Learning play - Gesellschaft für Theaterpädagogik

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Florian Vaßen
Eine Frage der Haltung −
das Lehrstück Brechts und die Sprache Heiner Müllers
1. Brechts Lehrstück als Lernspiel
Als Bertolt Brecht 1929 zum ersten Mal den Titel "Lehrstück" verwendete und "Das
Badener Lehrstück" am 28.7.1929 im Rahmen der Baden-Badener Musikfestwochen
aufgeführt wurde, begann er mit einem neuen Theater-Typus zu arbeiten, der in einem
entscheidenden Punkt deutlich über seine Experimente mit dem epischen Theater
hinausging: Die Kommunikation von Bühne und Publikum, das Spielen für ein Publikum
als zentrale Kategorie des Theaters, wurde sekundär oder war sogar abgeschafft. "das
lehrstück lehrt dadurch“, wie Brecht formuliert, "daß es gespielt, nicht dadurch daß es
gesehen wird. prinzipiell ist für das lehrstück kein zuschauer nötig, jedoch kann er
natürlich verwertet werden."1 Brecht begann mit einer „Kette von Versuchen, die sich
zwar theatralischer Mittel bedienten, aber die eigentlichen Theater nicht benötigten,
[…]."2 Stattdessen initiiert er einen selbstreflexiven politisch-pädagogischen SpielProzess, der die Trennung von Theorie und Praxis aufzuheben versucht, indem die
"tätigen und betrachtenden" – so Brecht – nicht mehr voneinander getrennt sind.3
Diese als ästhetisch-pädagogisches Experiment am Ende der Weimarer Republik
entstandene politische Theater-Form wurde schon damals missverstanden und kritisiert.
Dementsprechend ist die Bezeichnung Lehrstück im allgemeinen Sprachverständnis
und sogar in der universitären Forschung lange Zeit als Stück mit einer Lehre,
politisches Zeitstück, Agitprop im Sinne von Indoktrination und Kunstfeindlichkeit
missverstanden worden. Allerdings stellt auch Brecht sich selbst die Frage, "ob nicht die
bezeichnung lehrstück eine sehr unglückliche" sei.4 Die englische Übersetzung
"learning-play"5, die Brecht höchst wahrscheinlich mitformuliert hat, drückt dagegen in
ihrer Betonung des Lernens gegenüber der Lehre und des Spielprozesses gegenüber
dem Stück viel stärker Brechts Intention aus. Das "Lern-Spiel", wie man analog zur
1Bertolt Brecht: Zur Theorie des Lehrstücks. In: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion,
Erfahrung, Hrsg. von Reiner Steinweg. Frankfurt 1976, S. 164; im Folgenden zitiert mit der Sigle TL und
Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
2Bertolt Brecht: [Das deutsche Drama vor Hitler]. In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und
Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u.a. Bd. 22.1. Berlin u.a.1993, S. 167; im Folgenden zitiert
mit der Sigle GBA, Band- und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
3Bertolt Brecht: Theorie der Pädagogien. In: Brechts Modell der Lehrstücke, S. 71.
4Bertolt Brecht: Mißverständnisse über das Lehrstück. In: Ebenda, S. 129.
5Bertolt Brecht: The German Drama: pre-Hitler. In: Ebenda, S. 150.
2
englischen Übersetzung formulieren kann, verweist jedenfalls auf den Aspekt des
selbsttätigen spielerischen Lernens, den die Bezeichnung "Lehrstück" allzu oft verdeckt
hat.
In Brechts Lehrstücken sollen nicht die Theaterfiguren, respektive die Schauspieler,
eine 'vorgefertigte' Lehre für das Publikum präsentieren, sondern die Spielenden selbst
sind die eigentlich Lernenden. Damit aber wird die sprachlich in einem Text fixierte
Lehre ersetzt durch äußere körperliche Haltungen und innere mentale Haltungen der
Spielenden, was zusammen zu veränderten Verhaltensweisen führen soll. Die
Spielenden bleiben zwar Individuen, aber zugleich sind sie eingebunden in einen
gemeinsamen Arbeitsprozess, in kollektive politische und ästhetische Erfahrungen.
Erst in den 60er Jahren wurde Brechts Modell des Lehrstück wiederentdeckt, seine
theoretischen Überlegungen wurden rekonstruiert und die Praxis in vielfältiger Art und
Weise, in Schule und Theater, Universität und Politischer Bildung vor allem mit
Jugendlichen und jungen Erwachsenen, erprobt. Die grundlegende Frage jedoch lautet,
wie kann heute − in einer gegenüber den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts völlig
veränderten Situation − mit Brechts Lehrstücken gearbeitet werden und was ist daran
heute noch politisch?
2. "Die Inseln der Unordnung" − Körper, Gewalt, Haltung
In dem Maße, in dem die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Industrieländern und
zugleich die globalen Strukturen immer komplexer und bedrohlicher werden, offenbart
sich auch eine zunehmende Hilflosigkeit gesellschaftspolitischer Modelle, insbesondere
eine Begrenztheit und Unzulänglichkeit aufklärerischer Konzepte. Auch der
‚aufklärerische’ Brecht des epischen Theaters wird ja als "folgenloser Klassiker"
verstanden, obwohl er in Theater und Literatur keineswegs folgenlos geblieben ist: Das
Theater des 20. Jahrhunderts und das Drama der ästhetischen Moderne sind jedenfalls
ohne Brecht nicht denkbar.
Heute entstehen allenthalben produktive "Inseln der Unordnung"6, die sich vor allem auf
die Bereiche des Körpers und der Kunst beziehen, allerdings ohne dass neue
Totalitätsansprüche entstehen.
Der bedrohte, versehrte, zerstückelte Körper7 und dessen symbolische Auslöschung im
Tod spielt in unterschiedlicher Weise in allen Lehrstücken eine zentrale Rolle. Die
6Heiner Müller: "Mich interessiert der Fall Althusser..." Gesprächsprotokoll. In: H.M.: Rotwelsch. Berlin
1982, S. 178; im Folgenden zitiert mit der Sigle FA und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
7Vgl. Rainer Nägele: Brechts Theater der Grausamkeit: Lehrstück und Stückwerke. In: Walter Hinderer
(Hrsg.): Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1984, S. 300-320; Florian Vaßen: Das Lachen
und der Schrei oder Herr Schmitt, die Clowns und die Puppe. In: Gerd Koch/Florian Vaßen (Hrsg.): Lach-
3
Akzeptanz der "kleinsten Größe", das "Einverständnis" mit dem Tod und die clowneske
Körperzerstückelung im "Badener Lehrstück vom Einverständnis" sind z.B. − neben
dem Tod des Knaben in "Der Jasager" und des jungen Genossen in "Die Maßnahme"
sowie der tödlichen Gewalt in den Fragmenten vom "Bösen Baal dem asozialen" und
vom "Fatzer" − radikale Ausdrucksformen dieser Körperlichkeit. Entsprechend der
Lehrstück-Konzeption findet diese Auseinandersetzung jedoch nicht primär auf der
Textebene statt. Vielmehr realisieren die Lehrstück-Spielenden diese destruktive
Körperintensität im Spielprozess selbst. In quasi rituellen Gegenentwürfen wird die reale
Zerstörung menschlicher Körperlichkeit, wie wir sie tagtäglich vor allem in den Medien
erleben, so zugespitzt, dass deren Negation aufscheint. Tendenziell gelingt es so den
'Körperpanzer' aufzubrechen.8 In Haltungen, d.h. in einer Art Körpergedächtnis, werden
vorbewusste Verhaltensweisen sichtbar, die im Bewusstsein scheinbar längst
überwunden sind. Dabei geht es aber weder um einen therapeutischen Prozess noch
um Ekstase oder Rausch, sondern Brechts Vorgehensweise bedeutet Konzentration auf
bestimmte Gesten und beinhaltet eine gewisse Strenge und Kontrolliertheit
Prägend für die Struktur der Lehrstück-Texte wie für die Lehrstück-Praxis9 ist die
Auseinandersetzung mit Gewalt als gesellschaftliche Gewaltförmigkeit ("Badener
Lehrstück"), als kollektive Gewaltform ("Der Jasager", "Die Maßnahme") und als
individuelle Gewalttätigkeit ("Der böse Baal der asoziale"). Im Lehrstück-Spiel können
internalisierte Gewaltformierungen ausagiert werden, Gewaltphantasien werden im
‚Schutz’ der Lehrstückfigur zugelassen, ja hervorgeholt. Hier wird also durchaus eine
Betonung der kathartischen Wirkung des Lehrstück-Spielens sichtbar, verstanden −
nicht als Furcht und Mitleid im Sinne des klassischen deutschen Dramas, sondern so
wie in der griechischen Tragödie − als lust- und schmerzvolle, durchaus auch
körperliche "Erleichterung von Schrecken und Schauder". 10 Exemplarisch wird z.B. ein
Spielversuch wie folgt beschrieben: "Im Mittelpunkt [...] stand das Thema Gewalt: Wie
verhalten wir uns in Situationen, in denen wir Gewalt ausüben (müssen), wie gehen wir
mit unseren Aggressionen um, welches Bewußtsein haben wir davon, wie wir auf
andere (unterdrückend) wirken, welche Haltungen nehmen wir ein in einer gewaltförmig
und Clownstheater. Die Vielfalt des Komischen in Musik, Literatur, Film und Schauspiel. Frankfurt a. M.
1991, S. 158-183.
8Vgl. z.B. Otto Clemens/Peter Rautenberg: Die Wiedergewinnung körperlich-sinnlicher Ausdrucksformen
als ein Element des Lehrstückspiels. In: Gerd Koch/Reiner Steinweg/Florian Vaßen (Hrsg.): Assoziales
Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis. Köln 1984, S. 14-23.
9Vgl. aber auch Florian Vaßen/Jörg Golke: Von der Freundlichkeit − Erfahrungen mit gewaltfreiem
Lehrstück-Spiel. In: Korrespondenzen 6 (1990), H. 7/8, S. 34-37.
10Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes. In: W.
Sch.: Antike und Gegenwart. Über die Tragödie. München 1965, S. 53.
4
organisierten Gesellschaft und ihren Institutionen?" 11 Brecht thematisiert zum einen den
Aspekt des gesellschaftlichen Widerstands, zum anderen das Erschrecken vor sich
selbst und vor anderen. Der Schrecken aber ist Ausgangspunkt für Irritation und
Neugierde, für Erkenntnis und Veränderung, der "Schrecken die erste Erscheinung des
Neuen"12, um eine Formulierung von Heiner Müller zu verwenden.
In dem Widerspruch von Asozialität und Moral, wie er in der Versuchsreihe der
Lehrstücke zum Ausdruck kommt, wird weiterhin eine der wichtigsten gesellschaftlichen
und ästhetischen Problemstellungen des 20. Jahrhunderts sichtbar: "der unversöhnliche
Antagonismus zwischen den Triebforderungen und den von der Zivilisation auferlegten
Einschränkungen", wie es im Kontext von Sigmund Freud heißt.13 Bei seinem Versuch,
diesen Widerspruch von individuellem Glücksstreben, Genuß und Sinnlichkeit einerseits
und gesellschaftlicher Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit andererseits in
seinen Lehrstück-Experimenten aufzulösen, ist es in einer "Materialschlacht Brecht
gegen Brecht"14, wie Heiner Müller es nennt, zu keiner Lösung gekommen. Gleichwohl
bieten die Lehrstücke Raum für Erfahrungen, Raum, um äußere und verinnerlichte
Asozialität und Sozietät als gesellschaftliche Muster an sich und anderen
wahrzunehmen, im Spiel zu untersuchen, sie als Haltung zu zeigen, öffentlich zu
machen und so zu lernen, damit umzugehen.
3. Gestische Sprache, ästhetische Erfahrung, artistisches Prinzip
Die bisher beschriebenen individuellen und gesellschaftlichen Lernprozesse vollziehen
sich in einer theatralen Form. Obwohl Brecht betont: "ästhetische maßstäbe für die
gestaltung von personen, die für die schaustücke gelten, sind beim lehrstück außer
funktion gesetzt", handelt es sich beim Lehrstück um einen ästhetischen Theatertypus,
dessen artistisches Prinzip und poetische Struktur, d.h. der Kunst-Aspekt, ihn deutlich
von Rollenspiel oder vom Psychodrama unterscheidet. So verdeutlicht Brecht auch: "für
die spielweise gelten anweisungen des epischen theaters. das studium des V-effekts ist
unerläßlich." – Verfremdung aber ist sowohl ein erkenntnistheoretischer als auch ein
ästhetischer Prozess. Schließlich formuliert Brecht: "die form der lehrstücke ist streng,
jedoch nur, damit teile eigener erfindung und aktueller art desto leichter eingefügt
11Ingo Scheller: Arbeit an asozialen Haltungen und Lehrstückpraxis mit Lehrern und Studenten. In: Gerd
Koch u.a. (Hrsg.): Assoziales Theater, S. 63.
12Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über
Postmodernismus in New York. In: H.M.: Rotwelsch, S. 94.
13Editorische Notiz zu Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: S.F.: Studienausgabe, Bd. 9.
Frankfurt a. M. 1974, S. 193.
14Heiner Müller: Fatzer +- Keuner. In: Heiner Müller Material. Hrsg. von Frank Hörnigk. Leipzig 1990, S.
36; im Folgenden zitiert mit der Sigle HM und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
5
werden können." (TL 164) Und dabei geht es ihm um "die durchführung bestimmter
handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden" als
"Nachahmung hochqualifizierter Muster" (TL 164).
Diese "reden" des Lehrstücks hat Brecht in oft reimlosen Versen mit unregelmäßigen
Rhythmen und in gestischer Sprache gefertigt, d.h. es ist eine gesprochene und doch
zugleich eine poetisch geformte Sprache. Gestisch bedeutet, so Brecht: "Die Sprache
sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen." (GBA 22.1, 359f) Daneben
spielen ästhetische Verfahren wie die Ambiguität der Figuren, die Kontraste und
Widersprüche in der Konstruktion der Szenen, die Montage von Chören und
Kommentaren eine zentrale Rolle im Sinne einer "höchste(n) künstlerische(n)
Strenge".15
Aber auch die Haltungen der Spielenden sind in ihrer Formung und Ausdruckskraft
ästhetisch bestimmt; sie verweisen auf den Alltag der Spielenden und sind doch
zugleich aus ihm herausgelöst, werden zu lebenden Körperbildern, die in ihrer
Stilisierung zitierbar und damit auch wiederholbar sind. Weiterhin besteht in der
Versuchsreihe der Lehrstücke eine produktive Spannung zwischen dem organisierten
Experimentieren und dem freien Variieren bzw. Improvisieren der Spielenden; Brecht
spricht in einem etwas anderen Kontext von der " Einheit von Freiheit des Einzelnen
und Diszipliniertheit des Gesamtkörpers", vom "Improvisieren mit festem Ziel"16. Aus
diesen verschiedenen ästhetischen Konstituenten resultiert schließlich, dass auch die
Wahrnehmung der Beobachter im Spielprozess eine ästhetische Orientierung erhält. 17
Die Lehrstück-Praxis konzentriert sich auf ästhetische Erfahrungen, gewonnen im
theatralen Umgang mit literarischen Texten, Erfahrungen, die ihre politische Qualität in
dem Widerstand gegen die "Deformationen des Alltags" besitzen. Angelegt ist diese
Arbeitsweise auf eine ästhetische Sensibilisierung, aus der sich neue
Wahrnehmungsmöglichkeiten und Produktionsformen gegen Verdinglichung und
Instrumentalisierung entwickeln können.
4. Kunst für Produzenten
15Susanne Winnecker: "Wer immer es ist, den ihr sucht, ich bin es nicht". Gedankensplitter zur
Dramaturgie der Abwesenheit in Bertolt Brechts Lehrstück "Die Maßnahme". In: Korrespondenzen 10
(1994), H. 19/20/21, S. 71; vgl. auch Dies.: „Wer immer es ist, den ihr hier sucht, ich bin es nicht“. Zur
Dramaturgie der Abwesenheit in Bertolt Brechts Lehrstück "Die Maßnahme". Frankfurt a. M. u.a. 1997.
16 Bertolt Brecht, Slatan Dudow, Hanns Eisler: Anmerkungen zur "Maßnahme" In: Brechts Modell der
Lehrstücke, S. 111.
17 Vgl. hierzu auch Reiner Steinweg: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die
theaterpädagogische Praxis. Frankfurt a. M. 1995, S. 93-104.
6
Mit der Akzentuierung von Körper und Kunst ist nicht beabsichtigt die politische
Komponente der Lehrstücke zu negieren, im Gegenteil: Ich stelle die These auf, dass
sich durch die theatrale Orientierung ein politisches Handlungsmodell ergibt und dass
die politische Dimension sich in Körper und Kunst vervielfältigt. Walter Benjamin,
Freund und theoretischer Begleiter Brechts, hat schon sehr früh darauf hingewiesen,
dass die "pädagogische Wirkung [...] zuerst" komme, "ihre politische dann und ihre
poetische ganz zuletzt."18
Lehrstück-Spielen im Sinne von "Selbstverständigung" als politisch-pädagogischem und
zugleich sinnlich-genussvollem Prozeß, d.h. im Sinne einer "kollektiven Kunstübung"
basiert
auf
Handlungsorientiertheit,
Haltungszentrierung
und
ästhetischer
Sprachkonzentration. Indem die Spielenden selber agieren und spielen, sich selbst und
andere beobachten sowie darüber reflektieren, bietet Lehrstück-Spielen immer wieder
die Möglichkeit, sich neuen Erfahrungen auszusetzen. Lehrstücke sind Experimente mit
gesellschaftlichem Verhalten, mit Haltungen wie Zweifel, Staunen, Querdenken, mit
Körperlichkeit, Emotionalität und ästhetischer Erfahrung. Lehrstücke sind Texte und
Modelle, Verfahren und Spiele, sind "Kunst für den Produzenten" (GBA 22.1, 167).
Brecht wollte mit seinem Modell des Lehrstücks, dass die Spielenden "praktische
Kenntnis − von dem [...], was Dialektik ist"19 erhalten. Viele Widersprüche scheinen
heute allerdings unauflösbar und damit eher Paradoxa oder Aporien. Immerhin können
die Lehrstück-Spielenden durch "die nachahmung hochqualifizierter muster", durch
Rollentausch oder Kritik an diesen Mustern "durch überlegtes andersspielen" (TL 164),
wie Brecht selbst schreibt, die verschiedenen Perspektiven bzw. die Prozessualität einer
Situation erfahren und erproben. Vielleicht hat Heiner Müller Recht, wenn er pointiert
formuliert: Die gesellschaftliche Realität und damit auch Brechts Lehrstücke sind
offensichtlich "mit den klassischen marxistischen Kategorien nicht" mehr hinreichend zu
erfassen, denn sie "schneiden ins Fleisch". (HM 134) Schon bei Brecht war die
Lehrstück-Konzeption kein geschlossenes System, sondern befand sich in ständiger
Entwicklung. Diese Tendenz hat sich verstärkt, die Praxis ist bunt, vielfältig und
widersprüchlich. Es gibt "Vermischungen" mit Texten anderer Autoren, z.B. Alexander
Kluge20, und wichtige kritische Weiterentwicklungen des Lehrstücks mit und bei Heiner
Müller.
18Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. 1981, S. 10.
19Brecht referiert nach Pierre Abraham. In: Brechts Modell der Lehrstücke, S. 198.
20Siehe Alke Bauer: "Wer hat Angst vor Manfred Schmidt". Versuche über widerständige TheaterSpielereien. In: Bernd Ruping/Florian Vaßen/Gerd Koch (Hrsg.): Widerwort und Widerspiel. Theater
zwischen Eigensinn und Anpassung. Situationen, Proben, Erfahrungen. Lingen/Hannover 1991, S. 273281.
7
5. Heiner Müller – Brechts kritischer 'Schüler'
"Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat." (HM 134), formuliert Heiner
Müller als 'getreuer' Schüler herausfordernd sein Verhältnis zu Brecht. Treu insofern, als
er Brecht ernst nimmt und seine Materialtheorie auf ihn selbst anwendet. Die Betonung
der
Prozesshaftigkeit,
das
Eingreifen
und
Verändern,
die
weitertreibenden
Widersprüche – bezogen auf Brecht selbst – führen folglich dazu, dass Brecht für
Heiner Müller neben Shakespeare, Büchner, Kafka, Artaud, Beckett u.a. ebenso zu
Material wird, wie seinerzeit viele Schriftsteller für Brecht. Nie war Müller ein
'gehorsamer' Schüler, und seine Arbeit im Sinne von Brechts Konzept der produktiven
Widersprüche gebar im Laufe der Jahre radikale Widersprüche zu Brecht bis zur
Suspendierung aufklärerischer Hoffnung.
Wie Brecht21 plädiert Heiner Müller für ein Theater der Experimente, trägt er den
"Kampf des Alten mit dem Neuen"22 in den Zuschauerraum, sucht er den "KoFabulierer", der sich den negativen Helden weiterdenkt. Unterschiede bestehen jedoch
von Anfang an in dem Bezugspunkt der beiden Stückeschreiber – Brecht intendiert mit
vielen seiner literarischen Texte die Kritik und Abschaffung des Kapitalismus, Müller
darüber hinaus vor allem die Weiterentwicklung des Sozialismus und später dessen
Kritik bzw. Infragestellung.
Der Faschismus stellt allerdings für beide Autoren eine traumatische Erfahrung dar, bei
Müller als Schock in seiner Kindheit, in den Texten noch sichtbar,23 bei dem 35jährigen
Brecht in den Stücken zumeist 'gebändigt' als "Emigration in die Klassizität", als "die
Allgemeinheit der Parabel" (HM 134), wie Müller kritisch anmerkt. Verdeckt von den
weltberühmten epischen Theatertexten des Exils, deren 'Klassizität' in der Tat – Müllers
Verdikt bestätigend – immer wieder zum Problem einer folgenlosen Rezeption führt, lebt
21 Vgl. besonders Bertolt Brecht: Über die Situation des Theaters 1956; Ders.: Über politische
Programme. In: Brecht im Gespräch. Diskussionen, Dialoge, Interviews. Hrsg. von Werner Hecht.
Frankfurt a. M. 1974, S. 166ff. und 175ff.; vgl. auch den Text "Die Dialektik auf dem Theater". In: GBA
23, 386-402.
22 Bertolt Brecht: Konflikt (GBA 23, 304); vgl. Heiner Müller: Sieg des Realismus. In: Neue Deutsche
Literatur 1 (1953), H. 11, S. 163.
23 Heiner Müller: Der Vater. In: H.M.: Germania Tod in Berlin. Berlin 1977, S. 20-26; zu dem
autobiographischen Aspekt von Müllers Texten vgl. Frank Raddatz: Dämonen unterm roten Stern.
Stuttgart 1991 sowie die Biographie von Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel.
Eine Biographie. Berlin 2001.
8
der, wie Müller es nennt, "lebendige Teil" von Brechts Arbeit weiter. Er manifestiert sich
vor allem in den Lehrstücken, in der Baal-Figur und im Fatzer, dieser "Drehscheibe vom
Anarchisten zum Funktionär" als "Materialschlacht Brecht gegen Brecht" – so Müllers
Charakterisierung (HM 135). Fatzer hat nach Müller "die Authentizität des ersten Blicks
auf ein Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen." (HM 135)
Der Faschismus lässt sich weder für Brecht noch für Müller allein durch ökonomische
Veränderungen 'erledigen', für beide existiert nach dem Zweiten Weltkrieg die 'neue
deutsche Misere' als Ausdruck der nicht bearbeiteten alten. Brecht konstatiert, dass "die
Ablagerungen überwundener Epochen in den Seelen der Menschen noch lange liegen
bleiben.“ (GBA 24, 314), und zieht daraus die Schlussfolgerung: "Es ist ein großes
Unglück unserer Geschichte, daß wir den Aufbau des Neuen leisten müssen, ohne die
Niederreißung des Alten geleistet zu haben.“ (GBA 23, 138) Dazu Müllers
verständnisvoller Kommentar: "Brechts Theaterarbeit: ein heroischer Versuch, die Keller
auszuräumen, ohne die Statik der neuen Gebäude zu gefährden. " (HM 135)
Besonders interessiert Müller Brechts Verhältnis zu Sinnlichkeit und Subjektivität, das
auch in seinem 'lebendigen Teil', wie Müller hervorhebt, widersprüchlich bleibt. Gerade
im Exil, in "Hollywood, (dem) Weimar der deutschen antifaschistischen Emigration"
scheint, wie Müller betont, "die Sinnlichkeit [...] mehr Behauptung als Erfahrung"24. Müller
dagegen versucht die "Austreibung des Autors aus dem Text" zu verhindern: "Es geht
darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man schreibt.
Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche
ich keinen mehr."25 Literatur kann seiner Ansicht nach nicht mehr in die "Makrostruktur"
gesellschaftlicher Prozesse eingreifen. “Jetzt geht es in die Mikrostruktur." (NF 10) – eine
Forderung, der, so Müller, die "weitmaschig(e)" epische Dramaturgie des klassischen
Brecht nicht mehr genügen kann (HM 135), wohl aber die 'Versuchsreihe' der
Lehrstücke, die sozusagen mikrostruktuerell konstituiert ist, und hier besonders die
Lehrstück-Fragmente "Der böse Baal der asoziale" und "Fatzer", in denen Brecht
versucht die Asozialität für den politisch-pädagogischen Lernprozess im Kontext der
24 Heiner Müller: Glücksgott. In: H.M.: Theater-Arbeit. Berlin 1975, S. 7; im Folgenden zitiert mit der
Sigle GG und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
25 Heiner Müller: Notate zu Fatzer. Einige Überlegungen zu meiner Brecht-Bearbeitung. In: Die Zeit Nr.
12, vom 17.3.1978, S. 10; im Folgenden zitiert mit der Sigle NF und Seitenzahl in Klammern nach dem
Zitat.
9
Lehrstücke nutzbar zu machen. Wie im "Badener Lehrstück vom Einverständnis" wird
auch im "Bösen Baal dem asozialen" jegliches Mitleid und jede Hilfe verweigert. "das
schöne Tier das/Grausame" (GBA 10.1, 672), wie der "Rechte Chor" ihn nennt,
begegnet der "grausamen Wirklichkeit" "grausamer", denn "Hilfe und Gewalt geben ein
Ganzes/Und das Ganze muß verändert werden", wie es im "Badener Lehrstück heißt"
(GBA 3, 35f).
Im Gegensatz zu dem in vielen Bereichen 'aufklärerisch-rationalen' epischen Theater
stellen Brechts Lehrstücke den Identitätsglauben und den Individuationsprozess des
Subjekts durchaus in Frage und negieren die Tabuisierung des Todes, seine
Exkommunikation aus dem Leben, indem nach Art von Initiationsriten die Hauptfiguren,
wie z.B. der junge Genosse, der Flieger oder der Knabe, einen symbolischen Tod
sterben.
Wenn der Denkende den Sturm überwand, so überwand er ihn, weil er den
Sturm kannte und einverstanden war mit dem Sturm. Also, wenn ihr das
Sterben überwinden wollt, so überwindet ihr es, wenn ihr das Sterben kennt
und einverstanden seid mit dem Sterben. (GBA 3, 38),
heißt es im Kommentarteil des "Badener Lehrstücks vom Einverständnis". Das
"Einverständnis" mit dem Tod, diese Bewältigung des Schreckens und der
"Todesfurcht",
jene
gesellschaftlicher
"Nährmutter
Zustände"
der
(GBA
Religionen
21,
522),
[…]
als
Folge
bestimmter
kann
als
Überwindung
der
Desozialisierung des Todes und damit als Negation eines Lebens verstanden werden,
das den Tod als soziales und individuelles Phänomen verdrängt und dadurch zur
eigentlichen 'Kultur des Todes' wird. Und dennoch – Brechts Ambivalenz wird auch
hier deutlich: Nicht nur dass er später am Badener Lehrstück die Überbetonung des
Todesgedankens kritisiert, sondern letztlich beinhaltet diese Haltung doch ein
individuelles Opfer an Leben und Körper für das Allgemeine.
Wie
bei
Baal
kann
auch
bei
Fatzer
von
einem
ästhetischen
Entwurf
der
Selbstverwirklichung gesprochen werden, von Immoralität und Produktivität, die nicht nur
die
gesellschaftlichen
Verhältnisse
negieren,
sondern
auch
Rationalität
und
Nützlichkeitsdenken. Seine 'Lebenskunst' ist gewalttätig, bedrohlich und potentiell
tödlich. Krieg und Kampf, Freitod, Mord und Tod sind deshalb in diesem wie in den
anderen Lehrstücktexten allgegenwärtig, hier poetisch konzentriert in der Metapher des
Fleisches. Das "Furchtzentrum" (GBA 10.1, 428) des Textes, wie Brecht es selbst nennt,
10
ist aber nicht der Tod, sondern die Mikrostruktur des "Sexus" (GBA 10.1, 428). Brecht
spricht in einer Notizbucheintragung von 1930 sogar von einem "SEX-STÜCK" (GBA
10.1, 517) und durchbricht damit "das Tabu der Lust", „der innersten Verbundenheit von
Glück und Freiheit“.26 In den späteren Überarbeitungen wird diese Mikrostruktur von
Brecht allerdings mit einer makrostrukturellen, also gesellschaftlichen Moral konfrontiert:
der des Kommunismus – ein politischer Konflikt, der für Brecht ästhetisch unlösbar war.
Auch Brechts später Versuch, die Baal/Fatzer-Problematik wieder aufzugreifen und in
der Figur des Glücksgotts das unsterbliche Glücksverlangen der Menschen als
Ausgangspunkt für revolutionäre Gesellschaftsveränderungen zu verwenden, bleibt
unvollendet. Die Differenz von individuellem Glücksverlangen und gesellschaftlicher
Notwendigkeit als Basis kollektiven Glücks bleibt weiterhin unauflösbar, und Brecht
vermag diese Differenzerfahrung auch nicht auszuhalten, um sie so eventuell in der
"Mikrostruktur" des Textes produktiv zu machen.
6. Heiner Müllers ästhetische Utopie − ein "Dialog mit den Toten"
Brecht erkennt durchaus die Relevanz des Vergangenen, aber er historisiert vor allem,
um im Sinne eines Fortschrittsdenkens die Veränderbarkeit der Welt zu zeigen. Müller
dagegen konzentriert sich auf einen "Dialog mit den Toten" (GG 7), indem er sich
besonders
an
Walter
Benjamin
orientiert.
Dieser
will
entgegen
dem
Fortschrittsoptimismus von Arbeiterbewegung und Sozialismus – aber auch im
Gegensatz zu Marx – die Zeit still stellen27, um im "Eingedenken" als wirkliches
Geschichtsbewusstsein die leer laufende Zeit, die Kontinuität als eigentliche Erstarrung
aufzusprengen und die Katastrophe des stetigen Fortschritts zu verhindern, die sich aus
der verkürzten Gleichsetzung von fortschreitender Naturbeherrschung und Verbesserung
der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt. Benjamin wie Müller wollen die "destruktiven
Energien
des
historischen
Materialismus"
wieder
beleben,
den
"Pessimismus
26 Herbert Marcus: Zur Kritik des Hedonismus. In: H.M.: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt a. M. 1965, S.
158 und 154.
27 "Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich
anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts
nach der Notbremse. " Walter Benjamin: Ms 1100, Anmerkungen zu "Über den Begriff der Geschichte".
In W.B.: Gesammelte Schriften, Bd. 1.3. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser.
Frankfurt a. M. 1974, S. 1232.
11
organisieren",
wie
es
Benjamin
von
den
Surrealisten
beschreibt. 28
Da
"der
'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist", ist "die Herbeiführung des
wirklichen Ausnahmezustandes" notwendig. "Daß es 'so weiter' geht, ist die
Katastrophe.“29 Die Gefährdung der Erinnerung durch die Gegenwart, durch die
zweckrationale "Verwaltung" der Sieger, begründet in den Verdrängungsneigungen, wie
Freud es nennt, als Resultat der gesellschaftlichen Zwänge, kann nur in Form der
Diskontinuität, als "Tigersprung" (WB 701) begegnet werden. In der Rettung der
Vergangenheit, der Konzentration auf das uneingelöste Recht der Toten, deren Zukunft
die Gegenwart der Lebenden ist, deren vergebliches Hoffen in diesen weiterlebt, liegt
auch insofern die Chance der Gegenwart, als sich an den Versäumnissen der
Vergangenheit das Glück der Gegenwart orientiert. Nicht das „Ideal der befreiten Enkel",
sondern das "Bild der geknechteten Vorfahren" (WB 700) ist demnach Antrieb für
Veränderung.
Die Gegenwart aber tritt nicht mit einer beliebigen Vergangenheit in Verbindung,
sondern mit einer bestimmten früheren Epoche. An die Stelle leerer Chronologie tritt
der
Zusammenschluss
zeitlich
nicht
zusammengehöriger,
aber
kongruenter
Geschichtssituationen. "In einer materialistischen Untersuchung wird", so Benjamin,
"das epische Moment unausweichlich im Zuge der Konstruktion gesprengt werden. "30
Die Montage von aus der Kontinuität heraus gesprengten Bildern ersetzt auch für
Müller den narrativen Verlauf: "Ich selbst kann keine Geschichte mehr lesen, kann
auch keine Geschichte mehr erzählen und schreiben", (NF) das bedeutet die
Abwendung
von
der
traditionellen
Fabel,
das
Aufgreifen
von
neuen
Handlungsmomenten, bevor die vorhergehenden zu einem Abschluss gekommen sind,
das Einsetzen von Zeitraffer und Anachronismus – "Der Kessel von Stalingrad zitiert
Etzels Saal. "31
Für Müller verschwindet das Glücksverlangen der Menschen in der totalen Zerstörung
der Welt oder es wird zur Unkenntlichkeit entstellt durch den "Imperialismus der
28 Ebenda, S. 1240 und 1234; vgl. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der
europäischen Intelligenz. In: W.B.:, Bd. 2.1. Frankfurt a. M.1977, S. 309.
29 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: W.B.: Bd. I.2, S. 697; im Folgenden zitiert mit
der Sigle WB und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat; Ders.: Charles Baudelaire (WB. 683).
30 Walter Benjamin: Anmerkungen zu "Über den Begriff der Geschichte", S. 1240f.
31 Heiner Müller: Drei Punkte, in: Mauser. Berlin 1978, S. 72.
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Besetzung von Phantasie und der Abtötung von Phantasie durch die vorfabrizierten
Klischees und Standards der Medien." (FA 177) Wenn das Glücksverlangen nicht
mehr subversiv und antizipatorisch wirkt, sondern affirmativ und opportunistisch, bleibt
für Müller nur noch die Rückkehr in die Vergangenheit als Weiterschreiten, die
Erinnerungsarbeit als Suche nach Erfahrungen. "Literatur ist auf jedenfall so etwas wie
Gedächtnis",32 und so schreibt Müller gegen die "Zerstörung der Sinnlichkeit", jene
"schlimmste Verstümmelung" an, gegen die "Auslöschung von Gedächtnis, Erinnerung
und Erfahrung.“33 Es geht ihm darum, "die Wirklichkeit unmöglich zu machen",34 ihre
lebensbedrohliche Form zu zerstören.
Die den Gewaltzusammenhang durchbrechende Utopie, wird jedoch nicht im Text
explizit formuliert, sondern manifestiert sich im poetischen Experiment des Textes
selbst, der in seiner offenen, fragmentarischen, montierten, assoziativ-reflexiven
Struktur das drohende Schließen des Gewalt- und Zerstörungskreislaufs widerlegt, und
sie existiert im Experimentcharakter Lektüre", d.h. des Lesens und Sehens, des
Sprechens und Spielens des Textes. Müllers Texte sind trotz aller Komplexität nicht
hermetisch, sondern ein offenes Textangebot, das "Freiräume für Phantasie" eröffnet
und "die Lücke im Ablauf"35) sucht. Zu diesem Zweck dient auch Müllers Schreibweise:
Er raut den Text auf und vermeidet jegliche Harmonisierung und Glätte. So bevorzugt er
z.B. Shakespeares frühes Theaterstück "Titus Andronicus", weil es unfertig ist und er
damit intensiver arbeiten kann; deshalb wendet sich Müller auch gegen die sehr
schönen, aber oft romantisch harmonisierenden Übersetzungen von Shakespeare
durch Tieck und Schlegel und setzt an deren Stelle Sprachblöcke mit hart aneinander
stoßenden Wörtern und Sätzen. Müllers Sprache ist nicht "horizontal(e)", sondern eine
"vertikale", "mit Sätzen, die man wie Pflöcke in den Boden rammen könnte; […]."36
32 Fünf Minuten Schwarzfilm. Rainer Crone im Gespräch mit Heiner Müller. In: H.M.: Gesammelte
Irrtümer 2, Interviews und Gespräche. Frankfurt a. M. 1990, S. 148; im Folgenden zitiert mit der Sigle
SMS und Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
33 Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft, Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz. Fünfte Folge. In:
Transatlantik 1990, H. 4, S. 45.
34 Matthias Langhoff und Heiner Müller: Das Wiederfinden der Biographien nach dem Faschismus. In:
Explosion of a Memory Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch. Hrsg. von Wolfgang Storch. Berlin 1988, S.
171.
35 Heiner Müller: Bildbeschreibung. In: H.M.: Shakespeare Factory 1. Berlin 1985, S. 13.
36 Sebastian Kirsch: Die Stille hinter den Bildern. Der Regisseur Laurent Chétouane im Gespräch mit
Nicole Gronemeyer und Sebastian Kirsch. In: Theater der Zeit 63 (2008), H. 3, S. 23.
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Müller fordert vor allem die "Störung von Sehgewohnheit", wie er es nennt:" Heute
haben wir den Trend, über die Medien die absolute Aufhebung des Bilderverbots zu
vollziehen, eigentlich die Auslöschung der Welt durch die Abbildung der Welt. Die Welt
[...] − wird langsam ersetzt durch die Abbildung. [...] Und die Funktion von heutiger
Kunst wäre die [...], diesen Bilderfluß mit einer Störung der Sehgewohnheit zu
unterbrechen." (SMS 138f) Die "totale Besetzung mit Gegenwart" zwecks "Auslöschung
von Vergangenheit" und "Auslöschung von Zukunft" (SMS 148f) soll durch ein anderes
Sehen aufgebrochen werden, das Zeit und Raum schafft für die "Explosion einer
Erinnerung".37
Müllers weist im Zusammenhang mit Walter Benjamin darauf hin, dass "Sprache auch
als Beschwörung von Realität, nicht so sehr nur als Beschreibung" zu verstehen ist.
"Das ist sicher ein Hauptpunkt im Theater. Das Fernsehen hat keine Sprache, keine
verbale Sprache, es geht immer mehr auf eine nichtverbale Sprache, also nur noch
Mitteilung, kein Ausdruck mehr. Worte spielen sowieso keine Rolle, nur noch Sätze oder
größere Zusammenhänge, also Information. Dagegen muß Literatur Widerstand
aufbauen. "38 So betont Heiner Müller, Brecht verändernd und radikalisierend: "Das
utopische Moment liegt in der Form, auch in der Eleganz der Form, der Schönheit der
Form und nicht im Inhalt. Wobei die Form natürlich nur der letzte Widerschein der
Möglichkeit einer Überwindung sein kann. Sie ist ja nicht die Überwindung schlechthin,
sondern deutet nur an, daß Überwindung möglich ist."39
37 Vgl. "Die dritte Revolution hat die Schrift durch das Bild ersetzt. Der Bildschirm ist alles, was man sofort
vergißt, alles, was blendet und fasziniert, aber keine Spuren hinterläßt. Der Bildschirm transportiert das
Vergessen, er ist das industrielle Vergessen. [...] Alles verschwindet, wird ersetzt. [...] Die Technik frißt
alles auf. [...] Die Technik eliminiert die Wirklichkeit der gesamten Welt." Iris Radisch: Die Avantgarde des
Vergessens. Ein ZEIT-Gespräch mit dem französischen Philosophen Paul Virilio. In: Die Zeit vom
15.4.1994, S. 53f.
38 Jetzt sind eher die infernalischen Aspekte bei Benjamin wichtig. Gespräch mit Heiner Müller. In: Aber
ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin. Hrsg. von Michael Opitz/Ermut Wizisla.
Leipzig 1992, S. 356; vgl. auch Müllers Hinweis auf den Sinn des "Bilderverbots": "Ein Ergebnis von
Postmoderne ist: Vorwärts zum letzten Design. Die Welt wird ersetzbar durch Abbildung. Die Fotografie ist
das Ende der Welt, Fotografie wird ein Ersatz für Wirklichkeit." Ruth Berghaus und Heiner Müller im
Gespräch. In: Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche, Frankfurt a. M. 1990, S.
91.
39 Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden. Ein Gespräch mit Uwe Wittstock über
konstruktive Angst und das defätistische Gerde vom Untergang sowie über die Arbeit des Schriftstellers im
Atomzeitalter. In: Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt 1986, S. 180f.
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