kernbereich
des Denkens, der auf das Ganze schlechthin gerichtet bleibt, die Philosophie, verfällt
weitgehend dem Objektivismus (vgl. 194f.).
Dieser ganze Vorgang läßt sich leicht mit klassischen Beispielen illustrieren,
wobei der Unterschied von antiker und moderner Wissenschaft in diesem Stadium
der Überlegungen noch außer Betracht bleiben kann. Die antike Wissenschaft zeigt
nur deutlicher, wie sich der objektivistische Abfall vom Ursprung, durch den sich das
wissenschaftliche Denken von der eigentlichen Philosophie abspaltet, noch innerhalb
der Einheit von philosophischer und wissenschaftlicher episteme abspielt. Wenn
Platon etwa eine wahre Welt der Ideen oder Demokrit eine wahre Welt der Atome
der Welt, wie sie uns unmittelbar alltäglich erscheint, entgegenstellen, so kann
Husserl darin Bestätigungen für seine Interpretation der inneren Entwicklung des
philosophisch-wissenschaftlichen Denkens erblicken. Ein klassisches Beispiel für die
moderne Wissenschaft wäre die Lehre von den primären und sekundären Qualitäten,
die Husserl schon in den Ideen I, also 23 Jahre vor der Krisis kritisiert hatte.4 Die
Wissenschaft, in diesem Falle die neuzeitliche Physik, erklärt, unterstützt durch
erkenntnistheoretische und ontologische Argumente der Philosophie: Die Dinge
erscheinen uns zwar außerwissenschaftlich z. B. als farbig, aber diese
Erscheinungsweise ist sekundär, in ihr kommt nur etwas Anderes, Primäres zum
Vorschein, nämlich gewisse mathematisch bestimmbare Verhältnisse im atomaren
Bereich. Dieser Bereich ist die wahre Welt. Die Farben, die wir alltäglich sehen, sind
zwar kein bloßer Schein, aber doch nur Erscheinung, – „Erscheinung“ hier
verstanden als Anzeichen von Verhältnissen in einer Welt hinter unserer alltäglichen
Welt.
Jede Behauptung einer solchen anderen, wahren Welt, wie immer das
Verhältnis dieser Welt zu unserer Alltagswelt auch näherhin bestimmt werden mag,
bedeutet nun aber einen Rückfall in die natürliche Einstellung. Mit jeder solchen
Behauptung tritt die wissenschaftliche mit der vorwissenschaftlichen Erkenntnis in
eine Konkurrenz um die Seinsgeltung der Gegenstände dieser beiden Weisen des
Erkennens. Eine solche Konkurrenz gibt es aber auch schon innerhalb der
4
Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie. 1. Buch. Husserliana. Bd III. Hrsg. v. W. Biemel. Den Haag 1950. 89 ff, 125 ff;
vgl. auch Krisis. 54.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 20
natürlichen Einstellung. Der eine Erkennende erhebt gegenüber dem anderen den
Anspruch: mein Gegenstand ist der wahre, er ist seiend, der deine nicht. Wer sich in
eine solche Konkurrenz begibt, setzt sich dem Risiko der Durchstreichung der von
ihm angenommenen Seinsgeltung aus. Dieses Risiko kann er aber nur eingehen,
weil die Endgeltung der Welt durch einzelne Enttäuschungserlebnisse nicht tangiert
wird. Die Konkurrenz der Erkenntnis von wahrer und alltäglicher Welt ist also nur auf
dem den Konkurrenten gemeinsamen Boden der unbefragt festgehaltenen
Seinsgeltung der Welt möglich. Das heißt: der Weltglaube ist ungebrochen.
Wenn die Wissenschaft dem alltäglichen Erkennen eine wahre Welt
entgegenstellt, macht sie schon gar nicht mehr die eine in der natürlichen Einstellung
unthematisch bleibende Welt als solche zum Thema, sondern Gegenstände in der
bereits wieder unthematisch vorausgesetzten Welt. Das Erkennen vollzieht sich
wieder in der Mundanität, und das heißt zugleich: in der Subjektvergessenheit. Diese
Vergessenheit kehrt jetzt im objektivistischen Selbstmißverständnis des
philosophisch-wissenschaftlichen Welterkennens wieder: Es verkennt, daß der
Grund der Unterscheidung seiner selbst von der alltäglichen Erkenntnis in der Weise
des Vollzugs der Einstellung zur Welt und nicht auf Seiten der Welt zu suchen ist.
Die philosophische Dimension der Letztverantwortung für diese Einstellung, die
schon in Sicht war, entschwindet damit erneut dem Blick.
Eine solche Wiederkehr der natürlichen Einstellung im Gewande einer
Einstellung, die doch gerade aus dem Bruch mit ihr hervorgegangen war, ist für die
Philosophie höchst bedrohlich. Indem die neue Einstellung die wahre Welt gegen die
unwahre des vorwissenschaftlichen Lebens ausspielt, erweckt sie den Schein, als sei
sie von der natürlichen Einstellung unterschieden. In diesem Schein von Philosophie
liegt eine Herausforderung für diejenige Philosophie, die dem Schein nicht verfällt.
Sie muß ihre eigene Existenz hiergegen erneut rechtfertigen. Die Philosophie muß
so in eine Kritik der objektivistischen wissenschaftlichen Einstellung als natürlicher
Einstellung zweiter Stufe eintreten. Die Durchschlagskraft dieser Kritik hängt aber
wiederum davon ab, daß die kritikbedürftige Einstellung von sich her die Kritik zuläßt.
Das heißt, die Einstellung muß eine Möglichkeit zur Aufhebung der
Subjektvergessenheit enthalten. Die Kritik der objektivistischen wissenschaftlichen
Einstellung kann also konkret nur in dem Nachweis dieser Möglichkeit bestehen. Und
damit ist die Aufgabe bezeichnet, die sich Husserl in der Krisis-Abhandlung gestellt
hat.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 21
Der wissenschaftliche Objektivismus als zweite natürliche Einstellung bedarf
nun einer geschichtlichen Differenzierung, die ich bisher außer acht gelassen habe.
Nach Husserls Auffassung steigert sich die Subjektvergessenheit, die bereits die
vorneuzeitliche wissenschaftliche Einstellung beherrschte, mit der Entstehung der
neuzeitlichen Wissenschaft. Hätte die Philosophie heute die Auseinandersetzung mit
der weniger subjektvergessenen vorneuzeitlichen Wissenschaft zu führen, so würde
es ihr nicht schwer fallen, das Subjektbewußtsein aufzuspüren, an das sie bei ihrer
Kritik anknüpfen könnte. Dies kann man sich auf folgende Weise klarmachen.
Die wissenschaftliche Einstellung entsteht dadurch, daß das
vorgegenständliche, nicht-thematisierende Staunen ein neugierig thematisierendes,
an Gegenständen interessiertes Fragen aus sich hervortreibt. Das gegenständlich
gerichtete Interesse hat das wissenschaftliche Fragen mit dem vorphilosophischvorwissenschaftlichen Leben in der natürlichen Einstellung gemeinsam. Nun kommt
die Interessiertheit des natürlichen Lebens in einem Zug dieses Lebens zum
Vorschein, den ich in den bisherigen Erörterungen übergangen habe, der aber für die
weiteren Überlegungen zentrale Bedeutung bekommen wird. Das Leben in der
natürlichen Einstellung spielt sich alltäglich ab in Handlungen, in denen wir mit
irgendwelchen Gegenständen zu tun haben. Solchem Handeln begegnen seine
Gegenstände in gewissen Horizonten, die sich aus den Verweisungsstrukturen
ergeben, die jeweils bestimmten Handlungsarten eigentümlich sind. Die spezifischen
Handlungshorizonte sind uns unthematisch vertraut in den verschiedenen Weisen
praktischen Sich-Auskennens und Bescheidwissens, des Sich-Verstehens-auf, die
die Griechen tichnai nannten. Die technai als „praktische Künste“ (26) ermöglichen
jeweils entsprechende Arten von gegenstandsbezogenem Handeln. So verlangt
beispielsweise die Beteiligung an der Praxis des Handels ein Sich-Auskennen in der
Kunst des Zählens und Rechnens, die Tätigkeit des Baumeisters oder des
Landvermessers eine Vertrautheit mit der Kunst des Messens, das Tun des Arztes
oder des Heilkundigen eine Beherrschung der Kunst des Heilens, die Seefahrt die
Kunst, sich in geographisch-kulturellen Bereichen außerhalb der Heimat
zurechtzufinden, usw. Jede solche „Kunst“ – téchne – eröffnet unthematisch einen
spezifischen Horizont, in dem letztlich die unthematisch und selbstverständlich
vorausgesetzte Welt erscheint.
Zufolge der Wiederkehr des gegenständlichen Interesses in Gestalt der
theoretischen Neugier kann die Wissenschaft an die Horizontbildung der natürlichen
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 22
téchne-geleiteten Praxis anknüpfen. Entsprechend der Vielfältigkeit solcher Praxis
spezifizieren sich ihre Horizonte. Damit ist die Differenzierung des Plurals der
Wissenschaften durch Ausgrenzung ihrer Gebiete aus dem Totalhorizont der Welt
vorgezeichnet. So entstehen durch Thematisierung von Teilhorizonten bestimmter
téchnai, wie ich sie eben als Beispiele angeführt habe, typische Gebiete
vorneuzeitlicher Wissenschaften: das Gebiet der Zahlen als solcher, das der
geometrischen Verhältnisse als solcher, das der Ursachen für Gesundheit und
Krankheit als solcher, das des geographisch Wißbaren als solchen, usw.
Indem die Wissenschaften derartige Horizonte als solche, d. h. als eigens
abgesteckte und zugleich durch die Weise ihrer Erforschbarkeit definierte Gebiete
thematisieren, bleiben sie auf die „technische“ Lebenspraxis zurückbezogen. Sie
können nun als Fortsetzung oder Abwandlung von Erkenntnisprozessen interpretiert
werden, die schon innerhalb der natürlichen Einstellung in Gang gekommen waren
(vgl. 24f., 340f.), obwohl sie in ihrem eigentlichen, mit der Philosophie gemeinsamen
Ursprung gerade nicht durch das Bestreben motiviert sind, die natürliche
Erkenntnispraxis irgendwie zu verbessern. Dieses Bestreben ist von einem
Gegenstände thematisierenden Interesse geleitet. Den Ursprung des philosophischwissenschaftlichen Denkens hingegen bildet die jegliches gegenständlich gerichtete
Interesse transzendierende Gestimmtheit des Staunens, worin der Bruch mit der
natürlichen Einstellung faktisch erlebt wird. Sofern die philosophischwissenschaftliche Welterkenntnis im Staunen aus der „bloßen universalen Schau“
hervorgeht, hat sie den Charakter der Anschauung, wie dies auch das griechische
Wort „theoría“ zum Ausdruck bringt. Zufolge der gegenständlich interessierten
Neugier vollzieht sich die so verstandene Theorie aber als eine Erkenntnispraxis, und
so entsteht die natürliche Einstellung zweiter Stufe. Die neue nach Gebieten
gegliederte Erkenntnispraxis erhebt nun den Anspruch, dasjenige mit Bestimmtheit
und Verbindlichkeit zu erkennen, was in der jeweils entsprechenden
vorwissenschaftlichen praxisleitenden téchne nur vage, mit einer gewissen
Unbestimmtheit, nämlich in den Grenzen dessen, was man für den Alltag braucht,
bekannt war.
Durch diesen Rückbezug auf die alltägliche Erkenntnispraxis bleibt die vorneuzeitliche wissenschaftliche Erkenntnispraxis abhängig von den Horizonten, die
der alltäglichen Erkenntnispraxis ihren Sinn geben. Die Horizonte aber sind nichts
Freischwebendes, sondern nur im Horizontbewußtsein, d. h. in subjektiven
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 23
Vermöglichkeiten gegenwärtig. Also hätte die Subjektvergessenheit der vorneuzeitlichen Wissenschaften aufgehoben werden können, indem die Philosophie sie
an die Rückbezogenheit ihrer Gebiete und der darauf bezüglichen
Erkenntnispraktiken auf das Horizontbewußtsein erinnert hätte.
Viel schwieriger ist die Lage für die Philosophie in der Auseinandersetzung mit
der wissenschaftlichen Einstellung der Neuzeit. Das wesentlich Neue an dieser
Einstellung gegenüber den vorneuzeitlichen Wissenschaften ist für Husserl die
Freisetzung der Methode (vgl. 56f.). Hinter dieser Freisetzung steht ein genuin
philosophisches Motiv. Durch den Rückbezug der theoretischen auf die
vorwissenschaftliche Erkenntnispraxis hatte sich das wissenschaftliche Denken an
die Teilhorizonte vorwissenschaftlich-praktischen Sich-Auskennens gebunden und
hatte damit die Universalität des umfassendsten Horizonts, der einen Welt, aus den
Augen verloren. Um ihren Bezug zur einen Welt zurückzugewinnen, löst sich die
neuzeitliche Wissenschaft von ihrer Bindung an die Teilhorizonte. Aufgrund dieser
Bindung konnte sich die vorneuzeitliche Wissenschaft nur endliche
Erkenntnisaufgaben stellen. Horizont heißt ja Begrenzungslinie, Grenze. Ein Horizont
legt zwar nicht fest, was faktisch alles in ihm an Gegenständen vorkommt, aber er
bestimmt doch, was überhaupt in ihm auftreten kann.5 Die Grenzen der
wissenschaftlichen Erkenntnisgebiete und die entsprechend endlichen
Aufgabenstellungen ergaben sich aus den Grenzen, die die Horizonte vorzeichneten.
Mit der Lockerung und in der Endabsicht völligen Aufhebung der Rückbindung der
wissenschaftlichen Erkenntnispraxis an die vorgegebenen Teilhorizonte entschränkt
sich das Gesamtgebiet und ineins damit die Aufgabenstellung der Wissenschaften
überhaupt. Die Wissenschaft kann sich nun zum Ziel setzen, den Universalhorizont,
das Ganze schlechthin, in seiner alle Teilhorizonte transzendierenden Unendlichkkeit
zu erforschen (vgl. 19f., 359f.). Gegenstand der Wissenschaft wird, wie Husserl dies
ausdrückt, die Welt als unendliche Idee.
Die radikale Ablösung der Wissenschaft von ihren vorwissenschaftlich
vorgegebenen Horizonten bedeutet nun aber, daß sich der praktische Charakter, den
die Wissenschaft zufolge der Entstehung einer gegenständlich interessierten
Einstellung zweiter Stufe bekommen hatte, endgültig gegen ihre philosophische
5
Vgl. U. Claesges: Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff. In: Perspektiven
transzendentalphänomenologischer Forschung. Für L. Landgrebe zum 70. Geburtstag von
seinen Kölner Schülern. Den Haag 1972. (Phaenomenologica. Bd 49. Hrsg. von U. Claesges
und K Held) 95.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 24
Herkunft aus dem Bruch mit der natürlichen Einstellung im Staunen durchsetzt; denn
mit der radikalen Lösung von der Horizontgebundenheit muß sich die
Verfahrensweise des wissenschaftlichen Erkennens als Verfahren verselbständigen:
Weil es gleichgültig gegen die vorgegebenen Horizonte wird, kann es seine
Regelung nur noch aus sich selbst finden. In diesem Sinne wird es, wie Husserl sagt,
zu einer bloßen téchne (vgl. 46ff., 197ff.). „Bloße“ téchne – das besagt, daß es sich
gerade nicht mehr um das horizontgebundene Sich-Auskennen, also téchne im
griechischen Sinne, handelt, sondern um ein immanent an seiner eigenen Effektivität
ausgerichtetes Operieren. Dieses vollzieht sich in einem unendlichen Fortschreiten
der Forschungsarbeit, – unendlich deshalb, weil diese Arbeit auf die Welt als
unendliche Idee bezogen ist.
Das unendliche Fortschreiten ist aber nur unter der Voraussetzung sinnvoll,
daß jeder einzelne Erkenntnisfortschritt etwas von der einen unendlichen Welt
zutage fördert. Damit wird vorausgesetzt, daß diese eine Welt vorab und unabhängig
von jenem Fortschreiten der Erkenntnis ihren Bestand hat. Mit dieser Voraussetzung
kehrt nun die Generalthesis der natürlichen Einstellung in einer merkwürdigen Weise
wieder. Zum Weltglauben der vorwissenschaftlichen natürlichen Einstellung gehört
schon die unausgesprochene Überzeugung, daß die Welt die Horizonte, in denen sie
sich bei der jeweiligen Gegenstandserfahrung meldet, transzendiert; die Welt ist
„mehr“ als alle diese Horizonte. Aber das Weltbewußtsein bedarf ihrer doch
notwendig. Welt kann überhaupt nur in der Gegebenheitsweise eines jeweiligen
okkasionell-situativen Horizontbewußtseins unthematisch zum Vorschein kommen.
Die Transzendierung der Horizonte durch die Welt besteht nur darin, daß das
Bewußtsein von Welt nicht an irgendeinen bestimmten Horizont gebunden ist; die
Horizonte sind variabel. Demgegenüber bekommt die Welt als unendliche Idee eine
Transzendenz, die besagt: das Sein der so verstandenen Welt ist überhaupt nicht
mehr an das Erscheinen in Horizonten gebunden. Es findet statt unabhängig von
jeglichem Bezug auf das Horizontbewußtsein als subjektive Vermöglichkeit. Das Sein
der so verstandenen Welt ist gänzlich „subjekt-irrelativ“.
Das bedeutet aber: In der Annahme einer solchermaßen „an sich“ seienden,
schlechthin nicht mehr in Horizontbewußtsein eingebetteten, „objektiven“ Welt
erreicht die Subjektvergessenheit der natürlichen Einstellung eine extreme Gestalt. In
der vorwissenschaftlichen natürlichen Einstellung vergaß sich das Subjekt im
Glauben an das Ansichsein des Gegenstandes; aber es konnte sich durch den
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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Vollzug der Gegebenheitsweisen seiner selbst erinnern. In der schon durch
Wissenschaft geprägten, aber noch vorneuzeitlichen natürlichen Einstellung vergaß
sich das Subjekt in einem Objektivismus erster Stufe, nämlich im Glauben an das
Ansichsein einer wahren Welt der Wissenschaft; aber es konnte sich durch die
Rückbezogenheit der wissenschaftlichen Erkenntnispraxis auf die endlichen
vorwissenschaftlichen Praxishorizonte seiner selbst erinnern. In der durch die
moderne Wissenschaft entstandenen zweiten natürlichen Einstellung mit ihrem ins
Extrem gesteigerten Objektivismus vergißt sich das Subjekt im Glauben an das
absolut subjekt-irrelative Ansichsein einer wahren unendlichen Welt.
Diese neue Einstellung stellt nun die philosophische Kritik vor eine fast
unlösbare Aufgabe. Zwar wird in dieser Einstellung die Welt selbst, nämlich in ihrer
alle Teilhorizonte transzendierenden Unendlichkeit thematisiert. Aber mit dem totalen
Praktischwerden der wissenschaftlichen Erkenntnis, wodurch die Welt als unendliche
Idee Thema wird, ist diejenige Welterfahrung verschüttet, in der die unthematische
Weltvertrautheit selbst als das überwältigend Rätselhafte erlebt und so die
Mundanität aufgesprengt wird. Nur in dieser philosophischen Welterfahrung des
Staunens wird aber auch der Bann der Subjektvergessenheit gebrochen. Von daher
kann man zwar die Kritik formulieren, daß die durch die Methodisierung der
Wissenschaft erreichte zweite natürliche Einstellung eine nicht mehr überbietbare
Befangenheit in der Mundanität und Subjektvergessenheit bedeutet. Aber es macht
die Radikalität dieser Befangenheit aus, daß die natürliche Einstellung sich in diesem
Stadium gegen die philosophische Kritik immunisiert hat; denn die Erkenntnispraxis
in dieser Einstellung ist durch ihren Bezug auf die Welt als unendliche Idee
philosophisch und bedarf insofern nicht mehr der Philosophie. So läßt sie die
philosophische Kritik leerlaufen. Insofern war mein Reden von einer „zweiten
natürlichen Einstellung“6 in gewissem Sinne mißverständlich. Die moderne
wissenschaftliche Einstellung teilt zwar mit der natürlichen Einstellung die
Subjektvergessenheit und Mundanität, aber gerade deswegen, weil sie die extreme
6
Die Formulierung „zweite natürliche Einstellung“ stammt von mir, aber sie entspricht Husserls
Charakterisierung der wissenschaftlichen Einstellung. Ob theoretisch interessiertes Leben in
dieser Einstellung oder vorwissenschaftlich-praktisch eingestelltes vorwissenschaftliches
Leben, – beide Weisen des Lebens sind Spielarten des einen „natürlichen“ – nämlich in der
natürlichen Einstellung vollzogenen – „Lebens“, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es Welt
zu seinem unthematischen Universalhorizont hat. In diesem Sinne heißt es auf Seite 148:
„Das natürliche Leben ist, ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich, ob theoretisch oder
praktisch interessiertes, Leben in einem universalen unthematischen Horizont.“
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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Steigerung des Versuchs darstellt, entgegen der natürlichen Einstellung die Welt
selbst zu thematisieren.
Soll der „zweiten natürlichen Einstellung“ der Schuh der philosophischen Kritik
passen, so muß die Kritik wiederum an ein natürliches Bewußtsein von
Subjektrelativität der Welt anknüpfen können. Genau dieses Bewußtsein ist aber mit
dem neuzeitlichen Objektivismus, der Idee der unendlichen Welt als einer absolut
subjekt-irrelativen Welt verschüttet. Ist unter diesen Umständen überhaupt noch
Philosophie möglich? Wenn ja, muß Husserl nachweisen, daß auch die moderne
wissenschaftliche Welterkenntnis noch von unthematisch vollzogenen
Erscheinungsweisen bzw. unthematisch bewußten Horizonten abhängig bleibt. Die
zur „bloßen téchne“ gewordene Welterkenntnis ist definiert durch ihre Gleichgültigkeit
gegenüber den aus der vorwissenschaftlichen Erkenntnispraxis vertrauten
Horizonten. Also kann der geforderte Nachweis konkret nur darin bestehen, daß
Husserl zeigt: die Gleichgültigkeit der methodisierten Welterkenntnis gegen alle
solchen Horizonte ist selbst noch subjektrelativ; sie beruht selbst noch auf der
horizontgebundenen Erkenntnispraxis.
Um der Aufgabe, dies zu zeigen, gewachsen zu sein, bedarf die Kritik der
natürlichen Einstellung einer neuen Dimension. Sie muß historisch werden, genauer
gesagt: bewußtseinsgeschichtlich (vgl. 16, 365f., 378ff., 443f., 495ff.). Sie muß
erstens „rekonstruieren“ (20f.), wie aus der vorneuzeitlichen horizontgebundenen
Erkenntnispraxis – und nur aus dieser Praxis – die horizontindifferente Methode
entstehen konnte; und sie muß zweitens zeigen, daß diese Methode in die
Horizontgebundenheit ihres Herkunftsbereichs eingebettet bleibt.
Die historisch erste und für alle weitere Methodisierung maßgebende Gestalt
technisch werdender Erkenntnispraxis ist die neuzeitliche Physik. Die Welt als
unendliche Idee erscheint als Forschungsgegenstand der Physik in Gestalt der
mathematisierten Natur. Die methodische Erforschung dieser Natur setzt ihre
Mathematisierung voraus. Die Mathematisierung der Natur ist selbst der
grundlegende Schritt des Methodischwerdens der physikalischen Erkenntnis.
Deshalb entwickelt Husserl in dem bekannten Galilei-Paragraphen der Krisis (§ 9)
den Hervorgang der horizontindifferenten Methode aus der horizontgebundenen
Erkenntnispraxis, indem er die bewußtseinsgeschichtliche Herkunft der
Mathematisierung der Natur analysiert.
„Natur“ meint dabei die Welt als vorgefundene Welt. Die Rede von
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 27
„Mathematisierung“ setzt voraus, daß die so verstandene Welt in ihrem
unthematischen Erscheinen in der vorwissenschaftlichen horizontgebundenen
Erkenntnispraxis noch nicht auf mathematische Weise bewußt wird. Husserl muß
zeigen, daß und wie die mathematische Weise des thematisch-wissenschaftlichen
Erscheinens der vorgefundenen Welt aus der noch nicht mathematischen Weise
ihres unthematischen Erscheinens in der natürlichen Praxis entstehen kann. Dieser
Nachweis setzt voraus, daß schon im Vollzug des nicht-thematischen Erscheinens
die Möglichkeit angelegt ist, dazu überzugehen, die Natur auf mathematische Weise
zum Erscheinen zu bringen. Diese Möglichkeit liegt in dem, was Husserl die
„Induktivität“ oder auch den „universalen Kausalstil“ des Lebens in der
vorwissenschaftlichen natürlichen Einstellung nennt (vgl. 28ff., 37ff., 50ff., 130, 349f.,
464f.). Der Begriff der Induktivität trägt die ganze Rekonstruktion der Methodisierung
der Erkenntnispraxis als einer Mathematisierung der Naturerkenntnis. Was ist diese
Induktivität, und wieso kennzeichnet sie universal die Erkenntnispraxis in der
natürlichen Einstellung?
Das Erkennen in der natürlichen Einstellung ist nicht statisch, sondern
dynamisch verfaßt: es ist gerichtet auf die eine Welt, den Universalhorizont. Jeder
Erkennende versucht beständig, in der jeweiligen Gegenstandshabe der Einheit
dieser einen Welt gewissermaßen habhaft zu werden. Aber die eine Welt als das
schlechthin Unthematische ist uneinholbar. So muß sich das Erkennen an die
jeweiligen Gegenstandserkenntnisse halten, in denen sich die Einheit der
Weltindirekt meldet. Das Sein der Gegenstände wiederum ist aber in
Enttäuschungserlebnissen durchstreichbar, und es ist in den horizonthaften
Verweisungszusammenhang eingebettet. Das heißt, der Erkennende, der der Einheit
des Gegenstandes habhaft werden möchte, muß immer wieder neue in Horizonten
bereitliegende Viermöglichkeiten ergreifen. Schon vom schlichtesten
Wahrnehmungsgegenstand weiß ich, daß er eine mir unbekannte Rückseite hat, die
ich mir auch ansehen müßte, wenn ich den drohenden Enttäuschungserlebnissen
zuvorkommen und wirklich über ihn Bescheid wissen wollte. Ich kann aber nicht alle
Rückseiten erforschen; die Perspektivität ist unerschöpflich. So ist Weltorientierung
nur möglich, indem der Erkennende auf der Grundlage seiner bisherigen
horizonthaften Erfahrung gegenständliche Identitäten antizipiert, von deren Sein er
sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch ein Hineinfragen in bestimmte
Horizonte überzeugen könnte. Die Weltorientierung bedarf in diesem Sinne immer
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 28
einer gewissen „Voraussicht“ (vgl. 50ff.). Der Erkennende kann sich seinen
Weltglauben in der enttäuschbaren Gegenstandserkenntnis nur erhalten, indem er
die horizonthafte Perspektivität beständig auf antizipierte Identitäten hin
entperspektiviert. Das ist die universale Induktivität. Die ganze Vielfalt der
Horizontbildung in den verschiedenen Arten praxisleitenden Sich-Auskennens in der
natürlichen Einstellung ist nur eine Entfaltung dieser induktiven Aktivität mit ihrer
Voraussicht.
Die Induktivität ist die Tendenz, den unthematisch vertrauten perspektivischen
Verweisungszusammenhang durch Thematisierung antizipierter Identitäten zu
überschreiten. Diese Identitäten haben im Vergleich zum unthematisch Vertrauten
den Charakter der Unanschaulichkeit. Die Wahrnehmung dieses Tisches hier ist
merkwürdig janusköpfig: Einerseits bin ich mir seines Daseins und Soseins (seiner
„Seinsgeltung“) gewiß, sofern er mir durch die Einbettung meiner Wahrnehmung in
das vorgegebene Horizontbewußtsein unmittelbar als etwas Vertrautes und
Bekanntes erscheint, und in diesem Sinne hat das Erscheinen des Tisches den
Charakter der Anschauung. Andererseits beruht die Tisch-Wahrnehmung immer
auch auf anschauungstranszendierender Voraussicht; sie enthält unthematischselbstverständliche Elementarannahmen wie z. B. die, daß ein solches Ding eine
Rückseite hat und daß es mir darum bei Einnahme einer geeigneten Perspektive
eine Fläche zeigen müßte, von der ich jetzt bereits sicher bin, daß sie sich mir im
Normalfalle zumindest mit Farb- und Tastqualitäten darbieten würde. „Das“ Ding ist
mir eigentlich nie gegeben; ich habe es nur als Gegenstand im Medium weitgehend
unthematisch bleibender Antizipationen (vgl. 167). Mache ich solche Antizipationen,
etwa die gerade erwähnten Elementarannahmen thematisch, d. h. erwacht in mir ein
aktives Interesse z. B. für die Rückseite, die ich jetzt gerade nicht sehe, deren
Anblick ich aber im Interesse dafür antizipiere, so kommt heraus: Das Erscheinen
des Tisches hat, so betrachtet, gerade nicht den Charakter der Anschauung. Die in
diesem Erscheinen liegende Antizipation ist als Antizipation unanschaulich. Die
universale Induktivität ist die Tendenz, die im Horizontbewußtsein schlummernden
Antizipationsmöglichkeiten durch thematisierende Interessenahmen eigens zu
ergreifen und so jeweils von der anschaulichen Weise des Erscheinungsvollzugs zur
Unanschaulichkeit überzugehen.
Hier zeigt sich, warum sich in der Induktivität die Möglichkeit vorbereitet, die
noch nicht mathematische Weise des Erscheinungsvollzugs in eine mathematische
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 29
zu überführen: Der grundlegende Unterschied zwischen einem nichtmathematischen und einem mathematischen Erscheinen von Gegenständen ist der
von Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit. Die prinzipiell jeglicher Thematisierung
entzogene und insofern gänzlich unanschauliche Welt ist der Bezugspol jeglicher
induktiv-entperspektivierenden Antizipation von Identitäten; in ihr terminiert
schließlich alle Voraussicht. Aber sie selbst ist diejenige Identität, der alles
Induzieren immer nur nachläuft, ohne sie jemals einholen zu können. Mit der
Philosophie als der Thematisierung der prinzipiell jeglicher Thematisierung
entzogenen Welt in ihrer Unthematizität kommt in das Erkennen eine
Unanschaulichkeit, die die Unanschaulichkeit aller in der natürlichen Einstellung
möglichen Induktionen in einer von dieser Einstellung her niemals zu ahnenden
Weise übersteigt. Diese philosophische Unanschaulichkeit steigert sich in der
neuzeitlichen Wissenschaft, die sich auf die Welt in ihrer alle Grenzen des
praxisleitenden Horizontbewußtseins sprengenden Unendlichkeit richtet, ins Extrem.
Den so im Superlativ seiner Unanschaulichkeit thematisierten Universalhorizont
nennt Husserl, wie erwähnt, „die Welt als unendliche Idee“ (499). Im Vorblick auf
diese Kulmination des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens in der Ausrichtung
auf eine „Idee“ läßt sich der Übergang von der natürlichen Induktivität mit ihrer
Tendenz auf Unanschaulichkeit zur philosophisch-wissenschaftlichen Praxis der
Welterkenntnis als „Idealisierung“ interpretieren (vgl. 49ff., 289ff., 359ff., 499ff.). Die
Idealisierung ist der Versuch, die „rohe Voraussicht“ (52) in den téchnai der
natürlichen Einstellung zu optimieren durch Ausdehnung der Voraussicht ins
Unendliche, indem bestimmte Antizipationsmöglichkeiten der téchnai „als
durchlaufen gedacht“ (359) werden.
So liegen die bewußtseinsgeschichtlichen Wurzeln der Mathematisierung der
Naturerkenntnis in der natürlichen Induktivität mit ihrer Tendenz auf
Unanschaulichkeit. Die Mathematisierung der Erkenntnis der vorgefundenen Welt
vollzieht sich konkret so, daß die auf der Induktivität beruhenden praxisleitenden
téchnai sich idealisieren. Die höchste Steigerung dieses Prozesses ist die zur
„bloßen téchne“ gewordene und auf die Welt als unendliche Idee gerichtete
mathematisierte neuzeitliche Wissenschaft. Wie dieser Prozeß in seinen
Motivationsverläufen zu rekonstruieren ist, hat Husserl am Musterbeispiel der
neuzeitlichen Physik im Galilei-Paragraphen der Krisis skizziert (S. 32ff., vgl. dazu
357ff., 365ff.). Die Stichhaltigkeit dieser Rekonstruktion im einzelnen zu überprüfen,
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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wäre eine eigene Aufgabe. Hier muß der Hinweis genügen, daß Husserl für die
Grundlegung einer solchen Rekonstruktionsmöglichkeit das Begriffspaar „Induktivität“
und „Idealisierung“ bereitgestellt hat.
Damit das auf diese Weise gewonnene Instrumentarium für eine Kritik der
modernen natürlichen Einstellung zweiter Stufe genutzt werden kann, bedarf es
freilich eines weiteren Nachweises. Selbst wenn man unterstellt, daß die
mathematisierende Naturerkenntnis eine äußerste Steigerung von
Idealisierungsprozessen darstellt, die sich ihrerseits in der natürlichen Induktivität
vorbereiten, kann man immer noch annehmen, diese Herkunft der modernen
Forschung aus der Erkenntnispraxis der natürlichen Einstellung habe für die
Wissenschaft gegenwärtig keine Bedeutung mehr. Es kommt darauf an zu zeigen,
daß die Herkunft für sie nicht bloß ein überholter historischer Anstoß war, sondern
auch heute noch ihre Grundlage bildet.
Husserl führt hierfür zwei Indizien an. Beide sind triviale Beobachtungen, aber
vor dem Hintergrund der Rekonstruierbarkeit der mathematisierten Erkenntnispraxis
aus der natürlichen Induktivität und ihrer Idealisierung bekommen sie eine nichttriviale Bedeutung. Die erste Beobachtung bezieht sich auf die Situation des
Forschers, der die moderne wissenschaftliche Erkenntnispraxis vollzieht (vgl. 123f.,
128f., 135f., 342f.): Er bedarf zu ihrer Ausübung vielfältiger Mittel, die ihrerseits in der
Weise der Anschauung gegeben sind. Beispielsweise benutzt er Meßapparaturen mit
irgendwelchen Teilstrichen, die er abliest, wobei er sich auf seine unmittelbaren
optischen Eindrücke verläßt. Oder er spricht mit anderen Forschern, er liest deren
Aufsätze, und immer ist er überzeugt, daß das, was er unmittelbar hört oder sieht, als
etwas Seiendes vorliegt. Dieser Seinsglaube beruht wie jeder Seinsglaube auf der
fraglos vorausgesetzten Selbstverständlichkkeit, daß der Forscher weiß: ich könnte
mich vom Sein dessen, was mir da so unmittelbar begegnet, gegebenenfalls durch
Aktualisierung geeigneter Gegebenheitsweisen überzeugen. Aber die
Aktualisierbarkeit dieser horizonthaft bereitliegenden Möglichkeiten bleibt
unthematisch. Im Thema steht allein das unanschauliche Erkannte. Das
Verfügenkönnen über Anschauungsmöglichkeiten ist etwas so Selbstverständliches,
daß deshalb auch die gerade angeführte Beobachtung, die an diese
Selbstverständlichkeit erinnert, trivial klingt. Diese Trivialität (vgl. 50f.) ist aber nur der
Widerschein der Tatsache, daß die Anschauungswelt, in der sich der Vollzieher der
unanschaulichen Naturerkentnis bewegt und die er selbstverständlich voraussetzt,
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 31
den Charakter der Unthematizität hat, wie Husserl nachdrücklich hervorhebt (vgl.
452f.).
Den Begriff „Lebenswelt" führt Husserl in der Krisis zunächst ein als Titel für
diese unthematische Anschauungswelt (vgl. 49).7 Sofern der Wissenschaftler als
Vollzieher einer unanschaulichen Erkenntnispraxis unaufhebbar in der Situation
steht, sich auf anschauliche Gegebenheiten verlassen zu müssen, bildet der in
diesen Gegebenheitsweisen bewußte Horizont von Anschaulichkeit den Boden, auf
dem er bei seinen Forschungen steht. In diesem Sinne ist die Lebenswelt der
„Anschauungsboden“, wie Husserl sagt. Obwohl der neuzeitliche Forscher es mit
einer Welt zu tun hat, die in ihrer Unendlichkeit alle Anschauungshorizonte der
natürlichen Erkenntnispraxis transzendiert, bleibt doch seine auf diese Unendlichkeit
bezogene methodisierte Erkenntnispraxis eingebettet in eine Erkenntnispraxis, die
noch immer und unaufhebbar auf eine Welt bezogen ist, die in
Anschauungshorizonten außerwissenschaftlicher Praxis erscheint. Diese Welt ist die
Lebenswelt (vgl. 130ff.).
Husserls Hinweis auf die lebensweltliche Situation des modernen Forschers
reicht freilich als Indiz dafür, daß die Erkenntnispraxis der natürlichen Einstellung die
bleibende Grundlage auch der methodisierten Erkenntnispraxis bildet, noch nicht
aus. Man kann gegen den Hinweis einwenden, das unthematisch-selbstverständliche
Gebrauchmachen von lebensweltlichen Anschauungen sei zwar für den einzelnen
Forscher notwendig, aber das Tun der verschiedenen forschenden Subjekte sei für
die transsubjektiven, objektiven Ergebnisse der Forschung in ihrem allgemeinen
Fortgang außerwesentlich. Was in der Forschung zählt, ist das Resultat, solange die
moderne Forschung nur über das Tun der Forscher, nicht aber auch über ihre
Resultate zur Lebenswelt in Beziehung gesetzt wird, bleibt Husserls Hinweis
unvollständig.
Deshalb bringt Husserl ein zweites Indiz, dessen Einführung folgende
Überlegung voraussetzt: Obwohl wir, wie sich vorhin herausgestellt hat, in der
vorwissenschaftlichen Praxis über alle unsere Gegenstände genau genommen nur
aufgrund von anschauungstranszendierenden Identitätsantizipationen verfügen,
ermöglicht uns das Horizontbewußtsein, uns dieser Gegenstände doch so zu
bedienen, als seien sie uns unmittelbar anschaulich gegeben. Das heißt: sie gehören
7
Im Wiener Vortrag heißt die so ursprünglich eingeführte Lebenswelt noch “Lebenumwelt”
(342) und “anschauliche Umwelt” (343).
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 32
nun ihrerseits zum horizonthaft unthematischen Vorrat meiner
Erfahrungsmöglichkeiten. Wenn ich aus meinem Arbeitszimmer blicke, sehe ich auf
eine wolkig-grüne Fläche, von der ich gewiß bin, daß es sich um einen Wald handelt,
in dem ich spazierengehen kann, obwohl ich die Zusammensetzung dieses Gebildes
aus einzelnen Gegenständen, die von nahem betrachtet Bäume sind, und die
wirkliche Begehbarkeit dieses Gebietes nur zu einem Bruchteil verifiziert habe; und
diese Gewißheit habe ich unthematisch. Entsprechend geht es uns aber auch mit
den Gegenständen, die uns nur deswegen zur Verfügung stehen, weil wir unsere
unanschauliche Kenntnis der mathematisierten Natur zur industriellen Anfertigung
technischer Produkte benutzt haben. Wir betätigen den Lichtschalter und knipsen
das Fernsehgerät an, und wir ergreifen diese Verhaltensmöglichkeiten, ohne eigens
thematisieren zu müssen, was diese Gegenstände eigentlich, d. h. wissenschaftlichtechnisch gesehen, sind. Dies ist im Prinzip deshalb möglich, weil alle Resultate von
entperspektivierender, anschauungstranszendierender Gegenstandsantizipation im
Zusammenhang des Weltglaubens der natürlichen Einstellung und damit auch alle
durch die höchste Idealisierungsstufe gewonnenen Gegenstände in den Fundus der
unthematisch horizonthaft vorgegebenen Möglichkeiten unserer Praxis absinken. Sie
„sedimentieren“ sich, wie Husserl sagt. Das durch Entperspektivierung Erworbene
aller Idealisierungsstufen reperspektiviert sich gewissermaßen und wird zum
Bestandteil der Welt, die in den Anschauungshorizonten unserer
außerwissenschaftlichen Praxis erscheint (vgl. 133f.). Husserl bezeichnet diesen
Prozeß in der Krisis als ein „Einströmen“ in die Lebenswelt (vgl. 115, 141 Anm., 213,
466).
Mit dieser Beobachtung ist nun die moderne, zur extremen Unanschaulichkeit
gesteigerte Erkenntnispraxis nicht nur über die lebensweltliche Anschauungssituation
der forschenden Individuen, sondern auch über die Resultate ihrer Forschung mit der
Lebenswelt in Verbindung gebracht. Das Einströmen zeigt: die methodisierte Praxis
bleibt in die außerwissenschaftliche Praxis eingebettet; denn sonst könnten ihre
Ergebnisse nicht in Form einer unthematischen Vertrautheit mit ihnen in den Horizont
dieser Praxis eingehen und in ihr auf dieser Grundlage verwendbar werden.
Mit der Theorie des Einströmens enthüllt sich ein Aspekt des
Lebensweltbegriffs, der so lange nicht hervortritt, als man nur auf die lebensweltliche
Situation der Forscher achtet. In dieser Blickrichtung konnte die Lebenswelt vorhin
als Anschauungswelt eingeführt werden. In seiner Grundbedeutung als
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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Anschauungswelt läßt sich der Lebensweltbegriff als Kontrastbegriff zur
unanschaulichen Welt der Wissenschaft verwenden (vgl. etwa 127, 129, 463). Nun
gehen aber zufolge der universalen Induktivität die vergegenständlichten Resultate
jeglicher anschauungstranszendierenden Praxis und so auch die der modernen auf
Idealisierung beruhenden technischen Praxis in die Anschauungshorizonte der
außerwissenschaftlichen Praxis ein, und die in diesen Horizonten unthematisch
erscheinende Welt ist die Lebenswelt. Damit verliert dieser Begriff seinen Charakter
als Kontrastbegriff. Der Universalhorizont sowohl für die horizont- und damit
anschauungsgebundene außerwissenschaftliche Praxis in der natürlichen
Einstellung erster Stufe als auch für die radikal anschauungstranszendierende
Erkenntnispraxis in der natürlichen Einstellung zweiter Stufe ist die Lebenswelt.
Das bedeutet aber: Lebenswelt in diesem Sinne, in ihrer „konkreten
Universalität“, wie Husserl sagt (136), ist nichts anderes als die eine umfassende
Welt der natürlichen Einstellung überhaupt, der Universalhorizont. 8 Freilich hat der
Weltbegriff nun eine wesentliche Bereicherung gegenüber seiner früheren Fassung
erfahren: Die Welt der natürlichen Einstellung ist nun eine Welt, die sich geschichtlich
durch die in ihr stattfindende Praxis und ihre Sedimentierungen, durch das
Einströmen, anreichert. Es ist die konkrete geschichtliche Welt. In diese sich
geschichtlich fortentwickelnde Welt der natürlichen Einstellung gehen auch die
Resultate des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens, das sich über die erste
natürliche Einstellung erhebt, ein (vgl. 176).
Wie verhält sich dieser konkret geschichtliche umfassende Lebensweltbegriff
zum Kontrastbegriff von Lebenswelt als Anschauungsboden? Liegt in diesem
Doppelsinn des Lebensweltbegriffes (vgl. 134, 462) ein Widerspruch, wie viele
Husserl-Interpreten bis heute meinen? Die vorangegangene Darstellung sollte
zeigen, daß ein Widerspruch im Prinzip nicht besteht. Jegliche an irgendwelchen
Gegenständen interessierte Praxis hat die Lebenswelt zu ihrem Universalhorizont
und bewegt sich als so verstandene „lebensweltliche Praxis“ immer in der Spannung
8
Diese Auffassung vertritt auch L. Landgrebe in seinem Aufsatz Lebenswelt und Geschichtlichkeit des
menschlichen Daseins. In: Phänomenologie und Marxismus. Bd 2. Hrsg. von B. Waldenfels u. a. Frankfurt
a. M. 1977, 13 ff. – Die Deckung des konkreten Lebensweltbegriffs mit dem schon vor der
Krisis entwickelten Weltbegriff dokumentiert sich darin, daß Husserl nach Abschluß der
vorbereitenden, zum Lebensweltbegriff hinleitenden Überlegungen in der Krisis diesen Begriff
ab Seite 146 systematisch genau so entwickelt, wie er hier im Anschluß an seine Werke vor
der Krisis im I. Teil eingeführt wurde: nämlich als unthematisches Korrelat der natürlichen
Geradehin-Einstellung und als Thema der philosophischen Einstellung, die das Erscheinen-inGegebenheitsweisen ins Licht der reflexiven Aufmerksamkeit rückt.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
Seite 34
zwischen zwei Seiten. Die eine Seite ist das unthematische Verfügen über einen
unthematischen Horizont der Vertrautheit, der uns die Gegenstände als unmittelbar
anschaulich gegeben erscheinen läßt. Diese Seite des umfassend geschichtlich
konkreten Lebensweltbegriffs kann man als Lebenswelt im engeren Sinne, d. h. als
Anschauungsboden, fassen. Die andere Seite der lebensweltlichen Praxis ist das
antizipativ-induktiv-entperspektivierende Überschreiten der Lebenswelt im engeren
Sinne. Indem sich aber jegliches Überschreiten auch reperspektiviert, stellt sich
Lebenswelt als Anschauungsboden immer wieder her und behält so konstant ihren
Charakter (vgl. 51).9 So treffen auf die Lebenswelt gleichermaßen die folgenden, nur
dem ersten Anschein nach einander widersprechenden Bestimmungen zu: 1. Sie ist
die Anschauungswelt. 2. Sie ist Horizont jeder, auch der
anschauungstranszendierenden Praxis. 3. Sie ist geschichtlich wandelbar (nämlich
sofern sie für eine jeweilige Entperspektivierung in geschichtlicher Praxis den
vorgegebenen unthematischen Anschauungshorizont bildet). 4. Sie ist
übergeschichtlich verharrend (nämlich sofern die thematischen Erwerbe in die
Unthematizität der Anschauungswelt zurückströmen).
Die größten Schwierigkeiten bei der Interpretation des Husserlschen
Verständnisses von Lebenswelt sind im Zusammenhang ihrer Bestimmung als
Anschauungswelt entstanden. Die eigentliche Wurzel dieser Schwierigkeiten liegt
darin, daß mit der Entstehung einer natürlichen Einstellung zweiter Stufe das
Verhältnis zwischen philosophischer und natürlicher Einstellung zweideutig wird. Die
Entwicklung des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens zur neuzeitlichen
9
Daß sich die Widersprüchlichkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriffwenn überhaupt, dann nur
auf diese Weise ausräumen lassen, hatte U. Claesges schon am Ende seines Anm. 5
erwähnten wichtigen Aufsatzes Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff 99 ff,
angedeutet. Meine Interpretation stimmt auch überein mit der im Kapitel „Die Lebenswelt“ bei
A. Aguirre: Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und
Kritik. Darmstadt 1982. 86 ff. Diese Darstellung hat in meinen Augen das Verdienst, daß sie
zum ersten Mal die verborgene Systematik, von der die Lebenswelt-Problematik in der Krisis
getragen ist, in allen wesentlichen Bezügen ans Licht bringt. Zur Interpretation des
Lebenswelt-Begriffs verweise ich im übrigen auf folgende Veröffentlichungen: H. Blumenberg:
Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie (1963).
Wiederveröffentlicht in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, 7 ff; G. Funke: Das
topische Bewußtsein und der utopische Rückgang auf Letzterfahrungen der Lebenswelt. In:
Phänomenologie – Metaphysik oder Methode? Bonn 1966, 136 ff-, W. Marx: Vernunft und
Lebenswelt; und: Lebenswelt und Lebenswelten. In: Vernunft und Welt. (Phaenomenologica.
Bd 36.) Den Haag 1970, 45 ff; P Janssen: Geschichte und Lebenswelt. (Phaenomenologica.
Bd. 35) Den Haag 1970; L. Landgrebe: Lebenswelt und Geschichtlichkeiten des menschlichen
Daseins (vgl. Anm. 8); Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie E. Husserls. Hrsg. v.
E. Ströker. Frankfurt a. M. 1979; R. Welterz Der Begriff der Lebenswelt. Theorien
vortheoretischer Erfahrungswelt. München 1986. 90 ff (Ws Unterscheidung zwischen der
einen „Lebenswelt“ und den vielen Kultur-„Umwelten“ erübrigt sich durch diese Interpretation).
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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methodisierten Wissenschaft ist in sich gegenläufig. Als extrem idealisierende
Erkenntnis von der Welt selbst führt sie von der natürlichen Einstellung, für die die
Welt als Welt unthematisch bleibt, weg. Als Entstehung eines in sich selbst total zur
Praxis gewordenen Erkennens führt sie zur natürlichen Einstellung zurück. Unter
dem ersten Aspekt steht die moderne Wissenschaft zusammen mit der Philosophie
der natürlichen Einstellung gegenüber, unter dem zweiten Aspekt emanzipiert sie
sich von der Philosophie und kommt auf die Seite der natürlichen Einstellung zu
stehen.
Um einen Ansatzpunkt zur philosophischen Kritik der modernen Wissenschaft
unter dem zweiten Aspekt zu finden, muß Husserl die Kontinuität zwischen der
natürlichen Einstellung erster und zweiter Stufe ins Blickfeld der Aufmerksamkeit
rücken. Er muß die Herkunft der mathematisierten Naturerkenntnis so darstellen, als
ließe sich die Entstehung einer „bloßen téchne“ bruchlos aus einer in der Induktivität
liegenden Tendenz zu sich steigernder Unanschaulichkeit herleiten. So erweckt die
Idealisierungstheorie im Galilei-Paragraphen den Anschein, als ob sich von der
vorwissenschaftlichen Erkenntnispraxis in den verschiedenen téchnai selbst her
kontinuierlich ein Prozeß steigender Idealisierung entwickelte. Aber dies ist nur ein
Schein, in der Retrospektive aus der Warte der zur „bloßen techne“ gewordenen
Erkenntnispraxis muß der Eindruck entstehen, als ginge das Operieren der
horizontgebundenen téchne ohne Bruch in das horizontindifferente technischmethodische Operieren über (vgl. etwa 24ff., 50f.). In Wahrheit liegt zwischen der
natürlichen Induktivität der téchnai und dem auf Welt als Welt bezogenen
Idealisierungsprozeß ein Bruch (vgl. z. B. 25: Erst „im Gefolge“ des Strebens nach
philosophischer Erkenntnis idealisiert sich die natürliche empirische Meßkunst zur
wissenschaftlichen Geometrie), – eben der Bruch zwischen Philosophie und
natürlicher Einstellung, zufolgedessen die Wissenschaft als ursprünglich
philosophisch motivierte Erkenntnis auch in ihrer modernen Gestalt noch auf eine
Seite mit der Philosophie gehört.
Um diesen Aspekt in seiner Analyse nicht verloren gehen zu lassen, muß
Husserl, die Diskontinuität zwischen der vorphilosophisch-vorwissenschaftlichen
Erfahrung einerseits und dem philosophisch-wissenschaftlichen Denken andererseits
ins Spiel bringen. Als Thematisierung der Welt als Welt hat das philosophischwissenschaftliche Denken den Grundcharakter der Unanschaulichkeit. Demgemäß
kann Husserl die Diskontinuität darin erblicken, daß der vorphilosophisch-
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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vorwissenschaftlichen Erfahrung die Gegenstände im Universalhorizont der
Lebenswelt grundlegend in der Weise der Anschauung begegnen. Aber hier
beginnen für die Interpreten die Schwierigkeiten; denn diese Bestimmung der
lebensweltlichen Erkenntnis kann bei oberflächlicher Betrachtung aus zwei Gründen
als einseitig erscheinen: Erstens macht das Moment der Antizipation, das zur
Induktivität der lebensweltlichen Erkenntnis gehört, diese gerade unanschaulich;
zweitens legt Husserl die Welterfahrung-im-Staunen als reine Schau, also als
Anschauung aus; im Staunen aber wird die natürliche Einstellung durchbrochen; von
daher müßte der in dieser Einstellung vollzogenen lebensweltlichen Erkenntnis das
Attribut „anschaulich“ gerade vorenthalten bleiben.
Auf der anderen Seite freilich hat die im Staunen aufbrechende Welterfahrung
auch den Charakter der Unanschaulichkeit, sofern die Welt als Welt alle
Anschauungshorizonte transzendiert. Und die Induktivität enthält neben dem Moment
der unanschaulichen Antizipation auch das der anschaulichen Gegenstandshabe auf
der Grundlage der unthematischen Vertrautheit von Horizonten. So kann eine
Verwirrung aufkommen, weil die Momente der Anschaulichkeit und der
Unanschaulichkeit beide sowohl bei der Bestimmung der Erkenntnis in der
natürlichen Einstellung als auch der in der philosophischen Einstellung auftreten. Die
Verwirrung läßt sich aber vermeiden, wenn man darauf achtet, welchen Sinn die
Begriffe „Anschauung“ und „Unanschaulichkeit“ im jeweiligen Kontext haben.
Husserls Kennzeichnung des philosophischen thaumázein als „bloße
universale Schau“ zielt ab auf die Freiheit von derjenigen Gestimmtheit, in der der
Erkennende aktiv-intentional, d. h. letztlich: willentlich, nach thematischer Erfassung
von Gegenständen strebt. Diese Gestimmtheit motiviert das Interesse, das in solcher
Aktivität wirksam ist. Der Begriff „Schau“ soll demgegenüber zum Ausdruck bringen,
daß Welt als Welt in einer Gestimmtheit der Empfänglichkeit oder
Hinnahmebereitschaft, d. h. in einer Gelassenheit des Willens (vgl. 470ff.) erlebt wird,
die der aktivitätsauslösenden Gestimmtheit entgegengesetzt ist. Die Welt als Welt
verliert mit dieser Charakteristik des genuin philosophischen Welterlebnisses nicht
ihren Charakter, nicht anschaubar zu sein. Anschaubar sind immer nur Gegenstände
und nicht die Welt. Die „schauende“ welteröffnende Gestimmtheit färbt freilich auf die
aus ihr hervorgehende theoretische Neugier ab. Diese ist – wie auch der Begriff
theoría zeigt – in ihrer antiken, dem philosophischen Ursprung der Wissenschaft
noch ganz nahen Gestalt ein Streben, das gegenständlich Erkannte zur Anschauung
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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zu bringen. Dem entspricht, daß nach dem antiken Verständnis von theoría diese der
auf téchne beruhenden Praxis entgegengesetzt ist: Diese verharrt nicht empfangendhinnehmend von ihren Gegenständen, sondern tendiert durch ihren instrumentalen
Charakter – das eine geschieht umwillen des nächsten – über das jeweils Gegebene,
Gegenwärtige hinaus auf das noch nicht Gegebene. Dieses hat als das
Ungegenwärtige im Vergleich zum gegenwärtig Vorliegenden den Charakter, das
Unanschauliche zu sein. So hat die auf téchne beruhende Praxis schon den
Grundzug einer Überschreitung von Anschaulichkeit. Indem in der Neuzeit die
wissenschaftliche Erkenntnis selbst technisch-praktisch wird, setzt sich in ihr dieser
Grundzug durch, und das Streben nach Anschauung, durch das die vorneuzeitliche
theoretische Neugier ihrer Herkunft aus der Gestimmtheit der staunenden
Empfänglichkeit verhaftet blieb, schwindet.
Die phänomenologische Philosophie erinnert im Namen der mit den
Wissenschaften gemeinsamen Herkunft aus der Selbstunterscheidung von der
natürlichen Einstellung10 daran, daß die theoria ihre Offenheit für die Welt als Welt
nur aufrechterhalten kann, wenn sie das Moment der Anschauung bewahrt (vgl.
59f.). Dieses ist in der vorneuzeitlichen „technischen“ Praxis noch zu finden, aus der
durch äußerste Steigerung ihrer Unanschaulichkeitstendenz, d. h. durch extreme
Idealisierung, die moderne Wissenschaft hervorgeht. Bedingung der Möglichkeit
dieser Tendenz ist nämlich – das lehrt der Husserlsche Begriff der Induktivität – die
unthematische Vertrautheit der Welt, die die Gegenstände als etwas unmittelbar
Bekanntes und in diesem Sinne anschaulich Gegebenes erscheinen läßt. In diesem
Sinne liegt in der natürlichen Induktivität das Streben, die lebensweltliche „Urevidenz“
der Anschaulichkeit immer wieder herzustellen und so zu bewahren (vgl. 130ff.).
Deshalb kann es auch schon in der natürlichen Einstellung Vorgestalten der
theoretischen Neugier geben, sobald nämlich jene anschauliche Weltvertrautheit
einmal nicht in Gestalt einer praxisanleitenden téchne gebraucht und eingesetzt wird,
10
In meiner Untersuchung Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und
Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung. Berlin 1980, habe ich gezeigt, daß sich
aus dem – so bei Husserl nicht formulierten, aber aus seinem phänomenologischen Ansatz
ableitbaren – Gedanken der sachlich-systematischen und historischen Herkunft des
philosophisch-wissenschaftlichen Denkens aus einer Selbstunterscheidung von der
natürlichen Einstellung weitreichende Konsequenzen für die Interpretation des Anfangs der
Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ziehen lassen. Zu diesen Konsequenzen, die über
Husserls Verständnis von Philosophie und Wissenschaft hinausführen vgl. vom Verf. Husserl
und die Griechen. In: Profile der Phänomenologie. Hrsg. von E. W. Orth (Phänomenologische
Forschungen. Bd 22). Freiburg 1989.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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kann sich partiell ein Interesse am anschaulich Gegebenen um des bloßen
Anschauens willen freisetzen (vgl. 332).
Behält man alle diese Zusammenhänge im Auge, so lassen sich die
Mißverständnisse, denen die Bestimmung der Lebenswelt als Anschauungswelt
ausgesetzt gewesen ist, vermeiden. Ein erstes Mißverständnis konnte deswegen
entstehen, weil man übersah, daß nicht „die Welt“, das Unanschauliche schlechthin,
in der Weise der Anschauung begegnen kann, sondern nur Gegenstände in der
Welt. Beachtet man dies nicht, so muß die Rede von der Anschauungswelt so
klingen, als handele es sich bei dieser „Welt“ um den Inbegriff derjenigen
Gegenstände, die uns im Unterschied zu irgendwelchen anderen Gegenständen
anschaulich gegeben sind. Aber „Welt“ bei Husserl meint nicht einen Inbegriff von
Gegenständen, sondern das subjekt-relative Wie des Erscheinens von
Gegenständen, nämlich den Universalhorizont. Wenn Lebenswelt als
Anschauungswelt bezeichnet wird, dann zielt die Kennzeichnung „Anschauungs-“
nicht auf einen bestimmten Teilbereich von Gegenständen ab, sondern nur auf eine
Weise des subjekt-relativen Erscheinens von Gegenständen überhaupt. Freilich hat
Husserl selbst erheblich zu dem besagten Mißverständnis beigetragen, weil bei ihm
meist nicht deutlich zum Ausdruck kommt, daß alle Bestandteile der Lebenswelt, also
auch die durch Reperspektivierung gewonnenen Gegenstände, in der Weise der
Anschauung gegeben sind. Bei ihm klingt es oft sogar so, als ob der
Anschauungsbereich ein dem geschichtlichen Wandel entzogenes Kernstück sei,
das durch geschichtliche Erwerbe überlagert werde. So ist in diesem Sinne etwa auf
Seite 136 von einem „abstrakt herauspräparierbaren Weltkern“ die Rede.
Ein zweites Mißverständnis geht mit dem ersten Hand in Hand. Wenn
Lebenswelt in ihrem „Kern“ als Bereich der anschauungsgegebenen Gegenstände
aufgefaßt wird, liegt es nahe, diesen Gegenstandsbereich mit dem der
wahrnehmbaren Dinge zu identifizieren. Aber das Anschauen, das die
lebensweltliche Erkenntnispraxis charakterisiert und das sich schon in den
natürlichen Vorgestalten der theoretischen Neugier vorbereitet, ist nicht dasselbe wie
sinnliche Wahrnehmung, obwohl es vielfach bei Husserl so klingt (vgl. etwa
besonders deutlich 453). Zur Lebenswelt als Anschauungshorizont gehören
reperspektivierte Erwerbe anschauungstranszendierender Erkenntnispraxis, z. B.
Lichtschalter. Ich kann sagen: der Lichtschalter ist mir anschaulich gegeben, wenn
ich dabei unter Anschaulichkeit unmittelbare Bekanntheit im Gegensatz zur
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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Vermitteltheit des antizipativ entperspektivierenden Erkennens verstehe. Das heißt,
der Lichtschalter ist mir anschaulich gegeben, sofern ich ihn ohne Reflexion über
sein Funktionieren benutzen kann, aber nicht, sofern mir das, was er ist,
ausschließlich durch meine sinnliche Wahrnehmung gegeben wäre. Durch bloße
Wahrnehmung weiß ich nicht, was der Lichtschalter ist.11
Auch ein drittes Mißverständnis entsteht dadurch, daß die Verwendung des
Anschauungsbegriffs dazu verleiten kann, Lebenswelt als den Gesamtbereich der
wahrnehmbaren Gegenstände aufzufassen. Bei Husserl selbst findet sich die
Behauptung, durch die Mathematisierung der Naturerkenntnis sei über die
Lebenswelt als Anschauungswelt ein „ldeenkleid“ (51f.) gebreitet worden, und
ähnliche Wendungen (vgl. etwa 136). Im Lichte der besagten Auffassung war es
beinahe unvermeidlich, dies so zu verstehen, als ob Husserl damit den
Wahrheitsanspruch der Wissenschaft umkehren wolle und behaupte: die
anschauliche Lebenswelt ist die „wahre Welt“; die unanschauliche Welt der
Wissenschaft hingegen ist eine bloße Vorstellungswelt. (So klingt es auch bei
Husserl selbst: 51 f). Man sieht sofort: mit einer solchen Umstülpung der traditionell
metaphysischen Rangordnung von sinnlich-wahrnehmbarem und unsinnlich-idealem
Sein würde Husserl genau in die Mundanität zurückfallen, die er der Wissenschaft
zum Vorwurf macht; denn jede Behauptung einer wahren Welt in Konkurrenz zu
einer anderen setzt den ungebrochenen Weltglauben voraus.
Alle diese Mißverständnisse lassen sich von vornherein vermeiden, wenn man
den Begriff von Lebenswelt als Anschauungswelt nicht isoliert. „Anschauungswelt“
bezeichnet nur die eine Seite der konkret geschichtlichen Lebenswelt, die nichts
anderes ist als der um die Bestimmung des Einströmens erweiterte Universalhorizont
der natürlichen Einstellung.
So bleibt der Begriff der Welt das Hauptinstrument der Husserlschen Kritik der
11
Die Gleichsetzung des lebensweltlich-anschaulichen Erscheinens mit der Wahrnehmung
macht Husserls Begriff vom Erscheinen überhaupt und damit den rür die von ihm inaugurierte
„phänomenologische“ Philosophie grundlegenden Begriff des Phänomens (Erscheinen des
Erscheinenden in Gegebenheitsweisen) in hohem Maße problematisch. In meinem Aufsatz
Husserls Rückgang auf das phainömenon und die geschichtliche Stellung der
Phänomenologie. In: Dialektik und Genesis in der Phänomenologie. Hrsg. von E. W. Orth
(Phänomenologische Forschungen. Bd 10) Freiburg/München 1980, 89 ff, habe ich diese
Gleichsetzung bis auf Platons ProtagorasKritik zurückverfolgt. Ich versuche dort zu zeigen,
daß ein angemessener Begriff vom Erscheinen nur zu gewinnen ist in einer Rückbesinnung
auf gewisse Denkentscheidungen, die schon in der antiken Philosophie bei Protagoras,
Platon, Aristoteles, in der Stoa und der pyrrhonischen Skepsis gefallen sind. Diese
Entscheidungen betreffen das Verständnis des „phainömenon“ und den Umgang mit den im
Problembereich des „phainömenon“ angesiedelten Grundbegriffen „dóxa“ und „epoché“.
Klaus Held, Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt
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Subjektvergessenheit der natürlichen Einstellung. In der modernen natürlichen
Einstellung zweiter Stufe, dem ins Extrem gesteigerten Wissenschaftsobjektivismus,
besteht die Subjektvergessenheit in der Horizontindifferenz der Methode und in der
damit verbundenen Vergessenheit der Herkunft dieser Indifferenz aus einer
Steigerung der antizipativ-induktiven lebensweltlichen Erkenntnispraxis in den
téchnai. Die Welt erscheint so als eine absolut subjektirrelative unendliche Welt für
eine entsprechend ins Extrem der „bloßen téchne“ gesteigerte, unendlich
fortschreitende Erkenntnispraxis. Mit dem Nachweis der Zugehörigkeit dieser Praxis
zur allgemeinen Induktivität wird die Subjekt-Relativität der vermeintlich gänzlich
subjekt-irrelativen Welt aufgedeckt. Das heißt, auch im thematischen Erscheinen
dieser subjekt-irrelativen Welt vollzieht sich ein unthematisches Erscheinen
derjenigen Welt, die den Universalhorizont für die Anschauungshorizonte der
außerwissenschaftlichen Praxis bildet, der Lebenswelt.
Damit aber kann auch die moderne wissenschaftliche Einstellung als
natürliche Einstellung zweiter Stufe zum Gegenstand philosophischer Kritik gemacht
werden. Einführung in die Philosophie wird wieder möglich, denn die
Subjektrelativität des Horizontbewußtseins ist der Anknüpfungspunkt zur Aufhebung
der Subjektvergessenheit. HusserlS abschließende Bestimmung dieser
Vergessenheit ist ihre Kennzeichnung als Lebensweltvergessenheit (vgl. 48ff.). Die
„Krisis“ der modernen Wissenschaften ist der Sinnverlust, der dadurch entsteht, daß
eine schlechthin subjekt-irrelative Welt, wenn es sie wirklich gäbe, eine Erinnerung
an die Verantwortlichkeit des Menschen gänzlich unmöglich machte. Husserls letzte
Einführung in die Philosophie ist nichts anderes als der Nachweis, daß eine solche
Erinnerung doch noch möglich ist.
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