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BEHINDERUNG UND POLITIK
Erscheint 4 x jährlich – 60. Jahrgang
Ausgabe 2/11 – Mai 2011
Schwerpunkt:
Selbsthilfe –
gestern, heute und morgen
Faktor für den sozialen Zusammenhalt
herausgegeben von
Behinderung und Politik 2/11
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Ohne Selbsthilfe keine Gesellschaft ........................................................................... 3
Von Maria Gessler
Schwerpunkt
Wir sind geboren, um gemeinsam zu wirken
Von Carmen Rahm
1951: Längst vergangen und doch überraschend aktuell ........................................... 7
Von Mélanie Sauvain
«Warum braucht es AGILE auch in Zukunft?» ........................................................... 9
Von Eva Aeschimann und Mélanie Sauvain
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 11
Von Mélanie Sauvain
Zwiespältige Bilanz zur ersten Tranche 6. IVG-Revision .......................................... 16
Von Ursula Schaffner
IV-Gutachten bei psychisch und psychosomatisch Erkrankten ................................ 19
Gleichstellung
UNO-Behindertenrechtskonvention als Diskussionsstoff .......................................... 22
Von Eva Aeschimann
Portrait einer Aktivistin für die Gleichstellung............................................................ 25
Von Eva Hammar Bouveret
Zugänglichkeit als Staatssache ................................................................................ 27
Von Mélanie Sauvain
«Gleichstellung im Alltag hautnah erlebt»: Es war der Haken! ................................. 29
Von Simone Leuenberger
Arbeit
Die Journalisten und die berufliche Wiedereingliederung im Rahmen der IV-Revision
6a: Worüber wird geschrieben? ................................................................................ 32
Von Catherine Corbaz
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 34
Bildung
«Meine Selbstsicherheit im Umgang mit anderen ist gestiegen» ............................. 35
Von Eva Aeschimann
Behindertenszene
Gelebte Selbsthilfe und Empowerment .................................................................... 37
Von Eva Aeschimann
Eidgenössische Wahlen: ein Amt für alle zugänglich ............................................... 39
Von Mélanie Sauvain
Medien
Freiwillig?.................................................................................................................. 41
Von Bettina Gruber
Impressum .............................................................................................................. 42
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Behinderung und Politik 2/11
Editorial
Ohne Selbsthilfe keine Gesellschaft
Selbsthilfe ist ein wichtiger Teil des Kitts, der eine Gesellschaft zusammenhält. Was
wie eine kühne Behauptung erscheint, ist nichts anderes als die Feststellung, dass
Selbsthilfe eigentlich etwas Alltägliches ist. Die Mütter im Park reden miteinander
über ihre Kinder, tauschen Erfahrungen aus, geben einander Hinweise und Tipps –
Selbsthilfe, bloss wird sie nicht als solche erkannt oder ‹offiziell› deklariert. Die
Arbeiterbewegung setzte sich ein für gerechtere Entlöhnung und bessere
Arbeitsbedingungen. Auch der Rütlischwur ist eine der möglichen Formen von
Selbsthilfe: Die Menschen wollten keinen König vor die Nase gesetzt bekommen,
sondern direkt dem Kaiser verpflichtet sein. Und es nützte ja: Wir haben keine
Monarchie.
Selbsthilfe wirkt unter anderem deshalb auf eine Gesellschaft positiv ein, weil
Menschen mit gemeinsamen Erfahrungen, Können und Wissen oder Zielen sich
zusammentun, um etwas zu bewirken. ‹Die Gesellschaft› an sich kann ja nicht
handeln, sie ist etwas Abstraktes. Die Menschen, die ihr angehören, ‹machen› sie:
Sitten und Gebräuche, moralische und ethische Regeln, Gesetze, Übereinkünfte,
Benehmen, Wahrnehmung – alle tragen dazu bei. Selbst die Verweigerung von
etwas als unsinnig Empfundenen kann zu Selbsthilfe führen: Das wollen wir so nicht
mehr, wir versuchen etwas zu verändern.
Es ist seltsam, dass Selbsthilfe von recht vielen Leuten gar nicht als demokratische,
partnerschaftliche und individuelle Kompetenzen fördernde Vorgehensweise
wahrgenommen wird. Gewisse politische Kreise scheinen Solidarität für ein
Schimpfwort zu halten und die wahren Bedürfnisse und Anliegen von Mitgliedern der
Gesellschaft als vernachlässigbar. Am liebsten so schnell wie möglich abschaffen,
und die Selbsthilfe von Behinderten-Organisationen erst recht. Etwas Grundlegendes
vergessen diese sich so klug gebenden Köpfe jedoch nur zu gerne: Müsste das
gesamtschweizerisch in Selbsthilfe investierte Engagement von Berufsleuten getan
werden, würde das laut einer Studie rund 100 Millionen Franken kosten.
AGILE feiert in diesem Jahr ganz im Stillen das 60jährige Bestehen. Viel hat sich
verändert in diesen vergangenen Jahrzehnten, politisch, sozial, gesellschaftlich.
Etwas war, ist und bleibt gleich: Eine von den Mitglied-Organisationen gut getragene
und starke Dach-Organisation bietet die beste Garantie, dass Menschen, die mit
einer Behinderung leben, zu ihrem Recht kommen.
Maria Gessler
Vorstandsmitglied AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
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Behinderung und Politik 2/11
Schwerpunkt
Wir sind geboren, um gemeinsam zu wirken
Sich selber zu helfen, allein oder mit Unterstützung, gehört seit jeher zum
menschlichen Wesen. Die organisierte Selbsthilfe geht zurück bis in die
Anfänge der Industriegesellschaft, und ihre Geschichte ist geprägt vom
sozialen Wandel. Ein Blick zurück. Ein Blick in die Zukunft.
Von Carmen Rahm, Geschäftsleiterin Stiftung KOSCH, Koordination und Förderung
von Selbsthilfegruppen in der Schweiz
Historische Entwicklung der Selbsthilfebewegung
Das von Braun und Opielka 1992 im Kohlhammer-Verlag veröffentlichte Werk
«Selbsthilfeförderung durch Selbsthilfekontaktstellen» skizziert die Entwicklung der
Selbsthilfe in drei Phasen:
In den Anfängen der Industriegesellschaft führte die materielle und existentielle
Notlage zu einer weit reichenden Auflösung von traditionellen
Gemeinschaftsverbindungen. In der Folge entstand eine sogenannte
«sozialökonomische Selbsthilfe»: Menschen organisierten sich einerseits für den
Aufbau von karitativen Hilfsvereinen, anderseits in solidarischen Hilfssystemen wie
Genossenschaften und Gewerkschaften.
In der zweiten Phase entwickelte sich die sozialpolitische Selbsthilfe, zu deren
Vertretern zum Beispiel der Gehörlosenverein in Bern (Gründungsjahr 1894), der
Schweizerische Blindenverband (Gründungsjahr 1911), oder ab den dreissiger
Jahren der schweizerische Invalidenverband gehörten.
Die Selbsthilfeentwicklung der dritten Phase begründete die moderne Selbsthilfe
bzw. Selbsthilfeunterstützung. Der gestiegene Wohlstand ermöglichte nun allen
Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen. Um sich im
Dschungel des Gesundheits- und Sozialwesens zurechtzufinden, schlossen sich
Hilfesuchende in lokalen Selbsthilfegruppen zu Gesprächs- und
Handlungsgemeinschaften zusammen. Die vielfältigen Formen der «sozialgemeinschaftlichen Selbsthilfe» – später auch als «Alternativ-Szene» betitelt – hatten
ihre Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren. Das professionelle
Versorgungssystem begegnete diesem Aufschwung anfangs mit grosser Skepsis bis
Ablehnung. Man befürchtete eine «Billigkonkurrenz» zu den traditionellen
Versorgungsstrukturen. Bald jedoch setzte sich die Erkenntnis durch, dass
Selbsthilfegruppen mit professioneller Förderung durch Kontaktstellen und
Selbsthilfeorganisationen erfolgreiche Arbeit zu leisten im Stande sind. Die Akteure
der Selbsthilfeförderung haben die alternative Ecke verlassen und sind heute als
professioneller Partner wahrgenommen und anerkannt.
Kooperation und Förderung von Selbsthilfegruppen heute
Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat es sich erwiesen, dass Selbsthilfegruppen
sich besser und nachhaltiger etablieren, wenn sie von professionell geführten
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Behinderung und Politik 2/11
Kontaktstellen Beratung und Unterstützung erhalten. Die Mitarbeitenden der
Kontaktstellen unterstützen Menschen, damit sie eigenverantwortlich für ihre Belange
nach Lösungsmöglichkeiten suchen und diese in Handeln umsetzen können. Zu den
zentralen Funktionen einer Kontaktstelle gehören neben der Beratung von Einzelnen
und Gruppen die Förderung der Selbsthilfegruppen, die Unterstützung bei
Gruppenbildungen, die Promotion der Selbsthilfe-Idee und die Verbindung von
Selbsthilfegruppen mit professionellen Hilfsangeboten. Heute setzen sich in 15
Kantonen 20 Kontaktstellen für die Selbsthilfegruppen ein.
Vor mehr als zehn Jahren gründete eine Interessengemeinschaft der Kontaktstellen
die schweizerische Dachorganisation der regionalen Kontaktstellen – die Stiftung
KOSCH.
Die Stiftung KOSCH bezweckt die Förderung der Selbsthilfe und koordiniert die
Vernetzung der regionalen Kontaktstellen für Selbsthilfe in der Schweiz. Sie betreibt
eine nationale und internationale Anlauf- und Informationsstelle für die Selbsthilfe,
regt Forschungsprojekte an und bildet die Schnittstelle zwischen den regionalen
Kontaktstellen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen. Die Stiftung KOSCH
setzt sich mit parlamentarischem Lobbying und Teilnahme in politischen Gremien für
die gesetzliche Verankerung der Selbsthilfeförderung ein. Im inzwischen vom
Nationalrat verabschiedeten Präventionsgesetz ist die Förderung von
Selbsthilfegruppen explizit verankert.
Die Stiftung KOSCH und die Kontaktstellen sind die Organisationen, welche sich für
Selbsthilfegruppen zu jeglichen Themen einsetzen. In der Schweiz gibt es heute rund
2000 Selbsthilfegruppen zu 450 Bereichen.
Künftige Herausforderungen
Längst belegen Studien, dass Mitglieder von Selbsthilfegruppen den Umgang mit
einer Krankheit etwa bewusst und eigenverantwortlich anpacken. Dies kann auch zu
reduziertem Medikamentengebrauch oder weniger Behandlungen führen und somit
die Kosten im Gesundheitswesen beeinflussen. Würden die rund 2000
Selbsthilfegruppen in der Schweiz professionell geleitet, würde dies Kosten im
dreistelligen Millionenbereich verursachen.
Im Wissen darum, dass die Selbsthilfe in Gruppen einen nachhaltigen positiven
Einfluss auf die Gesundheit und auf den Heilungsprozess hat, steht die Förderung
der Selbsthilfegruppen auch weiterhin vor grossen Herausforderungen. So muss zum
Beispiel auf der politischen Ebene das nationale Präventionsgesetz rasch auch vom
Ständerat verabschiedet und effektiv umgesetzt werden. In den Kantonen soll die
Förderung von Selbsthilfegruppen in die Verfassung aufgenommen werden, wie es
zum Beispiel im Kanton Basel-Stadt seit 2005 bereits der Fall ist. Krankenkassen
und professionelle Dienste müssen ihre Klienten und Patienten vermehrt über den
Sinn und Zweck von Selbsthilfegruppen informieren.
Die gesellschaftliche Anerkennung der Selbsthilfe ist eine weitere Herausforderung.
Die Selbsthilfegruppen sollen nicht länger als sogenannte Jammerclubs belächelt
werden, sondern als Institution anerkannt sein, welche Menschen darin unterstützt,
Selbstvertrauen und Kraft zurückzugewinnen und das Schicksal in die eigenen
Hände zu nehmen.
5
Behinderung und Politik 2/11
Ziel ist es, dass künftig die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe von Gesellschaft
und Politik ebenso selbstverständlich anerkannt ist wie der Besuch des Hausarztes.
Kontakte:
-
Stiftung und Geschäftstelle KOSCH, Tel: 061 333 86 01, www.kosch.ch
-
Direkte Nummer zur nächsten Selbsthilfekontaktstelle: 0848 810 814
Literaturhinweise:
-
Selbsthilfegruppen brauchen ein Netz, Vreni Vogelsang, 1995. Seismo-Verlag
-
Es gibt Leute, die das Gleiche haben, J. Stremlow, 2004, HSA-Luzern
-
Selbsthilfe unterstützen, NAKOS, 2006, Berlin
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Behinderung und Politik 2/11
1951: Längst vergangen und doch überraschend aktuell
Ein Rückblick auf eine lange zurückliegende Zeit – die Jahre 1951-1952. Erste
Informationsbulletins der ASKIO (heute AGILE), erste Jahresberichte. Was hat
sich verändert? Was nicht? Eine kleine Reise in die Vergangenheit und zurück
in die Gegenwart. Um für die Zukunft gerüstet zu sein …
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
Vor 60 Jahren gab es weder Computer noch Internet. Die Informationsbulletins oder
Nachrichten der ASKIO (Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Kranken- und
Invaliden-Selbsthilfeorganisationen) wurden auf der Schreibmaschine getippt und
anschliessend zusammengeheftet. Eine andere Welt … aber nicht nur in dieser
Hinsicht.
Von den blinden Hausierern zu den ansteckenden Invaliden
In den Archiven von AGILE aus den Jahren 1951-1952 zeigt sich vor allem im
verwendeten Vokabular, dass die Behinderung im Gegensatz zu heute ganz anders
betrachtet wurde. Behinderungen waren «Gebrechen» und die «Invaliden» wurden
den «Gesunden» gegenübergestellt. Auch der Alltag der Betroffenen schien völlig
unterschiedlich zu sein. Hausieren, d.h. der Verkauf von Krimskrams und anderen
handgefertigten Artikeln, beispielsweise war bei Blinden sehr beliebt, da es für sie die
einzige Möglichkeit war, «aus den für sie drückenden vier Wänden
herauszukommen».
Der Begriff der Selbstbestimmung existierte noch nicht. Aber die Betroffenen waren
sich schon 1951 bewusst, wie wichtig es ist, über das eigene Schicksal bestimmen
zu können. Und sie verschafften sich immer mehr Gehör. Die Notwendigkeit einer
Dachorganisation wurde rasch spürbar, denn die «Invaliden» sollten als den
«Gesunden» gleichgestellte Ansprechpartner anerkannt werden, vor allem bei
Fragen der Pflege und Unterstützung. Dadurch entstand die ASKIO. Ziel war es
auch, Vorurteile abzubauen: «Es ist notwendig, in unserem Lande die
ungerechtfertigte Furcht vor Ansteckung (AdR.: durch die Behinderung), die Tendenz
den körperlich Behinderten als geistig ebenfalls nicht normal anzusehen und vor
allem das sentimental-neugierige Mitleid zum Verschwinden zu bringen» (Auszug
aus den ersten ASKIO-Nachrichten, Januar 1952).
60 Jahre später muss leider festgestellt werden, dass Menschen mit Behinderung
sich immer noch gegen – alte und neue – Vorurteile zur Wehr setzen müssen. Die
Angst vor einer Ansteckung ist zwar verschwunden, aber die Angst vor
Körperkontakt ist geblieben. Und Menschen mit einer sichtbaren Behinderung
machen noch zu häufig die Erfahrung, dass sie wie Kinder oder Personen mit einer
geistigen Behinderung behandelt werden.
Hingegen gab es in den 1950er-Jahren keine Debatte über «Scheininvalide». Der
Erfinder dieser Idee, Christoph Blocher, war damals auch erst 11 Jahre alt. Dennoch
gab es bereits eine Tendenz, gute und schlechte Behinderte zu unterscheiden: In
einer damaligen Selbsthilfegruppe wurde darüber diskutiert, ob es berechtigt sei,
7
Behinderung und Politik 2/11
wenn ein Amputierter ohne seine Schmuckprothese hausiere oder bettle, «um seinen
Umsatz durch den Appell ans Mitleid zu steigern».
Aktuell und doch so fern
Vor 60 Jahren umfasste die ASKIO acht Selbsthilfeorganisationen: vier regionale
Invalidenvereine der Deutschschweiz, zwei Organisationen für Tuberkulose, den
Bund Schweizer Militärpatienten und den Schweizerischen Blindenverband (SBV).
1951 wurden in der Schweiz rund «200 000 Blinde, Taube, Stumme, Taubstumme,
Gelähmte und andere körperlich Invalide» gezählt. Offenbar wurden die geistig
Kranken nicht in der Statistik erfasst, welche in mehreren Dokumenten im
Zusammenhang mit der künftigen Invalidenversicherung zitiert wird. Psychische
Erkrankungen werden nur in Verbindung mit Amputierten erwähnt, denen es schwer
falle, ihr Schicksal zu akzeptieren. Psychische Erkrankungen – anscheinend ein
totales Tabu zu diesem Zeitpunkt.
Zwar haben sich die «Kategorien» von Behinderung, die bei AGILE vertreten sind,
weiterentwickelt, das Tätigkeitsprogramm des Dachverbands von damals bleibt
dagegen überraschend aktuell. So wurde an der ersten Delegiertenversammlung der
ASKIO am 4. November 1951 beschlossen, «folgende Aufgaben umgehend an die
Hand zu nehmen»:
-
Ein Informationsbulletin soll periodisch herausgegeben werden
-
Ein Katalog soll errichtet werden über Umfang, Zweck und Leistung möglichst
aller Kranken- und Invaliden-Selbsthilfewerke in der Schweiz
-
Die Presse soll regelmässig positive Artikel erhalten, besonders zum Thema
gesellschaftliche Eingliederung
-
Beim Radio solle eine Diskussion über das Verhältnis Behinderte-Gesunde
angeregt werden sowie Reportagen über die Arbeit erfolgreich beruflich tätiger
Behinderter
-
Eine Ferienwoche soll der Förderung des Kontaktes zwischen den Mitgliedern
dienen
-
Der Kontakt mit Parlamentariern soll gepflegt werden im Sinne der Aufklärung
und Werbung und Vorbereitung späterer Vorstösse
-
Alle erreichbaren Dokumente zum Thema Invalidenversicherung sollen
gesammelt werden im Hinblick auf gemeinsame Schritte.
In den ersten Jahren veränderte sich dieses Programm kaum. Das Ziel einer
eidgenössischen Invalidenversicherung – mit einem Teil «berufliche Integration» und
einem Teil «finanzielle Unterstützung» – erhielt ein immer grösseres Gewicht. Bis die
IV 1960 in Kraft gesetzt wurde.
Wo stehen wir heute? Das Ziel ist, sich gegen einen Rückschritt um 60 Jahre zu
wehren und gegen den Abbau der Invalidenversicherung zu kämpfen.
Übersetzung: Susanne Alpiger
8
Behinderung und Politik 2/11
«Warum braucht es AGILE auch in Zukunft?»
Das Dach der Behinderten-Selbsthilfe feiert 2011 seinen 60. Geburtstag – vier
Persönlichkeiten, die AGILE seit längerem kennen, und ihre Gedanken zum
Jubiläum.
Zusammengetragen von Eva Aeschimann, Bereichsleitung Öffentlichkeitsarbeit und
Mélanie Sauvain, Secrétaire romande
Otto Piller, 1997 – 2003 Direktor Bundesamt für Sozialversicherungen
(BSV)
In diesem Jahr darf AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz den 60. Geburtstag
feiern. Dazu gratuliere ich herzlich und verbinde diese Gratulation auch mit dem
ebenso herzlichen Dank für die so wertvolle Arbeit, die sie im Lauf dieser Zeit zum
Wohle unserer Mitmenschen mit einem Handicap geleistet hat.
In meiner Jugendzeit begegnete ich immer wieder Menschen mit einer Behinderung,
die ein sehr trauriges Leben führen mussten. In einer bäuerlich geprägten Umgebung
war in ihrem Alltag harte Arbeit angesagt. Eine nennenswerte Schulbildung fehlte
meistens vollständig und wurde auch nicht als notwendig erachtet. Diese Leute
vegetierten oftmals regelrecht dahin und Lebensfreude konnten sie nur erfahren,
wenn sie bei gutherzigen Menschen wohnen und arbeiten konnten. Das erbärmliche
Leben führte sehr oft auch zu einem frühen Tod.
Das hat sich erfreulicherweise vollständig geändert. Einerseits hat die Einführung der
Invalidenversicherung im Jahre 1960 eine Förderung der Menschen mit einem
Handicap ermöglicht. Auf der andern Seite haben Organisationen wie AGILE
wesentlich dazu beigetragen, dass in der Schweiz die Ausgrenzung der behinderten
Mitmenschen endlich der Vergangenheit angehört. Das Diskriminierungsverbot in
Art.8 der Bundesverfassung und die entsprechende Ausführungsgesetzgebung sind
Dank dieser grossen Arbeit heute Wirklichkeit.
Dafür verdient AGILE nebst den besten Geburtstagswünschen auch unseren
herzlichen Dank. Möge das erfolgreiche und so wertvolle Wirken weitergehen!
Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen (EBGB)
In den sechzig Jahren, in denen sich AGILE für die Interessen von Menschen mit
Behinderungen einsetzt, hat sich vieles bewegt. Die neun Jahre jüngere IV wurde
fünf Mal revidiert, die Wahrnehmung von Behinderung hat sich gewandelt, und
neben die herkömmlichen Instrumente der Politik zugunsten von Menschen mit
Behinderungen ist das Gleichstellungsrecht getreten. Dieser Wandel ist zu einem
guten Teil auch AGILE zu verdanken.
Auch in Zukunft gibt es viel zu bewegen: Die IV ist in einer kritischen Phase, und
Gleichstellung gilt es in vielen Lebensbereichen noch zu verwirklichen. Hierzu
braucht es auch weiterhin Engagement, Beharrlichkeit und Beweglichkeit – kurz:
AGILE.
9
Behinderung und Politik 2/11
Beatrice Breitenmoser, 1995 – 2004 Vizedirektorin Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV ) und Leiterin Invalidenversicherung; heute
Geschäftsleiterin der Stiftung Rüttihubelbad
AGILE weckt in mir gute Erinnerungen: Einzelpersonen und kleine Gruppen, die
engagiert, kompetent und fair kämpfen. Zentral ist die Würde des einzelnen
Menschen. In ebenfalls guter Erinnerung habe ich, wie AGILE «nervt», mühsam und
unbequem sein kann.
AGILE war ein «Leichtgewicht» in der Welt der politischen und fachlichen
Lobbyorganisationen. AGILE brauchte einen gewissen Schutz, um wahrgenommen
zu werden. Bestand dieser Schutz, wurde aus dem «Leichtgewicht» ein nicht zu
unterschätzendes «Schwergewicht».
AGILE ist mir als Organisation mit typischen weiblichen Eigenschaften in Erinnerung.
Heute dominieren Spardruck die Debatte und der Irrglauben, Menschen mit einer
Behinderung könnten beliebig in die «freie» Arbeitswelt integriert werden. Menschen
mit einer Behinderung erleben eine sehr schwierige und herausfordernde Zeit. Ich
wünsche von Herzen, dass AGILE ihre starken weiblichen Eigenschaften kompetent,
fair und kämpferisch in die Politik und in die Fachwelt einbringt.
Thomas Bickel, Zentralsekretär Integration Handicap, Sekretär der DOK
AGILE braucht es auch in Zukunft, weil…
-
die Betroffenen eine gewichtige Stimme zur Vertretung ihrer Anliegen benötigen:
-
es eine Dachorganisation braucht, welche die vielfältigen Interessen der
einzelnen Behinderungsgruppen unter einen Hut bringen kann;
-
es einer basisdemokratisch ausgerichteten Dachorganisation bedarf, welche den
Betroffenen direkt Gehör verschaffen kann;
-
ein repräsentatives Selbsthilfedach wichtig ist, um eine konstruktive und Erfolg
versprechende Zusammenarbeit mit den Fachorganisationen und
Leistungserbringern zu ermöglichen;
-
Menschen mit Behinderung sich in erster Linie selber müssen vertreten können;
-
sich eine glaubwürdige Behindertenpolitik an einer breit abgestützten
Meinungsbildung unter den Betroffenen orientieren muss;
-
die Stimme der Betroffenen einen klaren und auch kritischen Lautsprecher in der
Öffentlichkeit benötigt.
10
Behinderung und Politik 2/11
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau
In den vergangenen Monaten war die Aufmerksamkeit vor allem auf die
Revolten in den arabischen Ländern und auf Fukushima gerichtet. Die
Schweizer Politik war aber nicht weniger aktiv. Einer der Schwerpunkte der
Sozialpolitik war die Verabschiedung der ersten Tranche der 6. IVG-Revision
durch das Parlament. Eine Rückschau auf weitere wichtige Geschehnisse der
ersten Monate des Jahres.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
«La faim des profits engendre les fins de droit», schreibt Guy Zurkinden in «Services
publics», dem Magazin des Verbands des Personals öffentlicher Dienste – die
Profitgier also führt zur Aussteuerung. Im Jahr 2010 haben die 20 im Swiss Market
Index (SMI) kotierten Unternehmen Rekordgewinne in Höhe von 82 Milliarden
Franken erzielt. Auf der anderen Seite müssen ausgesteuerte Arbeitslose und IVRentenbezügerInnen, die ihren Anspruch verlieren, wegen der Kürzungen bei den
Sozialversicherungen heute Sozialhilfe beziehen.
Immer wieder diese Vergesslichkeit (Fortsetzung)
In der letzten «Rundschau» schrieb ich von mehreren Milliarden Franken
Steuereinbussen, die dadurch entstehen, dass einige reiche Steuerpflichtige jedes
Jahr vergessen, das eine oder andere ihrer Bankkonten zu versteuern – die Ärmeren
leiden nicht unter dieser Art von Amnesie.
Auch der Bundesrat ist nicht gegen gewisse Versäumnisse gefeit: So hielt er es nicht
für nötig, die tatsächlichen Auswirkungen der «Unternehmenssteuerreform II» auf die
Steuereinnahmen von Bund und Kantonen zu berechnen, sondern schätzte lediglich,
dass dieses Geschenk an die Unternehmen zu Steuerausfällen von rund 400
Millionen Franken führen würde. Nur einige Monate nach Inkrafttreten dieser Reform
sind die Steuereinbussen von 400 Millionen auf heute schätzungsweise über 7
Milliarden Franken hochgeschnellt!
Befremdend ist auch der Wechsel bei den Empfängern dieser Geschenke. Die als
Impuls für Garagisten, Coiffeurgeschäfte und andere Handwerks- und
Gewerbebetriebe gedachte Reform hat sich in eine sehr grosszügige Geste für die
Aktionäre der UBS, ABB, Nestlé, Novartis und Konsorten verwandelt. In dieser
Hinsicht hörte man vom Bundesrat zuletzt, dass er diese Ungenauigkeiten bedaure.
Wie die Parlamentsmehrheit lehnt aber auch er eine erneute Abstimmung über diese
Reform ab, die vom Volk (im Februar 2008 mit 50,5 Prozent der Stimmen) ohne
Kenntnis der tatsächlichen Auswirkungen angenommen worden war. Eine
Beschwerde ist hängig.
11
Behinderung und Politik 2/11
Invalidenversicherung
Vgl. den Artikel von Ursula Schaffner «Zwiespältige Bilanz zur ersten Tranche 6.
IVG-Revision».
Die Botschaft zur zweiten Tranche 6b IVG-Revision wurde vom Bundesrat nach
Redaktionsschluss dieser Ausgabe der Zeitschrift veröffentlicht.
Arbeitslosenversicherung
16‘000 ausgesteuerte Arbeitslose
Am 1. April ist das revidierte Arbeitslosenversicherungsgesetz mit seinen strengeren
Bestimmungen in Kraft getreten (vgl. «agile» 3/10). Kurz zuvor hatte der Bundesrat
die entsprechende Vollzugsverordnung erlassen.
Trotz der positiven Wirtschaftsindikatoren (Wachstum, steigende Exporte, sinkende
Arbeitslosigkeit etc.) hat die Regierung an der rückwirkenden Anwendung des neuen
Systems auf die vor dem 1. April registrierten Arbeitslosen festgehalten. Damit
wurden fast 16‘000 Arbeitssuchende von der Arbeitslosenversicherung
ausgeschlossen, viele bereits am 1. April 2011. Häufig mit sehr unzulänglicher
Vorankündigung und Begleitung, wenn man den Presseberichten glaubt.
Laut Walter Schmid, dem Präsidenten der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe
(SKOS), werden sich rund ein Drittel dieser ehemaligen Versicherten an die
Sozialhilfe wenden, die von den Kantonen bezahlt wird. Was mit den anderen
geschieht, weiss man nicht. Viele werden zuerst ihr privates Vermögen aufbrauchen,
bevor sie den Gang zur Fürsorge antreten. Die meisten Ausgesteuerten lassen sich
von ihren Familien unterstützen, sagt Walter Schmid in einem Gespräch mit der
SDA.
Alle Ähnlichkeiten mit dem Schicksal der ehemaligen IV-Rentenbezüger sind rein
zufällig (AdR).
Für eine kleine Minderheit der ALV-Versicherten, d.h. für die Kulturschaffenden,
brachte die bundesrätliche Verordnung eine Verbesserung. Die vom Volk im
September 2010 gutgeheissenen Verschärfungen sehen vor, dass die Beitragszeit
für den Anspruch auf 400 Taggelder von 12 auf 18 Monate verlängert wird. Für
Kulturschaffende ist es fast unmöglich, diese Anforderung zu erfüllen. Anscheinend
ist sich der Bundesrat dessen bewusst. Im früheren System wurden bei
Kulturschaffenden mit häufig wechselnden oder befristeten Anstellungen die ersten
30 Beitragstage doppelt gezählt, um eine Beitragszeit von 12 Monaten realistisch
werden zu lassen. In der Verordnung zum revidierten Gesetz wurde diese doppelte
Anrechnung der Beitragszeit nun auf 60 Tage verlängert. Der einzige Haken besteht
darin, dass die Verordnung im Gegensatz zum Gesetz nicht rückwirkend
angewendet wird. Kulturschaffende, die ab Anfang April Beiträge entrichtet haben,
sind nun besser gestellt als jene, deren Entschädigungen durch das neue Gesetz
geschmälert werden. Anfang April hat die Stadt Genf ein Rechtsgutachten
veröffentlicht, das diese Ungleichbehandlung in Frage stellt. Nun ist abzuwarten, ob
Bundesrat Johann Schneider-Ammann auf diese Argumentation reagiert.
12
Behinderung und Politik 2/11
AHV
Die 11. AHV-Revision ist zurück
Im letzten Herbst wurde die 11. AHV-Revision (zweiter Anlauf) vom Parlament in der
Endabstimmung abgelehnt. Haben Sie gedacht, das sei es nun gewesen? Dem ist
nicht so. Die 11. AHV-Revision ist zurück. Zumindest ihre Sparmassnahmen…
Anfang April hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des
Ständerats der parlamentarischen Initiative von Erika Forster (FDP/SG) Folge
gegeben, welche die Anhebung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 vorsieht.
Ausserdem wird die Idee wieder aufgenommen, die Altersrenten nicht mehr an die
Teuerung anzupassen, wenn der Ausgleichsfonds eine festgelegte Höhe
unterschreitet. Ziel sind Einsparungen in Höhe von 800 Millionen Franken zur
Sicherung der Zukunft der ersten Säule. Es ist nicht mehr die Rede davon, einen Teil
dieser Mittel zur Finanzierung des vorzeitigen Altersrücktritts für Personen mit tiefem
Einkommen zu verwenden, wie es in der Vorlage des Bundesrates vorgesehen war.
Für die Linke ist diese parlamentarische Initiative ein schwerer Schlag, wird sie doch
im Alleingang gegen den Vorschlag ankämpfen müssen.
Die Schwesterkommission des Nationalrats muss ebenfalls noch grünes Licht geben,
bevor dem Plenum ein Gesetzestext vorgelegt wird. Angesichts der gegenwärtigen
Mehrheitsverhältnisse scheint der Ausgang von vornherein festzustehen.
Finanzierung durch eine Erbschaftssteuer
Die SP, die Grünen und die Evangelische Volkspartei (EVP) haben ihrerseits eine
Lösung zur Sicherung der AHV präsentiert. Die drei Parteien haben sich auf einen
Initiativtext zur Einführung einer eidgenössischen Erbschaftssteuer geeinigt: Der
Bund soll dadurch jährlich rund drei Milliarden Franken einnehmen, die insbesondere
in die Kasse der 1. Säule fliessen sollen. Auch die Kantone gehen nicht leer aus. Um
die Erfolgschancen der Initiative zu erhöhen, sollen kleine Vermögen von der Steuer
ausgenommen werden. Steuerfrei bleiben sollen Erbschaften unter zwei Millionen
Franken, Zuwendungen an EhepartnerInnen oder registrierte PartnerInnen sowie
Spenden an Hilfswerke. Der Einheitssteuersatz von 20 Prozent liegt deutlich unter
den in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien geltenden Sätzen. Für KMU
und Landwirtschafsbetriebe gelten besondere Regeln, um Nachfolgen nicht zu
gefährden.
Für die Verwendung der drei Milliarden Neueinnahmen lässt die Initiative einen
grossen Spielraum. Wir dürfen deshalb davon träumen, dass die IV nicht einmal
mehr vergessen geht…
KVG
Managed Care
Die Managed-Care-Vorlage ist auf der Kippe. In der Differenzbereinigung im
Parlament haben die beiden Kammern auf ihren Positionen beharrt und damit die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Vorlage nach sechsjährigen Arbeiten
versenkt wird. Anders als der Ständerat will der Nationalrat die
Krankenversicherungen dazu verpflichten, in allen Regionen Netzwerke anzubieten.
13
Behinderung und Politik 2/11
Unterschiede bestehen auch bei der Frage, wie die Versicherten belohnt werden
sollen, die sich für ein Managed-Care-Modell entscheiden, bzw. was für jene gilt, die
sich keinem Netz anschliessen. Anfang März hatte der Nationalrat für einen Status
quo für die im Managed-Care-Modell Versicherten (d.h. einen Selbstbehalt von 10
Prozent plädiert, während die traditionell Versicherten einen Selbstbehalt von 20
Prozent zu bezahlen hätten. Anfang April hat die zuständige Kommission des
Ständerats ihrerseits an der Position ihrer Kammer festgehalten: Versicherte, die auf
die freie Arztwahl verzichten, sollen mit einer Kürzung des Selbstbehalts auf 7,5
Prozent belohnt werden. Traditionell Versicherte sollen einen Selbstbehalt von 15
Prozent bezahlen.
Angesichts der Gefahr, dass die Vorlage im Parlament oder in der Volksabstimmung
scheitert, hat die Mehrheit der Ständeratskommission vorgeschlagen, einen Teil der
Vorlage zu retten, d.h. die geplante Verbesserung beim Risikoausgleich. Der Jagd
nach guten Risiken, welche sich die Krankenkassen heute liefern, soll ein Ende
bereitet werden. Dieser Teil der KVG-Reform soll in eine separate Vorlage
ausgegliedert werden, meint die Kommission. Der Ständerat wird im Juni darüber
entscheiden.
Eine Milliarde als Trost
Anfang April hat Didier Burkhalter anerkannt, dass die Versicherten in acht Kantonen
(GE, VD, NE, JU, BS, ZH, TG und TI) seit 1996 Krankenkassen-Prämien in Höhe
von 1,8 Milliarden Franken zu viel bezahlt haben. Die Versicherten der 18 übrigen
Kantone hingegen haben von zu niedrigen Prämien profitiert. Grund dafür ist die
Freiheit der Krankenversicherungen, ihre kantonalen Reserven nach Gutdünken zu
verwenden.
Zur Beseitigung dieser Ungleichbehandlung soll knapp eine Milliarde Franken an die
«geprellten» Prämienzahlenden zurückerstattet werden. Das sind nur 51 Prozent der
gesamten zu viel bezahlten Prämien. Denn es soll eine politisch akzeptable Lösung
für all jene gefunden werden, welche zur Kasse gebeten werden, d.h. für die
Versicherten der 18 Kantone, die nicht genug bezahlt haben. Es ist verständlich,
dass in dieser Situation versucht wird, einen Kompromiss zu finden. Für diejenigen,
die zu viel bezahlt haben und keine vollständige Rückerstattung erhalten, hinterlässt
dies aber einen sehr bitteren Nachgeschmack. Aber auch bei jenen, die lieber
jährlich das bezahlt hätten, was sie schuldeten, anstatt nun auf einen Schlag die
Fehlbeträge zurückzahlen zu müssen. Die Krankenkassen hingegen kommen
glimpflich davon – sie haben ja nichts verloren.
Der vom Bundesrat vorgeschlagene Ausgleich muss noch von den Räten
abgesegnet werden. Dass dies auch geschieht, steht aber gar nicht fest.
Rationierung in der Pflege
100'000 Franken: So viel darf gemäss einem neueren Urteil des Bundesgerichts ein
gerettetes Lebensjahr kosten. Bisher hatte es niemand gewagt, den Wert eines
geretteten Menschenlebens festzulegen. Nun musste das Bundesgericht
entscheiden. Konkret ging es um den Fall einer 67-jährigen Patientin, deren teure
medizinische Behandlung von der Krankenkasse nicht mehr übernommen wurde.
14
Behinderung und Politik 2/11
Das Gericht ist der Ansicht, dass das Leben eines Patienten nicht zu jedem Preis
verlängert werden kann.
Im beurteilten Fall ist die Beschwerdegegnerin an der seltenen Krankheit Morbus
Pompe erkrankt. Ihr Medikament steht nicht auf der Spezialitätenliste der von der
Grundversicherung übernommenen Arzneimittel und kostet jährlich rund 500‘000
Franken. Im Wissen, dass in der Schweiz fast 180‘000 Menschen mit einer
vergleichbaren Einschränkung der Lebensqualität leben müssen, urteilte das
Bundesgericht, dass der Allgemeinheit die Kostenübernahme für diese Behandlung
nicht zugemutet werden könne und gab der Versicherung damit Recht. Dabei
bemängelten die Richter aber auch, dass in der medizinischen Praxis heute eine
implizite oder versteckte Rationierung stattfinde, ohne dass es dafür allgemein
anerkannte Kriterien gebe. Dies führe zu Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit,
weil nicht alle Ärzte und Krankenkassen gleich entscheiden würden. Deshalb legten
die Richter die Obergrenze von 100‘000 Franken pro gerettetes Lebensjahr fest.
Das Urteil war für Politiker und Ethiker Anlass, sich mit dieser mehr als heiklen Frage
zu beschäftigen. Nationalrat Ignazio Cassis (FDP/TI) forderte den Bundesrat in
einem Postulat auf, zu diesem Entscheid Stellung zu nehmen. Das Bundesamt für
Gesundheit seinerseits erarbeitet ein Konzept, wie im Fall von seltenen Krankheiten
zu verfahren ist. Möglich ist die Schaffung eines Spezialfonds, der für solche
Behandlungen aufkommen könnte. Für die Betroffenen, die quasi zum Tod verurteilt
sind, ist zu hoffen, dass die Studie nicht zu lange dauern wird.
Unfallversicherung
Die Revision des Unfallversicherungsgesetzes wurde an den Bundesrat
zurückgewiesen. Die zuständige Kommission des Nationalrates hatte unter dem
Einfluss der Privatversicherer beschlossen, verschiedene Leistungskürzungen
zulasten der Versicherten in die Regierungsvorlage aufzunehmen. Glücklicherweise
hatten sich Nationalrat und anschliessend der Ständerat geweigert, ihr zu folgen. Der
Bundesrat ist nun beauftragt, eine neue Revisionsvorlage auszuarbeiten, die sich auf
das Notwendige beschränkt: die Regelung des Problems der Überentschädigung.
Viele Rentner beziehen neben der AHV eine UVG-Rente: Damit liegt ihr Einkommen
deutlich über jenem der Personen, die bis zur Pensionierung voll gearbeitet haben.
Quellen vom 25. Januar bis 28. April 2011: «NZZ», «Tages-Anzeiger», «Le Matin»,
«Tribune de Genève», «SDA», «Services publics - Journal du syndicat des services
publics», Medienmitteilungen der Bundesverwaltung.
Übersetzung: Susanne Alpiger
15
Behinderung und Politik 2/11
Zwiespältige Bilanz zur ersten Tranche 6. IVG-Revision
Die Einführung des Assistenzbeitrags ist positiv zu werten, auch wenn dessen
Ausgestaltung unbedingt verbessert werden muss. Negativ werten
Behindertenorganisationen den wiederum nur auf Menschen mit Behinderung
oder chronische Krankheiten ausgeübten Druck, in die Arbeitswelt
zurückzukehren.
Von Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Interessenvertretung
Ende Frühlingssession hat das Schweizer Parlament erwartungsgemäss die erste
Tranche 6. IVG-Revision («6a») bereinigt und verabschiedet. Von der Eröffnung der
Vernehmlassung zur ersten Tranche der 6. IVG-Revision bis zu ihrer
Verabschiedung durch das Parlament sind genau 21 Monate vergangen. Die Vorlage
hat sich seither leicht verändert, ist aber in den Grundzügen gleich geblieben.
Positive und negative Teile der Vorlage
Wiedereingliederung bisheriger RentnerInnen
Von unserer Seite her wurde jener Teil der Vorlage stark diskutiert, welcher die
berufliche Wiedereingliederung von rund 17'000 bisherigen IV-RentnerInnen vorsieht.
Diese Zahl steht zwar so explizit nicht im Gesetz, sie soll aber von den IV-Stellen
gemäss der Zielsetzung des Bundesrats erreicht werden. Namentlich
Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung
unterstützen die IV-Stellen bei der Zielerreichung; diese Massnahmen sind mit der 5.
IVG-Revision eingeführt worden. Auch sollen die bereits bestehenden beruflichen
Massnahmen wie Berufsberatung, Arbeitsvermittlung oder Umschulung (Art. 15 –
18c IVG) sowie der Anspruch auf Beratung und Begleitung bisherigen RentnerInnen
zu Gute kommen. Koordiniert mit der zweiten Säule wird eine Art Rückfallschutz
eingeführt: Wer den Schritt ins Arbeitsleben wagt und innerhalb von drei Jahren
erneut krank wird, soll ohne grossen administrativen Aufwand seine/ihre IV- und
BVG-Rente wieder erhalten.
Eine besondere Regel gilt für Rentnerinnen und Rentner, die an einer unklaren,
organisch nicht nachweisbaren Schmerz- oder ähnlichen Störung leiden. Ihre Rente
soll innerhalb von drei Jahren überprüft und wenn möglich herabgesetzt oder
aufgehoben werden. Personen über 55 Jahre oder jene, welche seit 15 Jahren eine
IV-Rente bekommen, sind von dieser Regel ausgenommen und behalten ihre Rente.
Mehr Wettbewerb beim Erwerb von Hilfsmitteln
Mit der 6a-IVG-Revision erhält der Bund neu die Möglichkeit, beim Einkauf von
Hilfsmitteln auch Ausschreibeverfahren anzuwenden. Dies allerdings erst nach der
Prüfung der drei andern Massnahmen, das sind: Tarifverträge, Höchstlimiten und
Pauschalen. Erst wenn diese Instrumente nicht zu den gewünschten Preissenkungen
führen, darf das BSV Ausschreibeverfahren durchführen.
16
Behinderung und Politik 2/11
Einführung Assistenzbeitrag
Ab 1. Januar 2012 haben volljährige Personen mit Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung (HE) Anspruch auf einen Assistenzbeitrag, sofern sie zu
Hause leben. Sie müssen die Assistenzleistungen im Rahmen von Arbeitsverträgen
beziehen; PartnerInnen oder Kinder dürfen allerdings mit dem Assistenzbeitrag nicht
entschädigt werden. Der Bundesrat legt die Einzelheiten wie Höhe der
Stundenansätze und maximal vergütete Stunden fest. – Die neue IV-Leistung wird
über die Kürzung der HE von Heimbewohnenden finanziert.
Neuer Finanzierungsmechanismus für Bundesbeitrag an die IV
Bis Ende 2013 bezahlt der Bund 37,7 Prozent der Ausgaben der IV. Ab 1. Januar
2014 gelten als Bemessungsgrundlage des Bundesbeitrags neu die
Mehrwertsteuereinnahmen, wobei diese um einen bestimmten Faktor verringert
werden. Der Bund soll aber weiterhin mindestens 37,7 Prozent der Ausgaben der IV
bezahlen.
Weitere Änderungen
Neben den erwähnten wurden weitere Artikel verändert oder gestrichen. Wir nennen
hier beispielhaft drei:
Gemäss 6a-IVG-Revision werden ausserordentliche Renten in Zukunft
ausschliesslich via Bund finanziert (Art. 77 Abs. 2). Damit wird definitiv verhindert,
dass diese Renten exportiert werden könnten.
In Zukunft kann die IV-Stelle IV-RentnerInnen den kantonalen Polizeibehörden
melden, wenn sie an deren Fahrtüchtigkeit zweifelt (Art. 66c).
Wer bisher während Eingliederungsmassnahmen verunfallte oder erkrankte, hatte
Anspruch auf die Bezahlung der Behandlungskosten. Dieser Artikel ist ersatzlos
gestrichen worden. Das heisst, die betroffenen Menschen müssen die entstehenden
Kosten selber tragen, obwohl sie möglicherweise weder eine IV-Rente noch ein
sonstiges Einkommen haben.
Poltisches Kalkül aufgegangen
Bei Menschen mit Behinderung ist die vom Parlament am Ende der Frühjahrssession
2011 verabschiedete Vorlage sehr zwiespältig angekommen, denn sie enthält
positive und negative Elemente. Positiv ist die Einführung des Assistenzbeitrags zu
werten, auch wenn dessen Ausgestaltung unbedingt verbessert werden muss.
Negativ werten wir den wiederum ausschliesslich auf Menschen mit Behinderung
oder chronische Krankheiten ausgeübten Druck, in die Arbeitswelt zurückzukehren.
Die Arbeitgebenden sind bei dieser Wiedereingliederungs- beziehungsweise
Sparstrategie ebenso abwesend wie in der vorangehenden 5. IVG-Revision. Bitter
wird von Seiten der Behinderten und chronisch Kranken sowie ihrer Organisationen
bemerkt, dass das politische Kalkül der noch von Bundesrat Couchepin und dem
damaligen IV-Chef du Bois-Reymond der Öffentlichkeit präsentierten Vorlage
aufgegangen ist: Sie und eine Mehrheit des Parlaments haben die
Behindertenorganisationen mit dem «Zückerchen» Assistenzbeitrag bewusst
17
Behinderung und Politik 2/11
gegeneinander ausgespielt. Damit werden sie absichtlich von aussen daran
gehindert, Solidarität zu leben.
18
Behinderung und Politik 2/11
IV-Gutachten bei psychisch und psychosomatisch Erkrankten
Eine Ärztin macht sich Gedanken über IV-Gutachten. Sie stützt sich bei ihren
Überlegungen in ihrem Gast-Artikel auf eigene Erfahrungen aus der klinischen
Tätigkeit. Die Autorin möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der «agile»Redaktion bekannt.
Zuerst erscheint es mir wichtig, allfällige Interessenkonflikte und den Auftraggeber
anzugeben. Ich bin angestellte Ärztin. Es bestehen keinerlei finanzielle
Abhängigkeiten bzgl. Aufträge für IV-Gutachten oder Patientenzuweisungen. Die
Auftraggeberin dieses Artikels ist die Redaktion von «agile – Behinderung und
Politik». Aufhänger für das Thema ist für die «agile»-Redaktion eine
Parlamentarische Initiative von SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen, sowie ein
Positionspapier, verfasst von verschiedenen Behindertenorganisationen, die sich
kritisch zu medizinischen Gutachten in IV-Verfahren geäussert haben.
1. Unabhängigkeit der Gutachter: wirtschaftliche und juristische
Abhängigkeit
Gutachter sind heute geschult und zertifiziert. Die zentrale Frage lautet für mich:
Wem sind sie verpflichtet? Ich beschränke mich auf zwei wichtige Aspekte.
a) Wirtschaftliche Abhängigkeit
Die Gutachtertätigkeit ist gut bezahlt und damit lukrativ. Informationen zur Höhe der
Abgeltungsbeträge sind dem Positionspapier «IV-Gutachten» verschiedener
Behindertenorganisationen zu entnehmen oder über die SGPP Schweizerische
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie erhältlich. Gutachten werden je nach
Schweregrad mit 1500 bis mehreren tausend Franken entlohnt, wogegen ein
normaler IV-Arztbericht durch den behandelnden Arzt im Schnitt 220 Franken kostet.
Es erstaunt nicht, dass es einerseits Gutachter-Firmen (GmbHs) gibt, die
ausschliesslich der Gutachtertätigkeit nachgehen, anderseits viele niedergelassene
Ärzte einen großen Anteil ihres Einkommens durch die Gutachtertätigkeit
erwirtschaften. Es braucht wenig Kombinationsvermögen um zu schliessen, dass die
wirtschaftliche Abhängigkeit die theoretisch geforderte Unabhängigkeit und
Objektivität eines Gutachters beeinträchtigt. Interessanterweise wird den durch die
behandelnden Ärzte angefertigten Berichten zuhanden der IV ein
Befangenheitsmalus unterstellt, wohingegen die IV im öffentlichen Diskurs
selbstredend davon ausgeht, dass die durch sie bestellten und von ihr wirtschaftlich
abhängigen Gutachter unabhängig und objektiv arbeiten würden. Die Tatsache, dass
bisher weder eine unabhängige Kontrolle bzgl. der Qualität der Gutachten, noch der
Verteilung der Aufträge für Gutachten besteht, verleiht der aktuellen Sachlage einen
grotesken Charakter.
b) Juristische Verpflichtung: Medico-Legalisierung
Ein medizinischer Gutachter kann unter den aktuellen Umständen kaum neutral sein,
da er sich in seiner Beurteilung an die geltenden Bundesgerichtsentscheide halten
muss (ich verweise auf die Försterkriterien). Im Gutachten nimmt er einen
juristischen Entscheid mit seiner Argumentationslinie vorweg.
19
Behinderung und Politik 2/11
2. Wertigkeit der Zeugnisse behandelnder Ärzte bei der IV
Als klinisch tätige Ärztin kann ich die Tatsache nicht verstehen, dass interdisziplinäre
Beurteilungen, die während Aufenthalten in öffentlichen Spitälern erlangt wurden,
von der IV wenig in ihre Beurteilung miteinbezogen werden und oft bereits
stattgehabte Untersuchungen in Form von Teilgutachten bei sogenannt externen
Gutachtern erneut in Auftrag gegeben werden. Dies kostet eine Menge Geld und
Zeit!
a) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei psychisch und psychosomatisch Kranken
Bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit führen Teilgutachten immer zu einer
Teilbeurteilung der Arbeitsfähigkeit, zur sogenannten medizinisch-theoretischen
Arbeitsfähigkeit aus der Sicht des jeweiligen begutachtenden Facharztes.
Psychische und psychosomatische Erkrankungen führen sowohl zu körperlichen wie
kognitiven Symptomen, die die Leistungsfähigkeit der Betroffenen bald und erheblich
beeinträchtigen. Gerade bei psychisch und psychosomatisch Erkrankten fehlt die
Integration bzw. die Erfassung des gesamten Leidens und führt damit zu
Fehleinschätzungen der Arbeitsfähigkeit, weswegen der Erfahrung des
behandelnden Arztes eine große Bedeutung zukäme.
b) Gutachtertätigkeit bei psychisch Kranken: Beziehungsfähigkeit und Vertrauen
Eine psychische Erkrankung beeinträchtigt meist die Beziehungsgestaltung zu
fremden Menschen, wobei der Erstkontakt nicht selten von Misstrauen, Angst,
Selbstzweifeln usw. geprägt ist. Oft werden psychisch kranke Patienten nur 40
Minuten (in einigen uns bekannten Fällen nur 20 Minuten) von einem psychiatrischen
Gutachter gesehen, was gezwungenermaßen zu einer anderen Interaktion,
Anamnese und Beurteilung führt als dies bei einer langjährigen ärztlichen
Bezugsperson des Vertrauens der Fall ist. Daher muss die Einschätzung der
behandelnden Ärzte bei psychisch Kranken dringend in die Begutachtung mit
einbezogen werden.
3. Engagement der Gutachter und Qualität der Gutachten
Es ist mir wichtig zu erwähnen, dass es sehr engagierte und verantwortungsvolle
Gutachter gibt, die sich der Beziehungsbeeinträchtigung psychisch und
psychosomatisch Erkrankter bewusst sind, die Abklärungen entsprechend gestalten
sowie integrativ und sorgfältig schlussfolgern. Es wäre für die Patienten beruhigend,
um einen einheitlichen und von Vertrauen geprägten Zugang durch die Gutachter zu
wissen.
4. Dauer eines IV-Verfahrens
Sie ist von verschiedenen Faktoren abhängig und unterschiedlich lang. Eine IVAbklärung führt bei allen Menschen zu einer Verunsicherung. Bei psychisch Kranken
kommt es meist zu einer Zustandsverschlechterung. Diesem Umstand sollte
Bedeutung beigemessen werden, da ein laufendes Versicherungsverfahren im
Allgemeinen mit einem schlechteren Therapieverlauf einhergeht und damit die
Chronifizierung der Erkrankung fördert.
20
Behinderung und Politik 2/11
5. Schlussfolgerungen
Das «Positionspapier-IV-Gutachten» schlägt Lösungen vor, die die Qualität der
Gutachtertätigkeit, die externe Kontrolle der IV und den Einfluss der behandelnden
Ärzte verbessern soll. Die vorgeschlagenen Massnahmen sind sinnvoll, doch ist eine
genaue Überprüfung der Auswirkungen auf die Patienten dringend notwendig. Ich
befürchte als Folge der einen oder anderen Massnahme eine Verlängerung des IVAbklärungsverfahren, was bei psychisch kranken Menschen im ungünstigen Fall zu
einer Chronifizierung der Krankheit führt.
6. Notwendig sind aus meiner Sicht:
 eine IV-unabhängige Kontrolle der IV-Gutachtensverteilung und der Ausbildung
von Gutachtern mit Pflicht zur regelmäßigen Supervision.
 Eine finanzielle Angleichung verschiedener ärztlicher Leistungen zuhanden der IV,
um den Anreiz, fachlich ungerechtfertigte bzw. patientenfeindliche Beurteilungen
durch finanzielle Anreize, zu minimieren.
 eine Professionalisierung der Entscheidungsträger innerhalb der IV.
 eine verbindliche Kontaktaufnahme mit den behandelnden Ärzten.
 bei psychisch und psychosomatisch Kranken:
-
eine ausgewogene Gewichtung der Beurteilung von behandelnden Ärzten
(Langzeitverlauf) und den Gutachtern (Kurzzeiteindruck). Mein Vorschlag
wäre eine Handhabung wie bei Prüfungen, die aus einer Vornote
(Beurteilung des behandelnden Arztes) und einer Prüfungs-Endnote
(Gutachter bzw. mehrere Teilgutachten) besteht.
-
Eine einheitliche Praxis beim Erstellen von Gutachten in Bezug auf die
Beziehungsgestaltung, Anzahl und Dauer der Konsultationen, Dauer des
IV-Verfahrens.
-
Arbeit mit professionellen Übersetzern bei der Begutachtung von Patienten
mit Sprachproblemen (z.B. Migrationshintergrund).
21
Behinderung und Politik 2/11
Gleichstellung
UNO-Behindertenrechtskonvention als Diskussionsstoff
Eine erste Auswertung der Vernehmlassungsantworten zur UNOBehindertenrechts-Konvention zeigt: Betroffene, Kirchen und Links-Grün
unterstützen den Beitritt zur Konvention, Arbeitgeber, Gewerbe und
Rechtsparteien lehnen ihn ab.
Von Eva Aeschimann, Bereichsleitung Gleichstellung
Mitte April ist das Vernehmlassungsverfahren zum Beitritt der Schweiz zum UNOÜbereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu Ende
gegangen. Ein erster Blick auf einige der Stellungnahmen macht deutlich: Die
Beitrittsfrage zum Menschenrechts-Übereinkommen bietet Diskussionsstoff.
Betroffene und ihre Organisationen: Möglichst rasch beitreten!
Egalité Handicap, die Fachstelle der DOK, hat in Zusammenarbeit mit dem
Gleichstellungsrat Egalité Handicap eine Stellungnahme ausgearbeitet, auf die sich
in der Folge verschiedene Organisationen abstützten. So auch AGILE BehindertenSelbsthilfe Schweiz, die in ihrer Antwort den Beitritt zur Konvention als Meilenstein
für die Schweiz und die rund 800'000 Menschen mit Behinderung bezeichnet. Die
Schweizer Paraplegiker-Vereinigung sieht im UNO-Übereinkommen ein wichtiges
Instrument zur Bekämpfung der Diskriminierung von Menschen mit einer
Behinderung in sämtlichen Lebensbereichen. Pro Mente Sana erwartet mit einem
Beitritt zur Konvention die Förderung der Chancengleichheit und eine
Sensibilisierung und Stärkung des gesellschaftlichen Bewusstseins für die Rechte
von Behinderten.
Der Elternverein autismusschweiz hofft bei der UNO-Konvention auf eine Klärung der
gesetzlichen Rahmenbedingungen und eine höhere Verbindlichkeit für Menschen mit
Behinderung – insbesondere mit nicht-körperlichen, nicht-sichtbaren Behinderungen.
Die Konvention schaffe keine Sonderrechte, schreibt insieme Schweiz, die
Vereinigung der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das
Zentrum für selbstbestimmtes Leben wiederum hält fest, dass eine NichtUnterzeichnung der Konvention einer Aberkennung der Menschenrechte
gleichkomme für den Teil der Bevölkerung mit einer Behinderung.
INSOS, CURAVIVA, Avenir Social, Kirchen: Chancengleichheit gefordert!
INSOS, der Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung und
CURAVIVA, der Dachverband der Heime und Institutionen haben eine gemeinsame
Vernehmlassungsantwort eingereicht. Darin schreiben sie: «Damit Menschen mit
Behinderung alle Rechte und Pflichten wahrnehmen können, müssen die
bestehenden Hindernisse erkannt und ausgeräumt werden». Das UNOÜbereinkommen halte diese zeitgemässe Grundhaltung fest. Avenir Social, der
Dachverband der Sozialen Arbeit Schweiz, verweist auf den besonderen Stellenwert,
der dem Übereinkommen beigemessen werde. Dies widerspiegle sich deutlich in der
22
Behinderung und Politik 2/11
erstmaligen Unterzeichnung einer UNO-Konvention durch die Europäische
Gemeinschaft.
Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund unterstützt das Vorhaben des
Bundesrats. «Die Konvention führt von der Rechtsgleichheit zur Chancengleichheit»,
schreibt der SEK in seiner Vernehmlassungsantwort. Und: «Sie macht Ernst mit der
Einsicht aus der Präambel der Bundesverfassung, ‹dass die Stärke des Volkes sich
misst am Wohl der Schwachen›.» Diese Haltung trägt auch der Schweizerische
Katholische Frauenbund mit. Er begrüsst die Absicht des Bundesrates, «mit der
Ratifizierung des Übereinkommens ein wichtiges Signal zur ernsthaften Würdigung
der Anliegen der Menschen mit Behinderung zu setzen».
SP, Grüne und Gewerkschaften: UNO-Konvention als Chance
Auch die SP, die Grünen sowie der Schweizerische Gewerkschaftsbund unterstützen
einen Beitritt der Schweiz zur UNO-Behindertenrechtskonvention. Das
Übereinkommen stärke das bestehende Schweizerische «Behindertenrecht» mit
Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 2 und 4), der Sozialversicherungsgesetzgebung und
dem Behindertengleichstellungsgesetz. Denn die Konvention stelle eine «wertvolle
Konkretisierungshilfe bei der Auslegung des Schweizerischen Behindertenrechts
dar», schreibt die SP. Die Grünen bezeichnen die Konvention als «ein Werk der
Betroffenen». Es zeige die Menschenrechtsprobleme auf im Zusammenhang mit
Behinderung und liefere die entsprechend nötigen Rechtsinstrumente. Und der
Schweizerische Gewerkschaftsbund betont, dass die Konvention die Inklusion und
Gleichstellung Behinderter grundsätzlich fördere. Für die CVP-Frauen wiederum gibt
es «keinen Grund, dass die Schweiz dieses Übereinkommen nicht ratifizieren
könnte.» Die CVP-Frauen halten fest: «Dass die Schweiz dies noch nicht getan hat,
wundert uns sehr! Obschon das Übereinkommen schon am 13. Dezember 2006 von
der UNO-Generalversammlung angenommen und bis zum 1. Dezember 2010 von
147 Staaten (inkl. der EU) unterzeichnet und von 96 Staaten ratifiziert wurde, ist die
Schweiz diesem Übereinkommen immer noch nicht beigetreten. Diese zögerliche
Haltung ist nicht in unserem Sinn». Die CVP Schweiz hat nicht an der
Vernehmlassung teilgenommen.
SVP, FDP, Arbeitgeberverband und Gewerbeverband: Klare Ablehnung
Wie aus den Vernehmlassungsantworten von SVP und FDP.Die Liberalen
hervorgeht, lehnen beide Parteien den Beitritt der Schweiz zur UNO-Konvention für
die Rechte der Menschen mit Behinderungen ab. Ein Beitritt zum Übereinkommen
sei objektiv nicht notwendig, schreibt die SVP. Die Schweizer Rechtsordnung erfülle
bereits heute im Wesentlichen die Vorgaben des Übereinkommens. «Zudem bindet
die Umsetzung finanzielle Mittel, die anderweitig fehlen würden», argumentiert die
SVP. Auch die FDP befürchtet, als eine Auswirkung der Umsetzung der Konvention,
«exorbitante Kosten» in einzelnen Bereichen. Und sie fragt, ob insbesondere als
Folge für den Bereich Arbeit und Beschäftigung der Einführung von Quoten nicht
Vorschub geleistet würde?
Der Arbeitgeberverband betont in seiner Vernehmlassungsantwort, dass er der
beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung grundsätzlich grosse
Wichtigkeit beimesse. Das UNO-Übereinkommen sei aber das falsche Instrument,
23
Behinderung und Politik 2/11
auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Er begründet dies unter anderem damit, dass das
Abkommen ein Recht auf Arbeit vorsehe, das die Schweiz nicht kenne. Das Prinzip
der Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Behinderung insbesondere auf dem
Arbeitsmarkt müsse pragmatisch und auf nationaler Ebene angegangen werden.
Auch dem Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) liegt daran einleitend
festzuhalten, dass er die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung ablehne.
Trotzdem spricht sich der sgv klar dagegen aus, dass die Schweiz dem
Übereinkommen beitritt. «Die Erfahrung lehrt uns, dass auch Übereinkommen, die
auf den ersten Blick einen harmlosen Eindruck erwecken, plötzlich einen
Regulierungsdruck auslösen oder zumindest zum Anlass genommen werden
können, um auf politischer Ebene zusätzliche regulatorische Eingriffe zu verlangen
oder der Wirtschaft neue Auflagen zu machen.» Der Gewerbeverband lehnt einen
Beitritt ab, «da man bei derartigen Übereinkommen nie genau weiss, auf was man
sich letztendlich einlässt.» Und er befürchtet, dass der Schweiz «dem Frieden
zuliebe» der Mut fehle, Änderungen zurückzuweisen, auf die sie kaum eingegangen
wäre, wenn diese von Beginn an Bestandteil des Übereinkommens gewesen wären.
Fazit: Die Frage des Beitritts zur UNO-Behindertenrechtskonvention bietet gerade
auch im eidgenössischen Wahljahr politischen Zündstoff. Es wird sich zeigen, ob
bereits die weitere politische Diskussion darüber die tatsächliche Gleichstellung von
Menschen mit Behinderung beschleunigt. Und es wird sich zeigen, ob diese
Diskussion beim Gesetzgeber einen Anreiz auslöst, die bestehende Gesetzgebung
zu überprüfen und bessere Lösungen zur nötigen Verwirklichung des
verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes zu finden.
Nachtrag: Informationen zur UNO-Behindertenrechtskonvention
Die UNO-Behindertenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der bereits
bestehende Menschenrechte für die Lebenssituation behinderter Menschen
konkretisiert. Die am 13. Dezember 2006 von der UNO-Generalversammlung
angenommene Konvention verbietet die Diskriminierung von Menschen mit
Behinderung in allen Lebensbereichen und garantiert ihnen die bürgerlichen,
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.
Die Fachstelle Egalité Handicap hat ein Merkblatt zur UNO-Konvention erstellt. Das
Merkblatt beantwortet Fragen zum Inhalt der Konvention, aber auch, wieso die
Schweiz der Konvention beitreten soll (Merkblatt UNO-Konvention).
24
Behinderung und Politik 2/11
Portrait einer Aktivistin für die Gleichstellung
Das Engagement für die Rechte der Schwächsten der Gesellschaft – das ist
das Ziel von Eva Hammar, dem neuen Mitglied des Gleichstellungsrats Egalité
Handicap. Die Medienverantwortliche des Schweizerischen Gehörlosenbundes
gibt für «agile» einen Rückblick auf ihre bisherige Laufbahn und ihre Träume.
Von Eva Hammar Bouveret, Mitglied Gleichstellungsrat Egalité Handicap
Ich kam 1971 in Genf mit einer beidseitigen schweren Hörbehinderung auf die Welt.
Während der ganzen Schulzeit besuchte ich die allgemeine Schule. Nach der Matura
studierte ich an der Universität Biochemie. Ich habe eine Doktorarbeit verfasst und
Forschungsarbeiten im Bereich Diabetes realisiert. Gleichzeitig war ich Mitglied der
Komitees der «Association des sourds de Genève» (CRAL) sowie einer Vereinigung
zur Förderung der Gesundheit von Gehörlosen (les Mains pour le Dire). Gegenwärtig
bin ich als Medienverantwortliche im Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS)
tätig. In dieser Funktion nehme ich an den Sitzungen der Genfer Vereinigung zur
Verteidigung der Interessen der Menschen mit Behinderung FéGAPH (Fédération
genevoise des Associations de Personnes Handicapées et de leurs proches) teil.
Die Bedeutung der Gebärdensprache
Während meiner Kindheit und Jugend hatte ich nie Kontakt zu anderen
Hörbehinderten oder Gehörlosen. Im Rückblick stelle ich fest, dass mir das sehr
gefehlt hat. Ich habe mich immer stark für die Politik interessiert, dachte aber, dass
ich als Gehörlose keine Möglichkeit hätte, mich in einem solchen Bereich zu
engagieren. Im Alter von 23 Jahren habe ich endlich die Gebärdensprache und die
Gemeinschaft der Gehörlosen entdeckt. Dies hat mein Leben in mehrerer Hinsicht
entscheidend beeinflusst.
Zunächst einmal hatte ich bis dahin meine Gehörlosigkeit als Mangel und
beschämende Unzulänglichkeit erlebt. Ich dachte, dass ich als Gehörlose damit
leben müsse, auf einige meiner Träume zu verzichten. Dass ich andere Gehörlose
getroffen und die Gebärdensprache gelernt habe, hat mir ermöglicht, einen Weg
einzuschlagen, um meine Behinderung schliesslich zu akzeptieren. Heute erlebe ich
meine Gehörlosigkeit als Teil von mir selbst, einen Teil, zu dem ich ohne Komplexe
stehe.
Politisches Engagement ist möglich
Dadurch habe ich auch die Welt der Vereine und des politischen Engagements für
die Rechte der Menschen mit Behinderung entdeckt. Ich stellte fest, dass ich dank
den Gebärdendolmetschern problemlos an politischen Diskussionen und Sitzungen
teilnehmen kann. Und schliesslich hatte dies auch Auswirkungen auf mein
Berufsleben. Nach mehreren Jahren in der wissenschaftlichen Forschung habe ich
mich entschlossen, in einen Bereich zu wechseln, in dem ich mich mehr einbringen
kann und der mir wirklich am Herzen liegt. Deshalb arbeite ich heute als
Medienverantwortliche beim Schweizerischen Gehörlosenbund.
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Behinderung und Politik 2/11
Im Laufe der Jahre haben sich mein Interesse für die Politik und das Engagement für
die Rechte der Menschen mit Behinderung entwickelt. Ungerechtigkeiten,
insbesondere gegenüber den Schwächsten, haben mich seit jeher empört. Mit dem
gegenüber diesen Personen immer härter und unerbittlicher werdenden politischen
Umfeld hat sich meine Motivation, mich für sie einzusetzen, noch verstärkt. Deshalb
habe ich mich für den Gleichstellungsrat Egalité Handicap beworben und bin sehr
glücklich, dass ich gewählt worden und nun Mitglied bin.
Träume von Gleichstellung
Welches sind meine Vision und mein Ziel für mein Engagement als Mitglied des
Gleichstellungsrats Egalité Handicap?
Mein Traum ist es, dass wir eines Tages mit anderen Augen betrachtet werden. Ich
träume, dass die Menschen mit Behinderung irgendwann nicht mehr als Personen
mit einem Mangel angesehen werden, der behoben oder versteckt werden muss,
sondern als gleichgestellte Menschen und BürgerInnen mit ihren Unterschieden und
spezifischen Bedürfnissen. Ich hoffe zutiefst, dass die Behinderung eines Tages
keine – imaginäre oder tatsächliche – Schranke mehr darstellt, welche die betroffene
Person daran hindert, ein erfülltes und sinnvolles Leben zu leben. Ich wünsche mir,
dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben werden, in der die
Chancengleichheit für alle in allen Bereichen Realität ist.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich im Gleichstellungsrat Egalité Handicap
möglichst viel zur Verbesserung des Lebens der Menschen mit Behinderung
beitragen kann. Meine neue Aufgabe gehe ich somit voller Hoffnung und Motivation
an. Ich freue mich sehr, mit all jenen zusammenzuarbeiten, die in den mit dem
Gleichstellungsrat verknüpften Strukturen tätig sind, darunter auch mit den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von AGILE.
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Behinderung und Politik 2/11
Zugänglichkeit als Staatssache
Der Kanton Freiburg ist einer der einzigen Kantone oder sogar der einzige, der
die Zugänglichkeit von Bauten zur Staatssache gemacht hat. Die im Januar
2010 eingesetzte Kommission für behindertengerechtes Bauen erstellt
Gutachten im Rahmen von Baubewilligungsverfahren, so wie es beispielsweise
die Feuerpolizei für Sicherheitsfragen tut. Ein beispielhaftes Modell.
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
Die neue Freiburgische Kommission wurde vor über einem Jahr eingesetzt. Nun ist
es an der Zeit, über ihre Arbeit eine erste Bilanz zu ziehen. Hier eine
Zusammenfassung des Gesprächs mit drei ihrer begeisterten Mitglieder: dem
Präsidenten Daniel Savary (Architekt), Bettina Gruber (Vertreterin der
Sehbehinderten) und Werner Hofstetter (Vertreter der Menschen mit
Mobilitätsbehinderung).
Das Siegel des Kantons als grosser Vorteil
In den 80er Jahren beschlossen mehrere Behindertenorganisationen die Gründung
einer Freiburgischen Kommission für hindernisfreies Bauen. Deren vorrangige
Aufgabe besteht darin, auf Probleme mit der Zugänglichkeit hinzuweisen und
Hindernisse zu beseitigen. Dieser «sehr reaktive» Aspekt wurde später durch eine
Sensibilisierung der jungen Architekten der Ingenieurschule ergänzt, damit die Frage
der Zugänglichkeit bereits bei der Planung berücksichtigt wird. Leider sei dieses
privatrechtliche Organ etwas zu häufig als einfaches Lobbyinginstrument betrachtet
worden und nicht als unumgänglicher Ansprechpartner. «Der Kommission mangelte
es an der offiziellen Anerkennung», erklärt Daniel Savary.
Im Januar 2010 bestellte der Freiburger Staatsrat verschiedene Mitglieder der noch
heute bestehenden Kommission in die neue Kommission für behindertengerechtes
Bauen, die Teil des kantonalen Bau- und Raumplanungsamts (BRPA) ist. Die
Experten für Zugänglichkeit, von denen die Mehrheit mit Behinderung lebt, arbeiten
nun mit dem Siegel des Kantons. «Durch diesen offiziellen Charakter haben wir ein
grösseres Gewicht und bestimmte Rechte. Beispielsweise können wir Vertreter der
Stadt an Sitzungen kommen lassen, wie dies für den neuen Theatersaal der Fall
war», erläutert der Architekt. Die neue Kommission wird nicht einfach nach
Gutdünken der Akteure eines Projekts konsultiert, sondern ist Bestandteil des
Prozesses für die Erteilung von Baubewilligungen.
«Der Grossteil der Arbeit (90 Prozent) wird von Jean-Claude Fischer, Mitglied der
Kommission und Verantwortlicher für die Prüfung der Baubewilligungen im BRPA,
vorbereitet», hält Bettina Gruber fest. «Stellt er ein Zugänglichkeitsproblem fest,
korrigiert er es soweit wie möglich oder übermittelt uns das Dossier». Dieses
Verfahren hat den Vorteil, dass die Experten vorgängig für die Einhaltung der
Gesetze sorgen (Kantonales Raumplanungs- und Baugesetz – RPBG - und
Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes – BehiG). Die Betroffenen werden so
nicht mehr als Nörgler betrachtet, die sich über schlechte Projekte beklagen und
Einsprache erheben, sondern als offizielle Ansprechpartner vor der
27
Behinderung und Politik 2/11
Projekteinreichung. «In diesem Sinne war die Kommission auch nie die Ursache für
eine Verzögerung oder Verteuerung eines Projekts», sagt Werner Hofstetter.
Auf den Plänen nicht ersichtlich
Laut Bettina Gruber war die Schaffung der kantonalen Kommission vor allem mit
Blick auf Sinnesbehinderungen ein wichtiger Schritt. Es ist nicht schwierig, auf einem
Plan zu erkennen, ob die Türen für Rollstühle breit genug und ob Lifte oder Rampen
in einer bestimmten Grösse vorgesehen sind etc. Hingegen ist es beispielsweise
nicht möglich zu wissen, ob die Beschilderung den Bedürfnissen von Menschen mit
einer Sehbehinderung gerecht wird.
In ihren Gutachten für alle Baubewilligungen im Zusammenhang mit einem
öffentlichen Dienst hält die Kommission beispielsweise fest, dass eine Höranlage
verfügbar sein muss. Und es müsse überprüft werden, ob sie funktioniere, fügt
Daniel Savary lachend an. Denn es sei auch schon vorgekommen, dass Höranlagen
eingebaut worden seien, aber nicht funktionierten!
Positive Resultate
Die Kommission für behindertengerechtes Bauen kann stolz sein auf ihre Arbeit, die
sie in diesem Jahr geleistet hat. «Unsere Erfolge sind nicht auf den ersten Blick
ersichtlich», meint Daniel Savary, «Aber dank unseren sehr genauen Gutachten ist
die grosse Mehrheit der Bauten schon ab dem Zeitpunkt der Planung zugänglich».
Dies gilt insbesondere für das künftige Theater in Freiburg, das wie jedes Projekt von
öffentlichem Interesse eng begleitet wird. Einige Mitglieder begeben sich sogar auf
die Baustelle, um namentlich die Beschilderung zu überprüfen.
Daniel Savary weist auch darauf hin, dass viele der Dossiers, die umstritten und zu
regelrechten Dauerbrennern wurden, durch die Kommission deblockiert wurden. In
Zukunft nimmt die Kommission die Herausforderung an, die Entwicklung des heute
noch sehr ländlichen Kantons voranzubringen. Eines der grossen Dossiers ist weiter
die Anpassung der öffentlichen Schulen. Freiburg ist dabei, die schulische Integration
grundsätzlich einzuführen.
Der private Partner
Die kantonale Kommission könnte ohne Freiwilligenarbeit und die Kommission für
hindernisfreies Bauen sicherlich nicht so gut funktionieren. Letztere vertritt weiterhin
alle Behindertenorganisationen. Sie ist offensiver und freier in ihren Handlungen,
erklärt Daniel Savary. So ist sie nach BehiG beschwerdeberechtigt, was bei der
Kommission des Kantons nicht der Fall ist. Im Übrigen befasst sie sich mit allen
Aspekten des BehiG, während die offizielle Kommission nur bei den Bauten das
Recht auf Einsicht hat.
Die Sensibilisierungsarbeit bei den Architekturstudenten schliesslich bleibt Sache
privater Organisationen. Es gehe darum aufzuzeigen, dass Kreativität und
Zugänglichkeit nicht unvereinbar seien, schliesst der Präsident.
Übersetzung: Susanne Alpiger
28
Behinderung und Politik 2/11
«Gleichstellung im Alltag hautnah erlebt»: Es war der Haken!
Das Behindertengleichstellungsgesetz ist ein wichtiges Instrument für die
tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Es zielt darauf ab,
Hindernisse zu beseitigen, die der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im
Weg stehen. Ob Gleichstellung wirklich gelingt, hängt oft vom Engagement
einzelner Menschen ab. Wie das folgende Beispiel aus dem Berufsalltag zeigt.
Von Simone Leuenberger, wissenschaftliche Assistentin von AGILE
Das BehiG nützt…
Mein nächster beruflicher Einsatzort ist eine Stadt am Zürichsee. Ich war noch nie
dort. Deshalb versuche ich mich per Internet schlau zu machen, wie ich denn mit
dem Elektrorollstuhl am besten an mein Ziel kommen könnte. Ich bin positiv
überrascht. Der Bahnhof ist ein Stützpunktbahnhof der SBB. Ich werde also nach
Voranmeldung aus dem Zug geholt. Am Bahnhof ist aber noch nicht Endstation. Ich
muss noch weiter, den Berg hinauf. Normalerweise lege ich kürzere Strecken mit
dem Elektrorollstuhl zurück. Hier ist das Gelände aber ziemlich steil und das Wetter
unsicher – ich möchte ja nicht tropfnass ankommen… Also suche ich nach einer
Alternative und werde schnell fündig: Es gibt einen Ortsbus, und dieser ist zu
meinem Erstaunen auch vollständig rollstuhlgängig. So zumindest die Information
aus dem Internet, der ich Glauben schenke. Schon toll, was seit Einführung des
Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) schon alles bewirkt wurde. Noch vor ein
paar Jahren konnte man die rollstuhlgängigen Buslinien in der Schweiz an einer
Hand abzählen. Nun sind sogar Ortsbusse kleinerer Städte vollumfänglich mit
Niederflurfahrzeugen und Rampen ausgestattet. Das erleichtert mir meine Planung
enorm.
Billet lösen – per Internet, weil ich die Billetautomaten immer noch nicht benutzen
kann – , Fahrplan ausdrucken, Einstiegshilfe für den Zug beim SBB Callcenter
bestellen und schon ist meine Reiseplanung perfekt. Gespannt bin ich, ob auch alles
klappt.
… hier leider gar nicht!
Die Hinfahrt klappt perfekt: In Zürich wird mir beim Umsteigen auf die S-Bahn
geholfen und der Ortsbus hat tatsächlich eine herausklappbare Rampe. Der
Buschauffeur hilft mir bereitwillig. Ich bin beruhigt. Nun kann ich sicher sein, dass
auch die Rückreise ohne Probleme vonstatten gehen wird.
Nach einem langen Tag stehe ich etwas müde wieder an der Bushaltestelle. Diesmal
natürlich auf der anderen Strassenseite, denn ich will ja zum Bahnhof zurück. Diese
Haltestelle liegt in einer konvexen Kurve und ist deshalb in einer Strassenbiegung
etwas zurück versetzt. Ich widme dem aber keine grosse Beachtung. Der
Buschauffeur wird schon nahe genug heranfahren, wenn er mich sieht, und mit der
Rampe kann die verbleibende Spalte wohl problemlos überwunden werden.
Pünktlich kommt der Bus. Der Chauffeur macht keine grossen Anstalten mir zu
helfen. Ich frage ihn deshalb höflich, ob er mir die Rampe heraus klappen könne.
«Nehmen Sie den Bus auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Dort ist der
29
Behinderung und Politik 2/11
Zugang einfacher», meint er. Ich erkundige mich, wann der andere Bus am Bahnhof
ankomme. – Schliesslich muss ich meinen Zug erwischen. Sonst müsste ich beim
SBB-Callcenter meine Einstiegshilfe umplanen. Das hiesse mindestens eine Stunde
warten, denn solange ist die Voranmeldefrist. – Der Bus komme in ca. zehn Minuten
und brauche fünf Minuten länger für die Strecke bis zu Bahnhof, da er eine andere
Route fahre. Alles klar, würde ich auf den Vorschlag des Buschauffeurs eingehen,
würde ich meinen Zug ganz sicher verpassen! Und das will ich auf keinen Fall.
Schliesslich will ich meinen Arbeitstag nicht um eine ganze Stunde verlängern. Wer
möchte das schon.
«Das gibt’s doch nicht!»
Ich rüste mich zum Kampf. Freundlich aber bestimmt teile ich dem Buschauffeur mit,
dass ich mit seinem Bus fahren will, da ich eben sonst den Zug verpassen würde.
Schliesslich habe ich mich per Internet erkundigt und erfahren, dass alle und auch
wirklich alle Busse rollstuhlgängig seien. Widerwillig lenkt er den Bus etwas näher
zum Trottoir, damit die zu überbrückende Spalte etwas kleiner wird. Ich atme auf. Er
ist also doch bereit mich mitzunehmen. Der Chauffeur kommt nach hinten zur
Klapprampe und verschwindet sogleicht wieder. Aha, als erfahrene Busfahrerin
erkenne ich auf den ersten Blick das Problem: Die Klapprampe ist nicht mit einem
Griff ausgestattet, an dem man sie aufklappen kann, sondern hat anstelle eines
Griffes einfach ein kleines Loch. Um diese Rampe aufklappen zu können, braucht es
einen Haken, der ins Loch passt. Der Buschauffeur kommt zurück, ohne Haken, und
versucht die Rampe mit blossen Händen aufzuklappen. Der Versuch scheitert. Als
nächstes versucht er es mit einem Schlüssel. Auch dieser Versuch geht fehl. Der
Buschauffeur verschwindet wieder, kommt aber sehr bald zurück. Er könne den
Haken nicht finden. Es habe wohl in diesem Bus keinen. Das gibt’s doch nicht! Da
hat man tipptopp rollstuhlgängige Busse, und dann fehlt der Haken. Der Bus wird
nullkommaplötzlich seiner ganzen Rollstuhlgängigkeit beraubt. Tja, da kann auch ein
noch so gutes Behindertengleichstellungsgesetz nichts mehr ausrichten. Das ist nur
noch dumm, schade und traurig. Ich lasse noch einmal eine Tirade los von «Gibt’s
doch nicht!» über «Das kann doch nicht wahr sein!» bis zu «Ist ja das Allerletzte!».
Die anderen Fahrgäste sind schon lange auf uns aufmerksam geworden. Nun
mischen sie sich ein – und greifen zu. Im Handumdrehen sitze ich doch noch im Bus.
Sie haben meine 180 kg inkl. Elektrorollstuhl kurzerhand über den Absatz katapultiert
und so die Rampe ersetzt. Am Bahnhof werden sie es noch einmal genau so
machen.
«Doch, doch, das gibt’s sehr wohl!»
Ich sitze im Zug. Ende gut alles gut? Für mich nicht! Mein Kopf dreht sich im Kreis:
«Es kann doch nicht sein, dass man rollstuhlgängige Busse baut, kauft, einsetzt und
dann die Rampe wegen einem fehlenden Haken nicht betätigen kann! Ich will doch
nicht auf gutmütige Mitfahrende angewiesen sein, die mich in den Bus heben! Was,
wenn mal keiner da ist?» Das muss ein Einzelfall gewesen sein. Ich beruhige mich
langsam.
Ein paar Tage später stelle ich fest, dass es kein Einzelfall gewesen ist. Mit einem
Regionalbus will ich zurück nach Bern fahren. Der Chauffeur findet die Rampe nicht
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Behinderung und Politik 2/11
und hievt mich mithilfe zweier Fahrgäste über die hohe Stufe in den Bus. Ganz
erstaunt sehe ich nun die Rampe und mache den Chauffeur darauf aufmerksam. Ja,
er wisse das schon, aber es sei viel zu kompliziert diese zu gebrauchen…
Anmerkung der Redaktion: Mit dieser Rubrik will AGILE an konkreten Beispielen
zeigen, wie Gleichstellung geglückt ist oder wie sie verpasst wurde. Es sollen
verschiedene Autoren und Autorinnen zu Wort kommen. Haben Sie etwas erlebt, das
Sie gerne mit einer interessierten Leserschaft teilen möchten? Wenden Sie sich an
Eva Aeschimann ([email protected]).
31
Behinderung und Politik 2/11
Arbeit
Die Journalisten und die berufliche Wiedereingliederung im
Rahmen der IV-Revision 6a: Worüber wird geschrieben?
Die Presse hat die Botschaft der IV-Revision 6a begriffen. Sie hat zahlreiche
Berichte von Betroffenen und Beispiele von Wiedereingliederung von
Menschen mit Behinderung veröffentlicht. Beim Lesen dieser Artikel ergeben
sich verschiedene Fragen: Über wen schreiben die Medien? Wovon ist die
Rede? Der Versuch einer Antwort.
Von Catherine Corbaz, Verantwortliche für das Dossier berufliche Integration, AGILE
Die Debatten über die IV-Revision 6a in den beiden Räten und die Zielsetzungen im
Bereich der beruflichen Integration haben grosse Beachtung in den Medien
gefunden. Das ist gut so. Die Leserinnen und Leser erfahren auf diese Weise, dass
Menschen mit Behinderung Arbeit finden und Unternehmen gründen oder dass Case
Management ein gutes Instrument ist und Wiedereingliederung fördert.
Über wen schreiben die Medien?
In den Artikeln aus Deutsch- und Westschweizer Medien liest man Geschichten über
verunfallte, amputierte Personen, Menschen im Rollstuhl oder Blinde. Man erfährt
von erfolgreichen Beispielen von Case Management in mittelgrossen und grossen
Unternehmen. Man lernt Stiftungen kennen, die geschützte Werkstätten führen, von
denen einige wenige Angestellte im ersten Arbeitsmarkt eine Stelle finden. Und man
liest von Geschichten mit Happy End in einigen Sozialfirmen.
Passende Belege für Integration auf dem Arbeitsmarkt: Die Journalisten haben
positive Beispiele gesucht und damit die These bestätigt, dass mit dem Inkrafttreten
der IV-Revision 6a ein Grossteil der rund 17‘000 IV-Rentnerinnen und -rentner eine
Arbeit finden wird.
Wen will man wiedereingliedern?
Bloss: Unter den 17‘000 künftigen Ex-Rentnerinnen und -rentnern ist aber ein nicht
unwesentlicher Anteil weder verunfallt, noch blind, noch auf den Rollstuhl
angewiesen. Insbesondere 4500 von ihnen erhielten eine Rente aufgrund von
pathogenetisch-ätiologisch unklaren Beschwerdebildern, diese Renten werden nun
gestrichen (vgl. Schlussbestimmungen des künftigen Gesetzes). Es handelt sich um
Personen mit somatoformen Schmerzstörungen, Fibromyalgien, Neurasthenie und
anderen psychischen Störungen mit wenig geläufigen Bezeichnungen.
Was steckt also hinter diesen Begriffen? Die Schweizerische Gesellschaft für
Verhaltens- und Kognitive Therapie spricht von somatoformen Störungen, «wenn ein
körperliches Symptom nicht oder nicht ausreichend durch eine organische Ursache
erklärt werden kann. Wenn somatoforme Symptome über einen längeren Zeitraum
(d.h. über sechs Monate) auftreten und so stark sind, dass es zu beträchtlichen
Beeinträchtigungen der Lebensqualität und der Leistungsfähigkeit kommt.» (Quelle:
32
Behinderung und Politik 2/11
Schweizerische Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie). Dazu gehören
also Fibromyalgien, das Chronische Erschöpfungssyndrom etc. Ich höre hier auf, da
jeder Begriff Erklärungen erfordert, ohne die der Leser dieses Artikels nicht
weiterkommt.
Die psychischen, unsichtbaren Behinderungen sind es, die man nicht gut versteht
und die Zweifel erzeugen. Bei solchen Behinderungen tauchen unweigerlich
Vorurteile auf: «Wenn er sich nur Mühe gibt, schafft er es schon», «Tut es ihm
wirklich weh?». Behinderungen ohne externe Ursachen, aber mit sonderbar
klingenden Diagnosen. Behinderungen, die die meisten von uns nicht verstehen.
Über wen wurde schliesslich geschrieben?
Die Journalistinnen und Journalisten haben es nicht gewagt, nach erfolgreichen
Beispielen der beruflichen Integration von Menschen mit einer solchen Behinderung
zu suchen. Weshalb? Mir fallen verschiedene Erklärungen ein. Entweder wollten sich
die Betroffenen nicht äussern (da sie anonym bleiben möchten) oder es gibt nur
wenige solcher Fälle.
Bei meiner Lektüre habe ich nur zwei Beispiele bezüglich dieser Art von Behinderung
gefunden: Im Blick, der die Kampagne «Jobs für Behinderte – Behinderte für Jobs»
lanciert hat, wurden sechs Personen porträtiert, darunter eine junge Frau mit einer
psychischen Behinderung (wobei man aber nicht weiss, um was für eine
Behinderung es sich handelt). Sie hat nach einer Lehre in einer geschützten
Werkstätte eine Anstellung gefunden. Im «Landboten» vom 18. Oktober 2010 wird
die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der aus psychischen Gründen an
Asthma leidet. Diese erfolgreiche Integration ist einem spezifischen
Wiedereingliederungsprogramm zu verdanken. Die wenigen übrigen Beispiele
stammen entweder aus geschützten Strukturen oder Sozialfirmen. In diesen Fällen
kann nicht von echter beruflicher Wiedereingliederung gesprochen werden, da die
Betroffenen weiterhin auf IV-Leistungen angewiesen sind.
Welche Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen?
Ich glaube nicht, dass die Journalistinnen und Journalisten ihre Arbeit schlecht
machen. Ich folgere deshalb:
-
Die Geschichten der Journalisten entsprechen der Realität in diesem Bereich. Es
ist schwierig, Berichte über eine erfolgreiche Wiedereingliederung von Personen
zu finden, die somatoforme Störungen oder vergleichbare Krankheiten haben.
Diese Beispiele sind selten und wenn sie erfolgreich sind, so nicht unbedingt auf
dem ersten Arbeitsmarkt. Das heisst also, dass diese Personengruppe schwierig
zu integrieren ist.
-
Die Realität dieser Behinderungen ist nicht interessant oder zu kompliziert, um sie
den Leserinnen und Lesern zu erklären.
Für mich und die anderen im Behindertenwesen tätigen Personen zeigt dies, dass
die berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung, vor allem mit einer
psychischen Behinderung, schwierig ist! Wie es auch in «Le Temps» am 10.
Dezember 2010 unter dem Titel «Pour un handicapé, parvenir à sortir de l’assurance
invalidité reste l’exception» (Für Behinderte bleibt der Ausweg aus der IV die
33
Behinderung und Politik 2/11
Ausnahme) geschildert wurde. In diesem Sinne gebührt den Journalisten Dank, weil
sie aufzeigen, dass die Ziele der IV-Revision 6a kaum realistisch sind.
Leider erreicht den durchschnittlichen Leser eine andere Botschaft. Denn mit der
Thematisierung der beruflichen Integration von IV-Rentenbezügern unter dem
alleinigen Gesichtspunkt der erfolgreichen Wiedereingliederung vermitteln die
Medien den Eindruck, dass die Integration von 17‘000 Rentnerinnen und -rentnern
möglich ist!
Die Leserinnen und Leser wissen nicht, dass einige der Personen, die eine Arbeit
finden müssen, «eine Behinderung mit einer ungeläufigen Bezeichnung» haben. Und
wenn man von etwas spricht, das man nicht versteht, ist es einfacher, es zu
banalisieren oder auf Vorurteile zurückzugreifen, als sich zu bemühen, es zu
verstehen.
Übersetzung: Susanne Alpiger
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre
Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich
behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
http://www.boev.ch
34
Behinderung und Politik 2/11
Bildung
«Meine Selbstsicherheit im Umgang mit anderen ist gestiegen»
Im Herbst 2009 sind 18 politisch Interessierte in die Weiterbildung «Politische
Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung» gestartet. 14 Teilnehmende
haben die Ausbildung im April 2011 mit Zertifikat abgeschlossen. Ein Blick
zurück mit vier der AbsolventInnen zeigt: Das Pilotprojekt hat die
Teilnehmenden stärker gemacht.
Von Eva Aeschimann, Bereichsleiterin Öffentlichkeitsarbeit
Vier Männer und zehn Frauen haben das Fachseminar von AGILE BehindertenSelbsthilfe Schweiz in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Soziale Arbeit
(Fachhochschule Nordwestschweiz) erfolgreich beendet. «Nur vier haben die
Weiterbildung hauptsächlich aus beruflichen Gründen abgebrochen», sagt
Projektleiterin Catherine Corbaz von AGILE.
Das dreisemestrige Fachseminar «Politische Selbstvertretung von Menschen mit
Behinderung» basiert auf Fernunterricht mittels E-Learning und ist in der Schweiz
einzigartig. «Die Weiterbildung zielt darauf ab, das Selbstbewusstsein zu stärken und
Fähigkeiten zu entwickeln, sich für die eigenen Rechte einzusetzen», erklärt Corbaz.
Unterricht und Betreuung erfolgten durch DozentInnen mit Behinderung.
Behinderungsübergreifende Weiterbildung und persönlicher Kontakt
Die AbsolventInnen der Weiterbildung leben mit unterschiedlichsten Behinderungen.
Das Lernen mit- und voneinander sowie mitzubekommen, wie andere ihren Alltag
erlebten und bewältigen, sei für sie wichtig gewesen, sagt die Reinacherin Meral
Yldiz, «Das hat mir reiche Erfahrungen gebracht, allen Menschen offen zu
begegnen». Auch Clarissa Ravasio unterstreicht den Nutzen der
behinderungsübergreifenden Weiterbildung: «Ich habe erlebt, dass Behinderungen
so vielfältig sind wie die Menschen selbst». Die 51-jährige hat aber auch erkannt,
dass sie kein eigentlicher E-Learning Typ ist. Sie brauche die persönliche
Begegnung: «Für mich sind Treffen sehr wichtig. In diesem Sinn fehlte mir der
persönliche Austausch neben dem Studium». Unterstützung erhält sie dabei von
Beat Fricker. Wie die meisten AbsolventInnen hätte auch er zusätzliche
Präsenzseminare begrüsst.
Gut fünf Monate nach Ausbildungsstart im März 2010 hatten sich die Lernenden zu
einer ganztägigen Präsenzveranstaltung in Olten getroffen, bei der sie sich
persönlich kennenlernten und sich gegenseitig ihre Gleichstellungsprojekte im
Rahmen des Fachseminars vorstellten. Im Februar 2011, wenige Monate vor
Abschluss der Ausbildung, folgte in Nottwil eine zweitägige Präsenzveranstaltung
zum Thema Kommunikation. Mindestens eine weitere Präsenzveranstaltung hätte
sich Beat Fricker gewünscht: «Das hätte mehr Gelegenheit für praktische Übungen
gegeben», stellt der 28jährige Gelterkinder fest.
35
Behinderung und Politik 2/11
Die Unterrichtsform des Fachseminars als Online-Fernunterricht wird aber nicht in
Frage gestellt: Die Bernerin Anik Muhmenthaler bezeichnet E-Learning sogar als
geniale Unterrichtsform: «Jeder kann in seinem Tempo von zu Hause aus arbeiten».
Netzwerke gestärkt und persönliche Gleichstellungsprojekte umgesetzt
Mit der Weiterbildung verfolgten die Lernenden die Umsetzung eines eigenen,
reellen Projekts zu Behindertengleichstellung. Unter anderem lernten sie das
Behindertengleichstellungsrecht in der Schweiz besser kennen. «Dies fand ich
besonders interessant», sagt Meral Yldiz (28), «auf dieser Basis können wir uns für
eine behindertengerechte Umwelt einsetzen».
Anik Muhmenthaler wiederum berichtet, wie sie ihr Gleichstellungsprojekt erfolgreich
umgesetzt hat: «Ich habe erreicht, dass bei einem Lift bei einer Haltestelle des
Regionalverkehrs Bern-Solothurn (RBS) die Liftknöpfe nach unten gesetzt wurden».
Die RBS-Haltestelle ist die nächstgelegene zu den Schulungs- und Wohnheimen
Rossfeld in Bern. «Damit können ich und viele andere, die im Rossfeld wohnen
und/oder arbeiten, den Lift nun selbständig bedienen und somit den öffentlichen
Verkehr alleine benutzen», sagt die 24jährige.
Weitere erfolgreiche Gleichstellungsprojekte der AbsolventInnen des Fachseminars
sind beispielsweise ein Engagement in einer Organisation oder auch der Aufbau
eines Internet-Blogs. Die Projektarbeit hat die Lernenden gefordert und
herausgefordert. Für seine Projektarbeit hätten ihm speziell Tipps und Tricks aus
dem Modul und der Präsenzveranstaltung zur Kommunikation unterstützt, betont
Beat Fricker: «Eine gute Gesprächsvorbereitung und Gesprächsführung waren
beispielsweise hilfreich», sagt der Baselländer. Er sei selbstsicherer geworden im
Umgang mit anderen Personen, sei es im persönlichen Kontakt, am Telefon oder per
Mail. «Und ich habe mit meinem Projekt ein kleines Netzwerk aufbauen können, das
mir zukünftig hoffentlich weiter von Nutzen sein wird».
Erste Einschätzung des Pilotprojekts fällt positiv aus
Gemäss Projektleiterin Catherine Corbaz ist die Weiterbildung für die Teilnehmenden
selbst aber auch für AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz praktisch gelebte
Gleichstellungsarbeit. «Bei der Entwicklung und während der Weiterbildung zeigte
sich rasch, dass bei Menschen mit Behinderung ein grosses Bedürfnis besteht im
Bereich Gleichstellungspolitik, Wissen und Kompetenzen mit geeigneten
Instrumenten auszubauen», sagt Corbaz. Und sie zeigt, wie gross das Bedürfnis
nach Austausch mit anderen und gemeinsamer Lösungsfindung ist.
AGILE evaluiert die Weiterbildung in den nächsten Wochen.
36
Behinderung und Politik 2/11
Behindertenszene
Gelebte Selbsthilfe und Empowerment
Die 60. ordentliche Delegiertenversammlung von AGILE ging am 30. April 2011
in Bern ohne Fanfaren und roten Teppich über die Bühne. Das Dach der
Behinderten-Selbsthilfe plant dagegen für die Präsidentenkonferenz zum
Jubiläum eine Tagung zum Thema Nachwuchsförderung.
Von Eva Aeschimann, Bereichsleiterin Öffentlichkeitsarbeit
Am Morgen der DV 2011 stand ein Rückblick auf den vom Parlament
verabschiedeten, ersten Teil der 6. IVG-Revision (6a) auf dem Programm. Ursula
Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Verfasserin des PolitkampagnenKonzepts 6a verband ihre Ausführungen zudem mit einem Ausblick auf den
kommenden zweiten Teil dieser Revision, die 6b.
Politkampagne 6a IVG-Revision – bitterer Rückblick
Welche Forderungen hat der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfe in den letzten
zwei Jahren rund um die 6a IVG-Revision gegenüber den National- und
StänderätInnen eingebracht und ihnen zum Durchbruch verholfen? In welchem
Umfeld bewegte sich AGILE dabei? Wie haben sich Menschen mit Behinderung
Gehör verschafft, sind sichtbar geworden und haben ihre Anliegen Aug in Auge mit
den Damen und Herren im Bundeshaus selbst vertreten? Was konnten die
Lobbyierenden in den Wandelhallen des Bundeshauses, am Telefon und
Schreibtisch erreichen? Diese und weitere Fragen beantwortete Ursula Schaffner in
ihrem abwechslungsreichen Rückblick auf die Politkampagne 6a. VertreterInnen der
Lobby-Tandems und Mitarbeiterinnen des Zentralsekretariats zeigten den
Delegierten und Gästen mittels Texten und kleiner Szenen, wie erfolgreiche und
auch weniger erfolgreiche Lobby-Kontakte ablaufen können.
Ursula Schaffner erläuterte Ausgangspunkt, Zielsetzungen und Etappen der
Politkampagne. Sie berichtete von der Rolle der Lobby-Tandems im Bundeshaus mit
mindestens einer Vertreterin/einem Vertreter mit einer Behinderung. Sie referierte
über Eingaben, Hearing, informelle Gespräche und Medienarbeit. Abschliessend
fasste sie das im politischen Prozess tatsächlich Erreichte zusammen: eine
ernüchternde Bilanz mit Blick auf das riesige Engagement der Lobbyierenden (Lesen
Sie dazu den Artikel «Zwiespältige Bilanz zur ersten Tranche 6. IVG-Revision» von
Ursula Schaffner in dieser Zeitschrift).
Fällt die Bilanz zur Aussenwirkung der Politkampagne auch ernüchternd aus, so
bewertet Ursula Schaffner die Innenwirkung der Kampagne für die Selbsthilfe positiv:
Mitgliedorganisationen seien aktiviert und über die Lobby-Tandems vielfältige
Kontakte geknüpft und gepflegt worden. Das Verständnis unter- und für einander
über Behinderungsgrenzen hinweg sei gewachsen. Als LobbyistInnen hätten
Menschen mit Behinderung Selbsthilfe gelebt, ihr fachliches Wissen erweitern und
konkrete Erfahrungen in Interessenvertretung machen können. «Mit der
37
Behinderung und Politik 2/11
Politkampagne 6a hat AGILE den Grundgedanken der Selbsthilfe und des
Empowerment vollumfänglich gelebt und gestärkt», ist Ursula Schaffner überzeugt.
Kein Referendum gegen 6a IVG-Revision
Vorstandsmitglied Joe A. Manser begründete danach den Entscheid des
Dachverbands, weder eine Unterschriftensammlung noch eine eventuelle
Referendums-Abstimmung zur 6a IVG-Revision zu unterstützen. Er stellte klar, dass
das BSV, der Bundesrat und eine Mehrheit des Parlaments Menschen mit
Behinderung und ihre Organisationen gegeneinander ausgespielt haben. Dies indem
das Bundesamt für Sozialversicherungen und der Bundesrat die
Behindertenorganisationen durch die Verknüpfung des Assistenzbeitrags mit dem
Abbau- und Sanierungspaket in ein Dilemma gezwungen haben. AGILE als
Dachverband mit dem obersten Ziel der Stärkung der Solidarität unter allen
Behinderungsgruppen sei von aussen daran gehindert worden, diese Solidarität zu
leben.
6b IVG-Revision – gemeinsamer Ausblick
Ursula Schaffner informierte die Delegierten und Gäste abschliessend über die
zweite Etappe der 6. IVG-Revision. Bundesrat Didier Burkhalter habe im Februar
verlauten lassen, dass die Veröffentlichung der Botschaft zur 6b auf Mai verschoben
werde. «Offenbar haben die vielen Vernehmlassungsantworten mit
Referendumsandrohungen gewirkt,» sagte Schaffner, «denn das BSV ist daran, die
6b zu überarbeiten». Es sei aber noch nicht klar, in welche Richtung diese
Überarbeitung ziele, der Bundesrat wolle am Sparziel von 800 Millionen Franken pro
Jahr festhalten.
Klar ist aber bereits jetzt: Die von der 6b IVG-Revision betroffenen Menschen werden
sich noch stärker als bisher gegen den Leistungsabbau bei der IV zur Wehr setzen,
im persönlichen Kontakten mit National- und StänderätInnen, mit schriftlichen
Eingaben an die BundesparlamentarierInnen, mit Medienarbeit. Entsprechend sind
neue, am Lobbying interessierte Personen dringend gesucht.
Jubiläums-PräsidentInnenkonferenz im November 2011
Beim statutarischen Teil der Delegiertenversammlung am Nachmittag standen keine
aussergewöhnlichen Geschäfte an, sodass die Versammlung zügig vonstatten ging.
Die Delegierten mussten jedoch vom Rücktritt von Robert Joosten als Vizepräsident
Kenntnis nehmen. Joosten bleibt erfreulicherweise Mitglied des AGILE-Vorstands.
Zentralsekretärin Barbara Marti informierte zum Abschluss über die im Herbst
anstehende PräsidentInnenkonferenz. AGILE organisiert im Rahmen ihres 60jährigen Bestehens am 12. November 2011 eine Tagung. «Wie rüstet sich eine
Behindertenorganisation für die Zukunft?» lautet die Ausgangsfrage für die Tagung,
die Nachwuchsförderung in verschiedensten Aspekten in den Mittelpunkt stellt.
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Behinderung und Politik 2/11
Eidgenössische Wahlen: ein Amt für alle zugänglich
In Ausgabe 1/11 der Zeitschrift wurden die direkt oder indirekt von
Behinderung betroffenen Stimmberechtigten aufgerufen, am 23. Oktober an die
Urne zu gehen und für die Eidgenössischen Wahlen zu mobilisieren. Natürlich
sind sie auch aufgefordert zu kandidieren. Das Parlament jedenfalls scheint
bereit, sie zu empfangen!
Von Mélanie Sauvain, Secrétaire romande, AGILE
Menschen mit Behinderung machen rund 10% der Schweizer Bevölkerung aus. Man
könnte deshalb annehmen, dass einer von zehn Parlamentariern mit einer
Behinderung lebt. Das ist aber bei Weitem nicht der Fall. Nehmen wir aber mal an,
dies würde Realität – wäre das Parlament dann für Menschen mit Behinderung
zugänglich? Gemäss dem Verantwortlichen für Infrastruktur ist das im Prinzip der
Fall.
Massgeschneiderte Lösungen
«Es ist Aufgabe der Parlamentsdienste, den gewählten Volksvertretern eine
möglichst gute und problemlose Ausübung ihres Amtes zu ermöglichen. Das gilt
selbstverständlich auch für Ratsmitglieder mit einer Behinderung», erklärt Daniele
Bruno Malnati, Chef Sicherheit und Infrastruktur der Parlamentsdienste, in einer
schriftlichen Antwort auf unsere Fragen. Und zitiert das Beispiel des ehemaligen
Nationalrats Marc F. Suter (BE/FDP), Paraplegiker, der von 1991 bis 2003 und 2007
Mitglied des Nationalrats war.
Die Parlamentsgebäude sind grundsätzlich rollstuhlgängig, «wo das der
Denkmalschutz erlaubt». Die Ratsunterlagen sind ebenfalls grundsätzlich
elektronisch verfügbar, präzisiert Daniele Malnati. Schliesslich steht auch eine
individuelle Tonanlage zur Verfügung.
Diese Massnahmen sind als Grundlage zu betrachten und müssen im Einzelfall
angepasst werden. Die Parlamentsdienste möchten aber keine hypothetischen
Annahmen dazu machen, was ein Ratsmitglied möglicherweise benötigen könnte.
«Sollte eine Person mit einer Behinderung Einsitz in die Räte nehmen, werden im
Dialog mit der betroffenen Person die notwendigen Massnahmen geprüft und
umgesetzt», unterstreicht der Infrastrukturverantwortliche. «Die Lösungen müssen
massgeschneidert sein».
Politische Selbstvertretung
Am schwierigsten bleibt es somit, dass betroffene Personen gewählt werden.
Zunächst einmal müssen sie sich für eine Kandidatur entscheiden und die benötigte
Kraft und den Mut aufbringen. Insbesondere zur Förderung dieses politischen
Engagements hat AGILE im Herbst 2009 in der Deutschschweiz das E-LearningAngebot «Politische Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung» lanciert. Mehr
darüber erfahren Sie im Artikel «Meine Selbstsicherheit im Umgang mit anderen ist
gestiegen».
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Behinderung und Politik 2/11
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Behinderung und Politik 2/11
Medien
Freiwillig?
Elfriede Polz sieht sich in der Rückschau als glückliche junge Frau: an der
Seite des Mannes den sie liebt, zwei gesunde Kinder und ein stattlicher
Bauernbetrieb. Dann bricht die Depression in ihr Leben ein, und nichts mehr ist
wie vorher.
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
In der Steiermark 1949 als jüngstes von sechs Kindern in eine Bauernfamilie
geboren, erlebt Elfriede eine glückliche und kurzweilige Kindheit. Sie erlernt einen
Beruf und heiratet schliesslich den Mann, in den sie sich schon als 15-Jährige
verliebt hat. Sie erinnert sich noch genau an ihre Hochzeit. Ein Sohn und eine
Tochter in den darauffolgenden Jahren manchen das Glück vollkommen. Die Arbeit
auf dem Hof füllt die Tage aus.
Dann bricht 1979 das Schicksal in ihre Familie ein. Ihr Bruder ruft plötzlich mehrmals
täglich bei ihr an. Es geht ihm nicht gut. Er schläft kaum mehr. Nach mehrmaligem
zureden geht er schliesslich doch zum Arzt. Aber die Medikamente scheinen ihm
nicht zu helfen. Er kann nicht mehr, er will nicht mehr. Alle sind fassungslos, als er
sich wenige Tage später das Leben nimmt.
Und nun ist nichts mehr wie früher. Wenige Tage nach dem Begräbnis des Bruders
zittert Elfriede Polz und kann kaum mehr schlafen. Sie versucht es zu vertuschen,
um ja nicht solche Medikamente zu bekommen wie ihr Bruder. Schliesslich geht auch
sie zum Arzt, und er muss ihr heftig zureden, bis sie nach einigen Tagen die
verschriebenen Tabletten nimmt. Doch ihre Tage werden immer trüber, wie sie
schreibt. Sie hofft auf baldige Besserung, aber es wird nicht besser. Und der Mann
an ihrer Seite hat grosse Angst um seine Frau.
Hier möchte ich nicht weitererzählen. Nur soviel: es kommt schlimmer. Lesen Sie
selbst die beinahe unglaubliche Lebensgeschichte.
Elfriede Polz ist keine Frau grosser Worte. Die Biografie der heute 60-Jährigen füllt
gerade mal 80 grosszügig bedruckte Seiten, ist also schnell gelesen. Aber nicht
schnell vergessen! Die einfache Sprache, die vieles nur andeutet, anderes einfach
feststellt, geht gerade durch dieses unverschnörkelte Zeugnis zu Herzen. Wie der
Untertitel sagt: Es ist eine Biografie über die Art, mit Depressionen umzugehen.
Hilflosigkeit und Hoffnung werden greifbar. Auch Rückfälle und die Angst davor
gehören dazu. Eine Depression kann in die Katastrophe führen, dies musste die
Autorin schmerzlich miterleben. Elfriede Polz selbst hat wieder herausgefunden und
ist dankbar dafür.
Angaben zum Buch: Elfriede Polz, Freiwillig? Eine Biografie über die Art, mit
Depressionen zu leben und gesund zu werden, Books on Demand GmbH, 2010.
ISBN: 978-3-8423-0656-1, Preis: CHF 24.50.
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Behinderung und Politik 2/11
Impressum
agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form –
der «BÖV Nachrichten»)
Herausgeberin:
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Effingerstrasse 55, 3008 Bern
Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35
Email: [email protected]
Redaktion:
Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe
Mélanie Sauvain, Redaktionsverantwortliche französische Ausgabe
Bettina Gruber Haberditz
Simone Leuenberger
Ursula Schaffner
Lektorat:
Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe)
Sylvie Ulmann (französische Ausgabe)
Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von
«agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche
gekennzeichnet.
Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern erwünscht!
Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]
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