Warum John Lennon sterben musste Anhörung eines Mörders Von Egon Koch Mitwirkende: Erzähler Chapman Bevollmächtigte Bevollmächtigter Zitator Zeit: 54´32´´ Produktion: NDR, SR & SWR, 2005 Erstsendedatum: 3. Dezember 2005, SR Kultur 1 Musik 1: John Lennon – Mother (Ein Glockenschlag im Vorspiel) (0´03´´) Musik 2: Soundtrack Confrontation „Der Knochenjäger“ / 14. Final (0´35´´) Zitator: Wer will Blumen, wenn er tot ist? Niemand. – J.D Salinger. Musik 3: Yoko Ono “Season of Glass” / No, No, No (Vier Schüsse, Yoko Ono schreit: “No”) (0´05´´) O-Ton 1: US-amerikanischer Fernsehmeldungen zum Tod von John Lennon. (O-Ton) N.N. (engl), zwei amerikanische Journalistinnen in Fernsehsendung vom 8.12.1980 berichten vom Tod von John Lennon. (NDR 4 Info, 8.12.2000, Archivnummer F001364, Produktionsnummer HF001364) (0´09´´) Ansage: Warum John Lennon sterben musste Anhörung eines Mörders Von Egon Koch Atmo 1: Schlüsselklappern, Öffnen einer Gefängnistür NDR-Archiv Musik 4: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 25. Winter Ouverture (0´19´´) 2 Regie: Die folgenden 10 Verhörszenen im schalltoten Raum. 1. Verhörszene: Bevollmächtigte: Sind Sie der Häftling mit der Nummer 81-A-3860? Chapman 1: Ja. Bevollmächtigte: Guten Tag, ich bin die Bevollmächtigte Vincent. Bei mir ist der Bevollmächtigte Donald. Sie sind hier zur Anhörung vor dem Gnadenausschuss. Sie sind des Mordes zweiten Grades schuldig gesprochen worden. Im Jahr 1981 hat Sie das Gericht zu einer Haftstrafe zwischen zwanzig Jahren und lebenslänglich verurteilt. Seit dem Jahr 2000 wird alle zwei Jahre die Möglichkeit Ihrer Haftentlassung überprüft. Ist das korrekt? Chapman 1: Ja. Bevollmächtigte: Ihre Haftstrafe bezieht sich auf ein Ereignis vom 8. Dezember 1980. Damals waren Sie im Besitz eines Revolvers Kaliber 38. In Manhattan warteten Sie auf Ihr Opfer, Herrn John Lennon. 10 Minuten vor 23 Uhr schossen Sie vor seinem Wohnsitz auf ihn. Sie trafen ihn viermal mit Hohlmantelgeschossen. Sie verursachten seinen Tod. Ist das die genaue Schilderung des Tathergangs? 3 Chapman 1: Ja, das ist richtig. Bevollmächtigte: Könnten Sie uns bitte sagen, was Sie vor der Tat gemacht haben und warum Sie etwas so Furchtbares geplant haben? Chapman 1: Einige Monate vorher flog ich nach New York, mit dem Vorsatz, das Verbrechen zu begehen. Irgendwie schaffte ich es, wieder davon abzukommen und nach Hawaii zurückzukehren. Aber dann drängte es mich wieder und ich flog am 6. Dezember wieder nach New York. Musik 5: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 19. Arnold (1´15´´) Atmo 2: Eingangshalle YMCA Telefonklingeln … Stimmen Kind, Erwachsene, Frauen Lachen, Niesen, Telefonklingeln … Schritte … Frau „Oh my god“ „What are you doing here?”… Lachen … Lachen Frau … Geschirrklappern …Frau spanisch … Frau Lachen … Mann “absolutely” … Klappern (Total: 3´50´´) Mischen mit: O-Ton 2: Ronald Reagan (O-Ton engl.) Der neue gewählte Präsident der Vereinigten Staaten Roland Reagan, mit seiner Siegesansprache in der Nacht vom 4./.5.11.1980 in einem Hotel in Los Angeles. Reagan spricht bewegte Worte des Dankes an seine Familie, Freunde, Mitarbeiter und Wähler. BR/Archivnummer DK36802/Produktionsnummer DK 368020/Aufn./Prod.datum 4.11.;5.11. und 11.11.1980/ (0´26´´) Über Mischung: 4 Erzähler: Am Samstag, den 6. Dezember 1980, geht ein Mann von 25 Jahren in Manhattan auf der Westseite des Central Parks in die Jugendherberge des YMCA, des Christlichen Vereins Junger Menschen. Als er im zehngeschossigen kirchenartigen Backsteingebäude sein Zimmer für 16,50 Dollar bezieht, denkt er kurz daran, dass vor einem Monat der Filmschauspieler Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der USA gewählt worden ist. Er sieht in ihm einen politischen Scharlatan. Reagans politisches Programm strebt nach einer Erneuerung der internationalen Führungsposition der USA. Der junge Mann schwitzt unter seinem marine-blauen Trenchcoat von London Fog und seiner Synthetikfellmütze. Für den milden Dezember 1980 in New York hat er sich zu warm angezogen. Er hat 25 Kilo Übergewicht, ein auffälliges Doppelkinn und er trägt eine Brille. Er nimmt einen Revolver Kaliber 38 aus seinem Gepäck, steckt ihn in die Manteltasche und verstaut den Koffer unter dem durchgelegenen Bett. Gegen Mittag geht er an der Steinmauer des Central Parks entlang. Neun Blocks nördlich, an der Ecke zur 72. Straße, bleibt er auf Höhe des Dakota Gebäudes stehen. Atmo 3: Central Park West / 72nd Street Schritte, Stimmen, Pferdehufe … rollender Verkehr … Autohupe, entfernt … Autohupe, entfernt ... Vogelzwitschern … rollender Verkehr, Stimmen … Autohupe … Autohupe, nahe … vorbeifahrende Autos … relative Stille … Bus: Hydraulik, Standgeräusch …Stimmen … Abfahrt Bus … Vorbeifahrt Bus … Quietschen, Bremsen Bus … Standgeräusch Bus … Abfahrt Bus … Standgeräusch Bus, weiter weg … Abfahrt Bus … LKW Hupe … Vorbeifahrt Subway im Untergrund … Stimmen … Vorbeifahrt Bus, schnell … rollender Verkehr … Vogelzwitschern … relative Stille … (Total: 8´30´´) 5 Darüber: Erzähler: Er setzt sich am Rand des Central Parks auf eine grüne Bank und betrachtet das neunstöckige Apartmenthaus. Sein Blick wandert über Bogenfenster, Balkone, Eckpavillons und Mansarden hinauf zu den Spitzen der kleinen Türme. Im Dakota Building hat Roman Polanski den Horrorfilm Rosemarys Baby gedreht. Aus einer John Lennon Biografie weiß der junge Unbekannte, dass im siebten Stockwerk, um das ringsum ein schmiedeeisernes Balkongitter verläuft, John Lennon mit seiner Frau Yoko Ono und dem gemeinsamen Sohn Sean in einem luxuriösen Apartment wohnt. Nach einer fünfjährigen Zurückgezogenheit als „Hausmann“ hat John Lennon erst vor drei Wochen sein Comeback gefeiert: Gemeinsam mit Yoko Ono hat er das Album Double Fantasy herausgebracht. Lennon ist vierzig Jahre alt und glaubt, sein Leben beginnt. Atmo 3: Central Park West / 72nd Street Mischen mit: Musik 6: John Lennon – Anthology - Dakota CD4 / 12. Borrowed Time (1´57´´) Über Mischung: Erzähler: Der Unbekannte geht ein Stück die mehrspurige 72. Straße hinauf und bleibt gegenüber dem Torbogen des Dakota stehen. 6 Durch das mit Blumenornamenten verzierte schmiedeeiserne Tor blickt er auf den steingefassten Brunnen im Innenhof. Vor dem Tor steht ein Pförtner in blauer Uniform und schaut den Passanten nach. Links vom Torbogen glänzt das Wachhäuschen aus Messing. Zu beiden Seiten des Eingangs hängt eine schmiedeeiserne Laterne an der Fassade, auch den Tag über züngeln dort Gasflammen. Jedes Detail des Dakota Buildungs kündet vom Reichtum seiner Bewohner. Im Dezember 1980 leben außer John Lennon und Yoko Ono auch Mia Farrow und Leonard Bernstein hier. Der junge Mann geht auf zwei Frauen zu, die rechts vom Torbogen am gusseisernen schwarzen Geländer stehen. Atmo 3: Central Park West / 72nd Street Darüber: Erzähler: Den beiden Lennon Verehrerinnen, Jude und Jerry, stellt er sich als Tourist aus Hawaii und Beatles Fan vor. Als die Plauderei über Lennon verebbt, geht er in der Nähe in einen Plattenladen und kauft sich das Album Double Fantasy. 2. Verhörszene: Bevollmächtigte: Haben Sie darüber nachgedacht, warum Sie derart davon besessen waren, diesem Menschen einen solchen Schaden 7 zuzufügen, der, soweit wir wissen, Ihnen keinerlei Leid zugefügt hat? Haben Sie darüber nachgedacht? Chapman 1: Ja, das habe ich. Bevollmächtigter: Warum mussten Sie John Lennon töten? Chapman 1: Ich habe mich wertlos gefühlt. Vielleicht ist der Grund eine Frage der Selbstachtung. Ich habe mich als ein Niemand gefühlt und dachte, wenn ich ihn erschieße, würde ich Jemand sein. Was aber überhaupt nicht stimmt. Bevollmächtigte: Haben Sie ihn bewundert und gedacht, dass er Einfluss auf ihr Leben hat? Chapman 1: Na ja, eigentlich hat es angefangen, als ich im Sommer 1980 in Honolulu in der Bibliothek war und in einigen Büchern geschmökert habe. Da bin ich auf ein Buch mit dem Titel „John Lennon – A Day at a Time“ gestoßen. Ich sah ihn auf Fotografien vor seinem Wohnsitz, dem Dakota. Sein Anblick machte mich wütend. In meiner Dummheit machte es mich wütend, dass Lennon Liebe und Frieden predigte und dabei auf seinen Millionen herumsaß... Ich sah diesen Glamour, es war – ich glaube, ich war neidisch. 8 Musik 7: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 27. Fear (0´27´´) Atmo 4: - Springbrunnen Plätscherndes Wasser, Vogelzwitschern, Hufeklappern im Hintergrund … Hufeklappern … Hämmerndes Geräusch im Hintergrund … Stimmen … Hufeklappern kaum noch zu hören … Flugzeug am Himmel, Stimmen … Stadtgeräusch im Hintergrund, Stimmen … Kinderstimme: „Water“ … Stimmen und Stadtgeräusch im Hg. (Total: 3´45´´) Darüber: Erzähler: Im Sommer 1980 lebt der Unbekannte bereits drei Jahre auf Hawaii. Wie schon zuvor ist auch auf der pazifischen Vulkaninsel Oahu sein Selbstwertgefühl heftigen Schwankungen unterworfen. Er möchte auf Hawaii, dem Traumziel von Millionen Touristen, ein neues Leben beginnen, findet aber keinen Ansatz und hat Depressionen. Am 20. Juni 1977 sitzt er an einem abgelegenen Strand im Mietauto und will mit Auspuffgasen seinem sinnlosen Leben ein Ende machen. Ein japanischer Fischer findet ihn - lebend. Nach zwei Wochen in Honolulus Castle Memorial Hospital hat sich die Depression in Luft aufgelöst. Als ihn das Krankenhaus später fest im Wartungsdienst anstellt, hat er das erreicht, was er zur Erhöhung seines Selbstwertgefühls braucht: Er ist mit bewundernswerten Menschen wie Therapeuten und Ärzten zusammen. Eine kurze Zeit lang ist er jemand, bis ihm die Krankenhausleitung nach Streitigkeiten mit Kollegen nahe legt, er solle kündigen. 9 Atmo 5: Central Park - Springbrunnen Plätscherndes Wasser, Vogelzwitschern, Hufeklappern im Hintergrund … Hufeklappern … Hämmerndes Geräusch im Hintergrund … Stimmen … Hufeklappern kaum noch zu hören … Flugzeug am Himmel, Stimmen … Stadtgeräusch im Hintergrund, Stimmen … Kinderstimme: „Water“ … Stimmen und Stadtgeräusch im Hg. (Total: 3´45´´) Darüber: Erzähler: Im Sommer 1980 lebt er mit einer sechs Jahre älteren USAmerikanerin japanischer Abstammung in einem modernen Apartmenthochhaus in Honolulu. Seit einem Jahr sind sie verheiratet. Er mietet Luxuskarossen und besucht mit ihr an Wochenenden teure Strandhotels in Waikiki. All das bringt ihm keine Identität, sondern nur Schulden. Von allen Seiten fühlt er sich unter Druck gesetzt. Auch seine Mutter ist nach der Scheidung von seinem Vater nach Hawaii gezogen. Sie, die ihm in der Kindheit immer gesagt hat, aus ihm würde einmal etwas Besonderes werden, sie, die ihn bei Gewaltausbrüchen ihres Mannes als Beschützer benutzt hat, drängt ihn erneut in die Beschützerrolle. Wie als Kind ist er damit überfordert. Wie schon in der kleinen Vorstadt von Atlanta im Bundesstaat Georgia, wo er einmal Zuhause gewesen ist, arbeitet er im Sommer 1980 in Honolulu nachts als Wachmann. Er trinkt viel. Nichts hat Bedeutung für ihn. Wie früher, als er das Studium nicht schafft und sich damit eine Karriere beim YMCA verbaut oder als seine Verlobte sich von ihm trennt, fühlt er sich als ein Niemand. „I’m going nuts“, schreibt er an eine Freundin, „Ich werde verrückt“. Musik 8: John Lennon – Anthology –Ascot CD 1 / 7. Mother (0´28´´) 10 3. Verhörszene: Bevollmächtigte: Haben Sie Drogen genommen? Chapman 1: Ja, als Teenager. Das ist so lange her. – Ich, ich glaube nicht, dass ich ein Drogenproblem habe. Alkohol ist wahrscheinlich mein Problem, nicht die Drogen. In Honolulu hätte ich um Hilfe schreien müssen, aber im Gegensatz zu John Lennon habe ich keinen Mund gehabt. Hören Sie sich einmal einige von Lennons Schallplatten an. Hören Sie, wie er schreit, wenn er singt, dass seine Mutter nicht bei ihm ist, dass er verlassen ist von Vater und Mutter. Der arme Kerl, sein Vater hat die Familie sitzen lassen, dann verließ ihn seine Mutter, und sein Onkel und seine Tante zogen ihn groß. Später wurde seine Mutter getötet, nachdem sie gerade wieder zu ihm zurückgekehrt war. Der Gedanke allein, dass jemand all das als Kind durchgemacht hat und dann ermordet wird von jemandem wie mir … Bevollmächtigte: Waren Sie unter Einfluss von irgendwelchen bewusstseinsverändernden Substanzen in der Nacht des Verbrechens? Chapman 1: Nein. 11 Musik 9: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 19. Arnold (1´51´´) Atmo 6: Public Library Hallende Stimme, Rascheln, Knistern … Stimmen … „Go down this hall …“ … Halle, leise Schritte … Stimmen … (Total 3´30´´) Darüber: Erzähler: In der Bibliothek von Honolulu findet der junge Mann ohne Identität nicht nur die Lennon-Biografie, er erinnert sich auch an den Roman Der Fänger im Roggen von J.D. Salinger. In seiner Jugend hat er das Buch gelesen. Jetzt liest er es noch einmal und immer wieder. Vom Internat verwiesen und dem Elternhaus entfremdet, irrt der sechzehnjährige Holden Caulfield im Roman drei Tage und Nächte lang durch New York. Die Begegnungen mit Menschen in Taxen, Bars oder im Central Park bringen ihn zum Schluss, dass nur Kinder aufrichtig und alle Erwachsenen verlogen sind. Im zentralen Gespräch mit seiner kleinen Schwester Phoebe drückt Holden das aus, was er einzig im Leben sein möchte: der Hüter der Kinder, der sie vor dem Fall in das Erwachsenenalter bewahrt. Der junge Mann identifiziert sich mit Holden Caulfield, er identifiziert sich mit einer fiktionalen Figur, die in die menschliche Gemeinschaft eintreten möchte, aber keine Menschlichkeit findet. Atmo 7: Central Park – Playground Kinder schaukeln auf dem Spielplatz, schreien und lachen. (Total: 3´) Regie: Atmo 7 unter Chapman 2 und Erzähler legen. 12 Chapman 2: (Selbstgespräch) Jemand hatte „Fuck you“ an die Schulwand geschrieben. Das machte mich fast wahnsinnig. Ich dachte, dass meine Schwester Phoebe und all die andern kleinen Kinder das sehen würden und dass sie überlegen würden, was das wohl bedeutet, und schließlich würde es ihnen ein versautes Kind sagen – natürlich ganz verquer –, was es bedeutet. (…) Die ganze Zeit wollte ich den umbringen, der das geschrieben hatte. (…) Aber ich wusste auch, dass mir dafür der Mumm gefehlt hätte. Das wusste ich, und das deprimierte mich noch mehr. Erzähler: Von Holden Caulfield übernimmt der Niemand eine Pseudoidentität. Er schenkt seiner Frau ein Exemplar des Fängers im Roggen. „Für Gloria von Holden Caulfield“, schreibt er ihr als Widmung hinein. „Lies“, sagt er, „und du weißt, wer ich bin.“ Musik 10: John Lennon – Anthology –Ascot CD 1 / 2. God (1´15´´) Darüber: Erzähler: Als er sich im Audioraum der Bibliothek das Lied „God“ anhört, macht ihn wütend, dass Lennon nicht an Gott und die Beatles glaubt, sondern nur an sich und Yoko, sagt er Jahre später im Attica Staatsgefängnis seinem Biografen Jack Jones,. Für wen hält sich der Typ? Da kommt ihm der Gedanke, John Lennon zu töten. Das bewunderte Idol, als dessen Teil er sich in seiner Kindheit und Jugend erlebte, hat etwas getan, das ihn an seine 13 eigene Bedeutungslosigkeit erinnert. An diesem Punkt schlägt die frühere Bewunderung in Hass um. Jetzt soll der Mord an der berühmten Figur den Niemand zu einem wirklichen Jemand machen. Etwas darstellen will er, koste es, was es wolle, etwas Großes vollbringen. Atmo 7: Central Park – Playground Kinder schaukeln auf dem Spielplatz, schreien und lachen. (Total: 3´) Darüber: Erzähler: Am 23. Oktober 1980 unterschreibt er ein letztes Mal den Dienstplan für seine Arbeit als Wartungsmonteur im luxuriösen Apartmentkomplex im Zentrum Honolulus. Nicht mit seinem eigenen Namen, auch nicht mit Holden Caulfield. Er unterschreibt mit John Lennon. Als nehme er die Auslöschung des Popstars vorweg, streicht er den Namenszug wieder durch. Musik 11: Beatles – Magical Mystery Tour / 1. Magical Mystery Tour (0´13´´) Erzähler: Zurück in seinem Apartment, erscheinen ihm, wie bereits vor vielen Jahren in seinem Kinderzimmer, die „kleinen Leute“ wieder. In der Not seiner Kindheit halfen ihm die Gestalten seiner Phantasie, die eigene Minderwertigkeit in Macht zu verwandeln. Er hatte Kontrolle über die eingebildeten Wesen. Sie verehrten ihn wie einen König. Jetzt erzählt er ihnen, jemand aus der Kindheit, dessen Lieder er ihnen damals vorspielte, habe ihn tief verletzt und sein Leben ruiniert. Als er ihnen sagt, er brauche 14 ihre Unterstützung, um John Lennon zu töten, ziehen sich die „kleinen Leute“ vor ihm zurück. Musik 12: Beatles – Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band / 3. Lucy in the Sky with Diamonds (0´23´´) (vorwärts, rückwärts gespielt) Regie: Musik 12 unter folgenden Erzähler und Chapman legen. Erzähler: Im Apartment sitzt er nachts nackt auf dem Boden, wiegt seinen Körper im Rhythmus der Beatles Musik. Er betet zum Satan, er möge ihm Kraft geben, John Lennon zu töten. Nebenan kommt seiner Frau das Ganze wie ein Alptraum vor. Chapman 2: (Selbstgespräch) Der verlogene Schweinehund muss sterben, der Fänger im Roggen ist sein Verderben. Der Fänger im Roggen ist dir auf den Fersen. Glaubt nicht an John Lennon. Stellt euch vor, John Lennon ist tot. Erzähler: Er verwechselt Fiktion und Wirklichkeit. Er unterliegt dem tödlichen Irrtum einer doppelten Phantasie: Sein Opfer sieht er als eine Popfigur und zugleich flüchtet er selbst in die großartige Romanfigur Holden Caulfield. Die Einbildung, er sei der Fänger im Roggen, schützt ihn vor der enttäuschenden Wirklichkeit und vor jeder Verantwortung. Er ist gefangen in seiner eigenen Phantasie. Bei einem Mittagessen erzählt er seiner Mutter, dass 15 er nach New York fliegen wird, um auf andere Gedanken zu kommen und ein neues Leben zu beginnen. 4. Verhörszene: Bevollmächtigte: Wusste Ihre Frau von Ihrem Plan? Chapman 1: Sie wusste es nicht, bis ich das erste Mal aus New York zurück kam und ihr erzählte, dass ich John Lennon erschießen wollte. Ich log sie an und sagte ihr, dass ich die Pistole in den Ozean geworfen hätte und alles in Ordnung sei. Bevollmächtigter: Wo haben Sie die Waffe gekauft? Chapman 1: Ich glaube, in der Waffenhandlung J & S Enterprise in Honolulu. Bevollmächtigter: Sie haben die Waffe von Honolulu in den Staat New York gebracht? Chapman 1: Ja. 16 Bevollmächtigter: Sie wussten, dass das illegal ist? Chapman 1: Ja. Bevollmächtigter: Woher hatten Sie die Munition? Chapman 1: Von einem Freund in Atlanta, er war damals stellvertretender Sheriff. Bevollmächtigter: Wusste er, was Sie vorhatten? Chapman 1: Nein, ich habe ihm gesagt, New York sei eine gefährliche Stadt und ich müsste mich schützen. Bevollmächtigter: Sie wussten um die zerstörerische Kraft der Hohlmantelgeschosse? Chapman 1: Absolut. 17 Musik 13: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 19. Arnold (1´06´´) Atmo 8: New York Sound 1 Kontrollgeräusch, Schritte, Stimmen, permanenter Verkehrslärm im Hintergrund, Vogelzwitschern … Bus Vorbeifahrt … Vorbeirollender Verkehr … Kontrollgeräusch Bus … Stimmen, Vogelzwitschern … Bus Vorbeifahrt … Hupe … Bus … Vogelzwitschern … Bus … Hupe in der Ferne … Bus … Hupe … Hupe (Total: 3´55´) Mischen mit: Musik 14: John Lennon – Double Fantasy / 3. Cleanup time (0´38´´) Darüber: Erzähler: Vor dem Dakota Building präsentiert der Tourist aus Hawaii den beiden Lennon Verehrerinnen Jude und Jerry am Nachmittag des 6. Dezember stolz das Album Double Fantasy. Sie schauen sich das Foto auf dem Cover an, auf dem sich John Lennon und Yoko Ono küssen. Die beiden Frauen verabschieden sich, sie wollen sich einen Film ansehen. Zwei Stunden wartet er noch vergeblich auf John Lennon. Gegen 17 Uhr packt ihn die Müdigkeit und er kehrt in das YMCA Hotel zurück. Atmo 9: Hotelzimmer Klimaanlage, Polizeisirenen im Hintergrund Darüber: 18 (Total 2´30´´) Erzähler: Nach Mitternacht wacht er in seinem schäbigen Zimmer auf. Durch die dünne Wand hört er die Laute zweier Männer beim Geschlechtsakt. Außer sich vor Wut greift er in seiner Manteltasche nach dem Revolver. Im letzten Moment besinnt er sich auf seinen eigentlichen Plan und beherrscht sich. Er braucht seine fünf Kugeln noch, für John Lennon. Atmo 10: Taxifahrt Einstieg Taxi, Kontrollgeräusch, Türenschlagen /// Schnitt /// Start Auto, Fahrgeräusch … (Total: 2´) Darüber: Erzähler: Am frühen Morgen des 7. Dezember, es ist Sonntag und Pearl Harbour Gedenktag, verlässt er die YMCA Herberge, nimmt ein Taxi nach Midtown Manhattan zum Sheraton Center an der Siebten Avenue Ecke 52. Straße. Im graubraunen Hotelklotz, der heute Sheraton New York heißt, bezieht er im siebenundzwanzigsten Stockwerk das Zimmer mit der Nummer 2730. Er schaltet den Fernseher ein, legt sich mit Mütze und Trenchcoat aufs Bett und schläft ein. Atmo 11: Vor Sheraton New York Trillerpfeife doorman … Lachen Frauen … Trillerpfeife … Stimmen … Trillerpfeife … Stimmen …. Trillerpfeife …. Stimmen … Trillerpfeife … Stimmen … Autohupe … Frauenstimmen … „The cage“ … Trillerpfeife … Bus … Stimmen …. Türeschlagen (Total: 2´40´´) Darüber: 19 Erzähler: Kurz nach 9 Uhr 30 steigt er vor dem Dakota Building aus dem Taxi, hockt sich neben dem Torbogen auf das Geländer und wartet. Stunden vergehen. Der Wind weht Fetzen von Musik vom Central Park zu ihm herüber. Atmo 12: Karussellmusik Eine Art Drehorgelmusik (Melodie bekannt!), Kinderstimmen, Stimmen von Erwachsenen … Musik Ende, Kinderstimmen … (Total: 1´45´´) Regie: Mischung unter Erzähler legen. Erzähler: Auf einmal kommt dem vermeintlichen Lennon Fan die Stelle aus dem Fänger im Roggen in den Sinn, in der Holden Caulfield mit seiner kleinen Schwester Phoebe im Central Park zum Pferdekarussell geht, Sinnbild der Kindheit. Atmo 13: Karussellmusik Mann ruft laut, im Hintergrund Sirenen … Glocke läutet, Stimmen … Musik (aus Mary Poppins!), Kinderstimmen … (Total 1´27´´) Chapman 2: (Selbstgespräch) Dann ging das Karussell los, und ich sah ihr zu, wie sie im Kreis fuhr. Es fuhren nur noch ungefähr fünf, sechs andere Kinder mit. (…) Alle Kinder versuchten, nach dem goldenen Ring zu greifen. (…) Wenn Kinder nach dem goldenen Ring greifen wollen, muss man sie auch lassen und darf nichts sagen. Atmo 14: Taxifahrt Heranfahrende Autos … Klappern …. Klappern Tür … /// … Start Fahrt, Motor … Rumpeln … Motor … Stopp Motor (Total: 1´30´´) 20 Darüber: Erzähler: Gegen Mittag verspürt er Hunger und nimmt ein Taxi zum Sheraton Center. Auf dem Weg fällt ihm ein, dass er keine Ausgabe des Fängers im Roggen nach New York mitgenommen hat. Er fragt den Taxifahrer nach einer Buchhandlung. Nahe dem Sheraton Center hält das Taxi vor einem bookstore an. Atmo 15: Eintritt Buchhandlung Atmo Straße: Bus Vorbeifahrt, Frau singt … Verkehr … Eintritt Buchhandlung: Musik im Hg., Stimmen (Total:1´40´´) Darüber: Erzähler: In der Buchhandlung fällt sein Blick auf das Poster von seinem 1939 gedrehten Lieblingsfilm Der Zauberer von Oz. Es zeigt die Heldin Dorothy, als sie dem ängstlichen Löwen die Tränen abwischt. Auf dem Weg zu den Taschenbüchern starrt ihn von einem anderen Poster jäh John Lennon an. Darunter liegt ein Stapel Playboy-Hefte mit einem Exklusivinterview von John Lennon und Yoko Ono. Er kauft sich das Poster vom Zauberer von Oz und den Playboy. Atmo 16: Restaurant Sheraton New York Stimmen, Musik (Funk „Celebration“) … Stimmen … Kleppern Eiswürfel … Stimmen … Kleppern … Stimmen lauter, Musik im Hg. … Stühleknarren … Pfeifen, Stimmen, Klappern, Musik im Hg. … Musik aus (Total: 3´30´´) 21 Regie: Atmo 16 unter Erzähler und Chapman 2 Erzähler: Am späten Sonntagnachmittag setzt er sich im Sheraton in das Hotelrestaurant und verschlingt bei Heineken Bier und Tatar mit Hüttenkäse das Playboy Interview. In seiner Fixiertheit, Lennon zu töten, kommt ihm nicht in den Sinn, dass der Popstar ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Chapman 2: (Selbstgespräch) All diese Jahre, wo ich mich bemühte, hart zu sein, der harte Rocker, der Frauenheld, der Säufer – sie brachten mich bald um. Es ist eine Erleichterung, das nicht mehr machen zu müssen. Ich habe gar keine Sehnsucht danach, als Sexualobjekt angesehen zu werden, als ein männlicher Macho-Rock’n’ RollSänger. Das habe ich vor langer Zeit überwunden. Also mochte ich es, als bekannt wurde, dass, ja, ich das Baby pflegte, Brot buk und ich ein Hausmann war, und ich bin stolz darauf. Es war eine Erfahrung, die mich aufklärte, weil es die totale Umkehr meiner eigenen Erziehung war. Erzähler: Nachdem er das Interview zu Ende gelesen hat, schlägt er den Playboy in der Mitte auf und betrachtet das nackte Playmate. Abermals fällt ihm der Fänger im Roggen ein. Holden Caulfield hat doch in seinem New Yorker Hotel eine Prostituierte auf sein Zimmer bestellt. Mit einer Frau zusammen sein, danach verlangt auch ihn jetzt. 22 Atmo 9: Hotelzimmer Klimaanlage, Polizeisirenen im Hintergrund (Total 2´30´´) Darüber: Erzähler: Im Zimmer 2730 bestellt er telefonisch bei einem Hostessenservice eine Ausländerin. Die Frau, die eine Stunde später zu ihm kommt, trägt ein grünes Kleid wie die Prostituierte Sunny im Fänger im Roggen. Wie Holden Caulfield hat er keinen Sex mit ihr. Sexualität ist für ihn mit Angst und Schuldgefühlen besetzt. Gegen 3 Uhr bezahlt er der Prostituierten 190 Dollar. Nachdem sie gegangen ist, ruft er seine Frau in Honolulu an. Sie rät ihm, er solle zu Jesus zurückfinden. Musik 15: John Lennon – Anthology –Ascot CD 1 / 2. God (0´20´´) Erzähler: Er holt seine Bibel aus dem Koffer und schlägt das Evangelium des Johannes auf. Hinter die Worte „The Gospel According to John“ fügt er mit Kugelschreiber den Namen „Lennon“ hinzu. 5. Verhörszene: Bevollmächtigte: Haben Sie jemals in Ihrem Leben daran gedacht, jemand anderem als Herrn Lennon Schaden zuzufügen? 23 Chapman 1: Als Jugendlicher wollte ich einmal mit dem Messer auf meinen Vater losgehen. Und nachdem mir der Gedanke gekommen war, John Lennon zu töten, habe ich eine Liste zusammengestellt. Wahrscheinlich – dachte ich, dass es, wenn ich ihn nicht kriege, noch eine Liste mit anderen Menschen gibt … Bevollmächtigter: Wer stand auf der Liste? Chapman 1: Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, aber Jacqueline Kennedy Onassis, Paul McCartney, Elizabeth Taylor, ja und Ronald Reagan fallen mir noch ein. Bevollmächtigter: Wie sind Sie auf diese Leute gekommen? Chapman 1: Ich habe einfach an sie gedacht. Sie waren alle berühmt. Bevollmächtigter: Was hat Sie an diesen Leuten geärgert? Chapman 1: Ich habe ihre Eitelkeit gesehen, das hat mich in meinem glanzlosen Leben geärgert und ich wurde neidisch. 24 Bevollmächtigte: Wie können wir Vertrauen haben, dass sich das nicht wiederholt? Chapman 1: Weil, ich, ich fühl mich nicht - ich bin nicht mehr diese Art Mensch. Ich, ich bin Gott näher. Ich sehe auch die Berühmten als Menschen. John Lennon habe ich nicht als Mensch gesehen, jetzt tue ich es, und ich denke, ich habe diese Eitelkeit überwunden. Bevollmächtigte: Also haben Sie aus Eitelkeit getötet? Chapman 1: Absolut. Bevollmächtigter: Sie wollten Aufmerksamkeit? Chapman 1: Sicher. Bevollmächtigter: Große öffentliche Aufmerksamkeit? Chapman 1: Ja. 25 Musik 16: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 23. Sara Goldfarb Has (1´15´´) Mischen mit: O-Ton 3: Montage zur Entwicklung in Polen (O-Ton) Regierungserklärung Helmut Schmidt (Bundeskanzler); RBB, 24.11.1980, Archivnummer 0903216/Produktionsnummer G0011876 (0´11´´) Darüber: Erzähler: Am 8. Dezember 1980, als in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc mit Streiks das kommunistische Regime erschüttert und den Zusammenbruch der damaligen Ostblockstaaten einleitet, wacht der junge Mann aus Hawaii am Morgen in seinem Hotelzimmer mit dem Gedanken auf, dass es heute passiert. Er steht auf und breitet auf der Kommode einige Sachen aus: Seinen Pass, eine Kassette mit der Musik seines Lieblingssängers Todd Rundgren, die beim Johannes Evangelium aufgeschlagene Bibel, einen Brief von einem früheren Vorgesetzten des YMCA, ein Foto, das ihn mit lachenden vietnamesischen Kindern zeigt, das Poster von Dorothy mit dem ängstlichen Löwen. Den Polizisten, die später das Zimmer betreten, sollen die die Dinge sagen: „Seht her, das bin ich einmal gewesen.“ Er setzt seine Synthetikfellmütze auf und zieht seinen Trenchcoat an, verbirgt seinen Revolver in der Manteltasche unter einem Karton und klemmt das Album Double Fantasy unter den Arm. 26 Atmo 18: Fahrstuhl Hotel Klackern des ankommenden Aufzuges … Öffnen der Tür, Zur Seite Schieben des Gitters … Musik Bee Gees (“Staying alive”… Gitter … /// … Öffnen des Gitters … Musik … Kontrollgeräusche … Öffnen des Gitters … Stimmen … (Total:3´) Darüber: Erzähler: Als er durch die Hotelzimmertür geht, stellt er sich vor, er werde jetzt zum wahren Holden Caulfield. Seine eingebildete moralische Überlegenheit gibt ihm das Recht, sein Todesurteil über den „verlogenen Schweinehund“ Lennon zu vollstrecken. Atmo 18: Fahrstuhl Hotel (s.o.) Darüber: Erzähler: Im Fahrstuhl kommt ihm der Gedanke, er verhalte sich wie ein Selbstmörder, der mit den Sachen auf der Kommode einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Tatsächlich ist das, was er tut, eine Selbstzerstörung. Er zerstört sein Leben, aber er glaubt, durch den Mord an Lennon endlich eine Identität zu bekommen, als Schutzengel der Reinheit. Atmo 19: Times Square – Jesus Christ Hupe, Mann: “Do you have the spirit of God? So today receive the Lord Jesus Christ, before is too light. He said: I am the truth and the light …He is the only way … See, Jesus Christ is on the way …. Verkehrslärm starker ….”You see the time is short … “ Verkehrslärm über der Stimme (Total: 1´25´´) Darüber: 27 Erzähler: Auf der Siebten Avenue geht er durch die Masse eiliger Menschen in Richtung 72. Straße hinauf. Auf dem Weg kauft er sich in einem Schreibwarenladen die rote Taschenbuchausgabe des Fängers im Roggen. „Dies ist meine Erklärung“, schreibt er auf die erste leere Seite und unterzeichnet mit „Holden Caulfield, der Fänger im Roggen“. Einzig das Buch soll seine Tat erklären. Atmo 20: Times Square – Hare Krishna Stimmen, Trommeln, Schellen, Gesang, Autohupen …. Etwas Wind … Gesang: „Hare Krishna ….“ Bremsenquietschen … Autohupe … An Musik vorübergehend … Stimmen lauter, Autohupe … (Total: 3´) Darüber: Chapman 2: (Selbstgespräch) Dieser Abgrund, auf den du da zurennst – das ist ein besonderer, ein ganz schrecklicher Abgrund. Dem Menschen, der fällt, ist es nicht vergönnt, zu spüren oder zu hören, wie er unten aufschlägt. Er fällt und fällt einfach immer weiter. Dieses Konstrukt ist für Menschen gedacht, die an irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben nach etwas suchten, was ihre Umgebung ihnen nicht bieten konnte. Oder wovon sie glaubten, ihre Umgebung könne es ihnen nicht bieten. Also gaben sie das Suchen auf. Sie gaben es auf, bevor sie überhaupt richtig damit angefangen hatten. Atmo 21: New York Sound 2 Hupe … Stimmen … Vorbeifahrt Bus …Quietschen … Kontrollgeräusch … Stimmen … Vorbeifahrt LKW, Quietschen Bus, Vorbeifahrt Bus …Stimmen, Vogelzwitschern … Kontrollgeräusch … Vorbeifahrt Bus … Autoverkehr … in weiter Ferne Sirenen zu hören … Hupen … Flaschen 28 klirren … Lachen fern … Vorbeifahrt Bus … Vorbeifahrt Bus … Kontrollgeräusch, Hupe … Kontrollgeräusch, Bus … Quietschen Bus … Hupe in Ferne … (Total: 5´) Mischen mit: Musik 17: John Lennon – Double Fantasy / 7. Beautiful Boy (Darling Boy) (1´14´´) Regie: Die Mischung unter Erzähler und O-Ton legen. Erzähler: Das Taschenbuch in der linken Manteltasche und den Revolver in der rechten, lehnt sich der junge Mann neben dem Torbogen des Dakota Buildings an das Eisengeländer. Kurz nach 11 Uhr erscheint Jude. Später gesellt sich noch der Amateurfotograf Paul Goresh zu ihnen. Während der Hawaii Tourist mit Jude auf der anderen Straßenseite im Dakota Grill zu Mittag isst, gibt John Lennon im 1. Stock des Dakota, im „Studio One“, das letzte Interview seines Lebens. Zitator: Ich habe keine Angst vorm Sterben. Es ist, als würde ich aus einem Auto aus- und in ein anderes einsteigen. Erzähler: Als sie zum Dakota zurückkehren, treten der fünfjährige Sean und seine Kinderfrau aus dem Torbogen. Jude macht den Touristen aus Hawaii mit dem Jungen bekannt. Er löst die Umklammerung seines Revolvers und gibt dem Sohn von John Lennon die Hand. 29 6. Verhörszene: Bevollmächtigte: Sie haben nicht nur einem Prominenten grundlos das Leben genommen, sondern Sie haben auch einen Ehemann und Vater zweier Kinder getötet. Chapman 1: Ja. Bevollmächtigte: Ich hoffe nur, dass Sie sich reichlich Gedanken darüber gemacht haben. Chapman 1: Habe ich. Am Tag des Verbrechens ist mir nicht klar gewesen, dass ich den Vater dieses armen Jungen töten würde und dass er für den Rest seines Lebens keinen Vater mehr haben würde. Ich liebe Kinder. Musik 18: Kristalleon (0´27´´) Atmo 21: New York Sound 2 (s.o.) Darüber: 30 Erzähler: Gegen 17 Uhr, der Torbogen des Dakota ist in der Dämmerung beleuchtet, unterhalten sich der vermeintliche Lennon Fan und der Amateurfotograf mit dem Portier. Da fährt eine Limousine vor. Auf einmal hören die Wartenden hinter sich die vertraute Stimme mit dem britischen Akzent. Atmo 21: New York Sound 2 (s.o.) Darüber: O-Ton 4: John Lennon „I can’t believe it, John Lennon. Well, here we are again.“ (0´05´´) CD: John Lennon / Yoko Ono – Double Fantasy / 17. Central Park Stroll Erzähler: John Lennon, Yoko Ono und einige Mitarbeiter verlassen das Gebäude, wie die meisten Prominenten zu dieser Zeit ohne Leibwächter. Bewegungslos bleibt der Niemand stehen. Erst auf das Drängen des Amateurfotografen Goresh hält er seinem früheren Idol wortlos das Album Double Fanatasy hin. Als der Popstar „John Lennon, December 1980“ auf die Plattenhülle schreibt, hält Goresh den Augenblick mit einem Foto fest: Hinter dem nach unten gebeugten Kopf Lennons ist das rundlich weiche Gesicht eines jungen Mannes zu sehen, seine Augen sind von den Gläsern eines schwarzen Brillengestells verdeckt, schwarze Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn und um seine Mundwinkel spielt ein Lächeln. 31 Musik 19: Kristalleon (0´45´´) Chapman 2: Ich war von seiner ehrlichen Art überwältigt und schwebte auf Wolke Sieben. Aber etwas fragte in mir: „Warum hast du ihn nicht erschossen?“ Erzähler: Mit dem signierten Album in der Hand kämpft er mit sich, ob er nach Hawaii zurückfliegen oder seinen Plan vollenden soll. Er bietet Goresh 50 Dollar für einen Abzug des Fotos, wenn er es am anderen Tag bekommt. Der Amateurfotograf willigt ein. Aber so etwas Normales kann der junge Mann nicht tun, mit einer LP und einem Foto nach Hawaii zurückkehren. Er bleibt vor dem Dakota stehen. Atmo 21: New York Sound 2 (s.o.) Erzähler: Gegen 20 Uhr verlässt ihn Goresh. Am folgenden Tag erscheint das Foto auf der Titelseite der New York Daily News und die Welt erfährt, wie John Lennons Mörder aussieht. Musik 20: John Lennon / Plastic Ono Band – 8. Well Well Well (0´46´´) 32 Erzähler: Vom Musikstudio Record Plant in der 44. Straße kommend, biegt 10 Minuten vor 23 Uhr eine weiße Limousine in die 72. Straße ein und hält vor dem Dakota. Wie in einem Film nimmt der Tourist aus Hawaii wahr, dass Yoko Ono als erste aussteigt und ihr John Lennon zwischen den beiden leuchtenden Gaslaternen in den Torbogen folgt. Als er auf die Figur aus der Filmszene schießt, wiederholt sich ein Drama der Menschheit: die Geschichte von Kain und Abel, der Brudermord aus Neid. 7. Verhörszene: Bevollmächtigte: Geschah der Mord aus einer Besessenheit heraus, die Sie nicht kontrollieren konnten und der Sie folgen mussten? Chapman 1: In der Nacht des Verbrechens war es eine Besessenheit, aber ich hätte sie früher kontrollieren können. Drei Monate vorher hatte ich die Gelegenheit zur Umkehr und ich habe sie nicht ergriffen. In meinem Herzen weiß ich, dass mir Gott zweimal gesagt hat, es nicht zu tun, aber ich habe „Nein“ gesagt. Ich habe mich entschieden, einen Mann zu ermorden. Bevollmächtigter: Haben Sie eine Stimme gehört, die Ihnen sagte, John Lennon zu töten? 33 Chapman 1: Ja, sie hat einfach gesagt: „Tu es“. Bevollmächtigte: Was denken Sie, wer diese Stimme war? Chapman 1: Wahrscheinlich etwas sehr Böses, aber ich habe es getan. Bevollmächtigte: Wir sind davon überzeugt, dass Sie es getan haben. Atmo 22: Polizeisirenen Straßenverkehr, Stimmen, nahende Polizeisirene (Total: 2´) Darüber: Erzähler: Nachdem der Niemand das Magazin leer geschossen hat, schlägt ihm der Pförtner die Pistole aus der Hand und kickt sie weg. Der Täter reißt seine Mütze vom Kopf, zieht seinen Trenchcoat aus und wirft beides auf den Bürgersteig. Aus der linken Manteltasche zieht er den Fänger im Roggen heraus und versucht, darin zu lesen. Es gelingt ihm nicht. Auch seine Einbildung verwirklicht sich nicht, dass er mit dem Mord ganz und gar zu Holden Caulfield wird. Der Film ist gerissen, seine Fiktion vom Mord ist Wirklichkeit geworden. 34 Ein Polizeiauto kommt beim Dakota an und zwei Polizisten springen heraus. Der Pförtner deutet auf den übergewichtigen jungen Mann. Der hebt seine Arme und presst das Buch gegen seine Schädeldecke. Wie Kain hat er jetzt nichts als Angst, selbst getötet zu werden. Chapman 2: Tun Sie mir nichts. Ich bin unbewaffnet. Bitte lassen Sie nicht zu, dass mir jemand was tut. Erzähler: Bei der Verhaftung fällt das rote Taschenbuch unter dem Torbogen des Dakota zu Boden. Der Mörder fleht den Polizisten an, das Buch aufzuheben. Obwohl sich seine Vorstellung, der Fänger im Roggen zu sein, aufgelöst hat, versucht er verzweifelt, daran festzuhalten. Atmo 23: Polizeisirenen Straßenverkehr, Stimmen, entfernende Polizeisirene (Total: 1´20´´) Darüber: Erzähler: Während ein zweiter herbeigerufener Polizeiwagen mit dem verblutenden John Lennon auf dem Rücksitz zum Roosevelt General Hospital rast, bringt der erste seinen Mörder in die 84. Straße. Um 1 Uhr 05 am 9. Dezember 1980 unterschreibt der Täter im dreistöckigen, abgenutzten Betonplattenbau des 20. Polizeireviers sein Geständnis. Aus Angst vor der Reaktion der 35 Polizisten verschweigt er darin, dass er John Lennon als einen „verlogenen Schweinehund“ verachtet. Chapman 2: Ich bin sicher, mein eigentliches Ich ist Holden Caulfield, die Hauptfigur des Buches Der Fänger im Roggen. Ein kleiner Teil von mir muss der Teufel sein. Atmo 24: Polizeisirenen Stimmen, vorbeirasende Polizeisirenen (Total 2´31´´) Darüber: Erzähler: In Sorge, der Verhaftete könnte wie der Mörder von John F. Kennedy getötet werden, legt man ihm eine kugelsichere Weste an. Nach einem stundenlangen Katz und Maus Spiel mit den Medienleuten wird der Mörder Lennons auf dem kleinen Parkplatz neben dem Polizeigebäude in einen Zivilstreifenwagen gesetzt. Die Polizisten rasen mit dem Täter von der Upper Westside durch Manhattan hinunter zum Criminal Courts Building in der Center Street 100. Atmo 25: Center Street Männerstimme … Schlagen der Turmuhr 12 Uhr … Männerstimme … Autohupe … Frauenstimme … mehrmaliges Niesen einer Frau … Fernes Schlagen einer Autotür … ferne Verkehrslärm … Leises Quietschen einer Bremse … Schritte … (Total: 2´) Darüber: 36 Erzähler: In der Fassade des grauen, verwitterten Gebäudekomplexes nahe dem New Yorker Rathaus öffnet sich das von Kameras überwachte Rolltor. Im Innern des Gebäudes übergeben die Polizisten den Mörder an Justizbeamte. Unterdessen versammeln sich vor dem Dakota Building mehr und mehr Anhänger von John Lennon. Musik 2: Soundtrack Confrontation „Der Knochenjäger“ / 14. Final (0´31´´) Erzähler: Die Fans können nicht glauben, was geschehen ist. Der gewaltsame Tod ihres Idols hat sie persönlich getroffen. Einige weinen, andere singen Lieder von John Lennon. In das Tor des Dakota Buildings stecken sie Blumen. Später sagt der Mörder, der Tod von Lennon sei der letzte Nagel in den Sarg der sechziger Jahre gewesen. Musik 21: Yoko Ono – Seasons of Glass / 16. I don’t know why (0´27´´) Musik 22: Kristalleon (1´24´´) Atmo 27: Bellevue Hospital Klappern Tür … leise Musik … Stimmengewirr … Schritte … Mann: „So …“ … Frau „Thank you very much“ … Schritte … Frauenstimmen nahe … Stimmengewirr, auch spanisch darunter … Saxophonmusik aus Lautsprechern … Schritte … Klappern einer Tür … Rollen eines Wagens … Schritte … Klappern … Surren (=Rollstuhl) … Stimmengewirr … Quietschen Tür … deutliche Männerstimme … Klappern … Schritte … Frau: „ID … please“ … Klappern … Stimmen … Schritte …(Total: 5´) 37 Regie: Die folgende Passage mit Atmo 27 unterlegen. Erzähler: Am Nachmittag des 9. Dezember 1980 wird der Mörder dem Haftrichter vorgeführt. Der Pflichtverteidiger setzt für seinen Mandanten eine psychiatrische Untersuchung durch. Nach Todesdrohungen legt er sein Mandat nieder. Der neue Pflichtverteidiger plädiert auf geistige Unzurechnungsfähigkeit des Mörders. Im Bellevue Hospitals, das eine mehrspurige Schnellstraße vom Ufer des East River trennt, wird der Mörder psychiatrisch untersucht. Aus Angst vor Heckenschützen malt man die Fenster im zweiten Stock, hinter der sich die Abteilung für geistesgestörte Verbrecher befindet, schwarz an. Im Fernsehraum sieht der Mörder die Nachrichten und hört seinen Namen: Ein Mark David Chapman aus Hawaii drängt die Nachrichten aus Polen und die News über die US-Geiseln im Iran in den Hintergrund. Mit dem Mord hat er das öffentliche Interesse an seinem Opfer auf sich übertragen. Jetzt ist der Niemand aus der kleinen Vorstadt Atlantas ein Jemand: der berühmteste Mörder der Welt. Wer tötet, lebt ewig. Zu Untersuchungen geben sich im Bellevue Hospital Psychiater die Klinke in die Hand. Aus Sicherheitsgründen bringt man Chapman nach ein paar Tagen auf Riker’s Island unter, der Gefängnisinsel von New York City nördlich des Stadtteils Queens. 38 8. Verhörszene: Bevollmächtigte: Sie haben gesagt, Sie wollten durch den Mord öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Haben Sie seit Ihrer Inhaftierung irgendetwas getan, um diese Aufmerksamkeit zu fördern? Chapman 1: 1988 habe ich dem Magazin People ein Interview gegeben, was ich bedauere. Im Zusammenhang mit dieser Biografie, die über mich geschrieben wurde, habe ich zwei Interviews gegeben. Eines Larry King von CNN. Davon abgesehen, habe ich in den letzten Jahren alle Presseanfragen abgelehnt. Bevollmächtigter: Was ist mit den letzten Monaten? Chapman 1: Jack Jones hat mich gefragt, ob ich ihm zur Fortsetzung der Biografie ein Interview geben würde. Zuerst wollte ich nicht, dann habe ich gebetet … ich habe Gott gesagt, ich will das wirklich nicht machen, aber es ist Dein Projekt, – so fühle ich wirklich, dass die Biografie ein Projekt Gottes ist - ich mache, was Du willst. Ich habe Frieden in meinem Herzen gefühlt und für das Interview zugesagt. Bevollmächtigte: Ist Ihnen bewusst, dass es viele, viele Menschen gibt, die darüber verärgert sind, was Sie getan haben? 39 Chapman 1: Völlig zu Recht. Bevollmächtigte: Haben Sie über Ihre Sicherheit nachgedacht für den Fall, dass Sie entlassen werden? Chapman 1: Ich glaube, dass in Daniels Löwengrube Gott dem Löwen das Maul zugehalten hat. Und ich denke, er kann das gleiche für mich tun, wenn er möchte. Das meiste würde ich Gott überlassen. Bevollmächtigter: Denken Sie, Sie haben sich während der Haftzeit gebessert? Chapman 1: Ich bin langsam aber sicher zu einem klareren Bewusstsein gekommen. Das verdanke ich Gott. Und ich verdanke es der Tatsache, dass ich jahrelang alleine war und Zeit hatte, über das Verbrechen nachzudenken. Ich wurde, wenn Sie so wollen, religiöser. Und ich habe mich im Familienzusammenführungsprogramm eingeschrieben. Bevollmächtigte: Aus Ihrem Führungsbericht können wir erkennen, dass Sie Besuche von Ihrer Frau hatten. Ist das richtig? 40 Chapman 1: Ja, von Anfang an ist sie bei mir gewesen. Bevollmächtigte: Wo lebt sie? Chapman 1: Auf Hawaii. Bevollmächtigte: Wie oft kommt sie her? Chapman 1: Zweimal im Jahr für jeweils zwei Wochen. Bevollmächtigte: Wo wollen Sie leben, wenn Sie auf Bewährung freigelassen werden? Chapman 1: Ich würde in den Staaten von Ort zu Ort, von Kirche zu Kirche ziehen, den Menschen erzählen, was mir geschehen ist und ihnen den Weg zu Christus zeigen. Musik 22: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 19. Arnold (0´12´´) Musik 23: John Lennon – Anthology Ascot CD 1/ 9. Imagine (1´28´´) Mischen mit: 41 Atmo 21: New York Sound 2 (s.o.) Darüber: Erzähler: Am Sonntag, dem 14. Dezember, wehen in New York alle Fahnen an öffentlichen Gebäuden auf Halbmast. Um 14 Uhr versammeln sich nach einem Aufruf von Bürgermeister Edward Koch 100.000 Menschen im Central Park. Dick vermummt gegen die Kälte stehen sie vor dem John Lennon Poster, das man auf der Freilichtbühne aufgestellt hat, und hören seine Lieder. Einige schützen mit den Händen Kerzenlichter vor dem Wind, andere strecken zum Peace-Zeichen geformte Finger himmelwärts. Unter den Trauernden ist John Hinckley. O-Ton 7: Attentat auf Ronald Reagan (O-Ton) Rufe, Schüsse (NDR Info, Serie: Stichtag, 30.3.2001; Archivnummer F001550/Produktionsnummer HF001550, Herkunft WDR; Langzeitspeicher NDR 4: Take-ID 3F3BA22D) (0´09´´) Erzähler: Am 30. März 1981 verübt der Nachahmungstäter das Attentat auf Präsident Reagan, aus Verehrung für die Schauspielerin Jodie Foster. In seinem Hotelzimmer findet die Polizei das Buch Der Fänger im Roggen. Reagan überlebt. 42 Musik 24: Marilyn Manson – Take 10 von der CD „Holy Wood“ “We are all nobodies, wanna be somebodies …” (1´42´´) Darüber: Erzähler: Mit Chapmans Mord an John Lennon ändert sich das Leben der Prominenten. Mehr und mehr Stalker stellen den Berühmten nach. Den Gesellschaftskritiker Christopher Lasch meint, dass Erklärungsversuche für dieses Phänomen nicht mit der Psychologie der Täter anfangen sollten, sondern mit dem Versuch, die gesamte Kultur der Massenkommunikation, die Verehrung Einzelner durch die Massen zu beleuchten, kurz gesagt, den Starkult zu analysieren. Zitator: Heutzutage wird die Öffentlichkeit von Bildern mit Berühmtheiten beherrscht, die dem Normalbürger erscheinen wie Wesen von einem anderen Stern. Stars sind an die Stelle von Helden getreten, und sie existieren in einer Kultur, in der die Existenz von Helden nahezu unmöglich scheint. Sie sind von Anfang an reine Geschöpfe der Einbildung. Erzähler: In dieser Kultur des Narzissmus, von der Lasch spricht, spiegelt die Wertvorstellung, berühmt zu sein, die ein narzisstischer Niemand wie Chapman übernimmt, um sein Selbstwertgefühl zu 43 heben, auf eine düstere Weise die Wertvorstellung eines narzisstischen Jemand wieder. Musik 25: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 18. Dreams (0´55´´) Erzähler: Am 6. Januar 1981 wird um 9 Uhr der Prozess gegen David Chapman eröffnet. Höchste Sicherheitsstufe herrscht im Criminal Courts Building. Der Gerichtssaal im 11. Stock ist nur halbvoll, jedem Lennon Fan ist der Zutritt verwehrt. Chapman steht regungslos in grünen Hosen und einem olivgrünen Parka da, als der Richter ihm die Anklage auf Mord zweiten Grades vorliest, die schwerste Strafe im Staat New York für den Mord an einem Zivilisten. Zuletzt fragt der Richter den Angeklagten, worauf er plädiere. Chapman 2: (leise) Unschuldig. Erzähler: „Wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit“ fügt sein Pflichtverteidiger hinzu. Zwei Wochen später hat Chapman in seiner Zelle die „Offenbarung“, wie er seinem Biografen sagt, „er habe John Lennon umgebracht, um die Menschen dazu zu bringen, den Fänger im Roggen zu lesen.“ Musik 26: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 23. Sara Goldfarb Has (0´55´´) Mischen mit: 44 O-Ton 8: Antrittsrede Ronald Reagan 20.1.1981 (Antrittsrede (O-Ton engl.) „Government is not the solution to the problem, government is the problem …“ (BR, Archivnummer CD96119/Tonträgermarke Rhino Records Inc./Tonträgerbestellnr. R2 70567) (0´14´´) Erzähler: Reagan hat bereits das Weiße Haus, das Zentrum der Macht, bezogen und seinen wirtschaftlichen Neoliberalismus verkündet, als Chapman am 26. Februar den Gerichtssaal betritt. Zum ersten Mal hat er den Fänger im Roggen bei sich. Er nimmt sich vor, sein Leben lang nichts zu sagen, nur dieses Buch soll sein Verbrechen erklären. Aber für seine Biografie wird er später reden und reden, als Berühmter über jede Einzelheit seines Lebens sprechen. Am 8. Juni teilt er seinen Pflichtverteidiger mit, Gott hätte ihm gesagt, er solle sich schuldig bekennen. Musik 26: (s.o.) Erzähler: Am Tag der Urteilsverkündung, dem 24. August 1981, trägt Chapman eine dunkle Hose und unter seinem dunkelblauen Hemd eine kugelsichere Weste. Wieder hat er den Fänger im Roggen bei sich. Verteidigung im An diesem brechend schwülheißen vollen Tag Gerichtssaal ruft die sechs psychiatrische Gutachter auf. Einer bezeichnet den Mord als „Stellvertretersuizid“, durch den Mord an Lennon habe sich Chapman selbst das Leben genommen. Die drei Gutachter der Anklage kommen zum Ergebnis, Chapman leide zwar an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, sei aber nicht geisteskrank, er hätte genau gewusst, was er tat. Aus Ruhmsucht hätte 45 er John Lennon erschossen. Zuletzt fragt der Richter, ob Chapman vor der Urteilsverkündung noch etwas sagen will. Das ist sein Auftritt, auf den er acht Monate gewartet hat. Als sei es die Bibel, schlägt der Angeklagte den Fänger im Roggen an jener Stelle auf, an der Holden Caulfield seiner Schwester Phöbe erklärt, was er richtig gern in seinem Leben täte. Atmo 30: Karussellmusik Eine Art Drehorgelmusik einer bekannten US-amerikanische Melodie, Kinderstimmen … . (Total: 0´50´´) Darüber: Chapman 2: (zuerst unsicher, dann sicher) Ich stelle mir immer kleine Kinder vor, die in einem großen Roggenfeld spielen und so. Tausende von kleinen Kindern, und niemand ist da – also, kein Großer -, nur ich. Und ich stehe am Rand eines verrückten Abgrunds. Und da muss ich alle fangen, bevor sie in den Abgrund fallen – also, wenn sie rennen und nicht aufpassen, wo sie hinlaufen, dann muss ich irgendwo rauskommen und sie fangen. Und das würde ich den ganzen Tag lang machen. Ich wär einfach der Fänger im Roggen und so. Musik 27: John Lennon – Anthology New York City CD 2 / 2. Attica State (1´55´´) Darüber: 46 Erzähler: Nach der Urteilsverkündung wird Chapman, der selbsternannte Schutzengel der Reinheit, in das Attica Staatsgefängnis im nördlichen Bundesstaat New York überführt. Ausgerechnet Attica. Im September 1971 sind dort bei einer Gefängnisrevolte 43 Gefangene getötet worden. Und John Lennon hat mit dem Lied „Attica State“ gegen die Gewalt der Staatspolizei protestiert. Zum Schutz vor den anderen Gefangenen sitzt Chapman hier in Einzelhaft - in einer zwei Mal drei Meter großen Zelle. Einmal am Morgen hat er für eine Stunde Ausgang im Gefängnishof. Verhaftet in seiner spirituellen Welt, führt er zumeist Zwiegespräche mit Gott. Wiederum versucht er, sich in einem anderen zu finden, der außerhalb der Grenzen der Wirklichkeit existiert. Noch immer ist er der Gefangene seiner Phantasie. Es hat den Anschein, als hätte er mit seiner Tat darauf hingewirkt, in realer Gefangenschaft zu leben. Fast täglich bekommt er Post, Autogrammwünsche und Morddrohungen. Man sollte sich Chapman nicht als unglücklichen Menschen vorstellen. Er ist nun jemand, er ist der Mörder von John Lennon. In seiner Zelle muss er die Verantwortung eines Lebens in Freiheit nicht tragen. 9. Verhörszene: Bevollmächtigte: Herr Chapman, gibt es noch etwas, was Sie hinzufügen wollen? Chapman 1: Ja. Kann ich noch einen Moment sprechen oder - 47 Bevollmächtigte: Natürlich. Chapman 1: Als ich am 8. Dezember willentlich das Leben von John Lennon ausgelöscht habe, habe ich jedes Recht verwirkt, auf der Erde zu sein. Es steht mir nicht zu, Sie darum zu bitten, mich freizulassen. Ich würde die Gelegenheit gerne benutzen, mich bei Frau Lennon zu entschuldigen. Ich habe gehört, dass sie im Falle meiner Freilassung fürchtet, ich würde ihr und ihren Kindern Leid zufügen. Das ist absolut nicht wahr. Ich habe dieses Böse nicht mehr in mir, es ist fort, aber unglücklicherweise hat es einen Menschen mit hineingezogen. Und wenn ich den Rest meines Lebens im Gefängnis bleiben muss, nur um das Leid von Frau Lennon zu sühnen, werde ich es tun. Wissen Sie, es ist schrecklich, wenn man begreift, was man getan hat. Atmo 31: Schlüsselklappern, Zuschlagen einer Gefängnistür NDR-Archiv Musik 4: Soundtrack “Requiem for a Dream” / 25. Winter Ouverture (0´19´´) Erzähler: Der Gnadenausschuss lehnt die Haftentlassung von Mark David Chapman ab. In der Begründung wird hervorgehoben, dass der Mörder von John Lennon „äußerst böswillige Absichten“ gehabt hat. In den Aussagen über seine Tatmotive habe Chapman erneut die öffentliche Aufmerksamkeit betont, die er durch den 48 Mord auf sich lenken wollte. Der Gnadenausschuss wertet dies als ein absonderliches und moralisch verdorbenes Denken. Musik 28: John Lennon – Anthology Dakota CD 4 / 19. Dear John (2´00´´) Darüber 49 Abspann: Sie hörten: Warum John Lennon sterben musste Anhörung eines Mörders Von Egon Koch Es sprachen: Marlen Diekhoff Siegfried W. Kernen Burghart Klaußner Lennardt Krüger Peter Kurth Technische Realisation: Jutta Liedemit und Kerstin Heykamp Regie: Egon Koch Redaktion: Ursula Voß Eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks mit Südwestrundfunk und dem Saarländischen Rundfunk, 2005 50 dem