DIE RADIODOKTOR-INFOMAPPE Ein Service von: ORF A-1040 Wien, Argentinierstraße 30a Tel.: (01) 50101/18381 Fax: (01) 50101/18806 Homepage: http://oe1.ORF.at Österreichische Apothekerkammer A-1091 Wien, Spitalgasse 31 Tel.: (01) 404 14-600 Fax: (01) 408 84 40 Homepage: www.apotheker.or.at Österreichisches Bundesministerium für Gesundheit A-1030 Wien, Radetzkystr. 2 Tel.: (01) 71100-4505 Fax: (01) 71100-14304 Homepage: www.bmg.gv.at/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 1 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT Die Sendung Die Sendereihe „Der Radiodoktor“ ist seit 1990 das Flaggschiff der Gesundheitsberichterstattung von Ö1. Jeden Montag von 14.05 bis 14.40 Uhr werden interessante medizinische Themen in klarer informativer Form aufgearbeitet und Ö1-Hörerinnen und -Hörer haben die Möglichkeit, telefonisch Fragen an das hochrangige Expertenteam im Studio zu stellen. Wir über uns Seit September 2004 moderieren Univ.-Prof. Dr. Manfred Götz, Univ.-Prof. Dr. Karin Gutiérrez-Lobos, Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger und Dr. Christoph Leprich die Sendung. Das Redaktionsteam besteht aus Mag. Nora Kirchschlager, Martin Rümmele, Mag. Dominique Stiefsohn, Dr. Michaela Steiner, Dr. Ronny Tekal und Dr. Christoph Leprich. Das Service Seit dem 3. Oktober 1994 gibt es das, die Sendereihe flankierende, Hörerservice, das auf größtes Interesse gestoßen ist. Die zu jeder Sendung gestaltete Infomappe mit ausführlichen Hintergrundinformationen, Buchtipps und Anlaufstellen wird kostenlos zur Verfügung gestellt und ist bereits am Sendungstag auf der Ö1-Homepage zu finden. Diese Unterlagen stellen in der Fülle der behandelten Themen ein Medizin-Lexikon für den Laien dar. Die Partner Ermöglicht wird die Radiodoktor-Serviceleiste durch unsere Partner: die Österreichische Apothekerkammer und das Österreichische Bundesministerium für Gesundheit. An dieser Stelle wollen wir uns ganz herzlich bei unseren Partnern für die Zusammenarbeit bedanken! Wir bitten um Verständnis, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit in dieser Infomappe zumeist auf die weiblichen Endungen, wie z.B. PatientInnen, ÄrztInnen etc. verzichtet haben. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 2 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN – EINE SPURENSUCHE Mit Dr. Christoph Leprich 30. Dezember 2013, 14.05 Uhr, Ö1 Sendungsgestaltung und Infomappe: Dr. Christoph Leprich, Mag.a Nora Kirchschlager, Mag.a Dominique Stiefsohn, Dr. Ronny Tekal, Andrea Kugi Redaktion: Dr. Christoph Leprich, Mag.a Nora Kirchschlager, Mag.a Dominique Stiefsohn RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 3 INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN – EINE SPURENSUCHE 6 Kapitel 1: Neue alte Medizin – Kurze Geschichte der Volksheilkunde Von der Steinzeit in die Antike Moderne Medizin der Mauren gelangt nach Europa Steinschneider und Zahnreißer 6 6 6 7 Kapitel 2: Volksmedizin in Österreich Dämonen, Geister und magische Symbole Volksmedizinische „Prävention“ Fasten und Wallfahren als Seelenreinigung Take-Away-Heilige Das Ende der Volksmedizin? Erhalt des „Kulturgutes Volksmedizin“ Neue Volksmedizin: Ost trifft West 7 8 8 8 9 9 10 10 Kapitel 3: Volksmedizin für Kinder Sanfte Medizin Potente Substanzen haben auch Nebenwirkungen Antibiotika und Darmerkrankungen Was tun bei grippalen Infekten? Wie hoch darf mein Kind fiebern? Bewährte Methoden gegen Halsentzündung und zur Fiebersenkung Ernährung kann heilen - Hühnersuppe wirkt besser als Chemie Einfaches Rezept für Hühnersuppe „Suppentherapie“ an der Uniklinik Rezept: Die Karottensuppe nach Moro Die Experten-Tipps für den Winter Einfaches Rezept für Spitzwegerichtee 11 11 11 11 12 12 13 13 13 13 14 14 14 Kapitel 4: Volksmedizin im Märchen Märchen: Wie die Christrose zu ihrem Namen kam Auch Bäume können heilen Ein Strauch gegen Husten 15 15 16 16 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 4 INHALTSVERZEICHNIS Alles für (und gegen) die Liebe 17 Kapitel 5: Irrtümer der europäischen Volksmedizin Gesund werden durch Kannibalismus Der Einsatz von Tieren Magie und Aberglaube Die Zeichen Gottes 18 18 18 19 19 ANLAUFSTELLEN UND INFOLINKS BUCHTIPPS INTERVIEWPARTNER/INNEN 21 22 23 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 5 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN – EINE SPURENSUCHE So selbstverständlich uns heute Operationen, Impfungen, Röntgenbilder oder Antibiotika erscheinen, so ist diese Art von „moderner“ Medizin eigentlich erst ein paar Jahrzehnte alt. Doch was taten unsere Ahnen und Urahnen in früheren Zeiten, um Krankheiten zu heilen? Einen Hinweis bietet die Volksmedizin, die noch bis in die 1970er-Jahre einen großen Stellenwert hatte und einen Einblick in eine lange Tradition an Heilmethoden liefert. KAPITEL 1: NEUE ALTE MEDIZIN – KURZE GESCHICHTE DER VOLKSHEILKUNDE Von der Steinzeit in die Antike Zwar gehörten, wie Funde aus der Steinzeit belegen, auch chirurgische Eingriffe, etwa am Schädel, bereits früh zum medizinischen Repertoire unserer Vorfahren, wie Philip Osten vom Heidelberger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin erklärt. Doch Medizin und Gesundheit waren seit jeher eng mit magischen und religiösen Vorstellungen verknüpft. So verwundert es auch nicht, dass sich unter den frühen Heilkundigen, über die es auch schriftliche Aufzeichnungen gibt, viele Priester fanden. Und zwar in Mesopotamien - das Teile des heutigen Iraks und Syriens umfasste - und in Ägypten. Besondere Bedeutung gewann im antiken Griechenland auch Asklepios, der Gott der Heilkunst. Der Kult um den Sohn des Apollon und der Koronis hielt sich über mehrere Jahrhunderte – doch es war eine Medizin für Wohlhabende. Das gemeine Volk blieb von den medizinischen Segnungen der frühen Schlaf-Heilstätten ausgeschlossen. Moderne Medizin der Mauren gelangt nach Europa Das Wissen um die antike Medizin gelangte über Umwege in unsere Breiten. Während im Osten Europas die Medizin der Antike weitgehend unbeschadet überlebt hat, wurde im Westen das antike Wissen über die arabisch-persische Welt verbreitet. Der persische Arzt und Universalgelehrte Avicenna, der im heutigen Usbekistan geboren wurde und bereits mit 16 Jahren das Medizinstudium abgeschlossen hatte, lebte um das Jahr 1.000 und galt als wichtigster Sammler medizinischen Wissens. Seine Schriften wurden von den frommen Mönchen in den Klöstern übersetzt. Wir verdanken letztlich dem Lesen und Schreiben der Mönche, dass diese Dinge auch in unsere Kultur Eingang gefunden haben. Nicht zufällig war diese Medizin lange Zeit als „Klostermedizin“ bekannt. Im RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 6 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN elften Jahrhundert erlebte diese Klostermedizin eine Hochblüte. Nun wurde die bislang stark männerdominierte Medizin zu einem großen Teil von Frauen praktiziert und tradiert. Avicennas medizinische Enzyklopädie galt als „Kanon der Medizin“ und als Grundlage der europäischen medizinischen Ausbildung bis in die frühe Neuzeit hinein. Zusätzlich wurde auch die antike Vier-Säfte-Lehre (wonach gelbe und schwarze Galle, Blut und Schleim als „Lebensträger“ im Körper angenommen wurden) über Jahrhunderte tradiert. Steinschneider und Zahnreißer Den Arzt, der an einer Universität Medizin studiert hatte, gab es zwar bereits im Mittelalter. Für die breiten Schichten der Bevölkerung wurde er aber erst im Laufe des 18. Jahrhunderts bedeutsam. Vielmehr waren eine Vielzahl an Steinschneidern, Bruchbrennern, Starstechern, Wendern, Knocheneinrichtern, Zahnreißern und Okkultisten für die breite Gesundheitsversorgung zuständig. Im Vordergrund stand jedoch das in den Familien und der Region tradierte Heilwissen. Viele Dinge, die in der traditionellen Volksmedizin breite Anwendung fanden, muten heute seltsam an. Denn neben den auch für die moderne Naturwissenschaft nachvollziehbar wirksamen Therapien mit Pflanzen- und Tierdrogen nahm etwa auch das Räuchern einen wichtigen Stellenwert ein. Neben magischen Ritualen, christlichen und heidnischen Symbolen, Wallfahrten und dem Räuchern galt auch das Fasten als Bestandteil der Volksmedizin. Vor etwa vier Jahrzehnten fand die lange Tradition der Volksmedizin ein jähes Ende. Die Behandlungshoheit gelangte fest in die Hände von medizinischen Fachkräften. Das Wissen zu Kräutern oder Topfenwickel sowie um die Bedeutung magischer Rituale wurde an die junge Generation kaum mehr weitergegeben. Doch mittlerweile wird die Tradition auf neuen Wegen weiterverbreitet und wiederentdeckt. Und sei es über das Internet. KAPITEL 2: VOLKSMEDIZIN IN ÖSTERREICH Anheben, Wenden, Spruchheilen und Gesundbeten, Fasten, Wallfahren oder Räuchern – die Palette an möglichen Therapieformen in der traditionellen Volksmedizin, wie sie noch vor 50 Jahren in vielen Teilen Österreichs praktiziert wurde, war groß. Wobei die uns heute geläufigen Diagnosen nicht unbedingt mit den damaligen Vorstellungen zu vergleichen sind. So ging es manchmal darum, gegen den „Schwund“, das „Schwinden“, etwas zu unternehmen oder verschiedenste „Fieber“ in den Griff zu bekommen. Symptome, die sich einer ganzen Reihe von Erkrankungen zuschreiben lassen. Zudem gab es auch eine gänzlich andere Vorstellung vom Wesen von Gesundheit und Krankheit, wie die Medizinanthropologin Michaela Noseck-Licul vom Dokumentationszentrum für traditionelle Heilmethoden in Österreich erklärt. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 7 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Dämonen, Geister und magische Symbole Selbst Geister und Dämonen - auch als Relikte aus der vorchristlichen Zeit - spielten immer wieder eine Rolle. Sitzt zum Beispiel die „Trud“ (ein weiblicher Dämon) auf einem, so wollte man damit das Gefühl einer Beengung auf der Brust zum Ausdruck bringen – ganz gleich, ob es sich dabei um echte Herzprobleme, um Atemnot oder auch um Panikattacken handelte. In vielen Fällen versuchte man das Übel an der Wurzel zu packen – und dies war eben meist überirdischer Art. Eine Möglichkeit bestand darin, das „Böse“, von dem ein Kranker bedroht oder besessen war, „auszuräuchern“. So nahm das Räuchern einen wichtigen Stellenwert in der traditionellen Volksmedizin ein, auch um Verbindung zu höheren (göttlichen) Wesen aufzunehmen. Michaela Noseck-Licul: „Die Vorstellung dabei ist, dass der Rauch diese göttlichen Dimensionen erreichen kann, indem er aufsteigt. Andererseits ist der Rauch mit dem Feuer verbunden, und Feuer hat eine reinigende, läuternde Wirkung, die dann auch auf den Rauch übertragen wird.“ Allerdings unterschieden sich die damals zu diesem Zweck praktizierten Räucherrituale deutlich von den heutigen Gepflogenheiten. Denn möchte man heute zum Beispiel mit Weihrauch in der Adventzeit oder auch über das Abbrennen von Räucherstäbchen mit fernöstlichen Düften - vom Sandelholz bis zur Himalaya-Zeder - ein Gefühl des Wohlbefindens und ein angenehmes, harmonisches Dufterlebnis hervorrufen, so versuchte man in früheren Zeiten schlichtweg, Gestank zu erzeugen. Damit wollte man die Krankheitserreger – Dämonen oder auch üble Gerüche – abschrecken und vertreiben. Noch bis in die 1950er-Jahre galt in der Region Graz das Verräuchern eines blauen Schürzenbandes als gutes Mittel gegen Schnupfen (der Farbe Blau wird in vielen Ländern eine große Schutzwirkung zugeschrieben). Volksmedizinische „Prävention“ Um unliebsame dämonische Gäste erst gar nicht ins Haus zu lassen, bediente man sich vielerorts auch einer frühen Form der Prävention, also der Vorsorgemedizin. Die Verwendung von (Schutz-)Amuletten hat in vielen Kulturen eine wichtige Bedeutung. In Österreich waren etwa die Fraisenketten beliebt, die bei Babys und Kleinkindern ans Bett gehängt wurden, um Dämonen fernzuhalten. Diese Ketten, mit denen man die Fraisen, also die Krampfanfälle bei Kindern, abwehren wollte, waren meist sogenannte Komposit-Amulette, bestanden also sowohl aus heidnischen als auch aus christlichen Symbolen, um die Wirksamkeit zu potenzieren. Fasten und Wallfahren als Seelenreinigung Auch das Fasten war fester Bestandteil der traditionellen Volksmedizin. Die biologische Wirkung des Nahrungsverzichtes auf den Körper stand jedoch erst viel später im Vordergrund, wie Michaela Noseck-Licul erläutert. Zwar kannte man schon durch die Medizin der Antike und damit auch von der Klostermedizin die heilende Wirkung des Fastens bei Krankheiten. Bei den damaligen Fastenritualen galt es jedoch eher, zu sich selbst zu finden und zu tieferen (religiösen) Einsichten zu kommen. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 8 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Einen ähnlich großen medizinischen Stellenwert nahmen auch Wallfahrten ein. Wobei es, so die Medizinanthropologin, weniger darum ging, „um etwas zu bitten“, als vielmehr, „für etwas zu danken“. Auch heute begeben sich viele Menschen - wie auch in früherer Zeit oft an einem Scheideweg ihres Lebens stehend - auf jahrhundertealte Pilgerwege und folgen damit einer langen Tradition. Wenngleich die Reisen dieser Tage weitaus ungefährlicher sind, als in den Hochzeiten des Pilgertums. Denn die entbehrungsreichen Fußmärsche kosteten viele Pilger im besseren Fall nur Hab und Gut, im schlechteren das Leben. An den (christlichen) Wallfahrtsorten selbst waren vielerorts auch „Augenbründl“, also Quellen mit Heilwasser vorzufinden. Viele Personen mit Augenproblemen nahmen diese in Anspruch, allerdings „könnte man es auch so interpretieren, dass es darum geht, sozusagen eine tiefere Sichtweise oder eine besondere Erkenntnis zu erlangen“, so Noseck-Licul. Take-Away-Heilige Je nach Leiden pilgerte man an einen bestimmten Ort oder wandte sich an zuständige Heilige, deren „medizinische Fachdisziplin“ zumeist mit deren Martyrium in Zusammenhang stand: Den heiligen Blasius bei Halserkrankungen, den heiligen Laurentius bei Brandwunden oder die heilige Apollonia bei Zahnschmerzen. Die 14 christlichen „Nothelfer“ aus dem Spätmittelalter galten als wertvolle religiöse Hausapotheke. Die magische Wirkkraft von Heiligen gab es aber auch „zum Mitnehmen“. Denn neben dem Berühren von Reliquien und Bildern (Berührungszauber, „kontagiöse“ Magie) wurde auch dem „Einverleiben“ eine magische Bedeutung beigemessen. So konnten Schluckbildchen (kleine Zettel mit einem Kultbild darauf) oder auch Esszettel (Zettel mit religiösen Texten) im Notfall wie ein Medikament eingenommen werden. Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert waren diese Bestandteil der Volksmedizin und wurden oft von Händlern an Wallfahrtsorten zu durchaus stolzen Preisen angeboten. Das Ende der Volksmedizin? In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einem kompletten Bruch in der Geschichte der Volksmedizin. Mit Einführung der Krankenversicherung und dem flächendeckenden Zugang zur modernen Medizin schienen Besuche bei Kräuterkundigen, Knocheneinrichtern und Zahnreißern nicht mehr nötig zu sein, ja waren sogar zunehmend verpönt. Man tauschte nun die traditionellen, althergebrachten und zum Teil auch recht unangenehmen volksmedizinischen Prozeduren gegen die Segnungen der modernen Medizin ein. Nun wurde die Heilung zu einem großen Teil in die Hände medizinischer Spezialisten gelegt. Außer bei kleineren Wehwehchen oder Befindlichkeitsstörungen vertraute man nicht mehr auf die überlieferten „Hausmittel“. Erst Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einer zaghaften Renaissance der volksmedizinischen Traditionen. Allerdings mit einer ganz anderen Zielsetzung, wie Michaela Noseck-Licul meint: „Nun geht es ums Wohlbefinden, um die schönen, angenehmen Erlebnisse. Man wendet solche traditionellen Heilrituale an, um sich zu zerstreuen, zu entspannen, um etwas zu erleben.“ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 9 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Erhalt des „Kulturgutes Volksmedizin“ Das Wissen um einfache Hausmittel und alte Heilweisen schwindet langsam. Nur noch in wenigen Gebieten ist die medizinische Selbstversorgung noch von Bedeutung. Dort werden die Erfahrungen wie früher mündlich und praktisch von Generation zu Generation weitergegeben. Um diese Tradition nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wurde etwa das von Michaela Noseck-Licul gründlich dokumentierte überlieferte Heilwissen der PinzgauerInnen 2010 von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erhoben. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Bemühungen, volksmedizinisches Wissen zu erheben und zugänglich zu machen. Dazu wurden meist ältere Menschen zu ihren Erinnerungen an die Volksmedizin befragt, etwa im Rahmen des EU-Interreg-II-Projektes „Volksmedizin in Tirol”, das 1999 begonnen wurde. Dabei kamen einige alte und bereits in Vergessenheit geratene Heilweisen wieder zum Vorschein, wie die so genannte „Dreckapotheke“: Kuhmist, Urin, Speichel, Aufenthalte im Stall oder die Verwendung schmutziger Socken fanden vielfältige Anwendung. Auch das Verschlucken lebender Nacktschnecken bei Magenproblemen wurde in Tirol empfohlen – so die Überlieferungen. Neue Volksmedizin: Ost trifft West Nach einer Befragung des Dokumentationszentrums für traditionelle Heilmethoden in Österreich, die 2009 in Wien, Niederösterreich und Tirol durchgeführt wurde, zeigt sich, dass sich die volksmedizinische Selbstversorgung stark gewandelt hat. Der Gebrauch einfacher Hausmittel ist zurückgegangen, stattdessen wird hier auf fertige Mittel aus der Apotheke zurückgegriffen. Das Wissen über traditionelle Heilmethoden, Kräuter, Topfenwickel oder Essigpatscherl ist gerade bei den Jüngeren kaum verbreitet. Auf der anderen Seite haben aber viele Produkte aus der traditionellen Volksmedizin Ostasiens hierzulande Einzug gehalten und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Es scheint nun, nach einigen Jahrzehnten kompletter Abkehr von den alten Heilweisen, einen neuen, globaleren Zugang zur Volksmedizin zu geben, der Elemente aus arabisch-europäischen, aber auch traditionell chinesischen und letztlich auch schamanischen Quellen kombiniert. Quellen: Dokumentationszentrum für traditionelle und komplementäre Heilmethoden in Österreich http://www.cam-tm.com Institut für Pharmakognosie http://www.univie.ac.at/pharmakognosie/ Zentrum zur Dokumentation von Naturheilverfahren http://www.zdn.info/news_detail.php?id=7 Verein zur Erhaltung der Traditionellen Europäischen Heilkunde http://www.teh.at/ Heilwissen der PinzgauerInnen http://unesco.scharf.net/cgi-bin/unesco/element.pl?eid=5 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 10 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN KAPITEL 3: VOLKSMEDIZIN FÜR KINDER Sanfte Medizin In der Kinderheilkunde werden neue Wege beschritten. Auch auf die hehre, universitäre Lehre stolze Schulmediziner beginnen nachzudenken, wenn es um die medikamentöse Behandlung von Kindern geht. Gerade jetzt ist ein Buch mit dem Titel „Kindern helfen ohne Medikamente - Traditionelles neu entdeckt“ erschienen. Die Autoren sind Dr. med. Wolfgang A. Schuhmayer und Univ.-Prof. Dr. med. Karl Zwieauer. Karl Zwieauer ist der Leiter der Kinderklinik in St. Pölten und war bisher eher nicht als bedingungsloser Befürworter von komplementärmedizinischen Methoden bekannt. Potente Substanzen haben auch Nebenwirkungen Einer der Gründe, warum in der Kinderheilkunde mit anderem Blick an medikamentöse Therapien herangegangen wird, sind ausgerechnet die Antibiotika. Diese Substanzen haben Abermillionen von Kindern das Leben gerettet. Immerhin war vor der Ära der Antibiotika die Sterblichkeitsrate an Lungenentzündungen, Diphterie, Keuchhusten, etc. enorm. Aber derart potente Medikamente können weitreichende Wirkungen haben. „Wir haben in den vergangenen Jahrenvauch die Schattenseite dieser Medikamente kennengelernt“, so der Kinderarzt Karl Zwieauer. „Sie dürften bei der Entstehung von Allergien beteiligt sein – wohl nicht als Hauptverursacher, aber in einer Nebenrolle.“ Antibiotika und Darmerkrankungen Weitere Studien stellen einen Zusammenhang zwischen Antibiotika-Einnahme in der frühen Kindheit und erhöhtem Entstehungsrisiko von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen dar. Es handelt sich um den Morbus Crohn und die Colitis ulcerosa, die beide schwere, derzeit unheilbare Erkrankungsbilder sind. Eine finnische Studie aus dem Jahr 2012 mit fast 3.000 untersuchten Kindern und eine dänische aus 2011 mit etwa 600.000 erfassten Kindern stellten diesen Zusammenhang her. Da gibt es nun zwei Möglichkeiten diese Daten zu interpretieren. 1. Antibiotika können das Auftreten von Darmentzündungen begünstigen. 2. Jene Kinder, die häufig an Infekten erkranken, die mit Antibiotika behandelt werden müssen, haben aufgrund der Infekte oder anderer noch unbekannter Ursachen ein höheres Risiko für Darmentzündungen. Daher gibt es einen Trend in der Kinderheilkunde, genau zwischen Erkrankungen zu unterscheiden, die aus Sicherheitsgründen strikt medikamentös behandelt werden und solchen, bei denen auch traditionelle Methoden eine Chance erhalten sollten. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 11 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Was tun bei grippalen Infekten? Bis zu drei grippale Infekte monatlich sind bei Kindern in der kalten Jahreszeit völlig normal. Dennoch stellt sich fast jedes Mal dieselbe Frage. Sind die Erreger Viren oder Bakterien? Oder andersrum ausgedrückt: Muss mein Kind ein Antibiotikum einnehmen? Denn bakterielle Infekte des Rachenraumes können selten aber doch zur Mitbeteiligung der Herzklappen, der Nieren, etc. führen. Eine Möglichkeit, relativ rasch eine Antwort zu erhalten ist die Bestimmung des CRP-Wertes. Gesucht wird hier nach dem C-reaktiven Protein - einem Entzündungsparameter. Dazu der Kinderarzt Karl Zwieauer: „Bis vor einigen Jahren waren wir Kinderärzte vor allem auf die klinische Erfahrung angewiesen, wenn es am Beginn eines grippalen Infektes um die Frage nach den Verursachern ging. Dieses Wahrnehmen des Gesamtzustandes eines Kindes ist auch jetzt noch unerlässlich, aber es gibt doch endlich verschiedene aussagekräftige labor-chemische Parameter. Einer davon ist das C-reaktive Protein. Nur einige wenige viral bedingte Infekte führen zur Erhöhung des CRP-Wertes. In der Regel ist es aber so: erhöhtes CRP bedeutet bakterielle Verursacher.“ Der Test ist einfach durchgeführt. Es reicht ein Tropfen Blut und zeigt der Test keine Erhöhung des Entzündungsparameters CRP an, dann kann auf Antibiotika zunächst verzichtet werden. Wie hoch darf mein Kind fiebern? Auch bei letztlich unspektakulär verlaufenden Infekten fiebern viele Kinder hoch an. Im Zweifelsfall muss man auch immer an die echte Influenza denken. Wie ist nun rasch ansteigendes Fieber zu beurteilen. Nach der Ansicht des Kinderarztes Zwieauer und des Allgemeinmediziners Wolfgang Schuhmayer sind auch Temperaturen über 38.5 Grad noch kein Grund zu Besorgnis. Karl Zwieauer: „Wir Kinderärzte betrachten Fieber mittlerweile anders als früher. Es ist eine völlig normale Reaktion des Körpers. Erst bei sehr hohen Körpertemperaturen richtet sich Fieber gegen den Körper – vorher vor allem gegen die Erreger.“ „Fieber ist kein ‚böses‘ Symptom“, so auch der Mediziner Wolfgang Schuhmayer, „sondern es ist vielmehr eine Nachricht unseres Immunsystems, dass es funktioniert.“ Viele Mütter oder Väter stehen voll im Berufsleben und können nicht ohne Weiteres bei jedem der in der kalten Jahreszeit so häufigen Infekte ihrer Kinder mehrere Tage zu Hause bleiben, um den Sohnemann oder die Tochter „schonend“ gesund zu pflegen. In solchen Fällen sind fiebersenkende Medikamente natürlich eine Alternative. Falls Sie auf volksmedizinische Maßnahmen setzen, hier zwei Rezepte, angelehnt an jene aus dem Buch „Kindern helfen ohne Medikamente - Traditionelles neu entdeckt“. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 12 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Bewährte Methoden gegen Halsentzündung und zur Fiebersenkung Der Hals-Topfenwickel: Für einen Topfenwickel wird der zimmerwarme Magertopfen in einer Dicke von einem halben bis zu einem Zentimeter auf ein Baumwolltuch gestrichen. Nun den Wickel um den Hals legen, darüber eine weitere Lage Baumwolltuch und mit einem Wollschal fixieren. Anwendungsdauer: 1–2 Stunden, 2 × tgl. Für einen Essig-Waden-Wickel wird ein mehrfach gefaltetes Baumwolltuch in nicht zu kaltes Wasser mit einem Schuss Essig getaucht. Das Tuch auswringen und eng um die Unterschenkel wickeln. Wieder mit einem 2. Tuch fixieren und nach einer halben Stunde Wickel abnehmen und Beine gut abfrottieren. Ernährung kann heilen - Hühnersuppe wirkt besser als Chemie Jetzt wenden wir uns bewährten Anwendungen aus der Kräuterküche und auch aus dem Kochtopf zu. Denn nicht nur die traditionelle chinesische Medizin geht davon aus, dass Nahrung, die mit Bedacht zubereitet wird, eine Medizin sein kann. In unserem Kulturkreis gibt es ebenso wie in Asien „die gute Suppe.“ Der Frage, warum Hühnersuppe eine so stark lindernde Wirkung auf grippale Infekte hat, gingen 2012 US-Forscher am Nebraska Medical Center nach. Das Ergebnis ist einigermaßen verblüffend: Die Inhaltsstoffe einer gut gekochten Hühnersuppe vernichten nicht die Viren, sondern sie wirken auf das Immunsystem. Und zwar nicht, indem sie dieses anfachen, sondern das „Heilmittel Hühnersuppe“ verlangsamt bestimmte Abwehrzellen, die ihrerseits die Schwellung der Schleimhäute und damit die Rhinitis bedingen. Und sind die unangenehmen Symptome weg, ist der Infekt tatsächlich banal. Einfaches Rezept für Hühnersuppe Ein Suppenhuhn ohne Innereien mit Suppengemüse (Lauch, Sellerie, Karotten, Petersilie), Lorbeerblättern, Wacholderbeeren und einer halben Zwiebel in etwa 2 Liter Wasser oder Gemüsebrühe erhitzen und eineinhalb Stunden köcheln lassen. Das Huhn muss dabei zur Gänze bedeckt sein. Suppennudeln abkochen, mit klein geschnittenem Hühnerfleisch in der Brühe servieren. Mindestens zwei Teller am Tag essen. „Suppentherapie“ an der Uniklinik Ohne dies so genau zu wissen, wurden Suppen in den vergangenen Jahrzehnten auch in Krankenhäusern gezielt verabreicht. Und zwar neben der Hühnersuppe vor allem eine bestimmte Gemüsesuppe. Karl Zwieauer: „Ich erinnere mich gut an meine Zeit als Assistenzarzt an der Uniklinik in Wien. Da gab es ein Rezept, das bei Durchfallerkrankungen immer eingesetzt wurde – und zwar die Karottensuppe nach Moro. Die Wirkung ist auch tatsächlich in Studien untersucht worden. Es dürften besonders zwei Inhaltstoffe der Karotte wirken: Die sogenannten Oligosaccharide RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 13 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN behindern die Keime bei der Ankoppelung an die Darmwand und die Pektine machen den Stuhl rasch wieder konsistenter.“ Der in Heidelberg arbeitende Kinderarzt Professor Ernst Moro suchte am Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv nach einem Mittel, um die Komplikationen der Diarrhoe von Kindern zu lindern. Er entdeckte die heilende Wirkung der Karottensuppe und wurde dadurch weltweit bekannt. Denn dieses einfache Rezept senkte die Sterberate von Kindern mit Durchfallerkrankungen drastisch. Rezept: Die Karottensuppe nach Moro 500 Gramm geschälte Karotten zerkleinern, in einem Liter Wasser ein bis eineinhalb Stunden kochen, durch ein Sieb pressen oder in einem Mixer pürieren. Danach die Gesamtmenge auf einen Liter mit Wasser auffüllen und einen knapp gestrichenen Teelöffel (3 Gramm) Kochsalz hinzufügen. In kleinen Mengen verabreichen. Die Österreichische Gesellschaft für Phytotherapie empfiehlt eine andere Variante der Karottensuppe: 500 Gramm geschälte Karotten zerkleinern, in einem Liter Wasser ein bis eineinhalb Stunden kochen, einen knapp gestrichenen Teelöffel (3 Gramm) zufügen, ca. einen Teelöffel Butter und einen Esslöffel Zucker dazugeben und zu einem Brei verarbeiten. Wird von Kindern deutlich lieber gegessen. Quelle: Phytotherapie Austria, Heft 2/2009 Die Experten-Tipps für den Winter In dem Buch „Kindern helfen ohne Medikamente - Traditionelles neu entdeckt“, finden Interessierte Anwendungen für fast alle Erkrankungen und Beschwerden von Kindern. So wie viele Kräuterheilkundige weltweit geht auch der Buchautor Wolfgang Schuhmayer davon aus, dass die bei uns wachsenden Pflanzen sozusagen maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der mitteleuropäischen Bevölkerung sind. „Besonders Spitzwegerich-Zubereitungen kann ich weiterempfehlen und ätherische Öle gegen die Auswirkungen eines Schnupfens“, so Wolfgang Schuhmayer. Karl Zwieauer: „Spitzwegerich gehört auch zu meinen Favoriten, dann Efeu und Thymian gegen einfachen Husten und die Kamille ist bei vielen Beschwerden wirklich hilfreich“. Einfaches Rezept für Spitzwegerichtee Spitzwegerich wirkt vor allem bei trockenem Husten am Beginn der Erkältung sekretlösend. Nehmen Sie einen Teelöffel Spitzwegerichblätter auf ein Viertel Liter kochendes Wasser, 5 Minuten ziehen lassen, abseihen. Drei bis fünf Tassen täglich mit Honig gesüßt trinken. RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 14 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Quellen: Interview mit Univ.-Prof. Dr. Karl Zwieauer Interview mit Dr. Wolfgang A. Schuhmayer Buch „Kindern helfen ohne Medikamente- Traditionelles neu entdeckt“ KAPITEL 4: VOLKSMEDIZIN IM MÄRCHEN Bestimmt kennen auch Sie jemanden, der eine Sammelleidenschaft hat. Für zum Beispiel Puppen, Modelleisenbahnen, Schallplatten, alte Postkarten oder Briefmarken. Im Burgenland lebt eine Frau, die sich dem Sammeln von Pflanzen verschrieben hat. In ihren zwei Gewächshäusern hütet Miriam Wiegele hunderte exotische Pflanzenarten, unter anderem aus China, Indien und Südamerika. Und in ihrem großen Garten sprießt beinahe alles, was die Natur im Osten Österreichs hergibt. Miriam Wiegele weiß genau, gegen welches Leiden welches Kraut gewachsen ist. Ihr Wissen gibt sie in verschiedenen Institutionen weiter. Außerdem gestaltet die 67jährige Radio- und Fernsehbeiträge zu traditioneller abendländischer Medizin und nicht zuletzt schreibt sie Bücher. Für eines davon hat sie sich auf die Suche nach Märchen über Kräuter und Blumen begeben. Märchen: Wie die Christrose zu ihrem Namen kam Zu der Zeit, als das Jesuskind geboren wurde, erschien am Himmel ein leuchtender Komet. Bei uns im Abendland, wo es um diese Zeit bitterkalt ist, sah ein alter, weiser Mann den Kometen am Himmel, und er wusste, dass dieser die Geburt des Heilands anzeigte. Er war aber arm und konnte daher kein kostbares Geschenk machen. So stand er in seinem Garten und blickte zum Himmel. Lange sann er nach über ein Geschenk für das Christkind. Als er seinen Blick wieder senkte, sah er, dass zu seinen Füßen aus den grünen Pflanzen, die dem Schnee getrotzt hatten, wundervolle mondfarbene, rosenähnliche Blüten aufleuchteten. (Quelle: Miriam Wiegele: „Geschichten von Blumen und Kräutern – Ein Märchenbuch für Jung und Alt“, Bacopa Verlag 2010) Diese Blumen sind ein würdiges Geschenk, dachte der alte Mann. Leider war er aber von Gicht geplagt und wusste, dass er den weiten Weg zum Christkind nicht schaffen würde. „Aber“, so erzählt Miriam Wiegele weiter, „er hatte einen Esel und dann hat er diese Blume ausgegraben, hat sie in einen Blumentopf hineingegeben, hat diesen dem Esel umgebunden und hat gesagt, `bring du dem Jesuskind diese besondere Pflanze, die auch im Schnee blühen kann`. Leider Gottes kam ein Schneesturm heran, der Esel hat sich verirrt, ist immer im Kreis gegangen und bis er wieder zurückgekommen ist, war die Schneerose verblüht, aber ihre Samen sind in die Erde gefallen und seit der Zeit blühen dort immer noch die Schneerosen.“ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 15 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Auch in unseren Breiten können wir uns über den Anblick der Schneerosen bzw. der Christ- oder Weihnachtsrosen, wie sie auch heißen, erfreuen. Ihre Hauptblütezeit ist von Februar bis April, einige Exemplare wagen sich aber auch schon im November aus der Erde und trotzen dann unbeirrt Kälte und Schnee. Schneerosen haben auch eine positive Wirkung auf die Gesundheit. In früheren Zeiten wurden sie zum Purgieren verwendet, um Durchfall auszulösen, sagt die Heilpflanzenexpertin Miriam Wiegele. Und ebenso wie schon von Paracelsus werden sie auch in der modernen Homöopathie gegen Demenz und Alterserschöpfung eingesetzt. Auch Bäume können heilen In der Volksmedizin hat man sich seit jeher für Pflanzen, aber auch Bäume interessiert, die zu ungewöhnlichen Jahreszeiten gedeihen oder aber das ganze Jahr über ihre Blätter behalten. Ihnen sprach man außergewöhnliche Heilkräfte zu. So zum Beispiel auch der Eiche, genauer gesagt der Traubeneiche, die erst im Frühjahr ihre Blätter verliert, nämlich dann, wenn die Knospen des nächsten Wuchses auszutreiben beginnen. Die Inhaltsstoffe der Eiche weiß man auch in der modernen Pflanzenheilkunde zu schätzen. Zahlreiche Anwendungsbereiche hat vor allem die Eichenrinde, weiß Miriam Wiegele. Man kann sie zum Beispiel für Fußbäder verwenden, wenn man Schweißfüße hat, oder aber gegen Hämorrhoiden. Eichenrindentee eignet sich auch gut bei Hauterkrankungen und bei Lidrandentzündungen. Die Blätter der Eiche sind bekanntermaßen ziemlich zerfranst. Laut einem bayerischen Märchen aus dem 19. Jahrhundert deshalb, weil der Teufel aufgrund einer verlorenen Wette so zornig war, dass er sie mit seinen Krallen zerriss. Ein Strauch gegen Husten Miriam Wiegele hat auch zahlreiche Märchen über Pflanzen gefunden, die gegen Erkrankungen der Atemwege helfen. Eines davon handelt von der Myrte, deren ätherische Öle noch immer wegen ihrer antibakteriellen und antiviralen Wirkung geschätzt werden. Miriam Wiegele: „Zur Myrte gibt es eine italienische Geschichte, da geht`s also um ein Myrtenmädchen, also eine verzauberte Pflanze, die sich zu einem Prinzen ins Bett gelegt hat und der war sehr glücklich darüber. Eines Tages war der Prinz zu lange weg und da waren die Kurtisanen in dieser Stadt ganz eifersüchtig auf das Myrtenmädchen und haben es zerrissen, und aus jedem Stück dieses Myrtenmädchens entstand dann wieder eine Pflanze. Ein Zeichen auch für die Langlebigkeit dieser Pflanze. Bei uns in Österreich gibt es eine Myrte, die angeblich Maria RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 16 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Theresia geschenkt bekommen hat als Hochzeitsgeschenk von einem Pascha und die steht noch immer in Schönbrunn.“ Liebeskräuter Apropos Hochzeit: Seit jeher hat man in der Volksmedizin auch gewusst, welche Kräuter Lust und Liebe beeinflussen. Der veilchenähnliche Duft der Schwertlilie zum Beispiel wurde und wird in der Aromatherapie genutzt, um Wunden zu heilen, die sich so anfühlen, als ob einem das Herz durchbohrt worden wäre. Neben Liebeskummer lindernden Heilpflanzen kannte man eine Reihe von Kräutern und Blumen, die der Liebe bzw. der Lust auf die Sprünge helfen sollten – Adonaida, der kretische Oregano etwa, die Orchidee und die Lilie. Letztere war aber nur in der Antike Liebeszaubermittel. Während des Christentums wurde sie zur Pflanze der Unschuld und der Gottesmutter geweiht. Aphrodisierend wurden über Jahrhunderte auch die Stängel der Seerose angesehen – jedoch nur, wenn in Vollmondnächten geerntet. Zu jedem anderen Zeitpunkt habe die Seerose - so die Vorstellung - eine gänzlich andere Wirkung: „Im Mittelalter hat die Seerose eine große Rolle als Anaphrodisiakum gespielt“ erzählt Miriam Wiegele. Und so etwas hätten wahrscheinlich die Mönche benötigt. Wie die Seerose entstanden ist, wird in einem alten tschechischen Märchenbuch erzählt. Miriam Wiegele: „Und zwar, ganz kurz gesagt, ein junger Mann will heiraten und er sitzt am Ufer eines Sees und auf einmal kommt der Teufel, unerkenntlich, und bietet ihm an, dass er mit ihm Karten spielen soll. Und dass er dabei viel Geld gewinnen wird. Der junge Mann hat aber immer mehr verloren und am Schluss hat dann der Teufel gesagt: `wenn Du mir nichts mehr geben kannst, dann gib mir doch Deine Braut`.“ Rose schnürte das Grauen die Kehle zu und sie schrie: „Jakob, du verspielst mich an den Teufel!“ Entsetzt stürzte sie zum See. Sie liebte ihren Jakob zwar, aber wenn sich dieser mit dem Teufel einließ, dann wollte sie keinen Augenblick länger leben. Sie stieß das Boot vom Ufer ab und mitten im See sprang sie ins Wasser. Nur langsam begriff Jakob, dass er sein ganzes Glück verspielt hatte. Abend für Abend saß er am See und bereute und wartete, hoffte – worauf? Doch einmal, um die Johanniszeit, sah er in der Bucht eine weiße Blume, die sich auf den Wellen wiegte. Ein altes Lied kam ihm auf die Lippen: „Weiße Blume blüht im See, das ist meine Liebste, oh weh“. (Quelle: Miriam Wiegele: „Geschichten von Blumen und Kräutern – Ein Märchenbuch für Jung und Alt“, Bacopa Verlag 2010) RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 17 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN KAPITEL 5: IRRTÜMER DER EUROPÄISCHEN VOLKSMEDIZIN Über Jahrhunderte war die Behandlung mit Pflanzen die verbreitetste Heilmethode. Kaum ein Kraut oder eine Blume, denen nicht eine bestimmte Wirkung nachgesagt wurde. Selbst das Moos, das auf den Schädeln Verstorbener wuchs, wurde für medizinische Zwecke eingesetzt – auch von ausgebildeten Ärzten. Und damit kommen wir zu jenen Behandlungsmethoden der europäischen Medizin, die heute skurril bis verstörend anmuten und zu Recht als Irrwege bezeichnet werden dürfen. Gesund werden durch Kannibalismus „Selbst Medizinstudenten, das ist überliefert, gingen nach Hinrichtungen gerne hin zu dem Hingerichteten und haben dann versucht, von dem Schädel, von der Haut, etwas abzuschaben“, erzählt der Mediziner und Historiker Univ.-Prof. Dr. Dr. Michael Stolberg von der Universität Würzburg. „Vor allem aber dann von Leichen, die sie auf Friedhöfen gefunden haben. Die sie zum Teil auch widerrechtlich oder gegen kirchliche Gebote ausgebuddelt haben. Von denen haben sie dann das Moos abgeschabt, im Glauben, dass das eine besondere Wirkkraft habe.“ Dieses Moos und die menschliche Kopfhaut verwendeten Mediziner bis ins 17. Jahrhundert für ihre Rezepturen. In der Volksmedizin hielt sich diese Behandlungsmethode laut Michael Stolberg in Nischen sogar bis ins 20. Jahrhundert. Auch eine andere Zutat konnte man noch im 19. Jahrhundert in Apotheken erstehen: getrocknetes Menschenfleisch von Leichen, auch genannt Mumia Vera, wie der der Soziologe und Medizinhistoriker Dr. Carlos Watzka von der Universität Graz bestätigt. „Wir denken ja immer, dass Kannibalismus ein Phänomen exotischer Völker ist, also ritualisierter und institutionalisierter Kannibalismus. Und vergessen häufig dabei, dass das Verspeisen oder Eingeben von menschlichen Körperbestandteilen auch in der Europäischen Kultur bis ins 18., 19. Jahrhundert gängige Praxis in bestimmten Fällen war“, so Dr. Watzka. Und so wurden gezielt auch nach damaliger Vorstellung - tabuisierte Präparate eingesetzt. Der Medizinhistoriker weiter: „Dahinter stand eben die Hoffnung, dass man Krankheiten, die man auf normalem Weg nicht heilen konnte oder Krankheiten, von denen man von vornherein annahm, dass sie nicht wirklich natürliche Krankheiten seien, etwa Krampfleiden oder Epilepsie, heilen könne. In solchen Fällen hat man dann auf Mittel vertraut, von denen man glaubte, dass sie selbst eine Art übernatürliche Fähigkeit hatten.“ Der Einsatz von Tieren Um Epilepsie bei Kindern zu behandeln ergriff ein böhmisch-österreichischer Arzt eine besonders ungewöhnliche Strategie, so Michael Stolberg von der Universität Würzburg: „Die spektakulärste Methode, die ich bei Georg Hansch gefunden habe, war, dass man einen frischgeschlachteten Ochsen verwendete, die ganzen Eingeweide rausnahm und das Kind in diesen noch warmen RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 18 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Ochsenkörper hineingesetzt hat. Und das sollte dann die Krampfanfälle verhindern oder zumindest abmildern.“ Ob dadurch die Krankheit auf das Tier übertragen werden sollte, wie es eine weit verbreitete Vorstellung in der Heilkunde war, lässt sich heute nicht mehr sagen. Der Einsatz von Tieren oder deren Bestandteilen war mannigfaltig. So trug man zum Beispiel Spinnen, die in Gläschen eingearbeitet, am Körper. Dr. Carlos Watzka vermutet, es habe mit der Angst zu tun, die viele Menschen vor Spinnen hatten (und haben). „Alles, was den Menschen schreckt oder ängstigt, wurde eingesetzt, um Krankheiten zu vertreiben. Das beruht noch auf dieser ganz alten magisch-animistischen Auffassung, wonach die Krankheit selbst ein Dämon mit personalen Eigenschaften ist. Der wie ein Mensch denkt und fühlt und so einen Dämon kann man eben erschrecken.“ Magie und Aberglaube Auch viele andere praktizierte Maßnahmen würden wir heute im Reich der Magie oder dem Aberglauben ansiedeln. Etwa die Idee, Krankheiten mittels Hindurchschlüpfen durch einen gespaltenen Baum abstreifen zu können oder durch das Essen von Zettelchen, auf denen die Namen von Heiligen stehen, geheilt zu werden. Aber selbst ausgebildete Ärzte bezogen Religion und Magie bis ins 18. Jahrhundert in ihre Behandlung mit ein, so der Medizinhistoriker Dr. Michael Stolberg. Das ist angesichts der damaligen Lebensumstände für ihn aber mehr als nachvollziehbar. „In einer Welt, das muss man sich ja wirklich vor Augen halten, wo Krankheit allgegenwärtig war, wo Menschen, weil die Medizin nicht helfen konnte, bei lebendigem Leibe buchstäblich verfaulten. Wo die Schwindsucht sehr verbreitet war. Wo der Arzt so gut wie nichts machen konnte. Sehr gefürchtet waren Krebsgeschwüre, in einem Ausmaß, dass die Menschen das Zimmer nicht mehr betreten wollten, weil sie den Gestank nicht mehr ertragen konnten. Also wenn man in einer solchen Welt lebt und das Gefühl hat, die Ärzte können mir letztlich bei schweren Krankheiten halt doch nur begrenzt helfen, dann kann man gut nachvollziehen, dass in so einer Welt Wallfahrtsorte oder das Gebet zu Maria oder zu Schutzheiligen eine große Stütze sein können.“ Die Zeichen Gottes Auch in der Natur suchten Menschen nach Zeichen Gottes, die ihnen verraten sollten, wie sie Pflanzen oder Tiere zu Heilzwecken einsetzen könnten. Die sogenannte Signaturlehre findet sich auch heute noch vereinzelt in der Alternativmedizin. Dr. Carlos Watzka hat sie noch selbst in seiner Jugend erlebt. Watzka: „Wo mir von älteren Menschen geraten wurde, ich solle doch mehr Nüsse essen. Das würde meine geistige Leistungsfähigkeit steigern. Der Grund dahinter: Weil die Nuss, die Walnuss nämlich, ausschaut wie ein Gehirn.“ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 19 EUROPÄISCHE VOLKSMEDIZIN Was dem Volk die Walnuss war, waren der Oberschicht Smaragde und Rubine als Heilmittel. Und auch Gold fand sich zum Beispiel als Bestandteil von Tinkturen. Weil Edelsteine und Gold so teuer waren, ging man davon aus, dass sie eine besondere, heilsame Wirkung haben mussten. Quellen: Interview mit Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg Interview mit Priv.-Doz. Dr. Carlos Watzka RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 20 ANLAUFSTELLEN UND INFOLINKS ANLAUFSTELLEN UND INFOLINKS Radiodoktor-Infomappe: “Die Geschichte der Heilberufe” http://oe1.orf.at/static/pdf/Arztgeschichte-WH-2013-i.pdf Institut für Pharmakognosie http://www.univie.ac.at/pharmakognosie/ Zentrum zur Dokumentation von Naturheilverfahren http://www.zdn.info/news_detail.php?id=7 Akademie für Traditionelle Europäische Medizin http://www.tem-akademie.com/ Verein zur Erhaltung der Traditionellen Europäischen Heilkunde http://www.teh.at/ Heilwissen der PinzgauerInnen http://unesco.scharf.net/cgi-bin/unesco/element.pl?eid=5 Signaturlehre, wie heute noch in der Alternativmedizin praktiziert http://www.dr-kessler.com/karin-van-h%C3%BClsen-s-signaturlehre/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 21 BUCHTIPPS BUCHTIPPS Karl Zwiauer, Wolfgang A. Schuhmayer Kindern helfen ohne Medikamente - Traditionelles neu entdeckt Verlagshaus der Ärzte 2013 Miriam Wiegele Geschichten von Blumen und Kräutern: Ein Märchenbuch für Jung und Alt Bacopa Verlag 2010 Miriam Wiegele Heilsames und aromatisches Grün - Band 1: Die Heilkräfte all der würzenden Pflanzen Bacopa Verlag 2009 Miriam Wiegele Heilsames und aromatisches Grün - Band 2: Die Heilkräfte all der essbaren Pflanzen Bacopa Verlag 2010 Michael Stolberg Die Harnschau: Eine Kultur- und Alltagsgeschichte Böhlau-Verlag GmbH 2009 Arnold Mayer Traditionelle Europäische Medizin: Lehrbuch und Atlas zur TEM. Traditionelle Heillehren nutzen. Elemente und Humores. Qualitäten, Kochungen und Spiritus Foitzick Verlag 2013 Wolfgang Eckart Geschichte der Medizin Verlag Springer, 6., neu bearb. Aufl. 2008 Sven Sauter Tiere in Homöopathie und Schamanismus Pro Business Verlag 2009 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 22 INTERVIEWPARTNER/INNEN INTERVIEWPARTNER/INNEN In der Sendung Radiodoktor – Medizin und Gesundheit vom 30. Dezember 2013 sprachen: Univ.-Prof. Dr. Dr. Armin Prinz Facharzt für Allgemein- und Tropenmedizin, Ethnologe, Kunsthistoriker Institut für Geschichte der Medizin Währingerstr. 25 A-1090 Wien E-Mail: [email protected] Dr. med. Philipp Osten Medizinhistoriker Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Im Neuenheimer Feld 327 Raum 107a D-69120 Heidelberg Tel.: +49/6221/54 89 58 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/Philipp_Osten.111107.0.html Mag.a Dr.in Michaela Noseck-Licul Dokumentationszentrum für traditionelle und komplementäre Heilmethoden in Österreich Margaretenstraße 144/11 A-1050 Wien E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.cam-tm.com Prim. Univ.-Prof. Dr. Karl Zwiauer Landesklinikum St. Pölten Leiter der Kinder- und Jugendabteilung Probst-Führer-Straße 4 A-3100 St. Pölten Tel.: +43/2742/9004/13506 RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 23 INTERVIEWPARTNER/INNEN E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.stpoelten.lknoe.at/abteilungen/kinder-und-jugendabteilung.html Dr. med Wolfgang A. Schuhmayer MedCommunications GmbH Grossmotten 42 A-3542 Gföhl Tel.: +43/664/7510 3698 (Mo-Fr 9:00 - 17:00h) E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.v-p-c.at/1.html Miriam Wiegele Heilkräuterexpertin A-7463 Weiden bei Rechnitz Nr. 60 Homepage: http://www.miriamwiegele.at/ Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg Institut für Geschichte der Medizin Universität Würzburg Sanderring 2 D-97070 Würzburg Tel.: +49/931/31-83090 E-Mail: [email protected] Homepage: www.medizingeschichte.uni-wuerzburg.de/stolberg.html Priv.-Doz. Dr. Carlos Watzka Institut für Soziologie Präsident des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin Universitätsstraße 15/G4 A-8010 Graz Tel.: +43/699/11 36 73 77 E-Mail: [email protected] Homepage: www.sozialgeschichte-medizin.org/ RADIODOKTOR – MEDIZIN UND GESUNDHEIT 24