Buchbesprechung „Mythos Alzheimer“ Peter J. Whitehouse, Daniel George Mythos Alzheimer Was Sie schon immer über Alzheimer wissen wollten, Ihnen aber nicht gesagt wurde Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern, 2009, 344 S., 29,90 €, ISBN 978-3-456-84690-3 In ihrem Buch „Mythos Alzheimer“ nähern sich die Autoren, Peter J. Whitehouse und Daniel George einem Phänomen unserer heutigen Zeit: Der Alzheimer Erkrankung. So beschreiben sie diese als Ergebnis unseres technischen Fortschritts, konstruiert durch die Vorstellungen der Machbarkeit und Erklärbarkeit durch vorhandene Wissensbestände. Es handele sich also um ein Konstrukt und nicht um eine Krankheit. In der Folge sei auch unser Umgang mit dem Mythos Alzheimer kritisch zu hinterfragen, denn eine Krankheit existiere nicht. Menschen seien immer schon gealtert, heute schlachte man dieses Phänomen jedoch aus und das komme Pharmaindustrie, Medizinbetrieb und der wissenschaftlichen Forschung zu Gute. Die Autoren nehmen einen solitären Standpunkt ein und unterstellen im weiteren Verlauf ihres Werkes den genannten Gruppen folgende Deutung der Alzheimerkrankheit: Alzheimer ist keine Krankheit, sondern eine fette Kuh, die es zu melken gilt. Dem forschenden Apparat gehe es nicht um die Menschen und die Heilung einer Krankheit (da es ja gar keine gebe), sondern ausschließlich um den zu erwirtschaftenden Profit. Zu Beginn des Buches bringt Whitehouse drei Grundpfeiler, auf denen er seine Überlegungen zum „Mythos Alzheimer“ aufbaut: 1. Die Alzheimer-Demenz ist eine singuläre Krankheit 2. Wenn man alt wird, „bekommt man Alzheimer“ 3. Die Alzheimerkrankheit kann geheilt werden, wenn wir nur weiter unsere öffentlichen und privaten Gelder investieren Es folgen kulturhistorische Betrachtungen des Phänomens Demenz vom Alzheimer Typ, die Impulse setzen und zum Denken anregen. Im weiteren Verlauf wird der Medizinbetrieb angeprangert und dem Leser das Bild einer geldverschlingenden Forschungsmaschinerie präsentiert. Der anschließende Appell zielt auf die Abkehr von einem medizinischen Hochleistungsbetrieb ab, der sehr teuer ist. Ein Umdenken sei gefordert. Die Hinwendung zu Verantwortungsübernahme jedes Einzelnen, zum Leben und Verarbeiten von individuellen Geschichten, die das Gehirn steuern. Hin, zum Ausbau einer funktionierenden Gemeinwohlarbeit und zur Integration Betroffener in die Gesellschaft. All das sind wichtige Beiträge für Akteure des Gesundheitswesens, erreichen jedoch den Adressaten nur dann, wenn er den Kampf durch die Verunglimpfungen über die forschende Zunft bis ins letzte Viertel des Buches geschafft hat. Und auch dann bleiben viele Fragen offen, was bestimmt von den Autoren gewollt ist! Auszüge der Einleitung der deutschsprachigen Herausgeber: Dr. Christoph Gerhard und Christian Müller Hergel Mythos Alzheimer erschien 2008 in den USA und wurde 2009 im Hans Huber Verlag in deutscher Sprache veröffentlicht. In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber den Wert des Buches, dessen zentrales Thema die Verbindung des derzeitigen Wissensstandes über die Alzheimer Erkrankung und die durch den Krankheitsbegriff „Alzheimer Demenz“ hervorgerufene Etikettierung Betroffener ist. Herausragend beurteilen sie die Analyseleistung der Autoren bezüglich einer Abgrenzung „normalen“ kognitiven Alterns und der Erkrankung Morbus Alzheimer, die Aufbereitung des Themas Medikamentierung und die Hinführung zur Ressourcenorientierung im Hinblick auf Betroffene. Sie betonen die „…Begegnung des Ich mit dem Du…“ (S.11), den offenen, einfühlsamen und auf die Person zentrierten Umgang (ebd.), auf den die Amerikaner abzielen. Weiterhin verweisen sie auf den provokanten Ansatz der Autoren, die die finanziellen Interessen am Alzheimer Mythos Beteiligter, aufzeigen. Das von den Erstautoren anvisierte Ziel, die „Dekonstruktion des Begriffs der Alzheimer – Demenz“ (S.13) mündet bei den Herausgebern in der „Demokratischen Idee von Demenz“. Gemeint ist damit ein Aushandlungsprozess zwischen Arzt und Betroffenem über ein neues, verändertes Leben, in das die gesundheitsrelevanten Veränderungen einfließen. Der Betroffene ist handelndes Subjekt. Das geschieht in Abgrenzung zu einer objektiven, rein sachlich ausgerichteten Diagnosestellung Alzheimer Demenz, bei der dem Patienten eine passive Rolle zukommt. In diesem Sinne gilt es, „Demenz auch in Kontexten zu verstehen, in denen alternde Personen die Vereinfachung, die Ruhe, das Abschied nehmen das sich-getrost-vergessen können suchen und Demenz zu dieser „Story“ hinzugehört; Heilung hat dann hier nichts zu suchen.“ (S.13) Die Herausgeber fragen danach, ob die Medizin diesen „geisteswissenschaftlichen Ausflügen“ (ebd.) folgen muss, verweisen vor diesem Hintergrund jedoch auf Whitehouse und Georges weitreichende Kritik an gängigen Berufsbildern im Gesundheitswesen und institutionellen Zusammenhängen, die fundamentalen Charakter hat und damit eine solche Frage legitimiert. Laut Herausgeberteam handelt es sich um ein Sachbuch, streckenweise eine Streitschrift, die dem amerikanischen Raum entstammt. Inhalt Das Werk beginnt mit einem historischen Bogen von den Anfängen des Alois Alzheimer über den Forschungsbeginn der Gegenwart, mit Beginn in den 80er Jahren. Whitehouse beschreibt einen Wissenschaftsbetrieb, in dem er selber sein Berufsleben lang mitmischte. Die Ergebnisse der bis heute ca. 30 Jahre lang dauernden Forschungsspanne bezeichnet er als unbefriedigend. Man habe sich der Ursache angenähert, bis heute sei aber weder der Zelluntergang ergründet, noch geklärt was zu deren Erhalt beitrage, und wie der Prozess der Alzheimer Erkrankung von dem Prozess natürlichen Alterns unterschieden werden könne. Schließlich bezweifelt der Autor dass es sich bei der Demenz vom Alzheimer Typ um einen pathologischen Prozess handelt. Alternativ stellt er die Frage, ob das Zellsterben im hohen Alter die Folge des normalen Alterungsprozesses sei, der in Abhängigkeit von Lebensereignissen und deren Verarbeitung stehe. Damit liegt die Verantwortung für die Symptomatik beim Betroffenen. Bisherige Befunde verurteilt Whitehouse mit dem Argument, dass es zu jeder These auch widerlegende Erkenntnisse gebe. In der Folge gelte es nicht, eine Krankheit zu besiegen, sondern mit dem Alterungsprozess fertig zu werden. Entsprechend verändere sich die Aufgabe für Fachleute. Ursachenforschung und medizinisch ausgerichtete Behandlungsansätze rücken in den Hintergrund und werden durch sozialtherapeutische und geisteswissenschaftliche Interventionen abgelöst. Das hört sich gut an, birgt jedoch die Gefahr der Überforderung für Betroffene, so wie für deren Angehörige. An einer Demenz zu erkranken stellt dann nicht nur eine neue Lebenssituation dar, sondern sie ist zwangsläufig verbunden mit Schuldfragen. Was hätte getan werden können, um vorzubeugen? Was lief falsch? Wie können sich Angehörige schützen? Diese Fragen stehen so oder so im Raum, sie quälen die Menschen ohnehin. Kenntnisse über neurologische Gesetzmäßigkeiten, wie die Retrogenese nach B. Reisberg bereiten hingegen vor. Es ist möglich, sich auf die Zukunft einzustellen. Das gibt Sicherheit. Auch eine Diagnose wirkt sich entlastend aus. Sie gibt Auskunft über das Geschehen und macht eine Situation einschätzbar. Und, wer mit welchem Lebensstil welche Krankheit ausbildet und warum, ist bisher nicht geklärt. Neurowissenschaftliche Erklärungsansätze zu ignorieren und alternativ ausschließlich auf Eigenverantwortung und gesellschaftliche Aktivierung zu setzen, ist deshalb fahrlässig und riskant. Benötigt wird die Integration vorhandenen Wissens. Das schließt die Unterstützung präventiver Ansätze und der Übernahme von Verantwortung ebenso ein, wie medizinische Erkenntnisse und Therapieansätze. Whitehouses Vorwurf an die Forschenden lautet zusammengefasst: „Die neurowissenschaftlich ausgerichtete, einem biologistischen Paradigma nacheifernde Zunft der Ärzte und Wissenschaftler ist der Pharmaindustrie hörig. Forschung findet als sportlicher Wettbewerb statt und zielt ausschließlich auf Ruhm und Geld ab.“ Berufliches Interesse an Medizin und Forschung werden hier abgesprochen. Weiterhin kritisiert er das kriegerische Vorgehen eines Medizinapparates, das eine Krankheit bekämpfe, die betroffenen Menschen aber vergisst. Er zeigt deren alltägliche Not auf und beschreibt die Notwendigkeit eines aufklärenden Arztgespräches, das die Möglichkeit der Aufklärung biete. Er wirbt für ein offenes Gespräch über den Verlauf einer Demenz vom Alzheimer Typ, über verbleibende Möglichkeiten und fokussiert den Erhalt größtmöglicher Lebensqualität. Dem ärztlichen Gespräch kommt große Bedeutung zu. Entscheidend ist die Haltung, mit der ein Arzt seinem Patienten begegnet. Sieht er einen mündigen Patienten oder ein passives Objekt vor sich? Schließlich appelliert der Autor an die Gesellschaft, Überlegungen anzustellen wie wir zukünftig mit unseren alternden Menschen umzugehen gedenken. Es müsse ein Umdenken einsetzen, weg von medizinischen Feldzügen gegen die Alzheimerkrankheit, hin zur Integration alter, hilfsbedürftiger Menschen. Irritierend ist hier die kontrastierende Trennschärfe. Wir müssen uns scheinbar entscheiden: Medizin oder Mensch? Mythos Alzheimer ist informativ und facettenreich. Als Zielgruppe werden sowohl Profis, als auch Betroffene und deren Angehörige genannt. Angesichts der kritischen Ausführungen zum Thema Alzheimer und Kriegsmetaphorik läuft dieses Buch Gefahr, Betroffene zu verunsichern. Diese Menschen befinden sich in einer Ausnahmesituation und benötigen Klarheit (die eine Diagnose verschafft) und Handlungssicherheit in dieser schwierigen Lebenssituation. Hier scheint es wenig hilfreich, diejenigen anzuprangern, die sich für adäquate Therapiemöglichkeiten engagieren. Überhaupt wirkt die von Whitehouse vorgebrachte Kritik am Medizinbetrieb resigniert. Laut eigener Aussage hat er sich Jahrzehnte der Forschung nach Ursache und Therapie der Alzheimer Demenz verschrieben und hatte, aufgrund der Komplexität der Erkrankung, keine nennenswerten Erfolge zu verzeichnen. Seine kompromisslose Vorgehensweise, in der der Wissenschaftsbetrieb als „geldverschlingendes Monstrum“ kritisiert wird, wirkt in so fern wie ein frustrierter Gegenschlag. Beeindruckend ist die Informationsdichte des Buches und das unablässige Eintreten des Autors, für seine Sicht der Dinge. Seine Argumentation ist schlüssig und nachvollziehbar. Whitehouse hat ein Anliegen und liefert mit seinem Werk eine gehaltvolle Plattform für einen angeregten Dialog. Fazit: Ein umfassendes Fachbuch, das informativ ist und sowohl die Geschichte der Alzheimer Erkrankung aufzeigt, als auch den gegenwärtigen Forschungsstand darstellt. Es ist verständlich geschrieben und gut zu verstehen, mancher Exkurs verlangt dem Leser jedoch viel Geduld ab. Aufgrund der provokativen Aussagen ist das Buch empfehlenswert für Angehörige verschiedener Berufsgruppen, die mit der Forschung und Behandlung, sowie mit der Betreuung und Pflege Alzheimer Kranker Menschen beschäftigt sind. Auch interessierte Nichtbetroffene Laien finden eine gesellschaftskritische Lektüre, die auf- und anregt. Betroffene und betroffene Angehörige sollten besser die Finger von dem Buch lassen, da es im Eifer des Gefechts den Krankheitsbegriff negiert. Krank zu sein ist aus Sicht des Autors etwas, das es um jeden Preis auszuschließen gilt. Aus Sicht Betroffener ist das Wortklauberei. Ob alt oder krank, sie sind mit einer veränderten Lebenssituation konfrontiert, die sie beansprucht. In diesem Sinne benötigen sie Aufklärung Zuversicht, und Optimismus. Und, Hoffnung. Hoffnung auf Heilung, denn das ist menschlich. Im Hinblick auf Betroffene (und darum geht es in der Beschäftigung mit Alzheimer) muss also weiter geforscht werden und die medizinische Therapie ist voranzubringen. Mythos Alzheimer ist ein Pamphlet für eine sinnvollere Verteilung vorhandener, monetärer Ressourcen. Der Autor schießt manchmal über´s Ziel hinaus, mit seinem Werk regt Whitehouse aber eine wichtige Diskussion über die Verteilung der Gelder an, die angesichts explodierender Kosten im Gesundheitswesen mehr als gerechtfertigt ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Appell an die Gesellschaft, sich mit dem Altern und damit verbundenen Fragen zu beschäftigen. Das Buch bietet einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um den Demografischen Wandel.