Wilhelm Roscher und seine pietistischen Ursprünge Von Dipl.-Kfm. Tim Petersen Promotionsstudent an der Universität Hamburg, Department Wirtschaftswissenschaften, Institut für Wirtschaftssysteme, Wirtschafts- und Theoriegeschichte Kontakt: [email protected] 1. Vorbemerkung Die oftmals als „ökonomischer Imperialismus“ bezeichnete Diffusion der Ökonomie in andere Fächer hinein hat einen ambivalenten Charakter. Ebenso wie die Eroberung Persiens durch Alexander den Großen die Modifikation der griechischen Kultur durch Elemente persischer Kultur zur Folge hatte, bedeutet die Ausdehnung der ökonomischen Theorie auf andere Bereiche auch eine Änderung der Ökonomie selbst, wie sie in der neueren Institutionenökonomik zum Ausdruck kommt.1 So steht daher nunmehr auch der Themenbereich von „Religion und Ökonomie“ verstärkt zur Debatte. Neben den zahlreichen Ansätzen im Realbereich, also der Religionssoziologie im Weberschen Sinne2, gibt es auch auf der Metaebene von Theologie und ökonomischer Theorie neuere Forschungen. Diese sind jedoch von einer geringen Detailkenntnis der Theologiegeschichte geprägt.3 Dabei spielt die Theologiegeschichte auch in ihren Details eine gewichtige Rolle bei der ökonomischen Theoriebildung. Dieses zeigt das Beispiel Wilhelm Roscher (1817-1894). Seine ökonomische Theorie läßt sich auch durch seinen christlichen Glauben, hier insbesondere durch seine Verbindung zum Pietismus erklären. Durch letzteres kommt es zu einer interessanten Parallele zwischen ökonomischer und allgemeiner Ideengeschichte. Die Verwurzelung Roschers im Pietismus würde die in der allgemeinen Geistesgeschichte diskutierte These bestätigen, dass der deutsche Historismus seine Wurzeln im Pietismus hat. Makrohistorisch-theoretisch wird dieser Zusammenhang mit der Individualisierung und Subjektivierung des Glaubens 1 im Pietismus begründet.4 Diese Subjektivierung habe den Vgl. zur Genesis des neueren Institutionalismus: Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G.: Neue Institutionenökonomik, Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen 1999, S.2/3. 2 Vgl. z.B.: Kolm, Serge-Christophe: Must One Be Buddihst to Grow? An Analysis of the Cultural Basis of Japanese Productivity, in: Koslowski, Peter (Hrsg.): Economics and Philosophy, Tübingen 1985, S.221-242. 3 Vgl. z.B. Wagner, Richard E.: Ordo Liberalism and the Social Market Economy, in: Brennan, H. Geoffrey/ Warterman, A.M.C. (Hrsg:): Economics and Religion: Are They Distinct?, Boston/Dordrecht/ London 1994, S.121-138. Wagner geht nicht auf die interessanten Querverbindungen der Freiburger Schule zur Theologie ein. 4 Vgl. Meincke, Friedrich: Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens, in: Ders.: Werke Band IV, Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1959, S.341-357, hier: S.349-352. 3 Relativismus des Historismus möglich gemacht. Mikrohistorisch-praktisch wird als Indiz für die Richtigkeit dieser These der biographische Hintergrund des Theologen der Romantik, einem Vorläufer des Historismus, Schleiermacher (1768-1834) in der pietistischen Herrenhuter Brüdergemeine gesehen.5 Inwieweit diese Indizien der Verwurzelung des Historismus im Pietismus eine Bestätigung in der ökonomischen Theoriegeschichte finden, ist Aufgabe dieses Textes. Hierzu werden zunächst die Person Roschers und die Geistesbewegung des Pietismus vorgestellt. Dem folgt eine Darlegung der pietistischen Elemente im Leben und Denken Roschers. Abschließend soll gezeigt werden, wie sich die Elemente aus dem theologischen Denken in das ökonomische Denken Roschers transformieren. 2. Wilhelm Roscher Daß es sich bei Wilhelm Roscher um einen Ökonomen handelt, der, wie es typisch für den Historismus war, eng mit den unterschiedlichen Disziplinen der Geisteswissenschaften verbunden ist, macht bereits ein abrissartiger Überblick über sein Leben deutlich.6 Geboren am 25.10.1817 in Hannover erhält Roscher am Lyceum eine humanistische Bildung, die von ein christlichen Erziehung durch die Mutter und durch den Theologen Ludwig Adolf Petri ergänzt wird. Beide Pfeiler, humanistische Bildung und christliche Erziehung sollten sein weiteres Leben begleiten. Nach dem Abitur studiert Roscher von 1835-1840 historische und politische Wissenschaften in Göttingen bei Gervinus (1805-1871) und Dahlmann (1785-1860) und in Berlin, wo er u.a. bei Leopold von Ranke (17951860), der wohl prominentesten Gestalt der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, hört. Seine 1838 erschiene Dissertation „Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten“ enthält bereits als Apologetik der Sophisten gegenüber der sokratisch-platonischen Kritik den Kern seiner 5 Vg. Ebd., S.348. Vgl. zu Daten und Titeln: Baur, Leonhard/ Rauschenwandter, Hermann/ Zehnter, Cornelius: Roschers Vita, in: dies. (Hrsg.): Wilhelm Roscher: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten (1838), Marburg 2002, S.183-191. 6 4 späteren Methodologie.7 Ab 1842 ist er habilitierter Dozent in Göttingen. Seine Schwerpunkte liegen hier in den Bereichen antiker Geschichte (1842: Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides), aber auch der Staatswissenschaften, zu denen u.a. die Ökonomie zählt. 1843 entsteht aus der Beschäftigung mit der Ökonomie der „Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft. Nach geschichtlicher Methode.“ 1843 erfolgt die Ernennung zum Professor. Bis 1889 ist Roscher im regulären Lehrbetrieb tätig, der Lehre als solcher bleibt er sogar bis zu seinem Tode treu. Publizistische Ergebnisse der Vorlesungstätigkeit sind das fünf Bände umfassende System der Volkswirtschaft (1854-1894), dem Versuch einer Darstellung der Ökonomie „für Geschäftsmänner und Studierende“ nach der historischen Methode, aber durchaus noch auf Basis klassischer Lehren8, Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte (1861) und die Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland (1874). Mit diesen Werken wird er zum Begründer des ökonomischen Historismus und unumstrittenen Führungspersönlichkeit der „älteren historischen Schule“. Dieser noch relativ heterogene Zusammenschluß von Ökonomen vertritt die These, daß aufgrund der Zeit-Raum-Gebundenheit ökonomischer Theorie Aufgabe der Ökonomie das Aufzeigen von den historischen Entwicklungsgesetzen der Wirtschaft sei.9 Aus dieser „älteren historischen Schule“ entsteht die weitaus ausgebildetere „jüngere historische Schule“, die mit Gustav Schmoller (18381917) an der Spitze die ökonomische Theorie Reichsdeutschlands durch ihre Entwicklungstheorien und ihre zunehmenden Detailuntersuchungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestimmt.10 Publizistisch tritt Roscher nach seinem Tode 1894 noch einmal durch die von seinem Sohn Carl Roscher posthum herausgegebenen „Geistlichen Gedanken eines National-Ökonomen“ in Erscheinung. In dieser Schrift, die sowohl zuvor unveröffentlichte Aufzeichnungen Roschers wie z.B. persönliche Gebete, als 7 Vgl. Dies.: Wilhelm Roschers Dispositiv der Geschichte in der Spannung von Statistik, Romantik und Empirie, in: Ebd. S.133-182, hier: S.133. 8 Vgl. Winkel, Harald: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrundert, Darmstadt 1977, S.93. 9 Vgl. Rieter, Heinz: Historische Schulen, in: Issing, Otmar (Hrsg.): Geschichte der Nationalökonomie, München 4. Auflage 2002, S.131-168, hier: S.143. 10 Vgl. Ebd., S.145-154. 5 auch Zitate zu theologischen Fragestellungen aus seinen bereits veröffentlichten Werken enthält, wird die Intensität des geistlichen Lebens Roschers deutlich. 3. Pietismus und Neopietismus Der Pietismus als kirchen- und theologiegeschichtliche Erscheinung des beginnenden 18. Jahrhunderts erklärt sich aus Gründen, die der Kirchen- und Theologiegeschichte immanent sind, aber auch aus exogenen Faktoren. Diese sind geistes- und realgeschichtlicher Natur. In der Philosophie zeigt sich die zentrale Tendenz der Zeit, die der berühmte Karl Barth (1896-1968) als Absolutismus im Sinne einer Verabsolutierung des Menschen über den rein politischen Begriff des Absolutismus hinaus bezeichnet hat11, in der Entwicklung der großen rationalistischen Systeme. Hier ist zunächst der Cartesianismus zu nennen, dessen Namensgeber Rene Descartes (1596-1650) noch unter der Einbeziehung eines Gottesbegriffes dem menschlichen Verstand die Möglichkeit zuschreibt, ausgehend vom Ding an sich, die Welt zu erkennen.12 Diese Tendenz der Anthropozentrik und der Individualisierung wird auch in der deutschen Philosophie deutlich. Ihr „eigentliche(r) Begründer“13 Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) führte alle Erscheinungen der Welt auf die Existenz von Monaden zurück. Der religiöse Bezug blieb hier sogar noch stärker als bei Descartes bestehen, da Leibnitz für die Schöpfung und das Zusammenspiel der Monaden Gott verantwortlich sieht.14 Auf politischem Gebiet erklärt sich die deutsche Erscheinung des Pietismus durch die spezifische Situation Deutschlands in Europa. Die föderalistische Struktur Deutschlands führte mit und nach der Reformation zu einer 11 Vgl. Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Ihre Geschichte und ihre Vorgeschichte, Zürich 3. Auflage 1960, S.19. 12 Vgl. Störig, Hans-Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 13.Auflage 1987, S.313-318. 13 Ebd., S.332. 14 Vgl. Ebd., S.335-340. 6 konfessionellen Spaltung des Landes. Diese Spaltung mündet im dreißigjährigen Krieg. Dieser Krieg beginnt als Konfessionskrieg auf regionaler Ebene und zieht am Ende als europäischer Machtkrieg schlimme Folgen für Deutschland nach sich.15 Diese Situation und die Bedrohung des christlichen Europas durch die Expansion des osmanischen Reichs, die 1683 mit der Belagerung Wiens einen Höhepunkt fand16, sorgten für eine apokalyptische Grundstimmung, die für den radikalen Pietismus typisch ist. Neben diesen Zeichen des Niederganges sind aber auch die umgekehrten Signale- hier wird die Kennzeichnung der Zeit als absolutistisch wieder deutlich- erkennbar. Vor allen Dingen bisher relativ unbedeutende Territorien erleben nach Kriegsende einen Aufschwung. An der Spitze dieser Territorien, deren Aufschwung allerdings wiederum zum Zerfall des Reiches beiträgt, steht Preußen. In den Nachwirren um den dreißigjährigen Krieg mit seinen Auseinandersetzungen der verschiedenen Mächten und innenpolitisch auf Basis der von Hobbes begründeten und in Frankreich praktizierten absolutistischen Regierungsreform gelingt es dem als „großen Kurfürsten“ in die Geschichte eingehenden Friedrich Wilhelm I. (1620-1688) durch ein Pendeln zwischen den Mächten die Position Preußens auszubauen. Sein Sohn Friedrich III. (1657-1713) erntet die Früchte dieser Arbeit, indem er sich 1701 zu König Friedrich I. in Preußen krönt. Der Sohn Friedrichs, König Friedrich Wilhelm I. (1688-1740), der für die Verbindung zwischen Pietismus und Preußentum sorgen sollte, schafft mit seiner Sparsamkeit und der Militarisierung des Landes den Grund für den endgültigen Durchbruch Preußens zur Großmacht, den sein Sohn Friedrich II. (1712-1786), die Personifizierung des aufgeklärten Absolutisten, durchsetzen wird. 17 Niedergang und Aufstieg sind auch die zentralen Begriffe zur Beschreibung der ökonomischen Lage Deutschlands. Neben den immensen wirtschaftlich negativen Folgen des dreißigjährigen Krieges ist das 17. Jahrhundert in Deutschland von einer Geldentwertung geprägt. „Kipper“ und „Wipper“ sorgen, 15 Vgl. Kunze, Karl: Der große Krieg von 1618-1648, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 7: Dreißigjähriger Krieg und Absolutismus 1618-1740, Gütersloh 1983, S.13-71. 16 Vgl. Vocelka, Karl: Österreich und die Türken, in: Ebd., S. 254-266. 17 Vgl. Vocke, Roland: Der Aufstieg Preußens, in: Ebd., S.234-253. 7 teilweise dabei von den Territorialherren unterstützt, durch Reduzierung des Edelmetallgehalts in den Münzen für einen Verfall des Geldes.18 Demgegenüber steht eine vor allen Dingen in den großen Territorien Österreich und Preußen einsetzende Entwicklung im 18. Jahrhundert, die sich durch die wirtschaftstheoretische Situation erklären lässt. Der französische Absolutismus hat seine ökonomischen in der merkantilistischen Wirtschaftslehre, die die Notwendigkeit des Handelsbilanzüberschuß als ihren Kern postuliert. Diese erhält als Kameralismus Einzug in die deutsche ökonomische Theorie und wird in die praktische Politik durch Schaffung von Manufakturen und eine restriktive Zollpolitik umgesetzt.19 Die innertheologische Entwicklung zum Pietismus ist unter dem Hintergrund der Dogmatisierung der reformatorischen Theologie zu begreifen. Zwar bestanden pietistische Wurzeln bereits im englischen Puritanismus20, dem linken „schwärmerischen“ Flügel und der lutherischen Reformation21 selbst, jedoch entzündet sich der Pietismus im engeren Sinne erst in der Gegnerschaft zu den orthodoxen Richtungen der Konfessionen, hier vor allen Dingen zu der lutherischen Orthodoxie. Diese hatte anhand von Bibel und der lutherischen Bekenntnisschriften, die die lutherische Position zu anderen Richtungen abgrenzen sollten, so systematisiert, daß man in diesem Zusammenhang von der Existenz einer lutherischen Scholastik sprach. Diese führte aus pietistischer Sicht zu einer Verstockung des Glaubens und einer damit verbundenen zu geringen persönlichen Frömmigkeit, die sich im ethischen Niedergang der Zeit widerspiegle. Nachdem bereits zuvor in einer als „Reformorthodoxie“ bezeichneten Richtung innerhalb der lutherischen Orthodoxie auf eine stärkere Betonung der individuellen Frömmigkeit gedrungen hatte22, faßte der Theologe 18 Vgl. Stadtmüller, Winfried: Münzwesen und Preispolitik im 17. Jahrhundert, in: Ebd., S.140-152. Vgl. Dettelbacher, Werner: Handel und Gewerbe im 18. Jahrhundert, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 8: Aufklärung und das Ende des Deutschen Reiches, Gütersloh 1983, S. 182-194. 20 Vgl. Deppermann, Klaus: Der Englische Puritanismus, in: Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Band 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 11-55. 21 Vgl. Brecht, Martin: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ebd., S. 113-194, hier: S. 116-130. 22 Vgl. Ebd., S. 166-194. 19 8 Phillip Jakob Spener (1635-1705) das Unbehagen an der herrschenden Orthodoxie 1675 in dem Buch „Pia Disederia“ zusammen und wurde damit zum eigentlichen Begründer des Pietismus. Es handelt sich dabei weniger um eine theologisch-systematische Schrift als um eine Zeitanalyse. Spener kritisiert die moralischen Zustände in allen Ständen. Zur Änderung dieser Situation schlägt Spener eine verstärkte Bibellektüre, die Stärkung des allgemeinen Priestertums, die praktizierte Nächstenliebe, den Verzicht auf konfessionelle Polemik, und eine fromme, nicht rhetorisch ausgeprägte Predigt vor. 23 Auf Basis dieses Programms tritt der Pietismus, wenn auch durchaus sehr heterogen geprägt, seinen Siegeszug an. Als weitere wichtige Vertreter treten in den nächsten Jahrzehnten August Hermann Francke (1663-1727) und Nikolaus Graf Zinzendorf (1700-1760) hervor. Ersterer, in seiner jungen Predigerzeit durch ein Erweckungserlebnis erschüttert, begründet als Professor in Halle, das in seiner Zeit zu einem Zentrum pietistischer Theologie werden sollte, unter Unterstützung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. die Halleschen Stiftungen, mit denen er u.a. ganz im Sinne pietistischer Auffassung versucht, Waisenkinder zu christlichen Menschen zu erziehen. Zinzendorf erfährt seine Bedeutung dadurch, dass er die noch heute missionarisch wirkende Herrenhuter Brüder-Unität begründet.24 Inhaltlich lässt sich der Pietismus wie folgt zusammenfassen: 1) Erweckung Die lutherische Orthodoxie betonte die Rechtfertigung des Menschen durch göttliche Gnade. Dem stellt der Pietismus den Gedanken der Erweckung bzw. der Wiedergeburt gegenüber. Der Akt der Bekehrung rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Er führt nach Meinung einiger Pietisten zu einer Teilnahme an der göttlichen Natur.25 2) Subjektivierung des Glaubens 23 Vgl. Brecht, Martin: Phillip Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Ebd., S.279390, hier: S. 302-311. 24 Vgl. Müller, Heinz-Peter: Der Protestantismus im 18. Jahrhundert, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 8, a.a.O., S. 167-181, hier: S.167-172. 25 Vgl. Schmidt, M.: Pietismus, in: Galling, Kurt (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 5. Band P-Se, Tübingen 3. Auflage 1961, S.370-381, hier: S.370. 9 Die Betonung auf die Bekehrung des einzelnen führt zu einer individualisierten, subjektivistischen Glaubensbetrachtung. „Die Blickrichtung auf den Wiedergeborenen hatte zur Folge, daß der fromme Mensch in einzigartiger Weise auf sich selbst gestellt wurde.“26 3) Ethisierung des Glaubens Lag bei der Orthodoxie der Schwerpunkt auf der genauen Formulierung der Glaubensgrundsätze, der Dogmatik, so legt der Pietismus aus seinen Wiedergeburtsgedanken heraus einen Schwerpunkt auf die Ethik. Ethisch positives Verhalten soll als Glaubensfrucht die Bekehrung des Gläubigen deutlich machen. 4) Errichtung Reich Gottes Mit der ethischen Verwandlung des einzelnen soll eine Veränderung der Welt einhergehen. Sie soll durch das Wirken der bekehrten Christen zur „Stätte der Herrschaft Gottes gemacht werden („Reich Gottes“ ist ein Lieblingsbegriff).“27 5) Beseitigung der konfessionellen Schranken Wurde in der lutherischen Orthodoxie stark gegen andere Konfessionen (auch und vor allen Dingen gegen andere protestantische Konfessionen) polemisiert, so tritt der Pietismus zumindest in der Theorie für eine stärkere Betonung konfessioneller Gemeinsamkeiten ein. So gibt es vor allen Dingen im Halleschen Pietismus Bestrebungen nach der Errichtung einer allgemeinen Kirche aller Bekehrten.28 6) Biblizismus Theologiemethodisch bedeutet die Stärkung des Erweckungsbegriff gegenüber der Rechtfertigung eine Verschiebung von der systematischen Theologie zur Exegese hin. Der Lektüre der Bibel kommt von daher im Pietismus eine besondere Bedeutung zu. 7) Institutionalisierung in Hauskreisen 26 Ebd. Ebd., S.371. 28 Vgl. Brecht, Martin: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Band 1, a.a.O., S.439-539, hier: S.516. 27 10 Seine Institutionalisierung findet die neue persönlich gefärbte Frömmigkeit in Hauskreisen, den „collegia pietatis“, die mit Bibel- und Erbauungsschriftenlektüre neben dem sonntäglichen Hauptgottesdienst stattfinden sollten.29 Der geneigte Leser wird bemerkt haben, dass sich die Darstellung bisher einen Zeitraum beschränkte, der weit vor dem Leben Roschers liegt. Die Darstellung des Pietismus und seinen Hintergrundes erhält dadurch eine Bedeutung in diesem Kontext, dass es im 19. Jahrhundert zu einer Wiederkehr des Pietismus in Form der Erweckungsbewegung kommt. Geistesgeschichtlich lässt sich diese Wiederkehr auf die Ablösung des Rationalismus zurückführen. Höhepunkt und Überwindung der Aufklärung personifizieren sich in Immanuel Kant (17241804). In seiner kritischen Philosophie versucht er eine Synthese der beiden Zweige aufgeklärter Philosophie, des Rationalismus und des Empirismus. Das Ergebnis seiner Arbeit, daß der Mensch weder durch die Deduktionen von einem Ding an sich aus, noch durch bloße Anschauung, sondern durch die Kategorisierung der Erfahrung zu Erkenntnissen kommt30, begründet die Philosophie des deutschen Idealismus. Diese wird von Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), in dessen Philosophie mit dem Ich im Mittelpunkt ein radikaler Subjektivismus postuliert wird31, und von Friedrich Wilhelm Schelling (17751854), der mit seiner Identitätsphilosophie versucht, Mensch und Natur wieder zusammenzubringen32, fortgeführt. Beide beeinflussen die aufkommende Bewegung der Romantik mit ihrer Betonung von Subjekt und Natur stark. Seinen Abschluß und seine Überwindung findet die Philosophie des deutschen Idealismus in der Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831), der die Geschichte als einen sich durch Prozesse von These, Antithese und Synthese entfaltenden Entwicklungsgang deutet 33 und somit dem historischen Denken Auftrieb gibt. Die durch den Idealismus beeinflusste Richtung der Romantik hat ihrerseits Konsequenzen. Sie bestimmt die politische Entwicklung Deutschlands in der 29 Müller, Heinz-Peter, a.a.O., S.169. Vgl. Störig, Hans Joachim, a.a.O., S.398/399. 31 Vgl. Ebd., S.444. 32 Vgl. Ebd., S.450. 33 Vgl. Ebd., S.461-463. 30 11 ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich. Als das Heilige Römische Reich 1806 von Napoleon I. (1769-1821) zerschlagen wird und Deutschland weitgehend unter die Einflußsphäre Frankreichs gerät, sorgen Politiker insbesondere in Preußen, die vom liberalen und nationalen Akzent der Romantik beeinflusst sind, durch Reformen im Bereich der Gewerbefreiheit, der kommunalen Selbstverwaltung und der Einführung eines Freiwilligenheeres 34, dafür, daß in einer gewaltigen nationalen Euphorie 1813/1814 die napoleonische Vorherrschaft über Europa beendet wird. 35 Die konservative Dimension der Romantik kommt in der Zeit danach zum Tragen. Auf dem Wiener Kongreß 1814-1815 wird eine Nachkriegsordnung entwickelt, die überspitzt formuliert eine Restauration der vorrevolutionären Zustände herbeiführen will. Die Hoffnungen der national-liberalen Bewegung auf politische Mitbestimmung und eine Einigung Deutschlands werden enttäuscht. 36 Das politische Bürgertum zieht sich daraufhin enttäuscht bis in die Zeit um 1830 resigniert ins Private zurück.37 Auf dem Gebiet der Wirtschaft, in dem England mit seiner Industrialisierung die große Vorreiterrolle spielt, hat Deutschland, welches in jener Zeit nur in der lockeren Form des deutschen Bundes besteht, einiges aufzuholen. Die Wirtschaftsreformen in Preußen entfalten zunächst in den weiterhin agrarischen Strukturen noch keine Wirkung. Erst die ökonomische Integration Deutschlands über den Zollverein sorgt für einen ersten industriellen Schub.38 Von diesem romantischen Hintergrund ist auch die protestantische deutsche Theologie des beginnenden 19. Jahrhunderts betroffen. Pietismus und Aufklärung gingen zunächst gemeinsame Wege, was in der parallelen Tätig des Aufklärerphilosophen Christian Wolff (1678-1754) und August Hermann Franckes an der Universität Halle personifiziert wird. Die Individualisierung und 34 Vgl. Dietger, Reinhold: Untergang und Neugestaltung: Deutschland im Spannungsfeld von Revolution und Napoleon, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 8, a.a.O., S.288361, hier: 333-341. 35 Vgl. Ebd., S.353-361. 36 Vgl. Firnkes, Manfred: „Restauration” und “Vormärz“ Reaktionäre Fürstenmacht und liberale Bürgeropposition 1815-1848, in: Pelticha, Heinrich: Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 9: Von der Restauration bis zur Reichsgründung 1815-1871, Gütersloh 1983, S.17-77, hier: S.20-31. 37 Vgl. Dettelbacher, Werner: Die Zeit des Biedermeier, in: Ebd., S.78-91. 38 Vgl. Weismantel, Wolfgang: Anfänger der Industrialisierung und der sozialen Frage, in: Ebd., S.172200, hier: S.172-177, 185/186. 12 Ethisierung des Glaubens wird in der rationalistischen Glauben auf die Spitze getrieben. Wie so häufig in der Geschichte zieht dieses paradoxe Folgen nach sich. Die rationalistische Theologie, die versucht den Glauben der Vernunft anzupassen, führt zu neuen Dogmen. In dieser methodischen Hinsicht wird sie der von ihr bekämpften Orthodoxie immer ähnlicher.39 Ähnlich wie auf anderen Gebieten wird jedoch diese dogmatisch-rationalistische Periode auch in der Theologie im Zeitalter der Romantik überwunden. Dieses geschieht auf zwei Wegen. Hier ist auf der einen Seite Friedrich Schleiermacher zu nennen. Er subjektiviert den Glauben erneut. In das Zentrum seiner Theologie tritt das religiöse Gefühl des Menschen als Instrument der Beziehung zu Gott. 40 Ein anderer Weg der Abkehr vom Rationalismus ist die aus pietistischen Quellen gespeiste Erweckungsbewegung. Wenn auch eine theologische Definition der Erweckungsbewegung schwierig ist, da sie bis auf den Hallenser Theologen Friedrich Tholuck (1799-1877) in erster Linie eine Bewegung der kirchlichen Praxis war41, lassen sich jedoch folgende gemeinsame Merkmale der in sich durchaus nicht immer homogenen Erweckung ausmachen, die den Zusammenhang zwischen Pietismus und der als Neopietismus zu charakterisierenden Erweckungsbewegung verdeutlichen: 1) Ein endzeitliches Bewusstsein, 2) Die Abstellung auf Glaubenserfahrungen, 3) Die Ablehnung rationalistischer Bibelauslegung, 4) Die Institutionalisierung in Sozietäten.42 4. Pietistische Elemente im Leben und Denken Roschers Nachdem wir den Pietismus und Erweckungsbewegung vorgestellt haben, gilt es nunmehr aufzuzeigen, in welcher Beziehung diese Bewegungen zum Leben 39 Vgl. Barth, Karl, a.a.O., S.80-92. Vgl. Ebd., S.401. 41 Vgl. Ebd., S.459-468. 42 Vgl. Kück, Thomas Jan: Ludwig Adolf Petri (1803-1873), Kirchenpolitiker und Theologe, Göttingen 1997, S.128/129. 40 13 und Denken Roschers stehen. Dieses soll auf dreierlei Ebenen geschehen. Es sollen die biographischen Verbindungen aufgezeigt werden, als auch jene, die durch historische und theologische Urteile Roschers deutlich werden. Von seinem Sohn Carl43, als auch von Wilhelm Roscher selbst44 wurde der starke Einfluß seines Religionslehrers Ludwig Adolf Petri (1803-1873), der später ein bedeutender Kirchenpolitiker und Theologe in der Hannoverschen Landeskirche werden sollte, betont. Auf diesen Einfluß geht auch Gottfried Eisermann in einer Analyse der religiösen Hintergründe Roschers ein. Er erwähnt auch Roschers Verwurzelung im Pietismus, legt aber eine viel stärkere Betonung auf den konfessionell-lutherischen Hintergrund Roschers.45 Diese Schwerpunktlegung, die m.E. als ein Fehlurteil zu betrachten ist, mag auf die Betonung der Verbindung Petri-Roscher zurückzuführen sein. Petri galt in der Kirchengeschichtsschreibung lange Zeit als ein Vertreter einer Restaurierung lutherischen Konfessionalismus.46 Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass Petri in gewisser Weise in seiner Biographie die Theologiegeschichte von Orthodoxie über Pietismus bis Rationalismus im Krebsgang durchlaufen hat. Als Schüler der Göttinger Aufklärungstheologie steht er der Erweckungsbewegung als einem ihm irrational erscheinenden Phänomen gegenüber. Es setzt jedoch später ein Wandel ein: „Spätestens seit 1833 begrüßt er öffentlich die „Belebung und Wiedergeburt“ und sprach von der „Erweckung und Bildung des Glaubens, sowie von einer „Zeit der Auferstehung“. Diese terminologische Nähe zur Erweckungsbewegung baute Petri in den folgenden Jahren noch aus.“47 Interessanterweise handelt es sich bei der von Kück benannten Zeit, gerade um die Zeit, in der Petri dem Primaner Wilhelm Roscher die Religion lehrte. Diese anbrechende Entwicklung zur Erweckungsbewegung hin läßt erklären, wieso Roscher über seine Zeit bei Petri schreibt, daß hier bereits seine zukünftige Bedeutung erkennbar war, er jedoch noch „im Werden 43 Vgl. Roscher, Carl: Vorwort, in: Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines Nationalökonomen, München 2. Auflage 1896, S.I-XXIV, hier: S.VIII. 44 Vgl. Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines Nationalökonomen, a.a.O., S.81. 45 Vgl. Eisemann, Gottfried: Die Grundlagen des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Stuttgart 1956, S.120-124. 46 Vgl. Kück, Thomas Jan, a.a.O., S. 13-16. 47 Ebd., S.132/133. Kück schränkt dieses Urteil allerdings dahingehend ein, als dass es Petri vor allen Dingen um eine Integration der Erweckungsbewegung in eine konservativ ausgerichtete Landeskirche ging (Vgl. Ebd., S.133-135). 14 begriffen“48 sei. Daß Petri Roscher in Richtung Pietismus/Erweckung zog, wird jedoch nicht nur daran deutlich, dass Roscher Petri aus seiner Zeit der Annäherung zur Erweckungsbewegung kennt, sondern auch an dem von Eisermann hervorgehobenen Argument, dass sich Roscher in der Mission engagiert habe49, eine von Petri in seinen hannoverschen Einflußbereich später zwar in Richtung Konfessionalismus geführte50, von ihrem grundsätzlichen Herkommen her jedoch pietistische Institution. Weitere klare Zeichen auf einen pietistischen Hintergrund lassen sich aus den von Roscher in seinem dogmenhistorischen Werk gemachten Urteile, die weit über den Bereich des Ökonomischen hinausgehen, herleiten. Hier seien drei Beispiele genannt, die aufzeigen sollen, daß sich Geschichtsurteil Roschers und pietistisches Geschichtsbild sehr nahe stehen: 1) Martin Luther (1483-1546) Auch wenn der Pietismus gegen die lutherische Orthodoxie rebellierte, so sah er in Martin Luther eine Art Ahnherrn. Er wird nicht abgelehnt, sondern erhält eine neue Deutung: „Unter den vorbereitenden Gestalten, Kräften und Bewegungen steht der andauernde stille Einfluß Luthers durch eigene Lektüre obenan (...) Über die Lutherzitate hinaus versuchte der Pietismus, die Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade im Glauben – nun freilich als „Wiedergeburt“ d.h. sachlich anders- zum Erlebnis zu machen.“51 Das allgemein-historische Urteil Roschers über Luther ist entsprechend positiv. Es ist euphorisch zu nennen. Für Roscher ist er der „zugleich edelste, größte und deutscheste Mann, welchen unsere Geschichte kennt (...)“52 Roschers Lob für Luther, den er als Verkörperung aller guten deutschen Eigenschaften sieht, gilt vor allen Dingen dem Theologen Luther. Er bewundert das lutherische Postulat des Primats des an die Schrift gebundenen Gewissens.53 Nicht ganz so positiv fällt die Bewertung des 48 Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines Nationalökonomen, a.a.O., S. 81. Vgl. Eisermann, Gottfried, a.a.O., S.121. 50 Vgl. Kück, Thomas Jan, a.a.O., S.159. 51 Schmidt, M., a.a.O., S.374. 52 Roscher, Wilhelm: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, S. 54. 53 Vgl. Ebd., S.55. 49 15 Ökonomen Luthers aus. So kritisiert Roscher aus der Retrospektive z.B. die negative Haltung gegenüber dem Kapitalzins, die Luther mit dem kanonischen Recht gemeinsam habe.54 2) Kritik an der lutherischen Orthodoxie So sehr der Pietismus sich auf Luther als Vorläufer beruft, so sehr kritisiert er Luthers theologische Nachfolger, die in Form der lutherischen Orthodoxie Luthers Lehren systematisieren wollten. Wie wir bereits gesehen haben, formiert sich der Pietismus aus der Kritik an der lutherischen Orthodoxie, die als ein Verfallsprodukt lutherischer Theologie angesehen wird. „Denn Luthers Werk, die Reformation, sei halb und unvollendet geblieben, die Scholastik, die er durch die vordere Tür habe austreiben wollen, sei durch die Hintertür wieder eingetreten.“55 Roscher stimmt denselben Ton an. Darauf deutet schon die von Roscher in seiner Dogmengeschichte gewählte Kapitelüberschrift, in der von „Verfall der Refomationsblüthe“ spricht und die Unterkapitelschrift, in der die lutherisch-orthodoxen Theologen die wenig schmeichelhafte Titulierung „Epigonen der Reformation“56 erhalten. Konkret kritisiert Roscher an der lutherischen Orthodoxie, daß sie Luthers Theologie, die eine Mischung aus Mystizismus, Pietismus, Orthodoxie und Rationalismus darstelle, durch Betonung der beiden letzten Momente verzerrt habe.57 Folge dieser verzerrten Luther-Rezeption sei ein schnelle Verfall lutherischer Theologie, den er als „Herabsinken von der propheten- und apostelähnlichen Glorie Luthers zu einer fast byzantinischen Hoftheologie“58 kennzeichnet. In Sinne dieser harschen Kritik an der Orthodoxie und dem aus pietistischer Sicht mit der theologischen Entwicklung einhergehenden moralischen Verfall deutet Roscher daher den dreißigjährigen Krieg als ein „Strafgericht“59. 54 Vgl. Ebd., S.63-66. Hinrichs, Carl: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S.3. 56 Roscher, Wilhelm: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, a.a.O., S.120. 57 Vgl. Ebd., S.124. 58 Ebd., S. 124. 59 Ebd., S. 120. 55 16 3) König Friedrich Wilhelm I. Es ist bereits erwähnt worden, dass Friedrich Wilhelm I. für die Entwicklung des Pietismus eine besondere Rolle spielte. Das enge Verhältnis zwischen August Hermann Francke und Friedrich Wilhelm I., der Francke beim Aufbau seiner Stiftung unterstützt und sie damit für den preußischen Staat instrumentalisiert und ihn u.a. bei militärethischen Fragen konsultiert 60, führt dazu, daß dem Pietismus „Züge einer preußischen Staatsreligion verliehen“61 werden. Durch Roscher erfährt Friedrich Wilhelm I. ein positives Urteil. Dieses gilt für seine Person im allgemeinen und seine wirtschaftspolitische Tätigkeit insbesondere. Er knüpft an das Wort des preußischen Reformers Theodor v. Schön (1773-1856) an, dass Friedrich Wilhelm I. der „größte innere König Preußens“ gewesen sei.62 Noch euphorischer ist Roschers Urteil über die Rolle Friedrich Wilhelms I. in der Wirtschaftspolitik. Er setzt ihn mit dem großen Wirtschaftspolitiker des Merkantilismus gleich, wenn er schreibt:“... mit Colbert lässt sich Friedrich Wilhelm I. an staats- und volkswirtschaftlicher Bedeutung gar wohl vergleichen.“63 Neben den biographischen Verbindungen und dem pietistischen Geschichtsbild zeigen sich in Roschers Theologie und in seiner Glaubenspraxis eindeutig pietistische Elemente. Aus den vorhin genannten Merkmalen des Pietismus und der Erweckungsbewegung seien ausgewählt. 1) Hohe Bedeutung der Ethik Wie für den Pietismus, so hat auch Roscher der Bereich der Ethik eine hohe Bedeutung. Die Heilsgeschichte ist für ihn verbunden mit der Frage nach der Sittlichkeit. In der von ihm in drei Stufen unterschiedenen Offenbarungsgeschichte (vor-mosaisch, mosaisch und christlich-paulinisch) geht es seiner Meinung nach um die Entfaltung der Sittlichkeit des 60 Vgl. Hinrichs, Carl, a.a.O., S.174. Ebd., S.175. 62 Roscher, Wilhelm: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, a.a.O., S.360. 63 Ebd. 61 17 Menschen.64 Die hohe Bedeutung, die Roscher der Ethik beimisst, entfaltet sich jedoch nicht nur im Bereich des Theologischen. In seiner Dissertation, die die Sophistik ob ihres historischen Denkens insgesamt positiv darstellt, ist dieses der zentrale Kritikpunkt an den Sophisten. Er greift sie mit folgenden Worten an: „Weil die Sophisten ohne jede Heimatliebe, Gottesfurcht und Ehrfurcht vor den Menschen alles auf ihren eigenen Vorteil und ein bisschen Ruhm bezogen kam es, dass sie nahezu kein Gewissen für ihre Absichten und Taten besaßen.“65 2) Das Reich Gottes Der Begriff des Reich Gottes spielt, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur in Roschers Ökonomie, sondern auch in seiner politischen Theorie eine große Rolle. In der Einleitung seines Buches Politik, schließt er mit der Überlegung, daß das Reich Gottes die Idealmischung der Staatsformen Aristokratie, Demokratie und Monarchie sei.66 Damit erhält der Reich Gottes-Begriff wie im Pietismus so auch bei Roscher eine diesseitige Dimension. 3) Interkonfessionalität Auch in diesem Fall ist das Urteil Eisermanns über Roscher als lutherischer Protestant, der dem Katholizismus mit Unverständnis gegenübersteht67, zu kritisieren. Auch wenn Roscher gewisse Elemente katholischer Theologie wie die Marienverehrung als unbiblisch oder die Setzung des Traditionsprinzips neben dem Schriftprinzip als gefährlich ansieht68, so ist doch sein Denken weit von konfessioneller Polemik orthodoxer Prägung entfernt. Er ist ein Förderer „schwesterlicher Toleranz“ 69 im Umgang mit den Konfessionen. Auch nimmt er den Gedanken einer Integration 64 Vgl. Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eine National-Ökonomen, a.a.O., S.18. Roscher, Wilhelm: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten, a.a.O., S.110. 66 Vgl. Roscher, Wilhelm: Politik, Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Stuttgart/Berlin 3. Auflage 1908, S.17. 67 Vgl. Eisermann, Gottfried, a.a.O., S.122. Eisermann beruft sich auf eine katholische Schrift über Roscher, entlastet ihn mit einer Stelle aus den „geistlichen Gedanken“, fügt dem jedoch eine vermeintlich die anti-katholische Tendenz Roschers bestätigende Stelle hinzu. Bei dieser Stelle handelt es sich um den Bericht über einen lobend beschriebenen Ostergottesdienst in Rom. Die dieser Beschreibung folgenden Angriffe sind jedoch nicht gegen den Katholizismus, sondern gegen die rationalistische Theologie gerichtet (vgl. Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines National-Ökonomen, a.a.O., S.67/68). 68 Vgl. Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines National-Ökonomen, a.a.O., S.91-93. 69 Ebd., S.93. 65 18 katholischer Elemente zur Verbesserung protestantischer Theologie auf. Sein Motto lautet: „jeder Theil von denjenigen Eigenthümlichkeiten des anderen lernen, worin der letzte ihn überlegen ist, oder ihm doch gleichsteht.“70 4) Biblizismus Die Bibel spielt im religiösen Leben Roschers eine ganz zentrale Rolle. Sie steht seiner Meinung nach an „Größe, Tiefe, Erhabenheit, Lieblichkeit, überhaupt wahrer Schönheit und Poesie über den größten Meisterwerken aller anderen Literaturen“71. Folgerichtigerweise kritisiert er daher auch Pädagogen, die zu seiner Zeit das Auswendiglernen aus der Bibel in der Schule zurückfahren wollen.72 Diese enge Bindung an die Bibel findet ist auch aus Carl Roschers Äußerungen über die persönliche Frömmigkeit seines Vaters zu entnehmen. Sein Vater habe Wert darauf gelegt, dass Kinder und Enkelkinder Bibelsprüche auswendig lernen sollten.73 Er selbst habe die Lektüre von Werken geistlicher und weltlicher Prominenter kritisch anhand der Bibel reflektiert.74 Der pietistische Biblizismus Roschers spiegelt sich nicht nur in der Wertschätzung der Bibel, sondern auch in der Ablehnung der vom Rationalismus betriebenen historisch-kritischen Bibelkritik wieder. Er greift sie als unwissenschaftlich und befangen an.75 5) Hauskreis Über die Tätigkeit in einem Hauskreis von Wilhelm Roscher erfährt man bei Carl Roscher nichts. Sein Vater steht jedoch in der Weise in der Tradition pietistischer Hauskreise, als daß er im Familienkreise Bibellesungen betreibt76 und die amerikanische Praxis des Hausgottesdienst lobend erwähnt.77 70 Ebd., S.35. Ebd., S.13. 72 Vgl. Ebd., S.41. 73 Vgl. Roscher, Carl, a.a.O., S. XXIV/XXV. 74 Vgl. Ebd., S.XIX. 75 Vgl. Roscher, Wilhelm: Geistliche Gedanken eines National-Ökonomen, a.a.O., S.16/17. 76 Vgl. Roscher, Carl, a.a.O., S.XXII. 77 Vgl. Roscher, Wilhelm: Politik, a.a.O., S.387. 71 19 Biographische Verbindungen, historische Urteile, persönliche Theologie und Frömmigkeitspraxis haben damit den pietistischen Hintergrund Roschers deutlich gemacht. 5. Der Einfluß der theologischen Elemente auf die Ökonomie Roschers Für den Ökonomen stellt sich die Frage, inwieweit dieser pietistische Hintergrund Einfluß auf die ökonomische Theorie nimmt. Dass außerökonomische Faktoren Einfluß auf die ökonomische Theoriebildung haben, wird selbst von den Verfechtern einer ökonomieimmanenten Theoriegeschichtsschreibung nicht bestritten.78 Dass dieses auch auf den konkreten Fall zutrifft, soll anhand der ökonomischen Anthropologie Roschers, der Bedeutung des Ethischen in seiner Ökonomie und den Hintergründen seiner Sozialpolitik gezeigt werden. In der Auffassung, was den wirtschaftenden Mensch ausmache, weicht Roscher von der zeitgenössischen Vorstellung des Menschen als Nutzenmaximierer ab. Er sieht den Erwerbstrieb als ein durchaus legitimes Erhaltungsprinzip an. Neben dieses Erhaltungsprinzip stellt Roscher jedoch ein weiteres menschliches Grundprinzip, welches er wie folgt umschreibt: „... die Forderungen der Stimme Gottes in uns, des Gewissens: mögen wir sie nun mit bloßer philosophischer Zeichnung der Umrisse „Ideen der Billigkeit des Rechts, des Wohlwollens, der Vollkommenheit und der inneren Freiheit“ nennen, oder mit lebendiger Ausfüllung derselben „Trachten nach dem Reiche Gottes“.“ 79 Nicht nur die Introspektion („Stimme Gottes“) und das menschliche Mitwirken an der Entstehung des Reich Gottes deuten hier auf pietistische Wurzeln, sondern auch die dahinter stehende Vorstellung der Beziehung Mensch-Gott. Er glaubt 78 Vgl. Blaug, Mark: Economic Theory in Retrospect, Cambridge u.a. 4. Auflage 1985, S.5. Roscher, Wilhelm: System der Volkswirtschaft, Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Erster Band: Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart und Berlin 24. Auflage 1906, S.25. 79 20 zwar, dass vielen Menschen seine Rolle als Gottes Ebenbild verborgen, jedoch „bei keinem die Sehnsucht nach demselben spurlos verschwunden“80 sei. Hier erfährt, wie das auch im Pietismus der Fall ist, die pessimistische lutherische Anthropologie eine Wendung. Zwar steht die Sündhaftigkeit des Menschen weiterhin im Mittelpunkt, wird jedoch durch die Möglichkeit der Erweckung relativiert. Das Zusammenwirken zwischen beiden Prinzipien bildet Roscher Meinung nach die Grundlage für die Existenz von Gemeinwesen. „Wie im Weltgebäude die scheinbar entgegengesetzten Bestrebungen der sog. Zentrifugalkraft und Zentripedalkraft die Harmonien der Sphären bewirken, so im gesellschaftlichen Leben der Eigennutz und das Gewissen den Gemeinsinn.“81 Dieser Gemeinsinn wiederum ermöglicht in Roschers Augen die Existenz gesellschaftlicher Instituionen, die für den einzelnen nützlich seien und den wirtschaftlichen Austausch möglich gemacht haben, bei bloßer Existenz des Eigennutzens jedoch nicht entstanden seien.82 So sieht also Roscher in dem pietistischen Reich-Gottes-Prinzip, das er für ein grundsätzlich allen Menschen innewohnendes Prinzip hält, einen Kernpunkt für die Möglichkeit höherer wirtschaftlicher Entwicklung. Letzteres zeigt bereits an, daß Roscher seine pietistisch und somit stark ethisch geprägte Grundhaltung auf die Ökonomie anwendet. Ein hohes ethisches Niveau ist für ihn Voraussetzung einer progressiven wirtschaftlichen Entwicklung. Damit wird er zum Vorreiter dessen, was in der jüngeren historischen Schule unter dem Begriff der „sittlichen Kräfte“ zum Kern historistischer Wirtschaftstheorie werden wird.83 Die Bedeutung des Ethischen für die wirtschaftliche Entwicklung bei Roscher sei an folgenden Beispielen gezeigt: 80 Ebd. Ebd., S.26. 82 Vgl. Ebd. 83 Vgl. Rieter, Heinz, a.a.O., S.147. 81 21 1) Ethik als Voraussetzung für freie Konkurrenz Da Roscher der englischen Klassik in ihren politischen Auswirkungen durchaus nicht ablehnend gegenübersteht84, hält er auch die Institution der freien Konkurrenz für eine grundsätzlich positive Sache. So hebt er die in der freien Konkurrenz liegenden Möglichkeiten gesellschaftlichen Ausgleichs hervor.85 Jedoch könne sie als Ausdruck höchster menschlicher Freiheit, ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn die sittlichen Voraussetzungen vorhanden sind. Er schreibt: „Wie von jeder Freiheit, so gilt auch von der wirtschaftlichen, dass die Aufhebung des äußeren Zwanges nur da haltbar und gemeinnützlich sind, wo eine sittliche Selbstbeherrschung an die Stelle getreten.“86 Seien diese sittlichen Voraussetzungen nicht gegeben drohe ein Wettbewerb, der keine Steigerung der Leistung, sondern einen Sieg der Gewissenlosen nach sich zöge.87 2) Ethik als Voraussetzung für Lohnsteigerungen Wie die englischen Klassiker und die Sozialisten geht Roscher davon aus, dass es sich bei dem Arbeitslohn um einen Subsistenzlohn handelt. Aus der allgemeinen Theorie vom Preis als Kostenpreis leitet er für den Lohn als Preis der Arbeit ab, dass dieser die „notwendigen oder herkömmlich für notwendig geltenden Natur- und Anstaltsbedürfnisse nicht bloß der wirklichen Arbeiter sondern auch ihrer Familien, d.h. also des nachwachsenden Arbeitergeschlechts“88 decken müsse. Im Gegensatz zu den Sozialisten folgert er jedoch nicht, dass dieses für die Lohnarbeiter in einem marktwirtschaftlichen System bedeute, immer auf dem gleichen Lohnniveau Arbeiterschaft zu verharren. dadurch Dem ehernen entkommen- hier Lohngesetz tritt der könne die pietistische Erziehungsgedanke hervor- dass ihr eine gehobene Sittlichkeit den Drang nach höheren Bedürfnissen und eine verbesserte Vorschau in die Zukunft 84 Vgl. Ebd., S.142. Vgl. Roscher, Wilhelm: System der Volkswirtschaft, Band 1, a.a.O., S.271. 86 Ebd., S.270/271. 87 Vgl. Ebd., S.271. 88 Ebd., S.480. 85 22 verschaffe, was dazu führe, „daß die Arbeiter keine Familie gründen, als die sie nach Maßgabe ihrer neuen Bedürfnisse zu ernähren hoffen.“ 89 3) Die Ethik als Voraussetzung für einen positiven Luxusgebrauch mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergehende vermehrte Möglichkeit des Konsums hat für Roscher einen zwiespältigen Charakter. So hat der Luxus, als den er in relativer Definition zum Konsum des durchschnittlichen Verbrauchers den Verbrauch solcher Güter bezeichnet, „welche ihm [dem durchschnittlichen Verbraucher] überflüssig erscheinen.“90 Jedoch bedeutet das nicht, daß Roscher Luxus als überflüssig ansieht. Wird der erwirtschaftete Wohlstand sittlich gebunden verwendet, so sieht Roscher dieses als positiv an. Er hebt u.a. auf den Luxus einer verfeinerten Ernährung und der Hygiene ab.91 Bei unsittlichen Gebrauch könne Luxus jedoch einen negativen Charakter entfalten. Roscher denkt vor allen Dingen an den Luxusgebrauch in der frühen römischen Kaiserzeit mit ihren übersteigerten Mahlzeiten und Gladiatorenkämpfen.92 Die Frage nach den von Pietisten eingeforderten ethischen Verhalten ist für Roscher somit eine Zentralfrage für die Entwicklungsfähigkeit u.a. auf den Feldern der Wirtschaftsordnung, der Distribution und Konsumption. Einen direkten Zusammenhang zwischen Pietismus und Roschers Ökonomik gibt es auf dem Felde der Sozialpolitik. Mit den Franckeschen Stiftungen in Halle, die nicht nur Weisenhaus und Lehranstalt, sondern auch ein großes caritatives Unternehmen mit Buchhandlung und Apotheke93 war, beginnt eine neue Art der Sozialpolitik. Die dahinterstehenden arbeitsethischen Grundsätze hatte bereits Spener aufgestellt: „Bezeichnenderweise wendet er [Spener] sich gegen die bisherige unsystematische Karität des Almosengebens und stellt dagegen in seinen Vorschlägen (...) den Arbeitsbeschaffungsgedanken in den 89 Ebd., S.487. Ebd., S.687. 91 Vgl. Ebd., S.697. 92 Vgl. Ebd., S.706. 93 Vgl. Brecht, Martin: August Hermann Francke und der Hallesche Pietismus, a.a.O., S.483-490. 90 23 Mittelpunkt der Armenfürsorge. Nicht Almosen, sondern Arbeit soll gegeben werden.“94 Roscher nimmt diese Gedanken Speners und Franckes, den er namentlich in diesem Zusammenhang lobend erwähnt95, in seine sozialpolitischen Grundsätze auf. Der pietistischen Tradition entsprechend steht er der Sozialpolitik in Form eines bloßen Almosengebens sehr skeptisch gegenüber. Das gelte sowohl für Geld- als auch für Naturalleistungen. Bei Geldleistungen befürchtet er einen unwirtschaftlichen Umgang.96 Auch bei Almosen in Naturalien, die er für besser als Geld hält, sei ein Missbrauch durch Wiederverkauf nicht vermeidbar.97 Von daher seien Almosen lediglich subsidiär bei größter Not, die zuvor eingehend geprüft werden soll98, geboten. Ansonsten gelte: „so würde nicht bloß sittlich, sondern auch wirtschaftlich ein großer Schaden sein, wollte man das Almosengeben über das von der Menschlichkeit dringend Gebotene hinaustreiben.“99 Auch die Alternative der Pietisten zur reinen Verteilungspolitik in Form der Anleitung zur Arbeit wird von Roscher aufgenommen. Er schreibt: „Jedenfalls besteht der größte Dienst, der einen Armen geleistet werden kann, darin, dass man ihn anleitet sich selbst zu helfen.“100 Von daher sollte jede Unterstützung mit Arbeit, die am besten für das Armenhaus getätigt werden solle, verbunden sein.101 Hier ist zu sehen: Der Pietismus Roschers wirkt sich nicht nur mittelbar auf seine ökonomische Theorie aus, Roscher übernimmt vielmehr auch Ideen, die konkret und unmittelbar der Tradition pietistischen Gedankenguts entstammen. 94 Hinrichs, Carl, a.a.O., S.18. Vgl. Roscher, Wilhelm: System der Volkswirtschaft, Ein Handbuch für Geschäftsmänner und Studierende, Fünfter Band: System der Armenpflege und Armenpolitik, Stuttgart und Berlin 3. Auflage 1906, S.68. 96 Vgl. Ebd., S.72. 97 Vgl. Ebd., S.74/75. 98 Vgl. Ebd., S.50. 99 Ebd., S.47. 100 Ebd., S.71. 101 Vgl. Ebd., S.73. 95 24 6. Schlußbermerkung Wilhelm Roscher ist in sehr konkreter Weise von einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Richtung, der des Pietismus, beeinflusst worden. Diese Einflüsse hatten nicht nur Auswirkungen auf sein theologischen und theologiegeschichtlichen Positionen, sondern ganz konkret auf seine wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Auffassungen. Für den ökonomischen Theoriehistoriker ergeben sich damit folgende Schlussfolgerungen: 1. Auch wenn Ökonomie nicht mehr wie in Zeiten der Scholastik als ein bloßes Teilgebiet von Theologie und Philosophie anzusehen ist, so kann man doch nicht von einer totalen Emanzipation der Ökonomie sprechen. Von daher scheint der geistesgeschichtliche Ansatz in der Theoriegeschichte zur Erklärung der geistigen Wurzeln ökonomischer Theorie auch für die Zeit ab dem 18. Jahrhundert brauchbar zu sein. Für den speziellen Bereich des Theologischen gilt, dass hier die bisherigen Ansätze ausgebaut und auch nicht vor theologiegeschichtlichen Detailuntersuchungen zurückgeschreckt werden sollte. 2. Mit dem Nachweis der pietistischen Wurzeln bei Roscher wird ein Beitrag zu der Frage nach den pietistischen Wurzeln des Historismus im allgemeinen geleistet. Geschichtsmethodologisch stellt sich für mich daher der Schluß, daß man nicht in die Dualismen von Fachgeschichte-Universalgeschichte bzw. Makround Mikrohistorie verfallen, sondern vielmehr den anderen Bereich gewinnbringend für den eigenen Bereich nutzen sollte. Aus dem hier hergestellten Zusammenhang ergeben sich aber auch Folgen für die Institutionenökonomik. Hier ist das Thema der Religion in Form der „ökonomischen Analyse der Ökonomie“ präsent.102 Dabei unterscheidet diese 102 Vgl. Iannaccone, Laurence: Inrtroduction to the Economics of Religion, in: Journal of Economic Literature 36. Jhg. (1998), S.1465-1495; Eilinghoff, Christian: Ökonomische Analyse der Religion, 25 Forschungsrichtung scharf zwischen „ökonomischer Analyse der Religion“ und „religiöser Ökonomie“, die in den Ruch des ökonomisch Sektiererischen gerät.103 Dieses verwundert angesichts der Kontinuitätslinie der neuern Institutionenökonomik zu Historismus und älterem Institutionalismus, die verstärkt von einigen ihrer Exponenten hergestellt wird. 104 Die ökonomische Analyse sollte sich theologischen Wissen bei wie z.B. den Auswirkungen von theologischen Grundhaltungen auf Präferenzen.105 Allerdings sollte sie sich dabei, gerade auch wegen ihres Bekenntnis zum älteren Institutionalismus, vor den Gefahren des Historismus bewahren, der im Bestreben ganzheitliche Geschichtsphilosophie sein zu wollen, von seinem ökonomisch-theoretisch Niveau her, unterging.106 Theoriegeschichtlich rüsten sollte sich die „ökonomische Analyse“ auch in anderer Hinsicht. Sie behauptet, daß Religion erst in den siebziger Jahren unter dem Grundsatz ökonomischer Rationalität untersucht wurde.107 Dabei unterwarf bereits Walter Eucken (1891-1950), Haupt der Freiburger Schule, den opfernden Bauern bereits unter sein „wirtschaftliches Prinzip“.108 Eine Zusammenarbeit von ökonomischer Analyse der Religion, Theologie- und ökonomischer Theoriegeschichte kann von daher nur befruchtend sein. 7. Literatur Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Ihre Geschichte und ihre Vorgeschichte, Zürich 3. Auflage 1960. Baur, Leonhard/Rauschenwandter,Hermann/ Zehnter, Cornelius: Roschers Vita, in: dies. (Hrsg.): Wilhelm Roscher: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten (1838), Marburg 2002, S.183-191. Theoretische Konzepte und rechtspolitische Empfehlungen, Frankfurt a.M. 2004 (Diss, Universität Hamburg 2004); Brinitzer, Ron: Religion – eine institutionenökonomische Analyse, Würzburg 2003. 103 Vgl. Iannaccone, Laurence, a.a.O., S.1466. 104 Vgl. Richter, Rudolf/ Furbotn, Eirik, a.a.O., S.38-42. 105 Hier durchaus anhand der Weber-These positiv Beispiel gebend: Brinitzer, Ron, a.a.O., S.334. 106 Vgl. zum Niedergang des Historismus: Eucken, Walter: Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin/Heidelberg/New York 8. Auflage 1965, S.24-68. 107 Vgl. Eilinghoff, Christian, a.a.O., S.25; vgl., wenn auch eingeschränkt: Iannaccone, Laurence, a.a.O., S.1465. 108 Vgl. Eucken, Walter, a.a.O., S.211. 26 Dies.: Wilhelm Roschers Dispositiv der Geschichte in der Spannung von Statistik, Romantik und Empirie, in: Ebd., S.133-182. Blaug, Mark: Economic Theory in Retrospect, Cambridge u.a. 4. Auflage 1985 Brecht, Martin: August Hermann Francke und der Hallesche Pietismus, in Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Band 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S.439-539. Brecht, Martin: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Ebd., S. 113-194. Brecht, Martin: Phillip Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Ebd., S.279-390. Brinitzer, Ron: Religion – eine institutionenökonomische Analyse, Würzburg 2003. Dettelbacher, Werner: Die Zeit des Biedermeier, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 9: Von der Restauration bis zur Reichsgründung 1815-1871, Gütersloh 1983, S.78-91. Dettelbacher, Werner: Handel und Gewerbe im 18. Jahrhundert, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 8: Aufklärung und das Ende des Deutschen Reiches, Gütersloh 1983, S.182-194. Deppermann, Klaus: Der Englische Puritanismus, in: Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Band 1, a.a.O., Göttingen 1993. 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Auflage 1906. 28 Roscher, Wilhelm: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten, a.a.O. Schmidt, M.: Pietismus, in: Galling, Kurt (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 5. Band P-Se, Tübingen 3. Auflage 1961, S.370-381. Stadtmüller, Winfried: Münzwesen und Preispolitik im 17. Jahrhundert, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 7, a.a.O., S.140-152. Störig, Hans-Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 13.Auflage 1987. Vocelka, Karl: Österreich und die Türken, in: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 7, a.a.O., S.254-266. Vocke, Roland: Der Aufstieg Preußens, in: Ebd., S.234-253. Wagner, Richard E.: Ordo Liberalism and the Social Market Economy, in: Brennan, H. Geoffrey/ Warterman, A.M.C. (Hrsg:): Economics and Religion: Are They Distinct?, Boston/Dordrecht/ London 1994, S.121138. 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