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Portugal
Von António Manuel Hespanha (Lissabon)1
0 Einleitung
Die Kürze dieser knappen Einführung2 soll nicht das vorhandene Aufgebot an
Interpretationsfragen verbergen. Die erste Frage betrifft das Gewicht traditioneller Elemente im
vintismo (1820-1823), der bis heute meist als radikale Periode charakterisiert wurde, während ein
neuerer Befund dazu tendiert den Weg zu betonen, auf dem alte Denkmuster, alte institutionelle
Apparate und Praktiken, alte Rechtsbegriffe und Rechtsinhalte die oft scharfe Sprache der
Reform abschwächten. Dabei handelt es sich im Übrigen um eine Art der Beurteilung, die auch
die jüngste Interpretation des Cádizer Konstitutionalismus kennzeichnet.3 Der zweite
Problemkreis bezieht sich auf den Transfer der Verfassungsreform zu den Kolonien, obwohl eine
Restriktion hinsichtlich der vollständigen Umsetzung der neuen Ordnung in allen
Verfassungstexten (von 1822 bis 1838) fehlte, und er betrifft entweder die Organisation und
Teilung der Gewalten oder den bürgerlichen und politischen Status der Einwohner. Jüngste
Studien zeigen allerdings, dass der Universalismus von Verfassungstexten4 weder der
tatsächlichen politischen Praxis noch dem Inhalt der Rechtsnormen unterhalb der
Verfassungsebene entsprach, die beide mit Einschränkungen der politischen Rechte der
Kolonisatoren (namentlich bezüglich des Gewichts der Kolonien bei Wahlen), der
Gouvernementalisierung kolonialer Herrschaft und der rassischen Diskriminierung indigener
Bevölkerungen sowie der Missachtung ihrer verfassungsmäßigen Rechte verbunden waren.5 Der
dritte innovative Ansatz beruht darauf, die prinzipielle Formbarkeit der konstitutionellen Gestalt
1
Übersetzung ins Deutsche von Werner Daum.
2
Für einen Überblick zur politischen Geschichte Portugals im 19. Jahrhundert siehe L. R. Torgal/J. L. Roque (Hg.),
O liberalismo (= J. Mattoso, História de Portugal, 5), Lisboa 1998; Mª F. Bonifácio, O século XIX português,
Lisboa 2002. Zum konstitutionellen Moment siehe Marcello Caetano, História breve das constituições portuguesas,
Lisboa 1968; José J. Gomes Canotilho, Direito constitucional e teoria da Constituição, Coimbra 7. Aufl. 2003, S.
127-169; António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direito, Estado e lei no Constitucionalismo
Monárquico português, Coimbra 2004. Zum politischen Denken der Epoche siehe António Pedro Mesquita, O
Pensamento Político Português no Século XIX, Lisboa 2006.
3
Vgl. als grundlegend Carlos Garriga/Marta Lorente, Cádiz 1812. La Constitución Jurisdiccional, Madrid 2007.
4
Für die Konstitution von 1838 gelten die Ausführungen nur abgeschwächt.
5
Vgl. als grundlegend zu diesem Thema Cristina Nogueira da Silva, Constitucionalismo e Imperio: a cidadania no
Ultramar português, Coimbra, Almedina, 2009.
1
der Carta Constitucional von 1826 anzuerkennen. Obwohl sie den französischen Royalismus
umsetzte, konnte sie fast ohne formale Änderungen als Grundlage für ein etwas atypisches
parlamentarisches System (1851-1900) dienen wie auch ein cäsaristisches Regime erlauben, wie
es im letzten Jahrzehnt der Monarchie (1900-1910) versucht wurde.6
Ferner neigt die Beurteilung des portugiesischen Parlamentarismus zu einer Betonung der
vorherrschenden Rolle der Regierung auf der politischen und parlamentarischen Bühne sowie bei
den Wahlen, wodurch sich die kanonische Beziehung zwischen den Kammern und dem Kabinett
umkehrt. In Portugal – wie auch in anderen lateineuropäischen Staaten oder im Brasilianischen
Reich (1822-1889) – beherrschte das Kabinett die agendae und Abläufe der Wahlen und
Parlamentsverhandlungen, vor allem nach der praktischen Entmachtung des poder moderador
unter Luis I. (Herrschaft 1861-1889) und während eines Teils der Herrschaft Carlos‘ I.
(Herrschaft 1889-1908). Tatsächlich unterstellte dieser praktische Verlust der monarchischen
Prärogative auch den König der Kontrolle der Regierung, die sich der monarchischen
Prärogative zur Auflösung des Parlaments und zur Nominierung der Lords in das Oberhaus
bediente, um parlamentarische Mehrheiten zu erhalten und den Kalender der politischen Abläufe
und Wahlen zu kontrollieren.7
Diese Überlegenheit der Regierung erklärt auch die Vorbehalte der jüngsten
Geschichtsschreibung gegenüber einer „liberalen“ Deutung des politischen Systems Portugals
unter der Monarchie. In Anknüpfung an eine Tradition, die vom aufgeklärten Despotismus, vom
administrativen Staat napoleonischer Prägung und von der deutschen Staatstheorie herrührte,
herrschte die Regierung auf wirksame Weise, wobei sie auch von einem traditionellen
kulturellen Habitus des Staatsvertrauens profitierte. Öffentliche Infrastrukturmaßnahmen
(Straßen, Brücken, Häfen und später Eisenbahnen, Postdienst und Telegrafie), der Aufbau von
Industrien, die Gründung von Banken, Versicherungsgesellschaften und verschiedener
Monopole waren größtenteils Gegenstand staatlicher Entscheidung. Die Verwaltungsmacht
kannte nur wenige Einschränkungen, während die Bürger durch keine Garantien vor staatlichem
Handeln geschützt waren. Die Beamten bildeten ein umfangreiches Regierungsklientel, das zur
Kontrolle der Wahlen und zur Unterstützung der Regierungspolitik eingesetzt wurde.8 Feste
6
Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2).
7
Ebd., S. 365 ff.
8
Vgl. ebd.
2
Kontakte zwischen den politischen Zirkeln und wirtschaftlichen Gruppen garantierten beiden
Seiten, dass die Regierung unternehmerische Geschäfte absicherte und die Plutokratie die
Regierungstätigkeit stützte, namentlich in Zeiten von Finanzkrisen.
Die Anerkennung des politischen Gewichts staatlichen Handelns führt zu einer Neubewertung
der Bedeutung des „republikanischen“ Denkens seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Sinne der
ideologischen Inanspruchnahme öffentlicher Werte und öffentlicher Interessen, die vom Staat
gefördert und garantiert werden. Hierbei wird der Staat als rationaler Pol der von
Interessengruppen fragmentierten Gesellschaft und als politischer Ausdruck eines staatlich
gesteuerten Sets öffentlicher Interventionen verstanden, die durch den Bedarf nach
wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung eingefordert wurden.9
1 Portugal 1815-1847
Das Mutterland der Kolonialmacht Portugal besaß im 19. Jahrhundert ein in Europa einzigartiges
Kennzeichen: Seine territoriale Einheit war – mit der zeitgenössischen räumlichen Struktur10 –
ebenso wie auch seine sprachliche Einheit bereits im 13. Jahrhundert verwirklicht worden.
Infolge sowohl der Zwangskonversion von Juden und Muslimen zu Beginn des 16. Jahrhunderts
als auch der unnachgiebigen Politik der Krone gegenüber der Reformation waren auch religiöse
oder tiefere kulturelle Konflikte unbekannt. Dennoch wäre es eine irreführende
historiographische Auffassung, die Entstehung eines „nationalen Bewusstseins“ ins Mittelalter
oder in die Frühe Neuzeit vorzuverlagern;11 denn die Bildung sowohl der Nation als auch eines
zugehörigen Staats wie auch die Ausbildung einer nationalen Identität – im Sinne, den dieser
9
Siehe vor allem Rui Ramos, A Segunda Fundação (1890-1926) (= J. Mattoso, História de Portugal, 6), Lisboa
1994.
10
Allerdings wurde eine endgültige geodätische Abgrenzung erst durch den Tratado dos limites von 1864 festgelegt
(was nochmals die Nationalität einiger kleiner Gemeinden entlang der Grenzen änderte).
11
Dies schlug Martim de Albuquerque, A consciência Nacional Portuguesa. Ensaio de História das Ideias Políticas,
Lisboa 1972 vor. Zur Betonung der Defizite einer „nationalen“ Identität und der miteinander verschränkten
Konzepte von eigener Identität und Fremdheit in der ständisch strukturierten Monarchie (d.h. wenigstens bis zur
Mitte des 18. Jahrhunderts) siehe António Manuel Hespanha/Ana Cristina Nogueira da Silva, A identidade
portuguesa, in: A. M. Hespanha (Hg.), O Antigo Regime (1620-1807) (= J. Mattoso, História de Portugal, 4), Lisboa
1998, S. 18-37.
3
Ausdruck in der Spätmoderne annahm – wird eine durch den Verfassungsstaat zu erfüllende
Aufgabe sein, vor allem was die territoriale Integration durch die Aufhebung innerer fiskalischer
Schranken12 und durch den Aufbau eines Straßennetzes, eines regulären Transportsystems und
eines Nachrichtenwesens13 sowie durch die Entfaltung einer regionalen und sozialen
Assimilation infolge gemeinsamen staatsbürgerlichen Empfindens betrifft.
Abb. 21.1: Provinzialgliederung Portugals um 1826
Die territorialen Angelegenheiten Portugals stellen sich aber als viel komplizierter dar, wenn wir
den außereuropäischen Raum berücksichtigen, vor allem was einen einheitlichen Umgang mit
der Staatsbürgerschaft betrifft, wie später noch zu sehen sein wird (Kap. 4). Und dasselbe kann
über eine homogene Anwendung der politischen Repräsentation oder Gewaltenteilung gesagt
werden.
Wie es häufig in der vergleichenden Geschichtsschreibung geschieht, entspricht die
chronologische Begrenzung des vorliegenden Handbuchbandes nicht der Zeitleiste der
portugiesischen Verfassungsentwicklung. In der Tat tauchte der erste Verfassungstext erst 1822
auf, zwei Jahre nach der Verfassungsrevolution von 1820. Seit diesem Moment lebte das Land –
trotz der heftigen Echos der Verfassungsrevolutionen in Frankreich, Spanien, den USA und in
mehreren ehemaligen Kolonien des spanischen Südamerika, die durch die napoleonische
Besatzung (1807/08)14 wie auch den antinapoleonischen Befreiungskampf15 noch verstärkt
12
Dies meint die Aufhebung der feudalen Steuerhoheit („direitos banais“, 1822, und „forais“, 1832) und, in weit
geringerem Ausmaß, der Gemeindesteuern (nach 1836). Vgl. zum Ende der feudalen Steuererhebung Nuno Gonçalo
Monteiro, Forais e regime senhorial: os contrastes regionais segundo o inquérito de 1824, Lisboa 1986; António
Manuel Hespanha, O jurista e o legislador na construção da propriedade burguesa liberal em Portugal, in: Análise
Social XVI, 61-62 (1980) (1º 2º), S. 211-236.; zu den Veränderungen im Finanzwesen der Gemeinden siehe
António Pedro Manique, Mouzinho da Silveira - Liberalismo e Administração Pública, Lisboa 1989.
13
Meist nach 1850.
14
Die Besatzung stimulierte eine liberale, an Frankreich orientierte Gruppe, die den Kaiser um eine der Konstitution
des Großherzogtums Warschau ähnelnde Verfassung wie auch um die Durchsetzung des französischen Code Civil
bat; im Falle seiner Umsetzung wäre dieser letztgenannte Anspruch noch bedeutender gewesen als der Import der
polnischen Verfassung, da er eine tief gehende Reform des Zivilrechts – in so kritischen Bereichen wie dem
4
worden waren – in einer unklaren politischen Situation, da es theoretisch durch den weit
entfernten königlichen Hof in Rio de Janeiro regiert, praktisch aber durch die Bürokratie der
britischen Armee mittels einer anglo-portugiesischen Junta do Governo beherrscht wurde, die
vom abwesenden König nominiert worden war und zwischen gegensätzlichen ideologischen
Flügeln zerrissen wurde; diese reichten von traditionalistischen, antirevolutionären
(antifranzösischen) Gruppen bis zu aufgeklärten Reformisten, protoliberalen und
freimaurerischen Kräften sowie afrancesados.
Die Verfassung von 1822 eröffnete eine kurze Periode (1822/23) eines zweideutigen
Konstitutionalismus. Sowohl der Verfassungstext als auch die politische Praxis verbanden
traditionelle literarische und institutionelle Rezepte und Praktiken mit ziemlich schrillen
Beschwörungen der Volkssouveränität und mit konstitutionellen Merkmalen, die oft an die
legendären (und gefürchteten) Jahre des französischen gouvernement d’assemblée erinnerten.
Diese erste Konstitutionalisierungswelle wurde durch eine unnachsichtige Rückkehr zum
Absolutismus (1823-1834) hinweggeschwemmt, bis ein gemäßigter Konstitutionalismus
definitiv siegte (1834), und zwar nach dem militärischen Sieg Pedros IV., der sich aus seinem
neugeborenen Brasilianischen Reich aufgemacht hatte (1832), um sowohl seinen Thron aus den
Händen seines absolutistischen Bruders Miguel wiederzuerlangen als auch die Verfassungscharta
wieder in Kraft zu setzen, die er unmittelbar nach dem Tod seines Vaters João VI. (1826)
gewährt hatte.
Die Wiederinkraftsetzung der Carta Constitucional von 1826 markierte deshalb 1834 eine neue
Konstitutionalisierungswelle in Portugal, bei der die Verfassungsordnung, die eng an den
monarchischen Konstitutionalismus der französischen Charte von 1814 angelehnt und eine
Zwillingsschwester des ab 1824 verwirklichten brasilianischen Konstitutionalismus war, mit
anspruchsvollen Verwaltungs- und Sozialreformen einherging, die von Politikern wie Mouzinho
da Silveira (1780-1849) und Joaquim António de Aguiar (1792-1884) geleitet wurden, deren Ziel
die endgültige Auflösung des Ancien Régime in der Verwaltung und Justiz, in der
Eigentumsordnung und im Verhältnis zwischen Staat und Kirche war.
Eigentums- und Familienrecht – mit sich gebracht hätte. Zu der Episode siehe Nuno J. Espinosa Gomes da Silva,
História do direito português, Lisboa 2000, S. 407.
15
Der Befreiungskampf war in Spanien einer der bedeutendsten Faktoren der Cádizer Verfassungsrevolution
gewesen.
5
Eigentlich handelte es sich um eine ziemlich verspätete politische Ära, da sie Veränderungen
reflektierte, die die meisten westeuropäischen Länder in den späten 1810er oder den frühen
1820er Jahren erfasst hatten. Diese zweite Welle einer Verfassungsordnung war stark mit dem
monarchischen Prinzip belastet – da sie formal von der sehr verfassungsmäßigen
Gewaltenteilung durch Einführung einer vierten Gewalt gekennzeichnet wurde, nämlich des
poder moderador, der einige Jahre zuvor von Benjamin Constant erfunden und in der Carta
Constitucional als Eckpfeiler der politischen Ordnung beschrieben worden war. Obwohl 1838
eine neue Konstitution angenommen wurde, führte man 1842 die Carta auf revolutionärem
Wege wieder ein. Das konservative Regime überlebte den demokratischen Aufruhr Mitte der
1830er Jahre, erreichte die Anbindung an einen romantischen und doktrinären Konservativismus
in den frühen 1840er Jahren und widerstand auch noch dem Ausbruch breiter Volksunruhen, die
die bäuerliche Reaktion auf die liberalen Verwaltungs-, Justiz- und Kirchenreformen mit
städtisch-demokratischem Protest gegen den royalistischen und elitären Charakter der politischkonstitutionellen Charta-Ordnung verbanden (die als Maria da Fonte und Patuleia bekannten
Erhebungen von 1846/47). Zur nächsten Welle einer Verfassungsreform im Sinne einer
Parlamentarisierung kam es schließlich mit der Revision der Carta Constitucional im Jahr 1851
(Acto adicional), die ein parlamentarisches und parteiengestütztes System einführte, das sich
zum bedeutendsten politischen Merkmal der letzten Dekaden der Monarchie entwickelte, trotz
des nominellen Fortbestands des poder moderador und der (am Ende des Jahrhunderts
entwickelten) Vorschläge zu dessen Erneuerung im Sinne eines am preußischen Modell
orientierten Cäsarismus.
2 Verfassungsstruktur der zentralen staatlichen Ebene
Wie im vorausgegangenen Handbuchbeitrag über die Verfassungsgeschichte Portugals um 1800
beschrieben war das Land zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine „reine Monarchie“, deren leges
fundamentals neben der Regelung der Sukzession und einigen Vorschriften über die Betreuung
der königlichen Prinzen die unbegrenzte Macht des Königs und als einziges Vasallenrecht das
ius supplicationis und das ius indigenatus verkündeten. Die Rechtslehre räumte sogar ein, dass
die Könige das ius divinum, das ius naturale wie auch die Grundsätze der recta ratio befolgen
sollten, um den Titel eines aufgeklärten, höflichen und christlichen Souveräns zu verdienen, der
sich von den „türkischen Despoten“ unterschied. Die Rechtsquellen wurden durch die sog. Lei
6
da Boa Razão (1769) definiert, die neben portugiesischem Recht (namentlich die Ordenações do
Reino von 1603) das Römische Recht nach seinem modernen Gebrauch (usus modernus
pandectarum) und durch eine Auswahl von für die Modernisierung des Landes entscheidenden
Bereichen das Gesetz der „höflichen, kultivierten und christlichen europäischen Nationen“
anerkannte. Inspiriert von dieser Offenheit begannen die Juristen die Rechtslehre und
Gesetzbücher zu übernehmen, die in Preußen, Österreich, der Toskana, Frankreich und England
gültig waren, um damit der Aneignung einer Politik den Weg zu ebnen, die der Linie der
Kameralwissenschaften entsprach.
Nachdem das Königreich 1807 durch die napoleonische Armee unter dem Kommando Junots
besetzt und seiner königlichen Familie beraubt worden war, die im Vereinigten Königreich
Brasilien eine sichere und ziemlich bequeme Zuflucht vor den Franzosen fand, war es einer
herben Ausplünderung, aber auch dem starken Einfluss der postrevolutionären Ideen ausgesetzt.
Ein bedeutender Teil der portugiesischen Intelligenz – die zum Teil bereits in die Freimaurerei
eingebunden war – sah in der französischen Führung einen Weg zur Modernisierung des Landes
und zur Errichtung einer Verfassungsordnung, die sich auf ein Grundgesetz napoleonischen
Musters und die Durchsetzung der französischen Gesetzbücher, namentlich des Code civil,
stützen sollte. Der Kodex wurde anscheinend sogar ins Portugiesische übersetzt, während sich
eine portugiesische Deputation auf den Weg nach Frankreich begab, um vom Kaiser die
Gewährung einer Verfassung zu erbitten, die der des Herzogtums Warschau ähneln, jedoch den
alten Rechtsgewohnheiten Portugals angepasst werden sollte, vor allem was die Wahl der
Nationalversammlung durch die Gemeindeführungen betraf. Der Rückzug der französischen
Truppen beendete die Initiative, die in jedem Fall einige konstitutionelle Charakterzüge – wie die
Trennung von Staat und Kirche – hervorgebracht hätte, die in Portugal bis zum Ende der
Monarchie im Jahr 1910 unbekannt blieben. Des Weiteren hätte die Bürgergesellschaft eine tiefe
Erschütterung erfahren, zumal wenn die Umsetzung der Verfassung mit der Einführung der
napoleonischen Gesetzbücher kombiniert worden wäre. Die traditionellen Ordnungen wären
aufgehoben und bürgerliche Gleichheit wäre hergestellt worden. Ein Repräsentativsystem –
wenngleich napoleonischen Zuschnitts – hätte den Absolutismus mit der Einführung zweier
Parlamentskammern, eines Staatsrats, eines Kassationshofs und einer verantwortlichen
Regierung ersetzt. Die Feudalrechte (direitos de foral, direitos banais), der unveräußerliche
Grundbesitz (morgadios) und die Zuteilung von Krongütern (donatarias) oder Renten der
Militärorden (comendas) wären aufgehoben worden, um Grund und Boden dem freien Markt zu
7
öffnen. Korporative Organisationen wären durch die Freiheit von Industrie und Handel ersetzt
worden.
All dies erklärt, warum die herrschende Schicht, sobald sie von den Franzosen befreit war, das
Verfassungsprojekt hastig wieder vergaß. Trotzdem bestand – in akademischen und
intellektuellen Kreisen, vor allem unter Juristen – ein großer Teil dieses ideologischen Erbes fort,
um all die Projekte zur Wiedererlangung einer vollwertigen nationalen Unabhängigkeit zu
nähren, die frei von der neuen Vormundschaft durch die militärische (und politische) Führung
Englands sein und die früheren Lehrmeinungen gegen die feudale Agrarverfassung stärken
sollte. In der Tat kritisierten akademische Juristen seit dem späten 18. Jahrhundert die feudalen
Pflichten und Bindungen, die auf dem Land lasteten. Auf der anderen Seite versprach die Krone
anlässlich des Abschlusses eines Handelsvertrages mit England, der die brasilianischen Häfen
dem englischen Handel öffnete (1810), was angeblich den Bauern im Mutterland Verluste
bescherte, eine Reduktion oder Aufhebung der feudalen Agrarlasten (direitos de foral). Die
Maßnahme wurde von einem Klosteranwalt kritisiert16 und die Polemik lebte wieder auf. 1814
veröffentlichte ein bedeutender Jurist, Manuel Fernandes Tomás, Richter (desembargador) am
Obersten Gerichtshof von Oporto (Relação do Porto), ein handfestes Pamphlet,17 mit dem er die
rechtliche Verteidigung feudaler Pflichten durch Almeida e Sousa kritisierte.18 Die Umsetzung
des Versprechens der Krone verzögerte sich jedoch sukzessive bis zur Revolution von 1820.19
Genau diese Revolution löste die Bewegung aus, die letztendlich zur Bewilligung der ersten
modernen Verfassung Portugals führte. Die Bewegung vom 24. August 1820 – ein Umsturz,
angeführt von einer bürgerlichen Gruppe, die sich größtenteils aus Juristen, Kaufleuten und
Militärangehörigen zusammensetzte, welche aus der Handelsstadt Oporto stammten und häufig
16
Manuel de Almeida e Sousa Lobão, Discurso sobre a reforma dos foraes, em virtude da carta regia, datada no Rio
de Janeiro, em 7 de Março de 1810 ao clero, nobreza, e povo de Portugal, Lisboa 1813.
17
Manuel Fernandes Tomás, Observações sobre o discurso que escreveu Manuel de Almeida e Sousa em favor dos
direitos dominiais da Coroa, donatários e particulares, Coimbra 1814.
18
Dieser beharrte seinerseits auf der Verteidigung seines Klienten: Manuel de Almeida e Sousa Lobão, Discurso
juridico, historico e critico sobre os direitos dominicaes e provas d'elle n'este reino em favor da coroa, seus
donatarios e outros senhorios particulares juntamente convicção fundamental das theses de um papel sedicioso que
grassa manuscripto com o titulo de advertencias de um curioso em favor dos lavradores que forem vexados e
oprimidos com titulos falsos e tombos nullos ou com pretensões alem dos titulos legitimos, Lisboa 1813.
19
Dies geschah, obwohl das Vorhaben Anhänger innerhalb der portugiesischen Junta do Governo fand.
8
Freimaurerlogen angehörten – gab sich selbst das sprechende Beiwort „Regeneration“. Ihre
Hauptforderungen entsprachen einer vielseitigen Rückkehr zu einem früheren Stand der
politischen Angelegenheiten: (i) die Rückführung des königlichen Hofes in die Hauptstadt des
Mutterlands; (ii) die Wiederinkraftsetzung der alten Konstitution des Königreichs, die auf der
regelmäßigen Zusammenkunft eines repräsentativen Parlaments (cortes) gründete; und auf einer
unmittelbareren Ebene (iii) die Wiedererrichtung des Handelsmonopols mit den Kolonien und
(iv) die Rückgewinnung einer militärischen Autonomie gegenüber der britischen Verwaltung.
Die Hauptforderung – diejenige nach Errichtung einer konstitutionellen Monarchie – stellte
jedoch alles andere als eine „Regeneration“ dar, weil das, was öffentlich als Repräsentation der
„Nation“ eingefordert wurde, nichts mit den alten cortes zu tun hatte, die symbolisch das Reich
verkörperten.
Es war ein glänzender Erfolg. Die durch William Beresford angeführte Junta do Governo do
Reino wurde entlassen und durch einen Provisorischen Ausschuss ersetzt, dessen sofortiger
Auftrag darin bestand, allgemeine Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung
(deren Bezeichnung noch den traditionellen Parlamenten entlehnt war) – den Cortes Gerais
Extraordinárias e Constituintes da Nação Portuguesa – zu organisieren, der wiederum die
Aufgabe zufiel, eine neue Verfassung anzunehmen.20 Der Einschnitt gegenüber der Tradition
erfolgte jedoch genau hier, im Wahlverfahren zur Bildung der neuen Cortes. Nach einer
lebhaften – und dennoch hastigen – Debatte über die Prozedur, mit der die Nationalversammlung
gewählt werden sollte, wurden das alte Wahlsystem wie auch die alte Struktur der cortes durch
ein gänzlich neues System ersetzt, nämlich das der spanischen Verfassung von Cádiz – die
direkte Wahl eines Einkammerparlaments nach dem Cádizer Wahlmodell.21 Das Ergebnis
bestand in einer politisch eigentlich ziemlich ausgeglichenen Versammlung, wenngleich der
demokratische Flügel eine offensivere und entscheidendere Rolle in den Schlüsselfragen spielte.
Wegen der bevorstehenden Ankunft des Königs und seines Hofs wurde ein Verfassungsentwurf
20
Die kanonische Geschichtsschreibung über die Revolution von 1820 stammt von Simão José da Luz Soriano,
Historia da Guerra Civil e do Estabelecimento do Governo Parlamentar em Portugal: Comprrehendendo a história
diplomatica, militar e política d'este reino desde 1777 até 1834, 7 Bde., Lisboa 1866-1893; siehe auch mit einer
umfangreichen Dokumentensammlung: Clemente José dos Santos, Documentos para a história das Cortes Geraes da
Nação portugueza: [1820-1828], 8 Bde., Lisboa 1883-1891.
21
Es handelte sich um eine ziemlich komplexe Kombination von Männer- und elitärem Wahlrecht auf
Gemeindeebene sowie Losverfahren und Kooptationen durch die bestehenden Regierungsbehörden. Die Wahlen
fanden im Dezember statt.
9
ausgearbeitet, um ihn feierlich von den Neuankömmlingen beschwören zu lassen, solange sie
sich noch an Bord befanden:22 Während die Cortes den endgültigen Verfassungstext
vorbereiteten – hieß es in dem Entwurf –, „bestätigten und erließen“ sie ein Set von
Verfassungsgrundsätzen, das „am besten dafür geeignet“ war, „die individuellen Rechte der
Bürger zu garantieren und die Organisation und die Beschränkungen der öffentlichen Gewalten
des Staats festzulegen“ (Präambel).
Der Wortlaut dieser Präambel war bereits ein deutliches Symptom für die Differenz oder den
Kompromiss zwischen zwei gegensätzlichen politischen Diskursen – dem über die
konstitutionelle Kontinuität und Regeneration und dem über die Erfindung einer völlig neuen
Verfassungsstaatlichkeit, die auf dem zu diesem Zeitpunkt gegebenen Nationalwillen beruhte.
Diese unwahrscheinliche Übereinstimmung wird gerade im endgültigen Verfassungstext noch
offenkundiger, in dessen zusammengerührten „Präambel“ es ebenfalls heißt: „Die allgemeinen,
außerordentlichen und constituirenden Cortes der portugiesischen Nation, in der lebendigen
Ueberzeugung, daß die öffentlichen Uebel, welche sie unterdrückt haben und noch unterdrücken,
ihre Quelle in der Verachtung der Rechte des Bürgers und in der Vergessenheit der
Grundgesetze der Monarchie haben, und in Erwägung, daß die Wiederherstellung dieser
ausgebreiteten und umgestalteten Gesetze einzig und allein das Glück der Nation sichern, und
verhindern kann, daß sie nicht in den Abgrund versinke, aus welchem sie die Heldentugend ihrer
Söhne gerettet hat, decretiren folgende bürgerliche Verfassung, um die Rechte jedes Einzelnen
und das allgemeine Wohl aller Portugiesen zu befestigen.“23 Wenn man hinzufügt, dass dieses in
sich widersprüchliche „Dekret“ „im Namen der heiligen und untheilbaren Dreifaltigkeit“
verkündet wurde, wird die unauflösbare Ambiguität der Verfassung offensichtlich. Ebenso
deutlich ist der Widerspruch zwischen der Meinungsfreiheit (Art. 7) oder der Gleichheit vor dem
Gesetz (Art. 9) und der Existenz einer Staatsreligion mit entsprechender Restriktion für die
öffentliche Ausübung nichtkatholischer Religionen (Art. 25). Wie auch zwischen der formalen
Bestimmung von König und Dynastie durch die Verfassung (Art. 31) oder der feierlichen
Feststellung, dass „die Autorität des Königs von der Nation aus[geht] und [...] untheilbar und
22
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.1 (Grundlagen der Verfassung Portugals v. 3.3.1821).
23
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.3 (Verfassung Portugals v. 23.9.1822). Zur portugiesischen Version siehe Dok.-Nr.
21.2.2.
10
unveräußerlich“ ist (Art. 121),24 und dem vom König gebrauchten zeremoniellen Titel „D. João,
durch Gottes Gnaden und die Verfassung der Monarchie, etc.“.
Differenz oder Kompromiss? Aus traditioneller Sicht stellte die Ambiguität des Verfassungstexts
einen Reflex auf die Unlösbarkeit des überaus politischen Umstands dar, dass gegensätzliche
ideologische Flügel in einem unstabilen Gleichgewicht miteinander verhandeln mussten. Es ist
jedoch wahrscheinlicher, dass diese tatsächliche politische Blockade durch ein radikales
epistemologisches Problem noch verstärkt wurde: die Vereinigung gegensätzlicher Ideen in
einem gemeinsamen Wortlaut (die Verfassung als natürlich-traditionale, gesellschaftlichkorporativ verfasste Einrichtung oder als eine Ordnung, die durch den Gemeinwillen begründet
wird), der Fortbestand alter ideologischer Kategorien (wie des politischen Naturalismus) in
einem neuen ideologischen Kontext (wie dem der gesellschaftsbezogenen voluntaristischen
Vorstellungen), die Erinnerungen an tief verwurzelte rhetorische oder imaginäre Formeln (wie
potestas a Deo per populum), traditionelle Welten- oder Ordnungshierarchien (religiöse
Ordnung, natürliche Ordnung, bürgerliche Ordnung).
Untersucht man die konstitutionelle und politische Praxis im Einzelnen, treten weitere
unerwartete Widersprüche hervor: der Transfer traditioneller monarchischer Prärogative auf den
„souveränen Kongress“ (wie die Gewährung von Begnadigungen, die Übernahme oder Revision
gerichtlicher Entscheidungen, Regierungshandlungen); seitens der Juristen und Richter die
Aufrechterhaltung einer substantiellen Macht zur Fest- und Auslegung der Gesetze (sogar über
die Grenzen der Verfassung hinaus);25 das Fehlen jeglichen organisierten Verfahrens, das die
höchste Bedeutung der Verfassung garantieren würde, deren Vorrang auf der moralischen Pflicht
der Beamten beruhte, den formalen Treueeid auf die Verfassung zu befolgen;26 die Unterordnung
der Bürgerrechte unter das gesetzliche Rahmenwerk, als ob das Naturrecht, das die individuellen
Rechte vorschrieb, durch das positive Recht ausgelöscht wurde, sobald sich die Menschen zu
24
Durch irrtümliche Zählung erscheint Art. 121 in der deutschen Fassung als Art. 118: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.3
(wie Fn. 23).
25
Tatsächlich findet sich in der Verfassung keinerlei Erwähnung der richterlichen Pflicht zur Befolgung des
kodifizierten Rechts oder der Verfassung selbst (mit der für den letzten Fall geltenden Ausnahme der allgemeinen
Verpflichtung jedes Beamten zur Ableistung des Verfassungseids).
26
Zu dieser konstitutionellen aporiai, die auch die Cádizer Konstitution aufweist, siehe Garriga/Lorente, Cadiz 1812
(wie Fn. 3); Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2).
11
einer polis versammelten und den neuen Status eines den bestehenden Gesetzen unterworfenen
Bürgers annahmen.27
Der Einfluss der Verfassung von Cádiz auf die portugiesische Konstitution von 1822 ist noch
nicht vollständig erfasst. Anhand der Parlamentsdebatten kann man sehen, dass das spanische
Beispiel sowohl als zu vermeidender radikaler Trend als auch als zu übernehmendes Modell
kontinuierlich präsent war.28 Das Modell wirkte in einem Moment verführerisch, in dem die
dringende Notwendigkeit bestand, innerhalb der revolutionären Bewegung das demokratische
Empfinden mit traditionalistischen Strömungen in Einklang zu bringen, die sich einem gewissen
Grad der Modernisierung und Erneuerung der politischen Ordnung geöffnet hatten. Trotz des
fortschrittlichen demokratischen Modells, das sie verkörperte, erhob die Verfassung von Cádiz
tatsächlich nur den Anspruch, die Vollendung einer Verfassungsentwicklung zu bilden, deren
Anfänge bereits bis in die älteste politische Tradition des Königreichs zurückzuverfolgen waren.
Diese Ideen wie auch die Vorstellung über den Vorrang des Gesetzes gegenüber spontanen
Naturrechtsbestimmungen29 waren beiden Verfassungstexten gemeinsam, die auch weitgehende
Ähnlichkeit im Organisationsmodell für die politischen Gewalten und im Wortlaut der Texte
27
Dies war in der Tat ein gemeinsames Thema sowohl der vor- als auch der postrevolutionären Rechtslehre: die
Festigkeit des bürgerlichen Rechts, die die Unklarheit des Naturrechts ersetzt. Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie
Fn. 2).
28
Wie bereits erwähnt wurde das Cádizer Wahlsystem für die Wahl der portugiesischen Cortes übernommen; und
um die portugiesischen Parlamentsdebatten zu beeinflussen, wurde die spanische Verfassung ins Portugiesische
übersetzt und in Lissabon veröffentlicht (Constituição politica da Monarquia Hespanhola promulgada em Cadiz em
19 de Março de 1812, trad. em portuguez por A. M. F. Coimbra, na Real Impr. da Universidade, 1820), zusammen
mit dem Discurso preliminar und einem Aufsatz über ihre Anpassung an das Königreich beider Sizilien (Lanjuinais,
Conde, Considerações politicas sobre as mudanças que conviria fazer na Constituição Hespanhola, a fim de a
consolidar em o Reino das duas Sicilias, Lisboa, na Typ. Rollandiana, 1821). Ein formaler Entwurf für eine der
Cádizer Konstitution angeglichene portugiesische Verfassung wurde ebenfalls veröffentlicht und den Cortes
angeboten (Projecto de constituição portugueza accommodada à hespanhola para ser offerecido às nossas Cortes
Lisboa, Na Typ. Rollandiana, 1821).
29
Dies richtete sich gegen die radikale naturrechtliche Formel von Titel I der französischen Verfassung von 1791,
gegen die beide Verfassungstexte der iberischen Halbinsel durch die ausdrückliche Erklärung der Stichhaltigkeit des
positiven Rechts (in der spanischen Version deutlicher als Rechtstradition benannt) verstießen. Vgl. CD-ROM-1,
Dok.-Nr. 3.2.5 (frz.)/3.2.6 (dt.) (Französische Verfassung v. 3.9.1791); Dok.-Nr. 8.2.5 (span.)/8.2.6 (dt.)
(Verfassung von Cádiz v. 19.3.1812). Siehe auch Clara Álvarez Alonso, Un rey, una ley, una religión (goticismo y
constitución histórica en el debate constitucional gaditano), in: Historia constitucional. Revista electrónica 1 (2000),
Nr. 5 (Juni 2004), in: <http://hc.rediris.es> [04.09.2009].
12
selbst aufwiesen. Eine detaillierte Bilanz der Überschneidungen beider Verfassungstexte ist erst
noch zu erstellen. Auf jeden Fall sind die Ähnlichkeiten aber auffällig, auch wenn Unterschiede
bestehen, die nicht von der Hand zu weisen sind.30
Angesichts der gebotenen Kürze dieses Beitrags erscheint es hier weniger bedeutend, die
organischen Merkmale des neuen Verfassungssystems in Erinnerung zu rufen: patriarchalisches
Wahlrecht ohne Zensus, aber mit schichtenspezifischer Exklusion (Diener, Mönche und Nonnen,
Beamte); nur eine Parlamentskammer; rein suspensives Vetorecht des Königs; freie Ernennung
und Abberufung der Minister durch den König; Unverantwortlichkeit des Königs;
Ministerverantwortlichkeit (wenn auch nie formalgesetzlich konkretisiert); dreistufiges
Gerichtssystem mit einem an das Kassationssystem erinnernden Berufungsverfahren.31
Die Einmütigkeit über die politisch-konstitutionelle Reform war nur fiktional.
Meinungsverschiedenheiten inmitten der königlichen Familie (die sich in der Verweigerung des
Verfassungseids durch die Königin offenbarten) spiegelten die dramatischen Spannungen wider,
die innerhalb der herrschenden Gruppen und der Bevölkerung im Allgemeinen bestanden. Die
politischen Implikationen der Cortes-Debatten wie auch die sozialen und institutionellen Folgen
der umgesetzten Verfassungsvorgaben (wie die Ablehnung des monarchischen Vetos, das
Nichtvorhandensein einer gesonderten Kammer für die zuvor privilegierten Stände oder die
Gewährung von Religionsfreiheit) und Gesetzesreformen (wie die Abschaffung feudaler corvées,
die Aufhebung feudaler Gerichtsbarkeiten,32 der Heimfall der Krongüter und der comendas der
Militärorden an die Staatskasse,33 die Beseitigung des Heiligen Gerichts der Inquisition, die
strenge Beaufsichtigung religiöser Orden, Klöster und Konvente sowie die Abneigung gegen die
30
Siehe für einen ersten Zugang António Pedro Barbas Homem, Algumas notas sobre a introdução do Código Civil
de Napoleão em Portugal, em 1808, in: Revista jurídica 2/3 (1985), S. 102 ff.; Paulo Ferreira da Cunha, Para uma
história constitucional do direito português, Coimbra 1995 (bes. S. 326 ff., wo die Anfänge eines Vergleichs kurz
skizziert werden).
31
Eigentlich handelte es sich um den Fortbestand eines alten Systems, das die außerordentliche Revision gegen
Entscheidungen vorgesehen hatte, die gegen das Gesetz („contra direito“) gefällt worden waren, und dessen
systemische Bedeutung in Wirklichkeit im genauen Gegenteil dessen begründet lag, was das Ziel des französischen
Kassationssystems darstellte (Gehorsam gegenüber dem etablierten doktrinären und judiziellen Gesetz vs. Garantie
des parlamentarischen Gesetzes gegen die Judikative).
32
33
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.4.1 (Dekret zur Aufhebung von Feudalrechten und Leibeigenschaft v. 5.4.1821).
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.4.2 (Dekret zur Aufhebung von feudalen Rechten, Regalien und königlichen
Schenkungen v. 13.8.1832).
13
feudale Besteuerung, forais genannt)34 – all dies berührte handfeste Interessen und
gesellschaftliche Vorstellungen, die auch durch den häufig radikalen Diskurs der Reformer in
Frage gestellt wurden. Auch die Unabhängigkeit Brasiliens – die durch die Intransigenz eines
radikalen Flügels der Cortes veranlasst wurde, in denen das große amerikanische Vereinigte
Königreich wie die anderen Kolonien auf ziemlich dürftigem Niveau vertreten war – schadete
bedeutenden Handelsinteressen und verletzte den portugiesischen Nationalstolz.35
Der Ausbruch der Reaktion erfolgte 1823 durch einen Militärputsch unter Führung Miguels, der
König João VI. zur Aufhebung der Verfassung zwang, auch wenn Letzterer deren Anpassung an
die traditionelle politische Gemütslage des Königreichs versprach.36 Kurz danach (1826) verstarb
der König. Sein erstgeborener Sohn Pedro übernahm die Krone als Pedro IV., gewährte eine
Verfassung (Carta Constitucional de 1826), vereinbarte die Eheschließung seiner Tochter mit
ihrem Onkel Miguel, um die beiden politischen Zweige der Familie wieder miteinander zu
vereinen, und verzichtete zugunsten des jungen Mädchens auf den Thron, die ihn noch 1826 als
Königin Maria II. (1819-1853) bestieg. Diese Lösung besänftigte jedoch nicht Miguel, der erneut
den militärischen Weg beschritt, um als absolutistischer König die Krone an sich zu reißen
(Akklamation durch die traditionellen Cortes, 11.07.1828),37 wodurch er einen sechsjährigen
Bürgerkrieg (guerras liberais) mit seinem Bruder Pedro, den Kaiser von Brasilien, eröffnete.
Pedro nahm in Reaktion darauf wieder die portugiesische Krone an sich, bildete eine Armee aus
liberalen Emigranten, fiel in das Mutterland ein, wobei er Oporto unter Belagerung setzte, und
nach einer glänzenden Landung in Südportugal besiegte er die royalistische Armee, wodurch er
seinen Bruder zur Kapitulation (Konvention von Évora Monte, 1834) und ins definitive Exil
nach Österreich zwang. Die Verwaltung wurde durch massive Entlassungen absolutistisch
gesinnter Beamter und durch die Auslöschung alter politisch-administrativer Körperschaften
34
Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 475 ff.
35
Die weise und anscheinend durch den portugiesischen König nahe gelegte Lösung, die Unabhängigkeitsrevolte
durch den portugiesischen Kronprinzen Pedro I. anführen zu lassen, erschütterte überdies einen Teil der öffentlichen
Meinung und spaltete die königliche Familie, was der Legitimität des zweitgeborenen königlichen Infanten Miguel
als Kronerben Argumente verschaffte, der von seiner reuelosen Mutter als Führer der monarchischen Partei
unterstützt wurde.
36
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.4 (Proklamation zur Aufhebung der Verfassung Portugals v. 31.05.1823); Dok.-Nr.
21.2.5 (Dekret zur Nominierung einer Verfassungskommission für Portugal v. 18.6.1823); Dok.-Nr. 21.2.6 (Gesetz
Joãos VI. zur Inkraftsetzung der alten Verfassung Portugals v. 4.6.1824).
37
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.9 (Dekret zur Einberufung der Drei Stände des Königreichs Portugal v. 3.5.1828);
Dok.-Nr. 21.2.10 (Akklamation Miguels durch die Drei Stände Portugals v. 11.7.1828).
14
gesäubert.38 Schließlich wurde Maria, immer noch beinahe ein Kind, wieder in den Thron
eingesetzt.39
Abb. 21.2: Die Wiederinkraftsetzung der Charta von 1826 durch Pedro IV. (1834)
Dieser lange und grausame Bürgerkrieg hatte einen nachhaltigen Einfluss auf den künftigen
Verlauf des politischen Geschehens. Zunächst einmal verursachte er eine tiefe und existentielle
Spaltung der portugiesischen Bevölkerung, die für Jahrzehnte andauerte. Zweitens entmachtete
er den höheren Adel, der infolge seiner Parteinahme für die absolutistische Seite exiliert oder
vom liberalen Hof und politischen Leben ausgeschlossen wurde, wodurch er auch die königliche
Gunst (königliche Zuwendungen, Ämter) einbüßte. Drittens schwächte er ernsthaft das Ansehen
des Königshauses, das durch einen Bruderzwist gespalten wurde, bei dem beide Seiten von ihren
Feinden gehasst und von ihrer geachtesten Kohorte aus Adligen alter Herkunft abgeschnitten
wurden, verarmten und ihr Ansehen mit Kriegsherren und Politikern teilen mussten. Viertens
schuf er eine neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite, die aus denjenigen bestand, die das
vormalige Kronland (bens nacionais) mit den Assignaten aufkauften, die sie als Belohnung für
ihre militärische oder politische Unterstützung der siegreichen Partei erhielten. Schließlich
eröffnete er eine Periode der sozialen Unruhen, der durchdringenden Politisierung des Militärs,
der auf caudillismo beruhenden Guerilla und des Banditentums, was den Zusammenbruch der
öffentlichen Finanzen verursachte, den sozialen Frieden beeinträchtigte und die wirtschaftliche
Entwicklung behinderte.
38
In der Tat wurden zwischen 1832 und 1833 die bedeutendsten hohen Behörden und Ämter ausgelöscht: Conselho
da Fazenda (1832), Casa da Suplicação, Desembargo do Paço; Mesa de Consciência e Ordens; Chancelaria Mor do
Reino; Erário Régio, Intendência Geral da Polícia, Conselho Ultramarino and Conselho da Guerra (1833 und 1834).
39
Die vollständigen historischen Einzelheiten finden sich bei Da Luz Soriano, Historia (wie Fn. 20). Jüngste
Neubewertungen der politischen Geschichte dieser Periode finden sich in den betreffenden Bänden einer
Biografienreihe zu den portugiesischen Königen (Lisboa, 2005-2007): Luis de Oliveira Ramos, D. Maria I; Jorge
Pedreira/Fernando Dores Costa, D. João VI; Eugénio dos Santos, D. Pedro IV; Mª. Alexandre Lousada/Mª de
Fátima de S. e M. Ferreira, D. Miguel; Mª de Fátima Bonifácio, D. Maria II.
15
Im Gegensatz dazu führte der Bürgerkrieg aber auch eine neue Verfassung ein, die trotz ihrer
vorübergehenden Aufhebung bzw. Ersetzung durch die Konstitution von 1838 die politische
Ordnung bis zum Ende der Monarchie (1910) festlegte – die Carta Constitucional von 1826.40
Diese Carta war nach dem Modell der französischen Charte von 1814 eine von oben gewährte
Verfassung. Sie sah die Repräsentation der Nation sowohl durch den König als auch durch die
Cortes vor (Art. 12); sie führte eine vierte Gewalt ein, den poder moderador, der sich aus
Benjamin Constants pouvoir royal41 inspirierte und definiert wurde als „Schlußstein der ganzen
politischen Organisation“, der „ursprünglich dem Könige als höchstem Oberhaupte der Nation
[gehört], damit er beständig über die Handhabung und Erhaltung der Unabhängigkeit, des
Gleichgewichts und der Harmonie der andern politischen Gewalten wache“ (Art. 71); das
Zweikammersystem sah vor, dass das Oberhaus (Câmara dos Pares) aus erblichen, lebenslangen
oder nominierbaren Pairs bestand, die dem Hochadel und Klerus entstammten, und das
Unterhaus (Câmara dos Deputados) durch indirekte Wahl auf gemäßigter Zensusgrundlage
gewählt wurde. Die Gesetzesinitiative stand beiden Kammern zu, wobei einige Gegenstände
(wie die Einführung neuer Steuern) ausschließlich dem Unterhaus vorbehalten waren. Jedes
beliebige Regierungsmitglied konnte jedoch ein Gesetz vorschlagen, das durch die Câmara dos
Deputados anzunehmen war (Titel IV). Der König besaß – als Keim des poder moderador –
weitgehende Machtbefugnisse bezüglich der Legislative (Vertagung oder Auflösung des
Parlaments, Ernennung der Pairs, absolutes Veto gegenüber Gesetzesbeschlüssen) wie auch
andere allgemeine Prärogative wie den Oberbefehl über die Streitkräfte, die Suspendierung von
Richtern und die Gewährung von Gnadenakten (Straferlass, Amnestie) (Titel V, Abs. I). Als
Oberhaupt der Exekutive nominierte und entließ er nach freien Stücken die Minister und
beaufsichtigte er alle politischen und administrativen Handlungen (Titel V, Abs. II).42
Wie es für den monarchischen Konstitutionalismus in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts
typisch war,43 erwies sich die Carta auch gegenüber mehreren politischen Szenarien und
40
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/21.2.8 (dt.) (Verfassung Portugals v. 29.4.1826).
41
Siehe den Beitrag über Verfassungsdenken (Kap. 1) im vorliegenden Handbuch; zur neutralen Figur des Königs
siehe auch den Auszug in CD-ROM-2, Dok.-Nr. 1.2.44 (Benjamin Constant, Cours de politique constitutionnelle,
Bruxelles 3. Aufl. 1837).
42
Detaillierte Beschreibung bei Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 161-350.
43
Und daher in Ähnlichkeit zu den zeitgenössischen Konstitutionen Italiens, Spaniens, Belgiens etc., wo das Fehlen
der vierten Gewalt den König nicht seiner höchsten Vorrechte beraubte. Eine Zwillingsschwester stellte die
brasilianische Verfassung von 1824 dar, die ebenfalls von Pedro, als Kaiser von Brasilien, gewährt wurde.
16
konstitutionellen Praktiken als anpassungsfähig.44 Sie erlaubte nicht nur Mitte der 1830er Jahre
die Entwicklung der ersten Konturen eines parlamentarischen Systems, mit der praktischen
Erschaffung der Figur des Premierministers (Presidente do Conselho) als Chef eines Kabinetts,
wodurch die monarchische Möglichkeit zur Auswahl oder Entlassung einzelner Minister
beschränkt wurde. Noch in den 1830er Jahren führte man außerdem die Praxis ein, die
Regierung von einer Mehrheit in den Kammern abhängig zu machen. Dieses extrakonstitutionelle Ergebnis wurde eigentlich durch eine Art politische Erpressung erzielt: Indem
das Parlament die Minderheitsregierung mit einer parlamentarischen Strafanklage bedrohte
(impeachment), die sich auf Regierungsmaßnahmen bezog, welche von den Kammern
beanstandet worden waren, zwang es den Premierminister zwecks Verhinderung der
Strafverfolgung zum Rücktritt. Gleichwohl führte man auch die Praxis ein, die Mehrheit durch
Ernennung der nötigen Anzahl von Pairs und durch Auflösung der Câmara dos Deputados
künstlich herzustellen, wodurch man Neuwahlen provozierte, die durch die vorangegangene
Regierung in geeigneter Weise „organisiert“ wurden, sofern diese die Unterstützung des Königs
genoss (poder moderador). Auch wurde die Notwendigkeit eines dynamischeren
Gesetzgebungssystems auf dem ordentlichen Nebenweg der Regierungsgesetzgebung während
der Unterbrechungen der Parlamentstätigkeit (d.h. in den technisch als ditadura bezeichneten
Phasen) umgangen; alles, was zur Legitimierung der Situation getan werden musste, war nach
Wiedereröffnung der Kammern45 ein Indemnitätsgesetz zu beantragen, das fast ausnahmslos
gewährt wurde. Als schließlich angesichts der Beispiele der preußisch-deutschen politischen und
konstitutionellen Praxis der Cäsarismus Aufwind bekam, versuchte die Rechtslehre das Modell
zu legitimieren, indem sie sich auf den Vorrang und die Prärogative des poder moderador berief,
der nun konzeptionell in eine Regierungsgewalt konvertiert wurde. Die ditaduras der letzten
Phase der Monarchie fanden in dieser neuen Deutung der monarchischen Rolle ihren Rückhalt.
Es war jedoch die monarchische Institution, die den höchsten Preis für diese Plastizität bezahlte.
Indem er faktisch zum parlamentarischen Monarchen wurde, genoss der König gleichwohl die
verfassungsmäßigen Vorrechte eines rein konstitutionellen Monarchen: Auch wenn er nichts
gegen den parlamentarischen Willen unternahm (der eigentlich dem Willen der Regierung
entsprach), konnte er ihm jedoch theoretisch widerstehen und entgegenwirken. Deshalb wurde
der König sowohl für seine Unterlassungen als auch für seine Handlungen, wenn er die Zügel
44
Dies gilt sogar dann, wenn man die formalen Revisionen (Actos adicionais), die sie 1852, 1885 und 1896 erfuhr,
unberücksichtigt lässt. Siehe zu diesen Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 403-432.
45
Oder – im Falle von Neuwahlen – nach der Einsetzung des neuen Parlaments.
17
der Regierung übernahm, kritisiert. Kurz zusammengefasst: Er befand sich immer auf der
schlechteren Seite.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet die knappe Erwähnung einer Übergangsverfassung – der
Konstitution von 1838. Die Constituição de 183846 wurde von den „demokratischen“
Revolutionären der Revolução de Setembro (1836: Passos Manuel)47 als Kompromiss zwischen
der „demokratischen“ Consituição de 1822 und der monarchischen Carta Constitucional
entworfen48 und von einer bereits konservativen verfassunggebenden Versammlung
verabschiedet; sie stellte eine reine Abmilderung der Carta dar, bevor diese 1842 endgültig
wieder in Kraft gesetzt wurde. Das Zweikammersystem wurde beibehalten, auch wenn die
Wahlen nun in direktem Verfahren abzuhalten waren49 und das Oberhaus (Câmara dos
Senadores) wählbar und in einem festen Verhältnis zu den Deputados aus Senatoren gebildet
wurde;50 beibehalten wurde auch das absolute Veto des Monarchen, trotz der Rückkehr zur
klassischen Dreiteilung der Gewalten. Als ein Verfassungstext, der unter dem Einfluss des
konservativ-romantischen politischen Denkens namentlich der französischen doctrinaires
ausgearbeitet worden war, bildete die Konstitution von 1838 lediglich den Übergang zur
vollständigen Restauration der Carta, die tatsächlich nach kurzer Zeit erfolgte (1842:
Staatsstreich durch Costa Cabral).51
3 Wahlrecht und Wahlen
46
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/21.2.12 (dt.) (Verfassung Portugals v. 20.3.1838).
47
Vgl. zu dieser Septemberrevolution: Miriam Halpern Pereira, Revolução, finanças, dependência externa: de 1820
à convenção de Gramido, introdução, compilação e anotação, Lisboa 1979; Sacuntala de Miranda, Revolução de
Setembro. Geografia Eleitoral, Lisboa 1982; Mª de Fátima Bonifácio, Seis estudos sobre o liberalismo português,
Lisboa 1991; Estudos de História Contemporânea de Portugal, Lisboa 2007.
48
Dies entsprach genau dem Geist, der auch die spanische Verfassung von 1837 beherrschte.
49
Nach der Restauration der Carta Constitution kehrte man zum indirekten Wahlverfahren zurück; schließlich
wurde mit der Verfassungsrevision von 1852 das direkte Wahlrecht wiederhergestellt.
50
Die diesbezügliche Inspirationsquelle scheint die belgische Verfassung von 1831 gewesen zu sein; vgl. CD-ROM-
2, Dok.-Nr. 6.2.2 (frz.)/6.2.3 (dt.) (Verfassung Belgiens v. 7.2.1831), Tit. III, Chap. I, Sect. II, Art. 53-59.
51
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.13 (Öffentliche und feierliche Erklärung v. 27.1.1842); Dok.-Nr. 21.2.14 (Dekret zur
Wiederinkraftsetzung der Verfassung v. 10.2.1842).
18
Das Wahlsystem bildet einen der Bereiche, in denen der Übergang von alten zu neuen
Repräsentationsvorstellungen am sichtbarsten wird. Tatsächlich überwog noch im ersten
Wahlsystem – das zur Wahl der Cortes Constituintes von 1820 angewandt und dann in der
Verfassung von 1822 festgelegt wurde – eine korporative Idee der Nation und ihrer
Repräsentation. Gemäß Wahlinstruktionen vom 31.10.182052 wurde die Wählerschaft auf die
durch ihr Oberhaupt vertretenen Familien begrenzt und in Übereinstimmung mit der organischen
Struktur des Königreichs (freguesias, comarcas und provincias) organisiert. Obwohl das neue
System, das dem Wahlsystem der Verfassung von Cádiz nachgebildet war, den „Bürger“ – und
nicht den Paterfamilias – als Wähler betrachtete, fiel der organischen Einheit der paróquia eine
entscheidende Rolle zu. In der Tat nominierte jeder Parochialausschuss (Junta do freguesia) die
Bevollmächtigten der Pfarrei, die wiederum die Wahlmänner der Pfarrei in die
Wahlversammlung der comarca wählten, welche ihrerseits nach einem nivelliertem Wahlsystem
die Vertreter für die Wahlversammlung der Provinz kürte,53 durch die schließlich die CortesMitglieder gewählt wurden.54 Magistrate und Klerus spielten eine entscheidende Rolle, da sie die
Wählerlisten ausarbeiteten und die Wahlversammlungen leiteten.
Reminiszenzen an eine korporative Konzeption der Nation als politischer Körper, der auf
Familien und Pfarrgemeinschaften beruht, sind auch im nachfolgenden Gesetz (11.07.1821)55
52
Diese wurden durch Volkserhebungen (Martinhada) verworfen und dann ersetzt durch die Instruções da Junta
Provisional do Governo Supremo do Reino para as Eleições dos Deputados das Cortes, segundo o Método
Estabelecido na Constituicão Espanhola e Adaptado para o Reino de Portugal (22.11.1820).
53
Dies geschah durch öffentlich gegenüber dem Leiter der Wahlversammlung erfolgte Angabe der Vertreter.
54
Obwohl es keinen festgelegten Zensus gab, lief das offizielle Vorverständnis darauf hinaus, dass die Würde, die
Nation zu repräsentieren, „allen Zweigen, die die Gesellschaft illustrieren“ zu gewähren sei (Diário do Governo,
16.12.1820); dementsprechend war es für die Verfassung von 1822 zwingend, dass die Wahlmänner über „zur
Subsistenz ausreichende Einkünfte entweder von Grundstücken, oder vom Handel, oder einem Gewerbe oder Amte“
verfügten: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23), Art. 34, Abs. II bzw. Art. 33, Abs. 2). Die statusbezogene
Einschränkung wurde durch den Ausschluss gescheiterter Händler (“falidos”), möglicherweise auch wegen ihres
Mangels an Verantwortlichkeit, verstärkt. Auch befreite Sklaven (libertos) waren ausgeschlossen; paradoxerweise
wurden die Sklaven, die es noch in Übersee gab, überhaupt nicht erwähnt: Dies geschah entweder aus dem
Umstand, dass sie ohnehin nicht über die Bürgerrechte verfügten, oder weil sich ihr Ausschluss einfach von selbst
verstand, wie im Fall der Frauen, über die ebenfalls nichts gesagt wird. Ganz anders stellte sich das Motiv dar,
aufgrund dessen einige (geistliche, zivile und militärische) Autoritäten nicht wählbar waren: Es handelte sich um
eine Frage der Garantie der Wahlfreiheit.
55
Dieses Gesetz setzte im Wesentlichen die Wahlrechtsbestimmungen der Verfassung von 1822 um: Dok.-Nr.
21.2.2 (portug.)/21.2.3 (dt.) (wie Fn. 23), Tit. III, Abs. I.
19
wahrnehmbar, das ebenfalls ein patriarchalisches Wahlsystem errichtete, indem es Frauen,
Minderjährige oder auch in Lebensgemeinschaft mit ihren Eltern stehende Nachkommen (filii
familias), Hausdiener und Klostergeistliche ausschloss und mit weiterer Exklusion verbunden
war, die die unterste soziale Gruppe betraf (Vaganten, Analphabeten). Wie die Nation waren
auch die Wahlen auf traditionelle Weise katholisch, da das gesamte Wahlverfahren in eine
religiöse Atmosphäre eingehüllt war, indem dafür von Pfarrern bereit gestellte Kirchen benutzt
wurden und ein feierliches Te Deum (siehe Verfassung von 1822, Art. 43, 46, 48, 49, 53, 58, 70)
mit einbezogen wurde. Und sie waren schließlich mit jener Art der Verachtung für die
Unterschichten verbunden, die im Ancien Régime den Boden der Gesellschaft vom politischen
Leben ausgeschlossen hatte.56
Die absolutistische Reaktion widerrief diese Wahlgesetzgebung.57 Nach der Gewährung der
Carta Constitucional 1826 begann ein neues Wahlzeitalter, das bereits durch ein neues, typisch
bourgeoises elitäres Ideal gekennzeichnet war, dessen zentrales Selektionskriterium das – wenn
auch vergleichsweise moderate – Wahlrecht darstellte.58 Die Idee bestand darin, das Stimmrecht
auf diejenigen zu beschränken, die genug Verdienste besaßen, um über öffentliche
Angelegenheiten zu entscheiden; überdies wurde diese elitäre Gruppe auch durch diejenigen
gebildet, die als einzige, nämlich als Eigentümer, mit einer politischen Wahl tatsächlich Risiken
eingingen und außerdem als Steuerzahler die Staatshandlungen unterstützten. Sukzessive
Abänderungen der Wahlgesetzgebung59 führten ergänzende Kriterien ein, um das Verdienst der
56
Das Gesetz, d.h. die Verfassung von 1822, schloss vom Genuss der Bürgerrechte aus, wer zu einer
Gefängnisstrafe oder zum Exil verurteilt worden war und wer unter physischer oder moralischer Unfähigkeit litt:
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.3 (dt.) (Verfassung Portugals v. 23.9.1822), Art. 24 (portug.
Fassung) bzw. Art. 23 (dt. Fassung). In Berücksichtigung der Ermessensfreiheit des Pfarrers und der Gemeinderäte
bei der Zusammenstellung der Wählerlisten konnten überdies so vage Verfügungen wie die letztgenannte
Bestimmung (vor allem hinsichtlich der „moralischen Unfähigkeit“) einen entscheidenden Weg für den
willkürlichen Ausschluss gesellschaftlich unerwünschter Wähler eröffnen.
57
Diese lebte gleichwohl in den Wahlvorschriften wieder auf, die nach der demokratischen Septemberrevolution
von 1836 erlassen wurden (Dekret vom 8.10.1836).
58
Siehe Proklamation zur Aufhebung der Verfassung Portugals vom 31.05.1823, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.4,
und die Verfassung von 1826, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/21.2.8 (dt.) (wie Fn. 40), Tit. IV, Abs. 5.
59
Zu Wahlen und Wahlrecht während der Geltung der Carta siehe Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 261 f.,
353 ff., 371 ff.
20
Bürger in einem weiteren Sinne, nicht ausschließlich in Abhängigkeit zum Einkommen zu
bewerten. Aber das Zensussystem behielt bis zum Ende der Monarchie die Oberhand.60
Nach jüngsten Berechnungen belief sich die Wählerschaft 1861 auf nur 8,2 Prozent der
Gesamtbevölkerung (3.693.362 in Kontinentaleuropa) und die tatsächlichen Wähler betrugen nur
5 Prozent desselben Kollektivs.61 Trotz des Mangels an Repräsentativität stimmte das
portugiesische Panorama offensichtlich mit der Situation in zeitgenössischen europäischen
Ländern überein.62
4 Grundrechte
Jede portugiesische Verfassung dieses Zeitraums schließt eine Liste garantierter Bürgerrechte
mit ein. Der bedeutendste Unterschied liegt darin, dass mit einer solchen Garantie die
Verfassungstexte von 1822 und 1838 eröffnet werden, die Carta von 1826 das Thema aber in
ihren letzten Artikel unter einen Titel mit der Überschrift „Allgemeine Verfügungen und
Gewährleistung der bürgerlichen und politischen Rechte der portugiesischen Bürger“
60
Fernando Pitera Santos, Geografia e Economia da Revolução de 1820, Lisboa 1962; Luís F. Colaço Antunes,
Direito eleitoral e pensamento político no século XIX, in: Economia e Sociologia Nr. 31 (1981), S. 69-102; Pedro
Tavares de Almeida, Eleições e caciquismo no Portugal oitocentista (1868-1890), Lisboa 1991; ders., Introdução, in:
Legislação eleitoral portuguesa, 1820-1926, Lisboa 1998, S. VII-XXXV; ders., Portugal, in: D. Nohlen (Ltr.),
Elections in Europe: A data handbook, Bd. 2, Oxford 2009 (in Vorbereitung); ders., Reformas electorales y
dinámica política en el Portugal liberal (1851-1910), in: S. Forner (Ltr.), Democracia, elecciones y modernización
en Europa, siglos XIX y XX, Madrid 1997, S. 97-108. Materialien zur portugiesischen Wahlgeschichte 1820-1926
(Gesetzgebung, Ergebnisse, bibliographische Angaben etc.) finden sich auch in: <http://purl.pt/5854/1/index.html>
[04.09.2009].
61
Vgl. http://purl.pt/5854/1/documentos/MONARQUIA%20-%20Eleitores%20e%20Votantes.pdf> [04.09.2009]. In
England ließ einige Jahre später (Second Reform Act von 1867) das allgemeine Wahlrecht für Paterfamilias den
Prozentsatz der Wähler an der männlichen Bevölkerung auf 32 Prozent steigen. Demnach war das Panorama nicht
so unterschiedlich.
62
Verstreute Daten lassen sich auch finden bei R. Romanelli (Hg.), How did they become voters? The history of
franchise in modern European representation, The Hague 1998, respektive S. 153, 198: für Spanien um 1865 eine
Wählerschaft von 2,6 Prozent; für Brasilien um 1872 eine Wählerschaft von 10,3 Prozent; und für Schweden um
1866 eine Wählerschaft zwischen 5,5 und 8,5 Prozent (jeweils bezogen auf städtische und ländliche Gebiete).
21
einordnet.63 Die Bürgerrechtskataloge weisen den gebräuchlichen Gehalt des zeitgenössischen
Verfassungsrechts auf. Sogar die Religionsfreiheit ist inbegriffen, trotz der Existenz einer
Staatsreligion. Allerdings wird bei jedem Eintrag der Erklärung eine Formel wiederholt, die die
Gesamtkonzeption der Bürgerrechte und ihrer Garantie durch den Staat charakterisiert: „pela
maneira que a lei declarer“ („gemäß dem Gesetz“) oder eine ähnliche Formulierung. Dies
bedeutet: Die Rechte wurden nur zu den Bedingungen garantiert, unter denen sie das dem
Verfassungsrecht untergeordnete positive Recht ausgestaltete. Die Idee, die die Konzeption
individueller Rechte des sog. Rechtsstaats kennzeichnete, besagte, dass die natürlichen
Persönlichkeitsrechte durch politische Vergesellschaftung abgestorben wären, so dass das
Staatsrecht den individuellen Rechten vorausginge und sie bestimmte; und nicht, wie eine
radikale liberale Konzeption die Frage angehen würde, dass die individuellen Rechte über dem
Staatsrecht stünden und dieses bestimmten. Seltsamerweise befand sich diese gesetzliche
Konzeption der Bürgerrechte in Kontrast zu den vorherrschenden doktrinären Vorstellungen
über Naturrecht, individuelle Rechte, liberalen Staat, liberale Verfassung und positives Recht. In
der Tat florierte in der Rechtslehre ein ziemlich eklektischer Diskurs mit literarischen und
philosophischen Bezügen, nach dem in einem liberalen Staat und Verfassungssystem die Freiheit
und Bürgerrechte – namentlich die Freiheit, persönliche Sicherheit und das Eigentum –64 über
allem positiven Recht, allen Staatsgewalten und Institutionen stünden. Im Gegensatz dazu wurde
der freie Wille sogar der parlamentarischen Gesetzgeber durch die vorrangige Gültigkeit solcher
dem positiven Recht übergeordneter Werte und Rechte strengstens beschnitten und
eingeschränkt.65 Der Widerspruch lässt sich mit historischen, wenn auch nicht strikt logischen
Argumenten erklären. Der legalistische Impuls folgte dem Trend, die rechtsrationalistischen
theoretischen Erklärungen zu konkretisieren und ihrer Verschwommenheit Grenzen zu setzen;
und zugleich folgte er der Locke’schen Prävention gegenüber den Gefahren einer direkten
Durchsetzung individueller Rechte ohne jegliche Anleitung durch das positive Recht. Überdies
genügte die Würdigung der positiven Gesetzgebung dem politischen Ansehen der neugeborenen
63
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (portug.)/21.2.3 (dt.) (wie Fn. 23), Art. 1-19; Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/21.2.8 (dt.)
(wie Fn. 40), Tit. VIII, Art. 145; Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/21.2.12 (dt.) (wie Fn. 46), Tit. III, Art. 9-32.
64
Wie die Carta Constitucional selbst erklärte: „Die Unverletzlichkeit der bürgerlichen und politischen Rechte der
portugiesischen Bürger, welche die Freiheit, die persönliche Sicherheit und das Eigenthum zur Grundlage haben, ist
durch die Verfassung des Königreiches auf folgende Art gesichert: [...]“; CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.8 (wie Fn. 40),
Tit. VIII, Art. 145.
65
Vgl. ausführlich zu diesem Gegenstand: Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 3-97, 28-239.
22
demokratischen und repräsentativen Institutionen wie auch der Rousseau’schen Definition des
Gesetzes als volonté générale.
Im Gegensatz dazu entsprang die Lobpreisung von überpositiven Rechtsbestimmungen,
Freiheitsrechten und Werten auf der einen Seite der Furcht, die von der „Diktatur der
Mehrheiten“ (oder dem „gesetzlichen Absolutismus“) der Periode des französischen Konvents
und Terrors herrührte, und dem Wunsch, dem Mehrheitswillen (dem „Gesetz der Zahl“, dem
Prinzip des Alleingewinners) Grenzen zu setzen; auf der anderen Seite entsprach der Appell an
ein von oben (von der Vernunft, von der Tradition, von der Volksseele oder dem Geist der
Nation, von der gelehrten Meinung) herrührendes Gesetz einem Jahrhunderte langen
doktrinärem Selbstbewusstsein der Juristen, dem Glauben an ein Gesetz, das nicht auf dem
imperium des Staats, sondern auf der auctoritas der Rechtsgelehrten beruhte, was einer Idee
gleichkam, die sinnbildlich durch Jean-Étienne-Marie Portalis im titre préliminaire des
französischen Code Civil zum Ausdruck gebracht worden war und unerbittlich durch
Rechtsprofessoren in ihrem symbolischen Kampf gegen die neu aufsteigenden Gesetzgeber und
Politiker glossiert wurde.66
Die Liste der Bürgerrechte entsprach ganz gewiss einem liberalen politischen Konzept, obwohl
noch altmodische Garantien (z.B. das Recht auf öffentliche Gunst [mercês] in der Verfassung
von 1822, Art. 15; oder die Garantie des Erbadels67 in der Carta von 1826, Art. 145, § 31) wie
auch beispielsweise an befristete Laufzeiten von Staatsanleihen gebundene wirtschaftliche
Rechte (z.B. die Bezahlung der Staatsschuld in der Verfassung von 1822, Art. 236; in der Carta
von 1826, Art. 145, § 26; und in der Verfassung von 1838, Art. 31) präsent waren.68 Andererseits
erklärt die um die Bürgerrechte entstandene Verfassungskultur die doktrinären Reaktionen, die
66
Vgl. zu diesem durch Bordieus Konzept der „luttes symboliques“ inspirierten Thema: António Manuel Hespanha,
Um poder um pouco mais que simbólico. Juristas e legisladores em luta pelo poder de dizer o direito, in: História do
direito em perspectiva: do Antigo regime à modernidade, Curitiba 2008, S. 149-202; ders., Constitution as a
paramount doctrinal standard in the Portuguese legal thought of early-mid 19th century, in: M. Prutsch (Hg.),
Perspectives of a New Constitutional History, Florenz 2010 [in Vorbereitung]. Zu Portalis siehe auch Kap. 6, Justiz.
67
Diese Garantie widersprach dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz.
68
Die Verfassung von 1822 war die einzige, die in den Rechtekatalog, der den Text eröffnet (Art. 1-18), am Ende
eine Pflicht mit aufnahm: die Pflicht gerecht zu sein, die Religion zu achten, das Vaterland zu lieben, die Verfassung
und die Gesetze zu befolgen sowie die öffentlichen Behörden zu achten (Art. 19). Siehe CD-ROM-2, Dok.-Nr.
21.2.2 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.3 (dt.) (wie Fn. 23).
23
durch die Bezugnahme des Bürgerrechtsverzeichnisses in der Carta Constitucional von 1826
und der Verfassung von 1838 auf das Recht auf „öffentliche Hilfe“ („socorros públicos“ in der
Carta, Art. 145, § 29; in der Verfassung von 1838, Art. 28) ausgelöst wurden.69 Diese Eruption
proto-sozialer Rechte, bei denen es sich eigentlich um die epigonalen Kennzeichen eines
kameralistischen Fürsorgestaats handelte, erklärt auch die Erwähnung der Garantie einer freien
Grundschulausbildung und einer staatlichen Protektion der wissenschaftlichen, künstlerlischen
und literarischen Ausbildung (in der Carta von 1826, Art. 145, § 30, 32; in der Verfassung von
1838, Art. 28 f.).
Die Staatsbürgerschaft in überseeischen Territorien ließ jedoch einige praktische Probleme
entstehen, obwohl sie auf der Ebene des Verfassungswortlauts fast unbemerkt blieben. Und dies
ungeachtet der formalen Definition der portugiesischen Nation als „Vereinigung aller
Portugiesen beider Hemisphären“ in der Verfassung von 1822, wo auch eine vollständige Liste
der verstreuten portugiesischen Übersee-Kolonien angegeben wird (Art. 20); es werden die
Reiche von Portugal und Brasilien mit den jeweiligen Provinzen,70 mehrere nichtklassifizierte
Territorien (Bissau, Cacheu, Angola, Benguela, Cabo Verde, S. Tomé, Moçambique, Rio de
Sena, Salsete, Bardez, Goa, Diu etc.), Kolonien („dependências“: Cabinda, Molembo) und
Niederlassungen („establecimentos“: Macau, Solor e Timor) unterschieden. Dieser deutlich
empfundene Mangel an territorialer Homogenität wird noch durch das Versprechen bestätigt,
dass eine solche territoriale Anhäufung auf geeignetere Weise eingeteilt werden sollte. Dennoch
gewährte die Verfassung allen Portugiesen die Staatsbürgerschaft, ob sie im Vereinigten
Königreich (von Portugal und Brasilien) geboren oder darin nur dauerhaft ansässig waren,71
vorausgesetzt, dass sie von einem portugiesischen Vater abstammten (Art. 21). Die Carta
Constitucional von 1826 ging noch weiter, da sie jedem die Staatsbürgerschaft gewährte, der „in
Portugal oder den davon abhängenden Gebieten“ geboren war, unabhängig von der Nationalität
69
Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 188.
70
Algarve erscheint sowohl als Reich als auch als Provinz.
71
Diejenigen, die von einem portugiesischen Vater außerhalb des Vereinigten Königreichs (d.h. im Ausland [„no
estrangeiro“]) geboren wurden, mussten einen festen Wohnsitz im Vereinigten Königreich erlangen, um
portugiesische Staatsbürger zu werden. Offenbar wurden die portugiesischen Territorien in Afrika und Asien nicht
in das Vereinigte Königreich einbezogen, da daraus die automatische Erlangung der portugiesischen
Staatsbürgerschaft gefolgt wäre. Die Carta Constitucional (1826) geht deutlich darüber hinaus, indem sie u.a. jeden
Sohn eines portugiesischen Vaters, der auf portugiesischem Territorium oder im Ausland geboren wurde, als
portugiesischen Staatsbürger betrachtete (Art. 6).
24
des Vaters (Art. 7); d.h., indem sie sich offenbar eine politische Integration des Territoriums zu
Eigen machte, wandte sie ein nahezu striktes ius soli an.
Die Ambiguität hinsichtlich des status civitatis reichte jedoch tiefer, wenn man berücksichtigt,
dass (i) die Sklaverei noch in Übersee existierte; dass (ii) die Staatsbürgerschaft durch die Carta
Constitucional nur befreiten Sklaven (liberto) gewährt wurde; und dass schließlich (iii) der
politische Status der die Kolonien bewohnenden Ureinwohner gänzlich unsicher war, so dass die
allgemeine Regel aufgestellt werden kann, dass mit Ausnahme der assimilierten städtischen
Eliten die indigene Bevölkerung im Allgemeinen keine politischen Rechte besaß und ihren
heimischen Autoritäten und Gesetzen unterworfen war. Indigene Stammesfürstentümer, die in
Zonen bestanden, welche (ungenauem) portugiesischen Einfluss ausgesetzt waren, wurden oft
eher durch „Verträge“ als durch eine ordentliche Souveränitätsbindung verpflichtet. 72 Noch 1867
fand das Zivilgesetzbuch keine formale Anwendung auf mehrere afrikanische und asiatische
indigene Gruppen; in praktischer Hinsicht war daher seine lokale Wirkung sicherlich minimal.73
5 Verwaltung
Wichtiger als eine Beschreibung der Verwaltungsmodelle, die in Portugal nach der sog.
„liberalen Revolution“ angenommen wurden, erscheint in unserem Zusammenhang die
Identifizierung der Vorstellungen über die Rolle von Staat und Verwaltung im neuen politischen
Zeitalter. Daher wird nach einer einleitenden Kurzbeschreibung des durch den „Liberalismus“
herbeigeführten Wandels der Verwaltungsstruktur eine Bemerkung über das untergründige
Verständnis von den Funktionen des neuen Staats den Kern dieses Kapitels bilden.
Den Verwaltungsapparat zu verändern war ein ziemlich langatmiger und nicht zielgerichtet
verlaufender Prozess. In rein institutioneller Hinsicht bedeutete dies, den alten Apparat sowohl
von der korporativ organisierten Monarchie als auch vom kameralistischen Aufklärungsstaat zu
72
Zu dieser äußerst konfusen Situation – die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oder gar bis zum Estatuto do
Indigenato von 1926 (vgl. Elizabeth Ceita Vera Cruz, O estatuto do indigenato e a legalização da descriminação na
colonização portuguesa: o caso Angola, Lisboa 2006) nicht geklärt wurde – siehe die grundlegende Arbeit von
Silva, Constitucionalismo (wie Fn. 5).
73
Dies gilt trotz einer angeblichen kolonialen Assimilationspolitik, deren Aufrichtigkeit und Wirksamkeit von der
jüngsten Geschichtsschreibung ernsthaft in Zweifel gezogen wird; siehe Silva, Constitucionalismo (wie Fn. 5).
25
lösen und ihn durch eine Administration zu ersetzen, die mit den Prinzipien eines (womöglich
repräsentativen, effizienten und liberalen) Verfassungsstaats harmonierte. Die zentralen Organe
mussten im repräsentativen Sinne reformiert, verantwortlich gegenüber den
Repräsentativorganen gemacht und – in ihrer Form und Funktionsweise – den konstitutionellen
Prinzipien angepasst werden. Eine hierarchische und unipolare Administration sollte den polysynodalen, d.h. aus mehreren königlichen Ratsversammlungen mit eigener garantierter
Jurisdiktion bestehenden und in sich selbst verschränkten proto-bürokratischen Apparat des
späten Ancien Régime ersetzen. Die Lokalverwaltung sollte von der Konstellation durchaus
autonomer interner Republiken zu einem untergeordneten Netzwerk territorialer Distrikte
degradiert werden. Die Ämter sollten ihren allgemeinen Patrimonialcharakter verlieren und zur
bloßen longa manus der Repräsentativgewalten werden, indem sie streng auf die Verfassung und
Gesetze zu verpflichten waren. Die Bürger sollten vor Missbräuchen und Unregelmäßigkeiten
der Verwaltungsorgane gesichert sein. Dieser komplexe Wandel war nicht allen klar. Sodass
selbst nach der Errichtung der neuen Ordnung viele sich weiterhin auf dieselbe Weise an die
neuen Organe wandten, wie deren Vorgängerinstitutionen angesprochen worden waren, und
dabei dieselben Antragszeiten und Formeln beachteten. Wie bereits aufgezeigt ersetzten die
repräsentativen Cortes den absolutistischen König als Ziel von Supplikationen, Protesten,
Verlangen nach Gerechtigkeit, Gnade oder Stellen. Andere hatten jedoch durchaus eine
Vorstellung von der Tiefe der auszuführenden Reformen und – paradoxerweise für jemanden,
der den liberalen Charakter des „liberalen Staats“ als gegeben ansah –74 von der zentralen
Bedeutung, die der Staat und die Verwaltung im neuen politischen System annehmen sollten.
Die Reden der führenden Cortes-Mitglieder von 1820 zeigen, dass man von der
Regierungstätigkeit (Verteidigung, Polizei, zivile und wirtschaftliche Verwaltung) sehr viel
erwartete, obwohl der repräsentative und verantwortliche Chatakter der zugehörigen Ämter auch
ein Anliegen war.75 Im Gegensatz dazu wurde wirtschaftlicher Liberalismus im Sinne eines
74
Der Begriff „liberal“ meint im portugiesischen politischen Vokabular der Epoche tendenziell eine
Verfassungsordnung, die persönliche Freiheiten und eine gewisse politische Partizipation garantierte; vgl. bspw.
Diario da Cortes Gerais Extraordinárias e Constituintes da Nação Portugueza (im Folgenden: DCGECNP), 1821, S.
86, 93, 103, 133, 140, 144, 155, 168, 178, 224, 339, 761, 2030.
75
Vgl. exemplarisch die Ausführungen gegen privilegierte Unternehmen und zugunsten der Handels- und
Wirtschaftsfreiheit, in: DCGECNP (wie Fn. 74), Nr. 11, 09.02.1821, S. 68; oder den parecer der Comissão de
Comércio über die Vorteile freien Handels und Wettbewerbs als wirkungsvollste Hebel zur Erzielung
wirtschaftlichen Fortschritts, ebd., Nr. 106, 18.06.1821, S. 1242.
26
Rückbaus des Staats weniger systematisch eingefordert, trotz seiner vereinzelten Erwähnung in
den Cortes.76 Wie es einer der einflussreichsten Abgeordneten formulierte, überstiegen in der Tat
die Kosten einiger der elementarsten Erfordernisse der Wirtschaft den Profit, den private
Unternehmer aus ihnen erzielten konnten, sodass nur der Staat ihre Einrichtung unterstützten
konnte.77 Obwohl gemäß Wortlaut der Verfassung der executivo theoretisch nur
Restkompetenzen erhielt (Verfassung von 1822, Art. 122),78 offenbart eine weniger formale und
oberflächliche Lesart die praktische Zentralität der Regierung.79 Von ihr erwartete man wirklich
viel. In seiner Erörterung der Beziehung zwischen legislativo und executivo brachte ein CortesMitglied (der Abgeordnete Rebelo) die richtige Strategie der Kammer wie folgt zum Ausdruck:
„freie Hand der Regierung, der jedes Mittel zu gewähren ist, um ihr die Erfüllung ihrer Mission
zu ermöglichen“.80
Die Tendenz, mehr und mehr von der Staatsregierung und Verwaltung einzufordern, verknüpfte
sich sukzessive mit mehreren Faktoren. Der erste Einflussfaktor war sicherlich die
Notwendigkeit tiefer und schneller Umgestaltungen auf politischer, gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Ebene. Dieses Modell der Gesellschaftsreform entsprach jedoch auch dem
staatsorientierten Reformismus des aufgeklärten Despotismus, der seit Pombal in der
portugiesischen Politik verwurzelt war. Das Beispiel der umfassenden postrevolutionären und
napoleonischen Umgestaltung der französischen Gesellschaft bildete eine zweite und beständige
Inspirationsquelle. Weitere Einflüsse kamen auch aus England, wo William Blackstone den
76
Grundlegend für die ursprünglichen Vorstellungen über die Verwaltungsreformen ist der durch Manuel Fernandes
Tomás den Cortes vorgelegte relatório (Bericht), in: DCGECNP (wie Fn. 74), Nr. 7, 25.02.1821, S. 1002.
77
„Vós não ignorais, Senhores, que sem estradas os frutos, e objectos de industria são quase perdidos na massa geral
dos interesses sociais, porque o transporte excede muitas vezes o valor das mercadorias.“ Manuel Fernandes
Thomas, in: DCGECNP (wie Fn. 74), Nr. 7, 05.02.1821, S. 33.
78
Durch irrtümliche Zählung erscheint Art. 122 in der deutschen Fassung als Art. 119: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.3
(Verfassung Portugals v. 23.9.1822).
79
Entgegen der Anordnung der Regierungskompetenzen in Art. 75 der Carta von 1826 bestand der Kern der
Tätigkeiten des executivo in der „Regierung“ und innerhalb dieser in der „Administration“ (§ 3 und 4: Nominierung
von Richtern und Zivilbeamten; § 12: Ausarbeitung der „Decrete, Instructionen und Reglemente, welche nöthig und
für die gute Vollziehung der Gesetze tauglich sind“; § 13: „für Alles, was die innerliche Ruhe des Staats betrifft, in
den durch die Verfassung vorgeschriebenen Formen zu sorgen“). In der Verfassung von 1838 war die Aufzählung
des excutivo noch trügerischer, da sie die Handlungen des „governo“ und „administração“ völlig ausschloss (siehe
Art. 81).
80
DCGECNP (wie Fn. 74), Nr. 6, 03.02.1821, S. 27; Nr. 7, 05.02.1821, S. 39.
27
Gebrauch der Prärogative des Königs zum Zwecke der Modernisierung der Gesellschaft
unterstrich, ein Thema, das durch seine amerikanischen Kommentatoren noch bekräftigt wurde.81
Staatsinterventionismus wurde auch zur gemeinsamen Auffassung der romantischen Lehre des
Öffentlichen Rechts82 sowohl in Frankreich als auch in den deutschsprachigen Ländern, noch
bevor das Aufkommen der hegelianischen Rechtsstaatslehre das Rechtsmilieu Südwesteuropas
namentlich durch Johann Kaspar Bluntschli83 hervorbrachte, der den Staat „als einen sittlichgeistigen Organismus“ betrachtete, „als einen großen Körper, der fähig ist die Gefühle und
Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz auszusprechen, als That zu
verwirklichen.“84 In Portugal ist diese Idee eines weit reichenden und komplexen Staatsauftrags
zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse bereits in der Rechtslehre der 1840er Jahre sehr
gängig.85 Diese Entwicklung hatte institutionelle Konsequenzen.
Eine Folge davon war die politische Herabstufung der Gemeinden,86 deren Zahl, Autonomie und
politische Macht durch Mouzinho da Silveiras Reforma administrativa (Dekret Nr. 23 vom
16.05.1832),87 die nach dem französischen Modell territorialer Zentralisierung konzipiert war,
ernstlich reduziert wurde.88 Das Reich wurde in Provinzen, comarcas (Gerichtsbezirke auf
81
Vgl. William Blackstone, An analysis of the laws of England (1756), Oxford 1771, Kap. 7., S. 16 f.; oder ders.,
Commentaries on the laws of England, 4 Bde., Oxford 1765, in: CD-ROM-1, Dok.-.Nr. 1.2.6 (Auszug), hier jedoch
die kommentierte amerikanische Ausgabe von Philadelphia 1869, Bd. 1, Kap. 7, S. 236 ff., 298 ff.
82
Gian Domenico Romagnosi, Introduzione allo studio del diritto pubblico universale, Parma 1805; Louis-Marie de
la Haye, Vicomte de Cormenin, Questions de droit administratif, Paris 1822 (wichtige Neuausgabe 1840); LouisAntoine Macarel, Éléments de droit politique, Paris 1833; ders., Cours de Droit Administratif, Paris 1843-1846;
Alexandre-François Vivien, Études administratives, Paris 1859; Johann Kaspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht
geschichtlich begründet, München 1851-1852.
83
Der Schweizer Jurist Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881), Professor in Heidelberg, war sehr einflussreich im
akademischen Leben Portugals, da sein „Allgemeines Staatsrecht“ (wie Fn. 82) in der französischen Übersetzung
von A. de Riedmatten als Handbuch in der Rechtsschule Coimbras im Gebrauch war.
84
Bluntschli, Staatsrecht (wie Fn. 82), hier zit. nach der 3. Aufl.: München 1863, Bd. 1, S. 39.
85
Vgl. José Silvestre Ribeiro, Resoluções do Conselho de Estado, Lisboa 1854-1868, hier Bd. 1, Lisboa 1854, S.
177 f.; Basílio Alberto de Sousa Pinto, Análise da Constituição de 1838 (S. 161), in: A. M. Hespanha/C. Nogueira
da Silva (Hg.), Fontes para a história constitucional portuguesa (c. 1800-1910), Lissabon 2004 (DVD).
86
Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 339-343.
87
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.5.1.
88
Verfassung Frankreichs von 1791, in: CD-ROM-1, Dok.-Nr. 3.2.5 (frz.)/3.2.6 (dt.) (Verfassung Frankreichs v.
3.9.1791) auch in: <http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/la-constitution/lesconstitutions-de-la-france/les-constitutions-de-la-france.5080.html> [04.09.2009].
28
mittlerer Ebene) und concelhos89 eingeteilt, die alle von Verwaltungsleuten geleitet wurden, die
von der Krone nominiert waren und nur durch wählbare Versammlungen unterstützt wurden90 –
ein zentralisiertes Modell, das bis zum Ende der Monarchie überwog, trotz des dezentralisierten
Verwaltungsmodells des ephemeren Verwaltungsgesetzes von 1836. Eine weitere Konsequenz
bestand in der aufsteigenden und streng hierarchischen Organisation des Staatsapparats. 91 Gemäß
einer akkuraten jüngeren Studie92 erfuhr die Beamtenschaft der Zentraladministration
(Secretarias de Estado) im Zeitraum 1805-1851 einen zahlenmäßigen Anstieg von 103 auf 339
Funktionäre (um ca 230 Prozent), wobei die Jahre 1823-1826 (nach der ersten Stabilisierung der
Verfassungsordnung und der Errichtung des zugehörigen institutionellen Rahmens mit einem
Anstieg von ca. 37 Prozent), 1836-1839 (gerade nach dem liberalen Sieg und der Errichtung der
neuen Regierung: 34 Prozent) und 1843-1851 (im Zuge einer politischen Wende zur
Verbesserung der Verwaltung und zum wirtschaftlichen Fortschritt des Landes: 22 Prozent) die
Wendepunkte darstellten. Dennoch lässt sich diese umfassende Vermehrung hauptsächlich durch
das Wachstum zweier Ministerien erklären: Krieg und Finanzen. Wenn wir diese beiden
Sektoren weglassen, sinkt der Anstieg in demselben Zeitraum auf geringere Raten (von 103 auf
191, also um ca. 85 Prozent). Die Phase 1823-1826 behält ihre Einzigartigkeit; danach verläuft
der Anstieg jedoch langsam und progressiv (um zwölf Prozent insgesamt).93 In einer
vorangegangenen Studie – auch wenn diese eine weitere Periode (die zweite Hälfte des
Jahrhunderts) mit abdeckte – veranschlagte Luís E. da Silveira eine konstante, wenn auch
sektoriell asymmetrische Vermehrung der Beamten (um ca. 14 Prozent für den gesamten
89
Deren Zahl von ca. 800 auf ca. 350 im Jahr 1836 reduziert wurde, während ihre Einkunftsquellen fast versiegt
waren. Vgl. Manique, Mouzinho da Silveira (wie Fn. 12).
90
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.5.2 (Dekret zur Provinzialgliederung v. 28.6.1833).
91
Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 299-310.
92
Joana E. Almeida, Os „mangas de alpaca“. A Cultura Burocrática Ministerial. Repartições, empregados e
quotidiano das Secretarias de Estado na primeira metade do século XIX, Diss. phil. Instituto de Ciências Sociais
Lisboa 2008.
93
Umfassende Daten zur gesamten Staatsverwaltung – und nicht nur zu deren Herzstück in Lissabon – für die erste
Jahrhunderthälfte sind weitaus unzuverlässiger; allerdings soll nach José Subtil der erste liberale Staat über ca. 3.000
Beamte verfügt haben, was bedeutet, dass sich zwischen 1827 und 1854 ihre Zahl fast um das Vierfache erhöhte.
Vgl. José Subtil, Governo e administração, in: Hespanha (Hg.), Regime (wie Fn. 11), S. 141-205, hier S. 192; siehe
die Bewertung bei Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 289-310.
29
Zeitraum);94 klammert man jedoch das Militär aus, das einen starken, aber zugleich stabilen
Anteil am Ganzen darstellte, erreichte der restliche Anstieg ca. 35 Prozent.
Die dritte Konsequenz war die Schwäche wirklicher Garantien der Bürger gegenüber den
Verwaltungshandlungen, was auch Fragen wie die der Anfechtung von Verwaltungsakten
(contencioso administrativo)95 und die der Verantwortlichkeit der Beamten betraf. In Portugal
bestand das einzige Recht, das die Bürger gegenüber der Verwaltung hatten, im gesetzlichen
Schutz konsolidierter Rechte, die von ihrem Zivilstand, Eigentum oder den mit der Verwaltung
geschlossenen formalen Verträgen herrührten. Trotz der Verfassungsbestimmung, dass die
Verwaltung durch ihre generelle Gesetzestreue gebunden sei, trat die rechtliche Kontrolle der
Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns erst 1845 (Statut vom 3. Mai) auf, als die „Secção
administrativa“ im Conselho de Estado mit der Befugnis geschaffen wurde, die Gesetzmäßigkeit
der hohen Staatsverwaltung zu beurteilen. Die Entscheidungen dieser Sektion sollten jedoch
durch ein Regierungsdekret ratifiziert werden, was auch noch galt, als 1870 der Supremo
Tribunal Administrativo geschaffen wurde. Was die (straf- und zivilrechtliche)
Verantwortlichkeit des Staats, der Verwaltung und Beamten betraf, so wurde diese Frage in jeder
Verfassung angesprochen; allerdings entwickelte man zumindest bis zum Ende der Monarchie
(1910) nie die dafür notwendige ergänzende Gesetzgebung.
6 Justiz
Wen wir unter Justiz all das verstehen, was sich auf den Zustand der Rechtsordnung
einschließlich ihrer verfassungsmäßigen Struktur bezieht, werden wir für den
Untersuchungszeitraum zu einem Überblick gelangen, der sich von der Darstellung der
gebräuchlichsten Literatur ziemlich unterscheidet. In der Tat herrschte über den durch das
Aufkommen eines formalen Konstitutionalismus ausgelösten Verfassungsbruch hinaus eine
grundlegende Kontinuität hinsichtlich der Rechtssubstanz. Trotz durchdringender Vorschläge
zugunsten eines neuen Primats der Gesetzgebung – mit der folgerichtigen Unterordnung der
94
Luís E. da Silveira, A administração do Estado em Portugal no século XIX, in: Los 98 Ibericos y el mar, Bd. 3,
Madrid 1998, S. 317-333, maxime S. 324.
95
Vgl. Mª da G. Garcia, Da justiça administrativa em Portugal. Sua origem e evolução, Lisboa 1994; Hespanha,
Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 279-283.
30
Rechtslehre und des judiziellen Rechts – blieb in Wirklichkeit die Rechtslage in grundsätzlicher
Hinsicht dieselbe, wie sie aus der Reform der Rechtsquellen durch die Lei da Boa Razão (1769)
hervorgegangen war. In einen Satz zusammengefasst: Das Recht blieb im Wesentlichen
jurisprudentiell, es wurde eher durch Juristen als durch Gesetzgeber definiert; die Richter
behielten ihr elementares Vorrecht zur Bestimmung des gültigen Gesetzes ohne substantielle
Treue gegenüber den nachfolgenden Verfassungen.
Die portugiesische Reform der Rechtsschule von Coimbra (1772) hatte auf der Legitimitierung
der gelehrten Träger der rechtlichen Vernunft (recta ratio iuris) zur Festsetzung der
Rechtsgrundlagen, demzufolge des eigentlichen Verfassungsrechts, fokussiert. Der revolutionäre
Demokratismus brachte jedoch eine andere Konzeption hinsichtlich der Art und Weise der
Rechtsbildung hervor. Nicht zufällig reagierte diese neue Idee der Konstituante ziemlich heftig
auf die Ermächtigung ausgebildeter Juristen, den Volkswillen zu vertreten. Wenn das
Parlamentsrecht mit vorrangiger Durchsetzung gewährt werden sollte, gab es keinen Platz für
eine richtungsweisende Rechtslehre oder ein leitendes judizielles Recht, das der klassischerweise
als unzuverlässig geltenden Juristenklasse anvertraut war. Dieser Vorrang des Parlamentsrechts
hatte ein Aufgebot institutioneller Waffen zur Folge, die sich gegen die Entscheidungsansprüche
der Juristen richteten, ob es sich um Richter oder Rechtsprofessoren handelte. Die radikalste
(wenngleich auch die naivste) Waffe war das Verbot der doktrinären Auslegung (référé
legislatif). Unter den übrigen Waffen befanden sich der recours de cassation; die Herabstufung
der Rechtslehre auf die bloße Aufgabe, das Gesetz zu erklären und zu kommentieren (École de
l’Éxégèse, annotative jurisprudence); die Annullierung aller Rechtsquellen außer der
Gesetzgebung; oder – wie es in Portugal der Fall war – wenigstens die Neigung, Gesetzesmängel
durch den Import ausländischer Gesetzgebung zu beheben, vor allem wenn diese in
maßgeblichen Quellen wie den neuen Gesetzbüchern zivilisierter (d.h. policées) und
modernisierter Nationen (Toskana, Preußen, Frankreich, Österreich, Sardinien) verankert
waren.96 Die ersten portugiesischen Cortes wiederholten die Schmähungen gegen ausgebildete
Juristen und Richter, die auch durch den außerordentlichen Einfluss von Jeremy Benthams
(kritischen) Vorstellungen über das Justizmilieu genährt wurden. In politischer Hinsicht wurde
jeder von juristischen Kreisen ausgehende Versuch, das Recht und vor allem politisches oder
Verfassungsrecht zu formen, häufig als Verstoß gegen die Volkssouveränität wahrgenommen.
96
Dies war sogar durch die Statuten der Rechtsschule von Coimbra (1772) formal erlaubt, die die Gesetze der
modernen und kultivierten Nationen als bestes Zeugnis der richtigen Vernunft betrachteten.
31
Daher war in den ersten Jahrzehnten des portugiesischen Liberalismus die Rechtslehre noch
nicht so redselig, wie sie es später hinsichtlich der natürlicherweise den Juristen bei der
Rechtschöpfung zugedachten Rolle werden sollte. Die erste liberale Generation von
Rechtsprofessoren in Portugal gestand ängstlich ein, dass selbst wenn sie neues Recht schuf oder
unter widersprüchlichen rechtlichen Richtungen durch offene Äußerung ihrer Meinung
auswählte, sie dazu einzig wegen des absoluten Mangels an parlamentarischen Rechtsstandards
gezwungen wäre.
Allerdings räumten die elitären Konzeptionen der liberalen Hauptrichtungen,97 die durch die
Ängste vor einer Herrschaft der parlamentarischen Mehrheiten, wie sie das erste französische
Verfassungsexperiment geschürt hatte, noch bekräftigt wurden, den Juristen eine neue
Gelegenheit zur Wiedereröffnung der Debatte über die Notwendigkeit eines aristokratischen
Elements bei der Definition der Rechtsgrundlagen ein, vor allem was die Ausformulierung der
Verfassung und der Gesetzbücher betraf, die auch als Eckpfeiler der Rechtsordnung betrachtet
wurden; was gewiss durch den von Jean-Etienne-Marie Portalis verfassten Discours préliminaire
sur le Projet du Code Civil inspiriert war.98 Dieser Vorrang des doktrinären Rechts gegenüber
der Gesetzgebung und sogar gegenüber der formalen Verfassung erklärt den Umstand, dass unter
den konstitutionellen Aufgaben der Richter (Verfassung von 1822, Tit. V; Carta von 1826, Tit.
VI; Verfassung von 1838, Tit. VI) ihre eigentlich zu erwartende Treueverpflichtung gegenüber
der Verfassung oder gegenüber dem Gesetz niemals genannt wurde, was ihnen solch eine –
zumindest theoretische – Autonomie bescherte, dass einige Publizisten von einer Erneuerung der
alten Herrschaft der Richter („desembargocracia“) sprachen. Dies war gewiss eine extreme
Auffassung; allerdings war sie nur deshalb extrem, weil das klägliche gesellschaftliche Ansehen
der Justiz, ihr Mangel an korporativem Selbstbewusstsein und ihre politische Abhängigkeit von
der Regierung sie daran hinderte, eine deutliche politische Rolle zu spielen.
Von der politischen Seite her betrachtet unterstrich diese Entwicklung die Dringlichkeit, der
Justizgewalt wenigstens auf organisatorischer und verfahrensrechtlicher Ebene einen neuen
Rahmen aufzuerlegen. Dies war das Ziel der nachfolgenden institutionellen Reformen des
97
Siehe Pierre Rosanvalon, Le moment Guizot, Paris 1985; Gertrude Himmelfarb, On liberty and liberalism: the
case of John Stuart Mill, San Francisco 1990.
98
Jean-Étienne-Marie Portalis, Discours préliminaire sur le Projet du Code Civil (1801), in: F. Portalis (Hg.),
Discours, rapports et travaux inédits sur le Code civil, Paris 1844 (Neuausg.: Discours et rapports sur le Code Civil,
précédés de l’Essai sur l’utilité de la codification de Frédéric Portalis, Paris 1989).
32
Justizapparats. Die strategischen Richtlinien der Justizreform bestanden im Abbau der
korporativen Macht der Richter nebst der Stärkung der Laienintervention im Justizapparat und
im Gerichtsverfahren. Natürlich verlief die Entwicklung nicht geradlinig, sondern hing vom
Verlauf der Politik ab, da progressive und konservative Richtungen unterschiedliche
Vorstellungen über das Verhältnis von Justiz, Richtern und dem populären Element hatten.
Immerhin bildete sich aber ein breiter Konsens im Sinne eines „natürlichen“ und vereinfachten
Verfahrens, einer Begrenzung der richterlichen Ermessensfreiheit und eines Fortschritts in
Richtung einer humaneren und verbrieften Strafjustiz heraus.
Übereinstimmung und Dissens trafen in drei paradigmatischen Fragen aufeinander: der
Zulassung des Schwurgerichtsverfahrens, dem Rang nicht judizieller Schlichtungsinstitutionen
und dem Raum für wählbare Richter. Die Geschworenen wurden als Eckpfeiler einer liberalen
Justiz betrachtet und daher – sowohl in Zivilrechts- als auch in Strafrechtsfällen, auch wenn
dabei ihre Kompetenzen auf die Beurteilung der Sachfrage beschränkt waren – durch einige
Verfassungen zugelassen (Verfassung von 1822, Art. 177, 178;99 Verfassung von 1826, Art. 118,
119)100 und als zwingend erforderliche Einrichtung durch die erste umfassende Justizreform
(Mouzinho da Silveiras Dekret Nr. 24 vom 16.05.1832)101 reguliert. Infolge der „Nova Reforma
Judiciária“ (1836) begann der Verfall des Instituts der Geschworenen, da man ihm vor allem ein
großes Aufgebot ziviler Rechtsstreitigkeiten – die angeblich am formalsten und weniger
entscheidend für die Freiheit und Sicherheit waren – zumutete. Die „Novíssirna Reforma
Judiciaria“ (21.05.1841) machte die Intervention der Geschworenen dann von der Zustimmung
beider Seiten abhängig (Art. 304), was auch die durch den „Código de Processo Civil“ von 1876
(Carta de Lei vom 8.11.1876) übernommene Lösung darstellte. In Strafsachen war die
Beharrungskraft der Geschworenen größer.102 Noch größer war sie – entsprechend der Natur der
99
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23). Durch irrtümliche Zählung erscheinen Art. 177-178 in der deutschen
Fassung als Art. 168-169: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23).
100
Für die zeitgenössische Verwirrung über das Thema war es signifikant, dass die Verfassung von 1838 ein
deutliches Stillschweigen über das Institut der Geschworenen wahrte.
101
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.6.2 (Justizreform v. 16.5.1832). Siehe auch den zugehörigen Bericht Mouzinho da
Silveiras ebd., Dok.-Nr. 21.6.1 (Bericht über die Reformen des Finanz-, Verwaltungs- und Justizwesens v.
16.5.1832).
102
Es kam hier später zu einigen Beschränkungen (Dekret Nr. 2 vom 29.03.1890).
33
Gegenstände – in Handelsrechtsverfahren, wo sie bis 1890 vollständig aufrechterhalten
wurden.103
Radikaler war die Einrichtung nicht judizieller Streitschlichtungsinstitutionen. Sie wurden durch
die Verfassung von 1822 (in der Gestalt ehrenamtlicher Friedensrichter, Art. 194-195)104
vorgesehen, während die Charta von 1826 vorschrieb, dass jedem formalen Rechtsstreit ein
Versuch zur Schlichtung vorausgehen musste (Art. 128, vgl. auch Art. 127, 129).105 Schließlich
wurden die wählbaren Richter, die das Herzstück der Richterschaft im Ancien Régime gebildet
hatten,106 in den ersten Verfassungen beibehalten, hauptsächlich weil es unmöglich war, gelehrte
Richter für ca. 700 Bezirke bereitzustellen. Auf der anderen Seite verlangte der Abbau der alten
Vermischung zwischen Lokalregierung und Justizverwaltung eine Reform des Systems, obwohl
der wählbare Charakter der alten Richter scheinbar dem Prinzip einer demokratischen Justiz
genügte. Aber nur scheinbar, denn das alte System repräsentierte eigentlich die Hegemonie
traditionaler lokaler Eliten, innerhalb derer die lokalen Richter nämlich gewählt wurden. Aus
diesem Grund beschritt die Verfassung von 1822 einen anderen Weg zur Demokratisierung der
Justiz – den des Geschworenengerichts –, wenngleich sie die Gemeinderichter beibehielt (Art.
180-181),107 dem auch die Charta von 1826 folgte (vgl. jedoch Art. 75, Abs. 3). Fortbestand und
Bedeutung der wählbaren Richter sollten jedoch von kurzer Dauer sein: Beide Verfassungen
ebenso wie die Justizreform von 1832 beschnitten auf drastische Weise ihre Befugnisse, indem
sie sie gelehrten Richtern benachbarter größerer Distrikte unterwarfen. Und nach dem liberalen
103
Mit der Möglichkeit des Verzichts (Dekret Nr. 2 vom 29.03.1890).
104
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23). Durch irrtümliche Zählung erscheinen Art. 194-195 in der deutschen
Fassung als Art. 184-185: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23).
105
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.8 (dt.) (wie Fn. 40). Eine analoge Bestimmung findet sich
in der Justizreform vom 16.5.1832, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.6.2, Art. 7. Die „Nova Reforma“ (1837)
vervielfachte die Ausnahmen, weshalb sie das Gewicht von Laienhelfern an den Gerichten unter generellem Beifall
des gelehrten Milieus reduzierte. Fast dasselbe Profil lässt sich in der Entwicklung des Schlichtungsverfahrens
nachweisen, das 1832 und 1837 weithin zugelassen wurde, aber danach zumindest in den ordentlichen Gerichten
und im ordentlichen Verfahren an Bedeutung verlor (siehe den „Codigo de Processo Civil“ von 1876, Art. 357,
362). Siehe die Bewertung bei Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 346-350.
106
Dies gilt namentlich für mittlere und kleine Bezirke (ca. 80 Prozent der Gesamtheit).
107
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23). Durch irrtümliche Zählung erscheinen Art. 180-181 in der deutschen
Fassung als Art. 170-171: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23).
34
Sieg wurden sie schließlich beseitigt, da man sie als Säule des Absolutismus betrachtete
(Statutgesetz vom 30.04.1835).108
Sobald diese strategischen Fragen gelöst waren, übernahm man das allgemeine Modell einer
dreistufigen Justizorganisation – Tribunais de Comarca, Relações, Supremo Tribunal de Justiça
–, auch als ein Modell, das größtenteils die Justizstruktur des Ancien Régime bewahrte.109
Dieselbe Einmütigkeit betraf klassische Streitfragen wie die Unabhängigkeit und
Unabsetzbarkeit der Richter.
7 Militär
Die Verfassung von 1822 (Tit. IV, Kap. VIII)110 hielt die Grundstruktur des Militärs – der
regulären Armee und der lokalen Milizkorps, die überall auf dem Reichsterritorium bestanden –
unverändert aufrecht. Der Wille zur Vorbeugung einer anglo-portugiesischen Militärvormacht,
wie sie während der vorangegangenen 15 Jahre bestanden hatte, veranlasste die Konstituante zu
der ausdrücklichen Erklärung, dass der Charakter der Streitkräfte „national“ (nicht königlich 111
oder noch weniger ausländisch) und ihre Stärke durch die Cortes festzulegen war, wobei ihr Ziel
in der inneren und äußeren Landesverteidigung bestand. Um ein Phänomen zu verhindern, das
sich dann dennoch für fast 30 Jahre überall verbreiten sollte, legte die Verfassung fest: „Die
108
Wenngleich ihre Geschichte damit noch nicht beendet war, da sie letztendlich und definitiv erst 1874 beseitigt
wurden (Statutgesetz v. 16.04.1874; Dekret v. 29.06.1869). Vgl. zur gesamten Geschichte Alberto dos Reis,
Organização judiciária, Coimbra 1909, S. 80 ff.; José Joaquim Lopes Praça, Estudos sobre a Carta Constitucional,
Lisboa 1878-1880, hier Bd. 1, Lisboa 1878, S. 329 ff.
109
Bei dieser hatte es sich eigentlich um ein zweistufiges System gehandelt, da der „Desembargo do Paço“
(Oberster Gerichtshof) eine außerordentliche und auf die königliche Gnade orientierte Instanz bildete. Noch im
frühen Konstitutionalismus, d.h. bis 1838, war der Oberste Gerichtshof noch kein ordentliches Berufungsgericht.
110
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23). Durch irrtümliche Zählung wird das Militär in der deutschen Fassung
in Tit. IV., Kap. 7 abgehandelt: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23).
111
Der König war nach den drei Verfassungen persönlich nicht der Oberbefehlshaber der bewaffneten Kräfte. Vgl.
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.3 (dt.) (wie Fn. 23), resp. Art. 123 u. 120; Dok.-Nr. 21.2.7
(portug.)/Dok.-Nr. 21.2.8 (dt.) (wie Fn. 40), Art. 75; Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.12 (dt.) (wie Fn. 46),
Art. 82.
35
bewaffnete Macht ist wesentlich gehorchend; sie darf sich nie versammeln, um zu
berathschlagen oder Entschließungen zu fassen.“112
Die erste Zielsetzung, die bewaffneten Kräfte aus dem politischen Kampf herauszuhalten,
scheiterte vollständig. Seit der „Revolution“ von 1820 bis zur letztendlichen Stabilisierung der
konstitutionellen Monarchie (um 1850) spielten die Truppen eine entscheidende Rolle. Dies
geschah nicht aufgrund der Idee einer besonderen Mission oder Legitimität des Militärs zur
Repräsentation der Nation, sondern hauptsächlich aus Loyalität gegenüber den legitimen
Gewalten in einem Zeitalter, in dem sich mehrere Gruppen die politische Legitimität teilten.113
Der andere Grund für die Unruhe des Militärs war die Umgestaltung der traditionellen
regionalen Milizkorps (ordenanças) in eine Guarda Nacional, die gemäß den aus der Schweiz,
den Niederlanden, Belgien und Spanien herrührenden Modellen „das Volk in Waffen“
repräsentierte, wobei sie einer internen demokratischen Organisation gehorchte und nach der
Verteidigung der Verfassungsordnung strebte.114 Nach verbreiteter Ansicht wurde die Guarda
Nacional – gebildet 1834 und bis etwa 1848, wenn auch ab 1838 in sehr geschwächtem Zustand
fortbestehend –115 kontinuierlich von radikalen politischen Sektoren benutzt, um sich den
112
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23), Art. 172. Durch irrtümliche Zählung erscheint Art. 172 in der
deutschen Fassung als Art. 164: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23). Siehe zum Militär im Untersuchungszeitraum: Vasco
Pulido Valente, Os militares e a política (1820-1856), Lisboa 1997; Fernando Pereira Marques, Exército e Sociedade
em Portugal: no Declinio do Antigo Regime e Advento do Liberalismo, Lisboa 1981; ders., L’armée et la société au
Portugal. L’institution militaire et la militarisation des conflits dans le processus de modernisation du Portugal
pendant la première moitié du XIXème siècle, Diss phil. Amiens 1990. Zur Nationalgarde siehe: Arnaldo da Silva
Marques Pata, Revolução e Cidadania. Organização, Funcionamento e Ideologia da Guarda Nacional (1820-1839),
Lisboa 2004; rez. in: Análise Social Nr. 180 (2006), S. 886-890. Klassische allgemeine Arbeiten zur portugiesischen
Militärgeschichte stammen von Cristóvão Aires de Magalhães Sepúlveda, A Evolução Orgânica do Exército, Lisboa
1894; ders., História orgânica e política do exército português, 17 Bde., Lisboa 1896-1908; Carlos Selvagem,
Portugal Militar, Lisboa 1931 (2. Aufl. 1994); M. Th. Barata/N. S. Teixeira (Hg.), Nona história militar de Portugal,
Lisboa 2003-2004, Bd. 2 (hg. v. A. M. Hespanha) und Bd. 3 (hg. v. M. Th. Barata).
113
Vgl. eine der zentralen Thesen von Valente, Militares (wie Fn. 112).
114
Vgl. zur Nationalgarde, mit innovativen Einsichten, Da S. Marques Pata, Revolução e Cidadania (wie Fn. 112).
115
Die Bildung und Organisation der Nationalgarde erfolgte durch die C(arta) (de) L(ei) vom 23.03.1823; ihre
Auflösung durch CL vom 13.06.1823; ihre Wiedererrichtung durch Dekret vom 29.03.1834 (wobei sie vom
regulären Armeekommando ausgenommen wurde), das durch Dekret vom 23.09.1836, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr.
21.7.1, ausgeführt wurde; ihre Reorganisation durch Dekret vom 01.12.1836; die Auflösung der Lissaboner
Bataillone durch Dekrete vom 14.3.1838 und 15.06.1838; ihre Reorganisation durch Dekrete vom 11.03.1842 und
31.05.1846; ihre abermalige Auflösung durch Dekret vom 07.10.1846.
36
Befürwortern des politisch-konstitutionellen Konservativismus (den Charta-Anhängern) zu
widersetzen. Tatsächlich haben aber jüngste und politisch weniger befangene Forschungen
gezeigt, dass die Teilnahme von Elementen oder Korps der Guarda Nacional an radikalen
politischen Bewegungen statistisch weniger stark war als man traditionellerweise veranschlagt
hat; dass es auch gemäßigte und konservative Regimenter in der Guarda gab; und schließlich
dass das Ansehen radikaler Führer in ihren Bataillonen eine bloße Folge der populären
Hochschätzung für engagiertere Bürger sein konnte, zumal innerhalb eines Kollektivs von
Milizionären, das hauptsächlich von denjenigen gebildet wurde, die aufgrund ihrer Berufung,
ihrer Hingabe für den öffentlichen Dienst – oder einfach aus Mangel an Mitteln – in der Guarda
zu dienen hatten, während die Wohlhabenden immer einen Weg fanden, dieser und anderen
republikanischen Pflichten zu entrinnen.116
Obwohl fast alle Verfassungen den Militärdienst als allgemeine Pflicht aller Portugiesen
definierten (Charta von 1826, Art. 113; Verfassung von 1838, Art. 119),117 war die
Militärrekrutierung eigentlich eine Quelle der Ungleichheit. Auf der einen Seite trat innerhalb
des Kollektivs der Wehrpflichtigen nur ein Teil in den Armeedienst ein. Sobald das globale
Kontingent von den Cortes festgelegt worden war, wurde es auf die territorialen Gliederungen
entsprechend deren Bevölkerungszahl aufgeteilt. Die Erfassung begann bei den Freiwilligen und
erfolgte dann nach einem Losverfahren (sortes, ir às sortes), dessen Unredlichkeit und
Klassencharakter in aller Munde war. Auf der anderen Seite war bis 1873 (Statutgesetz vom
17.4.) der Erlass des „Blutzolls“ gegen eine prosaische Geldabgabe möglich.
8 Verfassungskultur
Die frühe Verfassungskultur Portugals war weitgehend von der westeuropäischen politischen
Kultur, namentlich von Montesquieu, Bentham, Condorcet und Rousseau, beeinflusst, die durch
116
Solche Pflichten waren etwa die Steuer- oder die Wehrpflicht in der regulären Armee. Siehe zum gesamten
Zeitraum Mesquita, Pensamento (wie Fn. 2).
117
Paradoxerweise fehlt die Erwähnung in der Verfassung von 1822; aber die militärischen Bestimmungen von
William Beresford (1816) legten eine allgemeine Aushebung für alle Männer zwischen 17 und 30 Jahren fest. Siehe
außerdem das Gesetz vom 10.07.1824, die Dekrete vom 15.09.1836, vom 6.11. und 25.11.1836 sowie vom
9.06.1842. Vgl. Comissão Portuguesa de História Militar (Hg.), O recrutamento militar em Portugal: actas, Lisboa
1996.
37
eine lebhafte Untergrundliteratur, über die Freimaurerei118 und später durch die Präsenz der
französischen und britischen Armeen während der napoleonischen Invasionen und ihren
Nachwirkungen in das Land geschleust wurde.119 Dies war die Atmosphäre, die 1820 den ersten
revolutionären Ausbruch begleitete, auf den eine intensive Anstrengung der Indoktrination
folgte.120 Im Widerspruch zu den neuen politischen Ideen war das traditionelle, sowohl
korporativistische als auch absolutistische politische Denken, das vom traditionellen politischen
Scholastizismus (dem iberischen Zweiten Scholastizismus) wie auch von den entgegengesetzten
politischen Theorien des aufgeklärten Absolutismus (Samuel Puffendorf, Johann Christian
Gottlieb Heineccius, Emer de Vattel) angeheizt wurde, in den letzten Jahrzehnten des Ancien
Régime an der Universität von Coimbra vorherrschend. Dies war das doktrinäre Erbe der
gegenrevolutionären Gruppen. Die spätere Charta-Ideologie wurde dann hauptsächlich vom
postnapoleonischen Verfassungsdenken im Frankreich nach der Restauration, namentlich von
Benjamin Constant, inspiriert,121 was auch in der Verfassungsgebung von 1826 bzw. 1834 zum
Ausdruck kam.
Abb. 21.3: Die Wiederinkraftsetzung der Charta als „Sieg der Legitimiät“ (1833)
Dennoch sollte die auf der Ebene der öffentlichen Meinung und politischen Publizistik geführte
Untersuchung mit dem kulturellen Hintergrund der politischen Eliten und vor allem der Juristen
abgeglichen werden, die in den Kammern und Rechtsschulen die Öffentlichkeit sehr wirksam
gestalteten, insofern sie landläufig immer noch als Inhaber des gesellschaftlichen Wissenskanons
anerkannt waren.122 Einige Autoren, die – wie der Rektor der Universität Coimbra und
118
Vgl. für ein diesbezügliches detailliertes Panorama: Graça S. Dias/José S. Silva Dias, Os primórdios da
maçonaria em Portugal, 2 Bde., Lisboa 1980.
119
Vgl. auch die Ausführungen in den einzelnen Unterkapiteln dieses Beitrags.
120
Siehe dazu Isabel N. Vargues, A aprendizagem da cidadania em Portugal, 1820-1823, Coimbra 1997.
121
Siehe zu diesem Einfluss in Portugal und Brasilien die Zeitschrift „Benjamin Constant“ des „Instituto Benjamin
Constant“ in Rio de Janeiro: <http://www.ibc.gov.br/?itemid=348> [04.09.2009] sowie den Beitrag über
Verfassungsdenken (Kap. 1) im vorliegenden Handbuch (insbes. dortige Fn. 37). Vgl. auch José Eduardo Horta
Correia, Tradicionalismo e contra-revolução. O pensamento e a acção de José da Gama e Castro, Coimbra 1974.
122
Zur nachfolgend beschriebenen Rolle der Juristen siehe auch die zeitgenössische Veranschaulichung einer Justiz-
Allegorie um 1836, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.8.2.
38
angesehene Rechtsprofessor Basílio Alberto de Sousa Pinto – der romantischen und doktrinären
Empfindsamkeit am nächsten standen, erklärten offen den Vorrang der Vernunft, Natur und
Volksseele über Entscheidungen, die von im Parlament geschmiedeten ephemeren und zufälligen
Konstellationen herrührten. Einige andere forderten, obwohl sie – wie Vicente Ferrer Neto Paiva,
ein berühmter liberaler Professor an der Rechtsschule von Coimbra – demokratischer orientiert
waren, also vom parlamentarischen Ursprung des Rechts ausgingen, die „Rechte der
Philosophie“ bei der Erfindung des Rechts ein. Schließlich beriefen sich diejenigen, die sich
mehr „technisch“ als „ideologisch“ orientiert gaben, auf die Autorität der Rechtstradition von
den praxistas des Ancien Régime oder den Anhängern des usus modernus bis zur postliberalen
portugiesischen Rechtslehre, wodurch sie ein festes Bollwerk gegen gesetzgeberische Eingriffe
errichteten. Aus diesem Grund entschied man sich, wenn ein größeres Kodifikationswerk auf
dem Spiel stand, zumindest nach der definitiven Errichtung der konstitutionellen Monarchie
(1834) für die Bildung von Kommissionen aus angesehenen Juristen, die einen Entwurf
vorbereiteten, der in den Cortes leicht zu erörtern und spielend zu bewilligen war,123 anstatt die
parlamentarischen Gesetzgeber zur vollständigen Ausarbeitung einer umfassenden
Gesetzesreform zu verpflichten. Es wurden daher alle Anstrengungen unternommen, um die
parlamentarische Ratifikation auf eine fachlich oder politisch gehaltslose zeremonielle Leerstelle
zu verkürzen.124
Für die Juristen bildete der Umstand, ob die Verfassung von einem Parlament oder Monarchen
gewährt worden war, eigentlich ein Randproblem.125 In dem einen wie dem anderen Fall riss das
imperium die Legitimität der auctoritas an sich; wobei (gekrönte oder plebejische) Politiker eine
Macht usurpierten, die sowohl die Vernunft als auch die Natur den Juristen verliehen hatte.126
Und dies war eben die zentrale Frage: Wer war berechtigt, Recht zu schaffen und vor allem die
123
Eine diktatorische Gesetzgebung – die die Phasen ausnutzte, in denen die Kammern geschlossen waren – stellte
ebenfalls ein gebräuchliches Mittel zur Einführung wichtiger Gesetze dar.
124
Das Beispiel des portugiesischen Zivilgesetzbuchs von 1867 ist in dieser Hinsicht bedeutsam: Mehr als 20 Jahren
an Diskussionen innerhalb der Juristenkommissionen stand eine zweitägige Parlamentsdebatte gegenüber.
125
Vgl. hierzu die zeitgenössische bildhafte Veranschaulichung im Vorfeld der Verfassungsgebung von 1822, in:
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.8.1 (Triumph Lusitaniens v. 1821).
126
Schwieriger war die Rechtschöpfung im Bereich des Strafrechts wegen des Grundsatzes nullum crimen, nulla
poena, sine lege. Dennoch gab es viele kreative doktrinäre Eingriffsmöglichkeiten in dogmatischen Bereichen wie
etwa hinsichtlich der Theorie über die strafrechtliche Verantwortlichkeit, der Theorie über die Straftat (dolus,
Vorsatz; culpa; Fahrlässigkeit), der Theorie über die rechtliche Rechtfertigung oder Entlastung, wobei bedeutende
Ergebnisse erzielt wurden, die die Unmöglichkeit, Straftaten oder Strafmaße direkt festzusetzen, kompensierte.
39
Grundlage der Rechtsordnung einer Gemeinschaft zu gestalten? Oder kontrastreicher und
provokativer formuliert: Wem sollte die Macht verliehen werden, die Verfassung auszulegen und
zu bewahren? Vielen wurde klar, dass falls die Grundlagen der Rechtsordnung der Natur und
Vernunft entsprangen,127 es dann (i) eine fundamentale Verfassung (eine materielle Verfassung
nach heutigem Sprachgebrauch), die der bewilligten Verfassung (der formalen Verfassung)
übergeordnet war, und (ii) eine maßgebliche Gruppe – die Juristen – gab, die berechtigt war,
Erstere zu verkünden und die Legitimität Letzterer zu prüfen. Trotz der Blüte ausgehandelter
oder oktroyierter Verfassungen in ganz Europa während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
war die Idee vom Vorrang einer doktrinären Hauptverfassung in der gemeinsamen
Wahrnehmung gelehrter Juristen fest verankert, sodass sie zum gebräuchlichen Gegenstand des
Rechtsdiskurses sogar unter Konstitutionalisten wurde.
Einige der angesehendsten Verfassungsrechtler Portugals – wie Silvestre Pinheiro Ferreira128
oder Basílio Alberto de Sousa Pinto, denen die öffentliche Meinung in generalisierter, aber
weniger scharfer Form folgte – verteidigten die Vorstellung, dass über der formalen Verfassung
noch eine andere extistierte, die unabhängig von Parlamenten und Monarchen war, aber von der
Macht der Geschichte, der Lehrtradition, der Vernunft und der Volksseele getragen wurde.129
Ihre Erläuterung blieb den Experten für Politik, Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie
vorbehalten, um nicht von dem komplexen und eklektischen Wissensverbund zu sprechen,130 der
den Zeitgenossen als „Politik- und Moralwissenschaften“ („ciências políticas e morais“) bekannt
war.131
127
Diese stellten daher die einzigen Größen dar, deren Macht den Mehrheitswillen binden konnte.
128
Er war Minister und königlicher Berater an den Höfen von Rio und Lissabon und konnte ein umfangreiches
Verzeichnis an Schriften über Rechtsfragen vorweisen, die er hauptsächlich im Ausland veröffentlicht hatte.
129
Siehe zu diesem Thema Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), Kap. 8.6.3.
130
Dieser schloss die Geschichte mit ein, aus der François Guizot – in seiner monumentalen „L’histoire de la France
depuis les temps les plus reculés jusqu’en 1789“ (Paris 1870-1875) – das Prinzip einer eigenen französischen
Konstitution entwickelte. Vgl. auch die Auszüge aus dem Nachfolgewerk desselben Historikers, das die Zeit bis
1848 behandelt, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 1.2.3 (François Guizots Geschichte Frankreichs v. 1814-1842). Ähnlich
waren in Portugal die Projekte führender Historiker wie Viscount de Santarém, Alexandre Herculano und Oliveira
Martins konzipiert, wenngleich sie sich aus unterschiedlichen Quellen inspirierten und auch unterschiedliche
politische Ziele verfolgten.
131
Deren institutionelle Verkörperung schlechthin war die Pariser Académie des Sciences Politiques et Morales, die
1795 gegründet, von Napoleon aufgelöst, aber 1832 durch Louis Philippe wieder eingerichtet worden war; in ihr
40
Nach Auffassung der einflussreichsten portugiesischen Juristen gründete eine solche MetaVerfassung auf:
(i) den historischen Grundgesetzen des Reichs, namentlich den leges fundamentales oder dem
traditionellen Grundsatz der Unangreifbarkeit der iura quaesita der Bürger;
(ii) den Grundsätzen des Universalen Öffentlichen Rechts (Direito Público Universal), das
Gegenstand einer reichhaltigen theoretischen Ausarbeitung während des späten 18. Jahrhunderts
war, aber später nach der Theorie der liberalen Regierung umgestaltet wurde; 132
(iii) den Wissenschaften des Zivil- oder Öffentlichen Rechts, die so „konstitutionell“ waren wie
die im Parlament verabschiedete Verfassung.
Dies erklärt eine unter den führenden portugiesischen Verfassungsrechtlern verbreitete Meinung.
Silvestre Pinheiro Ferreira brachte bei der Kommentierung der portugiesischen Verfassungen die
Vorstellung zum Ausdruck, dass deren konstitutionelle Legitimität leicht aus einem Vergleich
mit einigen höchsten Lehrprinzipien des liberalen Konstitutionalismus bezogen werden könne.
Diese Prinzipien nannte er ganz am Anfang seines Werks: „Mithilfe dieses Prüfsteins
[Unabhängigkeit und nationale Wahlen für alle Gewalten; Öffentlichkeit und Verantwortlichkeit
für alle politischen Handlungen] wird es für jeden leicht sein zu erkennen, ob irgendein
Verfassungsartikel den Grundprinzipien einer repräsentativen Regierung genügt oder nicht.“133
wurden Philosophie, Moral, Recht, Politische Ökonomie und Geschichtsphilosophie gepflegt. Die Académie diente
ähnlichen Institutionen in ganz Südeuropa und Lateinamerika als Modell.
132
In Portugal war man der Auffassung, dass ein solches Universales Öffentliches Recht gemäß der Lei da Boa
Razão (1769) und den Estatutos da Universidade (1772) in Geltung war. Sich darauf beziehende doktrinäre
Berufungen waren während der Periode der konstitutionellen Monarchie, hauptsächlich bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts, weit verbreitet.
133
Silvestre Pinheiro Ferreira, Breves observações sobre a Constituição Política da Monarquia portuguesa, decretada
pelas Côrtes Constituintes reunidas em 1821, Paris 1837, S. ix (hier v. Verf. übers.). Auf der nächsten Seite wird
seine Lehre von der konstitutionellen Rechenschaftspflicht der formalen Verfassung noch klarer: „Falls unsere Leser
jeden Artikel der Verfassung von 1822, der Charta von 1826 oder der [nach der Revolution von 1836 für beide]
geplanten Reform mit der einfachen und konzisen Formel vergleichen, die wir gerade wiedergegeben haben [S. viiix], und falls einer dieser Artikel nicht allen Bedingungen einer repräsentativen Regierung und jeder einzelnen von
ihnen genügt, sollen sie nicht zögern, ihn zum verfassungswidrigen Artikel zu erklären; und sie sollen sich bewusst
sein, dass ein einziger dieser falschen Artikel, den wir in der [Verfassungs-]Reform fortbestehen lassen, genügen
wird, sie zu einem fehlerhaften Gesetz zu machen und sie in einem noch kürzeren Zeitraum dem verhängnisvollen
Schicksal der anderen [Verfassungen] auszusetzen.“ Vgl. den Originalwortlaut, ebd., S. x: „[…] Comparem os
nossos leitores cada artigo da constituição de 1822, da carta de 1826, ou da projectada reforma com a simples e
41
Indem er die Aufnahme von Lehrprinzipien in die formale Verfassung kritisierte, griff er auf
seine Grundidee von der sekundären Rolle der formalen Verfassung zurück: „Es gehört nicht zu
den Aufgaben der Verfassung, die Prinzipien darzulegen, die von der Wissenschaft zu lehren
sind, sondern ihre Anwendung zu regeln und die Art und Weise ihres Schutzes zu
bestimmen.“134 In denselben Jahren bestand ein Cortes-Mitglied, Almeida Garrett – ein
angesehener, im Recht ausgebildeter Publizist – auf der Idee, dass sogar die Verfassung, die im
Parlament von ihm selbst verabschiedet wurde, weit davon entfernt war, frei aus sich heraus zu
bestehen, und überpositives Recht befolgen sollte. Deshalb war sie einer kontinuierlichen
Kontrolle hinsichtlich ihrer Legitimität unterworfen: „[...] ungeachtet des Umstands, dass eine
Verfassung auf Papier niedergeschrieben wird und dass die weitreichendsten Freiheiten auf
dieses Papier gesetzt werden können, würde die Verfassung nur auf dem Papier bestehen, wenn
sie nicht den Gebräuchen und Traditionen des Volks angeglichen werden könnte.“ 135 Dies war
somit der breite Raum, der dem doktrinären Recht offen stand, um die parlamentarische
Gesetzgebung sogar in so kritischen Bereichen wie dem Verfassungsrecht zu ersetzen.
Wenn unsere Argumentation richtig begründet ist, müssen wichtige Aspekte des
Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts von der Ebene der formalen Nationalverfassungen auf
die Ebene der Verfassungstheorie eines internationalen Netzwerks elitärer Juristen verlagert
werden, die fortfuhren sich selbst als Priester des Rechts, Träger der Rechtsvernunft und
Haruspizes der verborgenen Natur wie auch als Genius des Volks zu betrachten. In der Tat
concisa fórmula que acabamos de offerecer, e se elle não satisfizer a todas, e a cada urna das mencionadas condiçöes
do governo representativo, não hesitem em declarar que he inconstitucional; e persuadam-se que um so desses
artigos erroneos, que se deixe subsistir na lei da reforma, bastará para a tornar viciosa, e para a expor a experimentar
antes de muito tempo a desgraçada sorte das precedentes tentativas.“
134
Ebd., S. 5 (hier v. Verf. übers.). Der formalen Verfassung oblag es lediglich, die materielle Verfassung
einwandfrei festzustellen. Deshalb führte Pinheiro zur Präzisierung des Themas weiter aus: „Eines der von der
Wissenschaft [des Öffentlichen Rechts] gelehrten Prinzipien besagt, dass den Bürgern ein Petitionsrecht zusteht;
was die Verfassung jedoch tun sollte und nicht tat, war die Art und Weise festzustellen, in der dieses Recht
zweckmäßig auszuüben war.“ Vgl. den Originalwortlaut, ebd.: „Não pertence à constituição indicar os principios
que a sciencia deve ter ensinado, mas sirn regular a sua applicação, e determinar o modo como ham de ser
protegidos […]“.
135
Almeida Garrett, Diário das Cortes Gerais e Constituintes, Lisboa 1837-1838, hier Bd. 2, S. 13: „[…] embora
uma Constituição se escreva num papel, e embora as maiores somas de liberdade se ponham nesse papel, se a
Constituição escrita não for acomodada na prática aos usos e costumes dos povos, a Constituição há-de ficar no
papel.“
42
folgten sie dabei einer Selbstwahrnehmung, die die traditionellen Modelle erneuerte, nach denen
Juristen ihre Stellung in der Gesellschaft, wenn nicht gar im Universum zu bewerten pflegten.136
Eine solche Verlagerung des locus der Verfassung verhilft uns wohl zu einem besseren
Verständnis der im frühen 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertmitte vorherrschenden
Positionen bezüglich des Vorrangs der Verfassung vor dem Gesetz.137 Während in der Tat die
juristische Überlegenheit der formalen Verfassung über die Gesetzgebung (d.h. die judizielle
Bewertung) auf allgemeine Ablehnung stieß, hatten Juristen und höchstwahrscheinlich auch
Gerichte kaum Bedenken, entweder das Gesetz oder die formale Verfassung – nicht nur de lege
ferenda, sondern auch de lege condita – als verfassungswidrig oder illegitim zu erklären. Indem
sie sich auf eine Quelle stützten, die über den Gewalten (wie der Heilige Geist über den
Gewässern) wandelte, entgingen die Richter und Juristen der quälenden Frage nach der
Gewaltenteilung oder der exklusiven Gesetzgebungskompetenz des Parlaments. Wie der König –
der sein willkürliches Veto gegenüber den Gesetzgebern einsetzte – spielten sie die halbsakrale
Rolle von Wächtern der wahren Verfassung, namentlich gegen die modernen Versuche, die
Hierarchie zwischen Vernunft und Wille, zwischen Wahrheit und Mehrheitsentscheidung zu
untergraben.
Paradoxerweise war es ebenfalls eine doktrinäre Bewegung – das Aufkommen des
Rechtsstaatskonzepts –, die durch ihr Beharren auf der Überlegenheit des Staats138 die
poietischen Ansprüche der Juristen schwächte und dabei die rechtliche Wirkung des positiven
Rechts als Manifestation der Staatsgewalt überhöhte. Ab dem späten 19. Jahrhundert erlangten
der Staat, die Verfassung und das Gesetz wieder – wenngleich in einem ziemlich anderen
politischen Umfeld – die Überlegenheit und die zentrale Bedeutung, die das jakobinische
politische Projekt gekennzeichnet hatten. Und dies trotz des Gewichts, das Juristen im
Entscheidungsprozess über Rechtsfragen wie auch im allgemeinen politischen Apparat während
des gesamten Zeitraums besaßen.
136
Dieser Sicht liegt eine allgemeinere These über die entscheidende Rolle der Rechtslehre in Kontinentaleuropa
während des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde; die These impliziert eine kritische Beurteilung des sog.
„juristischen Absolutismus“ (Paolo Grossi) als charakteristisches Merkmal der Epoche.
137
Siehe António Manuel Hespanha, Direitos, constituição e lei no constitucionalismo monárquico português, in:
Themis. Revista da Faculdade de Direito de Lisboa da UNL VI.10 (2005), S. 7-40.
138
Vgl. Kap. 5, Verwaltung.
43
Eine erneute Verlagerung der Kräfte im Rechtsbereich sollte um die Mitte des 20. Jahrhunderts
stattfinden, als man den Juristen das letzte Wort hinsichtlich der höchsten Rechtsstandards
zurückgab und mit großzügigen Vergünstigungen ihr Erwachen gegenüber den überpositiven
Rechtswerten honorierte, sobald der legalistische Unterschlupf abgebaut worden war, in dem sie
durchaus besänftigt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten.
9 Kirche
Infolge des Konflikts zwischen Staat und Kirche in der Zeit nach der Französischen Revolution,
des deistischen oder gar atheistischen Tonfalls des proto-konstitutionellen (vor allem
freimaurerischen) Denkens und der privilegierten Stellung der Kirche in katholischen Ländern
bildete der Konstitutionalismus für die portugiesische Staatskirche und ihre Gläubigen kein
geringfügiges Problem. Die portugiesischen Könige führten den Titel eines Fidelíssimo und ein
verhältnismäßig neues Konkordat (1778) besiegelte die engen Beziehungen zwischen Staat und
Kirche, deren (für die neuen Ideen problematischen) Eckpfeiler in der Inquisition, der Zensur
bezüglich religiöser Themen und den königlichen Prärogativen in religiösen Fragen (wie zum
Beispiel das königliche Patronat und das königliche Beneplacet bzw. Exequatur) bestanden –
eine komplexe Konstellation wechselseitiger Rechte und Pflichten, die oft als Allianz zwischen
Thron und Altar gekennzeichnet wurde.
Die Verfassung von 1822 gebrauchte in religiösen und kirchlichen Fragen eine sehr gemäßigte
Ausdrucksweise. Ihre Präambel rief die Heilige Dreifaltigkeit als Inspirationsquelle der Cortes
an, der römische Katholizismus wurde zur Staatsreligion erklärt (Art. 25), der König galt auch
per Gottes Gnaden als solcher (Präambel), Religionsfreiheit blieb auf Ausländer und auf die
private Ausübung beschränkt (Art. 25), Pressefreiheit war in dogmatischen und moralischen
Fragen inexistent (Art. 8). Demgegenüber behielt man das traditionelle königliche Beneplacet
(Exequatur) bei (Art. 123, Abs. XII).139 Gleichwohl wurde die Inquisition als anachronistische
Institution von den Cortes beseitigt (31.03.1821; Dekret vom 05.04.1821); der KardinalPatriarch von Lissabon wurde ausgewiesen, da er den Eid auf zwei Verfassungsartikel
verweigerte; eine Parlamentskommission zur Vorbereitung von Kirchenreformen wurde
139
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23), Art. 25; 123, Abs. XII. Durch irrtümliche Zählung erscheinen Art. 25
und 123 in der deutschen Fassung als Art. 24 und 120: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23).
44
eingerichtet (Sitzung vom 07.02.1822); ein Parlamentsgesetz schloss die Klöster und verbot die
Zulassung neuer Kandidaten zu religiösen Gelübden.
Die Restauration des Absolutismus (1823-1834) war auch eine Periode religiöser
Selbstbehauptung und Revanche. Die Rückkehr des Konstitutionalismus unter der durch Pedro
IV. 1826 gewährten Charta erneuerte das antikatholische Ethos der konstitutionellen Eliten, die
meist den Freimaurerlogen angehörten, obwohl gegenüber der traditionellen Religion des Landes
ein formaler Respekt aufrechterhalten wurde.140 Alle „kirchlichen Angestellten“ mussten sich
formal nach der neuen Ordnung richten (Dekret vom 16.7.1832). Man richtete sogar eine
„Secretaria de Estado da Justiça e Assuntos Eclesiásticos“ ein, die die Geistlichen als bezahlte
Staatsangestellte verwaltete. Der Monarch wurde durch die Charta von 1826 ermächtigt, „die
Bischöffe und zu den geistlichen Pfründen zu ernennen“ (Art. 75, § 2), das Beneplacet
(Exequatur) über alle von den kirchlichen Würdenträgern ausgehende Dokumente auszuüben
(Art. 75, § 14) und die Pfarrbenefizien darzureichen (Dekret vom 30.07.1832). Die Staatsreligion
war immer noch die römisch-katholische Glaubensrichtung, der König musste deren
Aufrechterhaltung und Verteidigung beschwören (Art. 76; Art. 145, § 4), die Religionsfreiheit
war auf dieselbe Weise wie in der vorangegangen Verfassung beschränkt (Art. 6) und den
kirchlichen Würdenträgern wurde ein Sitz in der Câmara dos Pares garantiert. Demgegenüber
geriet die Politik gegenüber dem Papsttum ins Stocken. In Erwiderung auf die päpstliche
Anerkennung der durch Infant Miguel vorgeschlagenen Bischöfe erklärte Pedro IV. alle von
seinem Rivalen besetzten Diözesen als vakant (Dekret vom 05.08.1833). Noch bevor sie in
Lissabon ankamen, ersetzten die Konstitutionalisten die weltlichen Befugnisse der Pfarrer durch
Parochialausschüsse (Dekrete vom 26.11.1830 und 19.02.1832), übernahmen sie die
Vormundschaft über die geistliche Ausbildung in den Klöstern (Dekret vom 06.06.1832), hoben
sie den Kirchenzehnt auf (Dekrete vom 16.03.1832 und 30.07.1832),141 wenngleich sie ein
„kongruentes Gehalt“ für die kirchlichen Benefizien festlegten. Eine weitere Maßnahme, die die
Kirchenfinanzen beeinträchtigte, war die Beseitigung der forais (feudale Rechte) und die
Aufhebung der Schenkung von Krongütern (Dekret vom 13.08.1832).142 Auch die Politik
140
Dies war auch der elementare konstitutionelle Inhalt der Verfassung von 1838, die gleichwohl in dem den
„Rechten und Garantien der Portugiesen“ gewidmeten Kapitel festlegte, dass „der [...] Verkauf der Nationalgüter
[...] unwiderruflich“ sei, wobei es sich bei diesen Bens Nacionais hauptsächlich um ehemalige Kirchengüter
handelte. Vgl. CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.12 (dt.) (wie Fn. 46), Art. 23, § 2.
141
Vgl. CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.9.1 (Dekret zur Aufhebung des Zehnten v. 30.07.1832).
142
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.4.2 (wie Fn. 33).
45
gegenüber religiösen Orden nahm rauhe Töne an. Kirchliche Patronate wurden ausgelöscht
(Dekret vom 05.08.1835), ein altes Handelsverbot für Geistliche wurde durch das
Handelsgesetzbuch von 1833 (Art. 18) erneuert, neue kirchliche Gelübde wurden verboten
(Dekret vom 17.05.1832) und – nach der Einrichtung einer „Kommission für die Allgemeine
Kirchenreform“ (Dekret vom 31.07.1833), dann „Ausschuss zur Überprüfung der aktuellen Lage
und weltlichen Verbesserung religiöser Orden“ – wurde schließlich die Beseitigung der Klöster
(Dekrete vom 15.05.1833 und 05.08.1833 sowie zuletzt Dekret vom 30.05.1834) wie auch die
Eingliederung ihres Besitzes in die bens nacionais in Gang gesetzt. Eine erwartete diplomatische
Konsequenz war die erneute Ausweisung der Jesuiten (1834) sowie letztendlich die Ausweisung
des Apostolischen Nuntius und die Einstellung der Beziehungen zum Heiligen Stuhl (1833), was
– auch aufgrund der vorherrschenden römischen Politik gegenüber liberalen
Herrschaftssystemen – für anderthalb Jahrzehnte andauern sollte.143 Dennoch wurde im Innern
ein katholisch-konstantinisches System in der neuen Gestalt der Allianz zwischen Thron und
Altar errichtet, die Akte der Ehrerbietung gegenüber der Kirche, der katholischen Mission und
den religiösen Werten mit einschloss.144
10 Bildungswesen
Ein gemeinsamer Wesenszug sowohl der Aufklärer als auch der Liberalen war das Interesse für
Bildung. Dies gilt auch für Portugal. Pombal reformierte die Universität in Coimbra (1772) und
schuf das erste Netz öffentlicher Grundschulen (1772).145 Ein Sekundarschulsystem fehlte
jedoch, während sich die zerstreut bestehenden Sekundarschulen ausschließlich mit der
Ausbildung in lateinischer Philologie befassten. Mit dem Liberalismus geriet die Bildungspolitik
in direkte Berührung zur Verfassungsebene, indem eine grundlegende Bildung zur
143
Bis zur Konkordatsvereinbarung von 1848 zwischen Pius IX. und Maria I.
144
Als Literatur vgl. insgesamt: António do Carmo Reis, O liberalismo em Portugal e a Igreja Católica, Lisboa
1974; Vitor Neto, O Estado, a Igreja e a Sociedade em Portugal (1832-1911), Lisboa 1998; Rez. v. Mª F. Bofifácio
in: Análise social 33.148 (1998); Luís Dória, Do cisma ao convénio: Estado e Igreja de 1831 a 1848, Lisboa 2001.
Als Quellensammlung siehe: Bernardino J. Silva Carneiro, Elementos de direito ecclesiastico português, Coimbra
1896; elektronische Version in: <http://www.fd.unl.pt/default.asp> (Biblioteca Virtual/Direito ecclesiastico)
[04.09.2009].
145
Die Reform wurde mit Nachdruck durchgesetzt: Man richtete zunächst 479 Grundschulen ein (440 in
Kontinentaleuropa, 15 auf den atlantischen Inseln, 24 in Übersee); ein Jahr später stieg ihre Gesamtzahl auf 526.
46
Hauptbedingung für die Ausübung der vollen Bürgerrechte (Wahlrecht; Tätigkeit als
Geschworener; Teilnahme an der Öffentlichkeit von Zeitungen, Parlamentsanzeigern und
Flugschriften, in der zentrale Fragen debattiert wurden) erhoben wurde, während die
Fachausbildung eine notwendige Bedingung für die Verbesserung der Leistungsfähigkeit des
neuen Staats und der neuen Verwaltung darstellte. Aus diesem Grund bekannte sich jede
Verfassung zur Förderung der Bildung als eine der Grundaufgaben des Staats (Verfassung von
1822, Art. 223, Abs. IV; Charta von 1826, Art. 145, § 30; Verfassung von 1838, Art. 28, Abs. 12).146 Auf der anderen Seite wurde die Förderung der Grundausbildung auch durch die
Auflösung religiöser Orden behindert, deren Einfluss auf das Bildungswesen radikale
(namentlich der Freimaurerei angehörende) Liberale missbilligten. Demgegenüber widerlegte die
Kirche im Grundschulbereich die zunehmende Staatsintervention. Insgesamt verschob sich das
Gleichgewicht zumindest seit dem Ende der Monarchie (1910) erneut zugunsten der Kirche.
Die Cortes Constituintes von 1822 schufen zur Beendigung der chaotischen Situation im
Bildungswesen eine Kommission des Öffentlichen Unterrichts, die „eine allgemeine und gut
ausgearbeitete Reform“ vor allem der Sekundarausbildung in Aussicht stellte,147 die später von
einem der Cortes-Mitglieder, Luís da Silva Mouzinho de Albuquerque, lückenlos umrissen
wurde.148 Wie in vielen Bereichen verzögerten die darauf folgenden politischen und
militärischen Unruhen die Einleitung wirksame Maßnahmen auf diesem Feld bis 1832, als die
liberale Regierung (noch von den Azoren aus) eine neue Kommission einsetzte. Albuquerques
Idee einer umfassenden Reform der Sekundarausbildung wurde durch Guilherme Dias Pegado
aufgegriffen, bei dem es sich um einen Professor an der Universität Coimbra handelte, der 1835
einen Plan zur Bildung eines zweigliedrigen Sekundarschulsystems mit Liceus in den Provinzen
vorlegte, die auf ein mittleres Ausbildungsniveau vorbereiten und nur dieses bescheinigen
sollten, obwohl sie ein breiteres Angebot an Fächern inklusive der naturwissenschaftlichen
Ausbildung mit einschlossen (Projecto de Lei para a Organizacao da Universidade de Portugal,
1835). Schließlich veröffentlichte Passos Manuel in Anlehnung an andere Projekte und Berichte
(Almeida Garrett und José Alexandre de Campos) ein kurzes diktatorisches Dekret, das den
Ursprung des liberalen Bildungssystems markierte, indem es die „sterile Gelehrsamkeit“ verwarf
146
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23), Art. 223, Abs. IV; durch irrtümliche Zählung erscheint Art. 223 in der
deutschen Fassung als Art. 213: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23); Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.8 (dt.) (wie
Fn. 40), Art. 145, § 30; Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.12 (dt.) (wie Fn. 46), Art. 28, Abs. 1-2.
147
DCGECNP (wie Fn. 74), Bd. 1, S. 435.
148
Luís da Silva Mouzinho de Albuquerque, Ideias sobre o Estabelecimento da Instrucão Pública, Lisboa 1823.
47
und die „Pflege der Wissenschaften“ förderte (Dekret vom 17.11.1836).149 Liceus wurden in
jeder Provinz (5) und in Lissabon (2) eingerichtet, wobei der Lehre der Geisteswissenschaften
der Sprachunterricht (Französisch, Englisch und Deutsch) und die theoretische und praktische
Ausbildung in Mathematik und Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Algebra, Geometrie etc.)
beiseite gestellt wurden. Die Bildungspolitik Passos Manuels ging aber eigentlich noch weiter:
Er reformierte auch die Grundschulausbildung, die obligatorisch wurde, führte die
Leibesübungen als Teil der Erziehungsaufgaben ein und zwang die hartknäckig selbstgenügsam
auftretenden Universitäten, sich den höheren Bildungsbereich mit anderen Zentren – Escolas
Politécnicas (in Lissabon und Porto), Escolas Médicas (ebendort, später auch in Goa) – zu
teilen.150
Trotz ihrer Bedeutung und ihres revolutionären Charakters wurde Passos Manuels Reform durch
eine neue Reform (Costa Cabral, 20.09.1844) weitgehend zugrunde gerichtet, durch die der
Sprachunterricht auf die Liceus beschränkt und die Ausbildung in naturwissenschaftlichen
Fächern völlig abgeschafft wurde, da man Mathematik mit Vernunft- und Moralphilosophie
vereinte.151 Zugleich stießen die Projekte zur Verbesserung der Volksbildung – wie auch zur
Ausbildung der Frauen – auf die Indifferenz der politischen Eliten und die offene Opposition
patriarchalischer, religiöser und lokal-oligarchischer Interessen. Dies erklärt, warum erst 1859
ein Direcção-Geral de Instrução innerhalb des Ministério do Reino gebildet wurde; und ein
unabhängiger Ministério da Instrução erst 1913 eingerichtet wurde.152 Dennoch stieg die Zahl
149
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.10.1 (Dekret zur Einrichtung von Gymnasien v. 17.11.1836).
150
Siehe als klassische und ausführliche Darstellungen: José Silvestre Ribeiro, História dos Estabelecimentos
Scientificos, Literários and Artisticos de Portugal, Lisboa 1811-1893; Luis de Albuquerque, Nota para a Historia do
Ensino em Portugal, Bd. 1, Coimbra 1960; Rogério Fernandes, O Pensamento Pedagógico em Portugal, Lisboa
1978; António Nóvoa, Le Temps des Professeurs - Analyse socio-historique de la profession enseignante au
Portugal (XVIIe. – XXe. siècle), Lisboa 1987; António Gedeão, A História do Ensino em Portugal, Lisboa 1986;
Joaquim Ferreira Gomes História da Educação em Portugal, Lisboa 1988; Fernando Machado, A. Almeida Garret e
a Introdução do Pensamento Educacional de Roussesu em Portugal, Porto 1993; Rogério Fernandes, Os Caminhos
do ABC. Sociedade Portuguesa e o Ensino das Primeiras Letras, Porto 1994; Fátima Moura Ferreira, Entre a
corporaçao e a ordem estatal: a instituiçao do organismo director da instruçao pública (1835-1859), in: Cadernos do
noroeste 19 (2002), Nr. 1-2, S. 129-150.
151
Mathematik wurde erst 1860 (Dekret vom 10.04.1860, durchgesetzt 1863) als eigenständiges Fach
wiederhergestellt.
152
Abgesehen von seinem kurzfristigen Bestehen 1870 und 1890.
48
der Grundschulen kontinuierlich,153 während das Prinzip des obligatorischen Charakters der
Schulausbildung durch die Reformen von 1836 und 1844 vorgeschrieben wurde.
Schließlich sei noch eine zentrale kulturelle Institution erwähnt, die die politische und
allgemeine Kultur Portugals wie auch die Geometrie der politisch-kulturellen (und vor allem
juristischen) Elite formte – die Universität von Coimbra. Dank ihres Ansehens und ihrer
gewichtigen politischen und doktrinären Präsenz kennzeichnete die Universität auf
entscheidende Weise nicht nur den portugiesischen Liberalismus, sondern die gesamte
portugiesische Kultur. Sie tat dies in den ersten Jahrzehnten in einer progressiven Richtung,
indem sie die Elite der Politiker, Juristen und Publizisten formte. Ihre überragende Macht bildete
jedoch auch ein enormes Hindernis für die Verbreitung höherer Bildung, da sie sich stets einer
Aufteilung ihres Monopols widersetzte. Letztendlich musste sie nachgeben, wobei sie 1911 aber
nur ihre Kontrolle über die zentrale Fakultät, die Rechtsfakultät, zu lockern hatte.154
11 Finanzen
Im Finanzbereich erbte der liberale Staat Portugals von den militärischen und politischen
Unruhen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts155 ein chronisches Haushaltsdefizit,156
153
1779 gab es 720 Grundschulen. In den darauf folgenden Jahren wurden mit dem Sturz der reformistischen Partei
viele von ihnen wieder geschlossen. 1835 bestanden ca. 1.000 Grundschulen, worauf die Zahl zwischen 1860 und
1865 auf 2.000 stieg. Dies bedeutete eine Schule auf 120 km 2 um 1820; eine Schule auf 40 km2 um 1870; oder
respektive 2,5 und 6 öffentliche Schulen auf 10.000 Einwohner (approximative Werte).
154
Maria de Fátima da Cunha de Moura Ferreira, A institucionalização do saber jurídico na Monarquia
Constitucional – a Faculdade de Direito de Coimbra, Diss. phil. Minho 2004.
155
Zur Finanzgeschichte siehe Magda Pinheiro, Reflexões sobre a história das finanças públicas portuguesas no séc.
XIX, in: Ler história 1(1983), S. 47-67; dies., Os portugueses e as finanças no dealbar do liberalismo. Estudos e
documentos, Lisboa 1992, bes. S. 14-60; M.ª Eugénia Mata/Nuño Valério, História económica de Portugal. Uma
perspectiva global, Lisboa 1993; M.ª Eugénia Mata, As crises financeiras no Portugal contemporâneo, in: S. Campos
de Matos (Hg.), Crises em Portugal nos sécs. XIX e XX, Lisboa 2002, S. 33-55; Hespanha, Guiando a mão (wie Fn.
2), S. 310 ff.; Rui Pedro Esteves, Finanças publicas, in: P. Lains/A. F. Silva (Hg.), Historia económica de Portugal.
1700-2000, Bd. 2: O século XIX, Lisboa 2005, S. 305-335.
156
Die Defizitbeträge waren folgende: 1821: - 812 contos; 1835: - 2.774 contos; 1840: - 2.139 contos; 1846: - 36
contos. Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2)., S. 312. Geldbeträge werden nach dem historischen Gebrauch in
contos angegeben, wobei dies 1.000 Milréis oder 1.000.000 réis (oder reais) entsprach; ein real entsprach
49
woraus eine erhebliche permanente Staatsverschuldung nebst einer für das Ancien Régime
typischen Haushaltsstruktur hervorging: eine geringe Bedeutung nichtfiskalischer Einkünfte und
größtenteils eine Steuerstruktur, die weitgehend von traditionellen indirekten Steuern beherrscht
wurde.
Tab. 21.1: Die Struktur der portugiesischen Staatseinkünfte 1812-1845 (in contos, bereinigt)157
Zeitraum
Gesamt-
Verteilung der Staatseinkünfte
staatseinkünfte
(jährliche Durchschnittswerte)
direkte Steuern
indirekte
nichtfiskalische
Steuern und
Einkünfte (inkl.
Zölle
Verkauf von
Nationalgütern)
1812-1817
9.279
2.555
5.260
1.464
1821-1827
6.710
1.535
4.327
848
1833-1839
7.258
776
5.022
1.460
1840-1845
8.390
1.265
5.925
1.200
Der erste Charakterzug erklärt das hohe Interesse, das Finanzthemen in den politischen Zirkeln
des frühen Konstitutionalismus hervorriefen, mit direktem Reflex auf die Verfassungstexte und
die politischen Maßnahmen.158 In der Tat erlangten Finanz- und Steueraspekte einen ziemlich
bedeutenden Raum in den Verfassungen. In der Verfassung von 1822 wurde dem Nationalen
Schatzamt (Fazenda Nacional) – wie dem regionalen und munizipalen Verwaltungs- und
Bildungswesen – ein ganzes Kapitel eingeräumt,159 wobei die Festsetzung von Steuern wie auch
die Prüfung der Haushaltsbilanz und der öffentlichen Rechnungsführung den Cortes vorbehalten
(Tit. III, Kap. IV, Art. 102, Abs. IX; Tit. VI, Kap. III, Art. 226 und 228) und die öffentliche
sukzessive 2,054 (1807), 1,753(1822) und 1,626 (1854) Milligramm Gold. Um 1834 entsprach ein englischer
sovereign (£ 1 Grundeinheit waren 20 Shilling) 4.120 reais.
157
Quelle: Esteves, Finanças publicas (wie Fn. 155), S. 309. Zur Geldeinheit contos siehe die vorangegangene Fn.
158
Auch wenn die Auflösung militärischer und religiöser Orden rein ideologischen Stimuli gehorchte, zielte in
Wirklichkeit der nachfolgende Verkauf ihres Besitzes zum Teil auf die Vermehrung der Staatseinkünfte.
159
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.2 (wie Fn. 23), Tit. VI, Kap. III; in der deutschen Fassung fehlt das betreffende
Kapitel über das Schatzamt, da an dieser Stelle das Kap. IV der Originalversion irrtümlicherweise als Kap. III
wiedergegeben wird: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23), Tit. VI, Kap. III.
50
Verschuldung formal anerkannt und garantiert wurde. Die Verfassung ließ der Exekutive aber
eigentlich freie Hand in der Festlegung des Finanzbedarfs.160
Die Carta von 1826 erweiterte die Finanzbefugnisse des Königs und des Ministeriums. Obwohl
die Steuern von den Cortes beschlossen werden mussten (Charta von 1826, Tit. IV, Kap. I, Art.
15, § 8; Tit. VII, Kap. III, Art. 137), verschwand das vormals ausdrücklich für den König
geltende Verbot, selbst Steuern zu erheben,161 wobei der Regierung nun erlaubt wurde, die
öffentlichen Einkünfte zu verwalten.162 Zugleich gab es von 1837 bis 1884 21 Jahresbudgets
ohne parlamentarische Zustimmung.163 Auch dieser Mangel an Rechenschaftspflicht förderte das
chronische Defizit.
Die Unruhe der ersten Jahre der Verfassungsordnung erlaubte keine großen Veränderungen.
Noch während des Bürgerkriegs zielte Mouzinho da Silveira (Minister 1832-1833) auf eine
finanzielle Erholung, die sich wesentlich auf den Verkauf der bens nacionais stützen sollte,
welche durch die Integration kirchlichen und feudalen Besitzes in die bens próprios da coroa
angehäuft werden sollten. Die durch die Radikalität der Maßnahme verursachte soziale
Spannung zwang zusammen mit dem Umstand, dass der massive Landverkauf den Preis und die
entsprechenden Staatseinkünfte minderte,164 zu einer klassischeren Finanzpolitik (José da Silva
Carvalho, 1782-1856; Minister: 1834-1836), die sich auf externe öffentliche Anleihen stützte,
was schließlich zum Staatsbankrott führte (1837). Mit Costa Cabral (1840-1846) eröffnete man
eine neue Strategie, die für die wirtschaftliche Entwicklung als Weg zur Bildung einer
Grundlage für die Besteuerung warb. Die Bedingung für eine solche Entwicklung war die
160
Vgl. Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2).
161
Ein solches ausdrückliches Verbot hatte noch die Verfassung von 1822 vorgesehen, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr.
21.2.2 (wie Fn. 23), Tit. IV, Kap. I, Art. 124, Abs. II; durch irrtümliche Zählung erscheint Art. 124 in der deutschen
Fassung als Art. 121: Dok.-Nr. 21.2.3 (wie Fn. 23). Das Verbot wurde auch in der Verfassung von 1838 nicht
wieder aufgegriffen: Dok.-Nr. 21.2.11 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.12 (dt.) (wie Fn. 46), Tit. VI, Kap. I.
162
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.2.7 (portug.)/Dok.-Nr. 21.2.8 (dt.) (wie Fn. 40), Tit. V, Kap. II, Art. 75, § 13. Siehe
auch die durch Minister Mouzinho da Silveira realisierte Reform der Finanzverwaltung vom 16.05.1832,
auszugsweise ebd., Dok.-Nr. 21.11.1. Erst in der 1852 verabschiedeten Revision der Carta (Art. 12 und 13) wurde
die Regierung verfassungsmäßig dazu verpflichtet, die Bewilligung des Budgets seitens der Cortes einzuholen.
163
Eine ausführlichere Analyse findet sich bei Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 316-330.
164
Außerdem wurde ein wesentlicher Teil der Zahlungen mit Papiergeld (16 Prozent) und den Schatzobligationen
(58 Prozent) getätigt, die als Kompensation für den Militärdienst in der Armee der Konstitutionalisten ausgegeben
worden waren, weshalb dieser Anteil keine „aktiven“ Einkünfte bewirkte.
51
Bildung eines Binnenmarkts, indem man die Integration des nationalen Raums durch die
Verbesserung des Verkehrswesens (política de fomento) förderte. Steuererhöhungen und eine
unbeliebte (und oft skandalöse) konnubiale Beziehung zwischen der politischen Welt und der
Wirtschaft verdarben die wirtschaftliche Erholung. Mit dem neuen Zeitalter der Regeneração –
wie man die 1851 begonnene politische Bewegung nannte, die auf eine Regeneration des
Verfassungssystems und des Landes durch die Herbeiführung materiellen Fortschritts und
politischer Reformen zielte – wurde diese Entwicklungspolitik dennoch fortgesetzt, so dass sie
sowohl die Politik als auch das Finanzwesen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
kennzeichnete.
12 Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung / Öffentliche Wohlfahrt
Der portugiesische Verfassungsstaat wurde als liberaler Staat bezeichnet. Die Bedeutung dieser
Kennzeichnung ist allerdings näher zu erörtern. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die
Konstitutionalisten der ersten Jahrzehnte definitiv keine Enthaltsamkeit oder Untätigkeit vom
Staat erwarteten. Im Gegenteil sollte er aktiv zur Zerstörung der alten sozio-ökonomischen
Strukturen und zur Einführung der Reformen beitragen, die für die Funktionsweise einer
liberalen, auf Wirtschaftsfreiheit gegründeten Gesellschaft notwendig waren. Mit einem Wort:
Der Staat sollte alles andere als passiv und untätig sein. Dies ist genau das Profil, das wir aus der
Tätigkeit sowohl der Cortes im trienio liberal (1820-1823) als auch der liberalen Regierungen ab
1832 gewinnen können. Die Aktivität der Cortes war – noch mehr als die der Regierung –
ekstatisch. Dasselbe kann über die kreativsten Perioden „liberaler“ Regierungen gesagt werden:
nämlich über die – vor dem endgültigen militärischen Sieg unter der Carta und dem
gemeinsamen Konsulat von Pedro IV. und Mouzinho da Silveira – auf den Azoren installierte
Regência und über die Regierung in den ersten Jahren nach der letztendlichen Durchsetzung des
Konstitutionalismus in Lissabon (1834-1837).
Wenn somit das politische Ancien Régime abgebaut wurde, galt dies auch für die feudale
Wirtschaftsverfassung: Corvées und persönliche Feudalbindungen wurden aufgehoben (Dekret
vom 5.4.1821),165 ebenso Feudalabgaben (CL vom 10.6.1822, Carta von 1826); Ländereien und
Besitztümer der Krone oder der Militärorden wurden zum Verkauf bestimmt (CL vom
165
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.4.1 (wie Fn. 32).
52
24.2.1823; Dekrete vom 22.9.1830 und 13.8.1832),166 wodurch man eine Entwicklung abschloss,
die noch aus der letzten Phase des Ancien Régime herrührte; der Zehnt und andere von den
Bauern zu zahlende Abgaben wurden beseitigt oder für ablösbar erklärt;167 die
Handwerkerkorporationen wurden aufgelöst (Dekret vom 07.05.1833);168 der Besitz religiöser
Orden wurde eingezogen und zur Auktion gebracht (Dekret vom 28.5.1834; CL vom 30.4.1835).
Der allgemeine Zweck dieser Maßnahmen bestand darin, den Grund und Boden für einen freien
und vergrößerten Grundstücksmarkt zu liberalisieren, was auch eine weit verbreitete Kritik
gegen jede Form eines geteilten oder gemeinschaftlichen Eigentumsrechts am Boden 169 und die
– wenngleich langwierige – Aufhebung der Majorate (Gesetz vom 19.5.1863) mit sich
brachte.170 Als Erfüllung einer weiteren Bedingung des freien Markts begründeten zugleich die
Verfassungen und die Rechtslehre die konstitutiven Prinzipien eines freien Markts, die auf dem
Vorrang des Vertragsschlusses zwischen Subjekten mit freiem Willen,171 den Regeln fairen
Wettbewerbs und dem Schutz des Geschäftsgrundsatzes von Treu und Glauben beruhten.172
Schließlich übernahm der Staat die Aufgabe, die materiellen Bedingungen der
Wirtschaftsentwicklung zu fördern, indem er eine Politik der „Belebung“ („fomento“) von
Handel und Industrie betrieb: durch den Bau von Straßen, Brücken, Häfen und Eisenbahnen;
durch die Verleihung von Privilegien an Unternehmer; durch die Unterstützung von Banken und
Versicherungsgesellschaften; und auch dadurch, dass der Staat seinen Apparat, sein Personal und
seine Tätigkeit – häufig in undurchsichtiger und selbstausbeuterischer Weise – in den Dienst
privater Interessen stellte.
166
Das Dekret vom 13.08.1832, in: CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.4.2 (wie Fn. 33).
167
Für eine entsprechende Auflistung der Gesetzgebung vor und nach der Revolution wie auch für die Abschrift
doktrinärer Texte (vor allem Gesetzespräambeln) siehe Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 475 ff.
168
CD-ROM-2, Dok.-Nr. 21.12.1.
169
Siehe Hespanha, Guiando a mão (wie Fn. 2), S. 478 ff.
170
Zu weiteren Gesetzesmaßnahmen, die auf die Errichtung eines freien Marktes frei verfügbarer Waren zielten,
siehe ebd., S. 483 ff.
171
Siehe ebd., S. 453-462.
172
Siehe ebd., S. 437-452.
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