WIRTSCHAFT 25 Donnerstag, 13. Dezember 2018 Was den Rahmenvertrag vom EWR unterscheidet Zwei Modelle für die Beteiligung am EU-Binnenmarkt im Vergleich anrufen, an dessen Auslegung es dann gebunden ist. Mit dem EWR ist die EU zufrieden, mit den Beziehungen zur Schweiz nicht mehr. Deshalb will sie ein Rahmenabkommen. Wo liegen die Unterschiede zwischen diesem und dem EWR? Staatliche Beihilfen: Das EU-Verbot staatlicher Beihilfen (mit Ausnahmemöglichkeiten) ist Teil des EWR-Abkommens, seine Einhaltung wird von der ESA überwacht. Demgegenüber enthält der InstA-Entwurf nur Grundsätze zu den Beihilfen, die für allfällige künftige Marktzugangsabkommen anwendbar wären und darin konkretisiert würden. Im bestehenden Luftverkehrsabkommen sind sie bereits umgesetzt. RENÉ HÖLTSCHI Wäre der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) eine Alternative zum Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU? Oder ist er umgekehrt ein abschreckendes Beispiel? Seit der Bundesrat letzten Freitag den mit der EU ausgehandelten Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) veröffentlicht hat, stellen sich solche Fragen mit neuer Brisanz. Denn die Zahl der Optionen ist endlich. Weist die Schweiz das Rahmenabkommen zurück und wartet sie einfach ab, muss sie mit einer schleichenden Erosion des bilateralen Wegs rechnen. Will sie das nicht, kann sie im Sinne einer Flucht nach vorn die Integration vorantreiben mit einem Beitritt zum EWR (oder gar zur EU), oder sie kann sie zurückbauen auf ein umfassendes Freihandelsabkommen à la Kanada. Angebot der Wahl der EU Das 1994 in Kraft gesetzte EWR-Abkommen vereint die 28 EU-Mitglieder und die 3 Efta-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen in einem Binnenmarkt auf Basis des EU-Binnenmarktrechts. Die Schweiz hatte das Abkommen mitausgehandelt, doch lehnten Volk und Stände den EWR-Beitritt 1992 ab. Für die EU ist der EWR heute das Angebot der Wahl an Drittstaaten, die an einer wirtschaftlichen, nicht aber an einer politischen Integration interessiert sind. Eine sektorweise Beteiligung am Binnenmarkt, wie sie die Schweiz zur Begrenzung des wirtschaftlichen Schadens des EWR-Neins anstrebte und ihr die EU als vermeintliche Übergangslösung bis zum EU-Beitritt gewährte, will Brüssel nicht mehr, wie die Briten zu hören bekamen. Den Sonderfall Schweiz toleriert es zwar noch, doch will es ihn über das Rahmenabkommen zumindest konsolidieren. Doch was sind die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen, zwischen EWR und Rahmenabkommen? Anwendungsbereich: Der EWR er- möglicht den drei genannten Efta-Staaten die volle Teilnahme am Binnenmarkt, also am freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen, ohne dass sie sich an anderen Bereichen wie der Agrar-, Aussenhandels- oder Aussenpolitik beteiligen müssen. Von ganz wenigen Sonderfällen abgesehen (Einschränkungen der Nie- Finanzieller Beitrag: Das EWR-Ab- 1992 wurde eine EWR-Mitgliedschaft der Schweiz abgelehnt. Wäre sie heute eine Alternative zum Rahmenvertrag? derlassungsfreiheit durch Liechtenstein) müssen sie im Gegenzug sämtliche Binnenmarktregeln der EU übernehmen. Die Schweiz hingegen beteiligt sich über die bilateralen Verträge nur an ausgewählten Bereichen des Binnenmarkts. Fünf sektorale Verträge (Freizügigkeit, Luftverkehr, Landverkehr, technische Handelshemmnisse / MRA, Handel mit Agrarprodukten) würden dem InstA unterstehen, jede Erweiterung des Marktzugangs (z. B. auf Strom) müsste ausgehandelt werden. Dem Entwurf angehängt ist zudem eine gemeinsame Erklärung, wonach man Verhandlungen über eine «Modernisierung» des Freihandelsabkommens und des Vertrags über das öffentliche Beschaffungswesen aufnehmen will. In beiden Modellen stellt sich die Frage, wie neues EU-Binnenmarktrecht ins EWR-Recht bzw. Schweizer Recht übernommen wird. Nötig ist die Übernahme, damit für alle Marktteilnehmer dieselben Spielregeln gelten und keine neuen Handelshürden durch unterschiedliche Vorschriften entstehen. Dennoch sehen der EWRVertrag und der InstA-Entwurf keine automatische, sondern nur eine «dynamische» Übernahme von neuem EURecht vor. Jede Anpassung muss einzeln beschlossen werden. Eine Verweigerung Rechtsentwicklung: hat aber in beiden Modellen Folgen: Laut dem EWR-Vertrag kann letztlich der betreffende Teil des Abkommens ausgesetzt werden, laut dem InstA-Entwurf könnte die EU Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Beide Ansätze sind mit Souveränitätsverzicht verbunden: Die Efta-Staaten bzw. die Schweiz können bei der Entwicklung von neuem Binnenmarktrecht Anliegen einbringen (decision shaping), aber nicht mitentscheiden. Allerdings übernimmt die Schweiz bereits bis anhin laufend EU-Recht. Rechtsauslegung/Überwachung: Beide Ansätze beruhen auf einem ZweiPfeiler-Modell, bei dem jede Seite je selbständig für die korrekte Auslegung und Anwendung der Abkommen zuständig ist. Unterschiedlich geregelt ist die Überwachung.Während sich die Schweiz laut dem InstA-Entwurf gewissermassen selbst überwachen würde, hat das EWRAbkommen die supranationale EftaÜberwachungsbehörde (ESA) geschaffen. Sie wacht darüber, dass Island, Liechtenstein und Norwegen das EWRRecht einhalten – so wie die EU-Kommission Hüter des EU-Rechts gegenüber den EU-Mitgliedern ist. Kann das Problem nicht im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens gelöst werden, kann die ESA den Efta-Gerichtshof anrufen (auch dies eine Parallele zu den einschlä- STR / KEYSTONE gigen EU-Verfahren). Der Efta-Gerichtshof kann zudem von nationalen Gerichten aus Island, Liechtenstein und Norwegen um die Auslegung von EWRRecht ersucht werden (Vorabentscheidungen). Die drei Staaten stellen die Funktionäre und Richter der ESA und des Efta-Gerichtshofs. Streitbeilegung: Bei Konflikten zwi- schen den beiden Seiten (EU- contra Efta-Seite des EWR bzw. EU contra Schweiz) kommen in beiden Modellen gemeinsame bzw. gemischte Ausschüsse zum Einsatz, die mit Vertretern beider Seiten bestückt sind. Gelingt dort keine Lösung, können laut dem EWR-Vertrag beide Seiten gemeinsam beschliessen, den EU-Gerichtshof (EuGH) anzurufen, der verbindlich über die Auslegung des EWR-Rechts entscheidet. Es braucht hierzu aber das Einverständnis beider Seiten. Verweigert eine Seite die Anrufung, bleibt der EuGH unbeteiligt, und die Gegenseite kann Schutzmassnahmen ergreifen. Bisher kam es nie zum Ruf nach dem EuGH. Laut dem InstA-Entwurf hingegen könnte, falls der gemischte Ausschuss keine Lösung findet, jede Seite die Einsetzung eines paritätischen Schiedsgerichts verlangen. Wirft der Streit eine Frage der Auslegung oder Anwendung von EU-Recht auf, muss das Schiedsgericht den EuGH kommen sieht einen Finanzierungsmechanismus vor, über den Island, Liechtenstein und Norwegen finanzielle Beiträge an den Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte im Binnenmarkt leisten. Derzeit profitieren davon 16 EUStaaten (13 seit 2004 beigetretene Länder plus Griechenland, Portugal und Spanien). Auch der InstA-Entwurf unterstreicht in der Präambel und einer angehängten gemeinsamen Erklärung die Bedeutung des Abbaus solcher Ungleichgewichte und anerkennt den «autonomen» Beitrag der Schweiz («Kohäsionsmilliarde», die den 13 neuen EUStaaten zugutekommt). Auch wenn der «Eintrittspreis» für den Binnenmarkt damit weicher formuliert ist als im EWR, ist die politische Wirkung vergleichbar. Das EURecht über die Entsendung von Arbeitnehmern, die EU-Unionsbürgerrichtlinie und Weiterentwicklungen beider Erlasse wurden und werden ins EWRRecht übernommen. Beim Rahmenabkommen stehen die zwei Bereiche trotz Zugeständnissen der EU im Zentrum der Kritik. Bei einem EWR-Beitritt wäre es aber für die Schweiz mindestens so schwierig wie bei den InstA-Verhandlungen, hier Ausnahmen auszuhandeln. Personenfreizügigkeit: Was der Bundesrat meint In seiner Stellungnahme zu einer Interpellation von SP-Nationalrat Corrado Pardini hat der Bundesrat Mitte November festgehalten, die im Entwurf des Rahmenabkommens vorgesehenen institutionellen Lösungen seien «für die Schweiz vorteilhafter» als jene des EWRAbkommens. In der Tat wäre der Souveränitätsverzicht im EWR tendenziell grösser. So bietet er keinen massgeschneiderten sektoralen Zugang zum Binnenmarkt, und mit der ESA enthält er eine supranationale Überwachungsbehörde. Im Gegenzug erlaubt der EWR die volle Teilnahme am Binnenmarkt. Damit müssten zum Beispiel Finanzdienstleister nicht mehr vor willkürlichen EU-Entscheiden über die Gleichwertigkeit der Schweizer Regulierung zittern. Ein Schiedsgericht für die Schweizer Psychohygiene Rechtsexperten sehen nur begrenzte Spielräume für das geplante Schiedsgericht zur Streitschlichtung HANSUELI SCHÖCHLI «Fremde Richter» sind des Teufels. Das sagt nicht nur die politische Rechte in der Schweiz. Unter Führung von Gewerkschaftern wettert seit diesem Jahr im Zusammenhang mit dem vorgeschlagenen Rahmenvertrag Schweiz-EU auch die Linke gegen die fremden Richter, da der Europäische Gerichtshof angeblich die Freiheit des Arbeitsmarkts zu stark und den Schutz von nationalen Lohnniveaus zu schwach gewichtet. Das im Rahmenvertrag vorgesehene Schiedsgericht für Streitfälle überzeugt die Kritiker nicht. Denn das Schiedsgericht muss laut Vertragsentwurf eine bindende Meinung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einholen, wenn der Streitfall eine für die Beilegung relevante Frage zu Interpretation und Anwendung von EU-Recht aufwirft. Der vorgeschlagene Rahmenvertrag gälte für fünf bestehende Abkommen (Personen- freizügigkeit, Luftverkehr, Landverkehr, Landwirtschaft, technische Handelshemmnisse) sowie für allfällige künftige Marktzugangsabkommen. Schein oder Sein Bei den bestehenden Marktzugangsabkommen betrifft jeweils der grosse Teil EU-Recht. Das sagen diverse Rechtsexperten, und das räumt auch der Bund ein. Das schränkt das Schiedsgericht ein. Die Basler Europarechtsprofessorin Christa Tobler sieht dennoch gewisse Spielräume. Sie verweist als Parallele auf das EU-interne Vorabentscheidungsverfahren, bei dem nationale Gerichte in gewissen Fällen eine bindende Meinung des EuGH einholen müssen, in der Praxis aber noch Spielräume hätten. Giftige Kritik am Vertragsentwurf äusserte dagegen der langjährige EftaGerichtspräsident und heutige Berater Carl Baudenbacher. Er sprach in einem Blog-Beitrag auf «Inside Paradeplatz» von einem «Scheinschiedsgericht» und einem «EuGH im Tarnanzug», da man sich kaum Fälle vorstellen könne, in denen das Schiedsgericht ohne EuGH entscheiden könne. Mit weniger markigen Worten kommt der Freiburger Rechtsprofessor Benedikt Pirker zu einem ähnlichen Schluss. Das Schiedsgericht könnte nur sehr beschränkt argumentieren, dass es den EuGH nicht anrufen müsse, sagte Pirker am Mittwoch auf Anfrage. In seinem «European Law Blog» verwies er zudem auf einen haarigen Zusammenhang: Je mehr Spielraum für das Schiedsgericht man in den Vertrag hineininterpretierte, desto weniger wäre der Vertrag für den EuGH akzeptabel. Die EU habe aufgrund ihrer Verfassungsregeln an der bindenden Wirkung künftiger EuGH-Urteile festhalten müssen, betont der Europarechtler Thomas Burri auf der Webseite der Universität St. Gallen. Burri sieht im Vertragsentwurf dennoch ein «gutes Verhandlungsergebnis». Die Schweiz stehe jetzt vor einer binären Entscheidung: «Entweder akzeptiert sie dieses Rahmenabkommen, oder der bilaterale Weg ist zu Ende.» «Unparteiisches» Gericht Der EuGH muss für die Schweiz nicht des Teufels sein. Dies sagten Matthias Oesch und Gabriel Speck von der Universität Zürich 2017 in einem Fachaufsatz. Sie waren aufgrund von knapp zwanzig EuGH-Urteilen zu den bilateralen Abkommen Schweiz-EU zum Schluss gekommen, dass das Gericht «sachlich und unparteiisch» vorgehe. Zu den Knackpunkten gehört die Frage, inwieweit der EuGH im Regime des Rahmenvertrags künftig auch die Schweiz zur Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie zwingen würde. Im Vertragsentwurf ist diese Richtlinie nicht er- wähnt. Sie geht im Vergleich zum Freizügigkeitsabkommen in einigen Punkten weiter. Zu diesen zählen längere Aufenthaltsrechte und der leichtere Zugang zur Sozialhilfe für entlassene Arbeitslose, Sozialhilferechte für Nichterwerbstätige, der raschere Zugang zum Recht auf Daueraufenthalt und restriktivere Bedingungen für Ausschaffungen. Welche Elemente der EuGH für die Schweiz als Bestandteil der Personenfreizügigkeit verbindlich erklären würde, lässt sich laut Experten nicht schlüssig sagen. Immerhin hatte der EuGH 2011 im Zusammenhang mit dem Assoziierungsabkommen EU-Türkei die Ausschaffungsregeln der Unionsbürgerrichtlinie als nicht relevant für Wirtschaftsverträge betrachtet. Als möglich gilt, dass mit einer ähnlichen Logik die Schweiz auch die Zugangsregeln der Unionsbürgerrichtlinie zur Sozialhilfe nicht übernehmen müsste. Bei den Aufenthaltsrechten könnte es anders aussehen.