Natura e gratia al alba della modernitá

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Festvortrag Ravensburg
50jähriges Jubiläum der Dreifaltigkeitskirche
am 12. Juni 2015
Erlöste Freiheit Worauf es im Christentum ankommt
I. Freiheit als höchster Wert der Gegenwartskultur
Unter allen moralischen Werten, die in der modernen Gesellschaft über soziale Unterschiede
und politische Gegensätze hinweg Anerkennung finden, überragt einer alle anderen: das Ideal
der Freiheit. Die Französische Revolution berief sich, um dem Anspruch auf eine politische
Neugestaltung Europas eine moralische Grundlage zu geben, auf die drei Leitworte Freiheit,
Gleichheit und universale Geschwisterlichkeit unter den Menschen. Die politische
Philosophie der Aufklärung griff diesen Impuls auf und verband ihn mit der Idee der
wechselseitigen Anerkennung freier Bürger als Grundlage eines demokratischen und – in
einer späteren Erweiterung – sozialen Rechtsstaats. Die Freiheit des Einzelnen sollte in einer
Gesellschaftsordnung zur Herrschaft gelangen, in der sich alle Menschen wechselseitig als
Freie und Gleiche anerkennen und sich zu gegenseitiger Solidarität verpflichten. Rechtliche
Gleichheit und reziproke Solidarität gelten seitdem allgemein als Konstitutionsprinzipien
moderner Staaten, die ihren Bürgern ein Leben in Freiheit, materieller Grundsicherheit und
äußerem Frieden versprechen.
Die Vorrangstellung unter allen moralischen Werten, die den Anspruch erheben, die Ordnung
des gesellschaftlichen Lebens zu prägen, kommt jedoch konkurrenzlos der Freiheit zu, nicht
nur im Sinne rechtlicher Freiheit vor staatlicher Willkür, sondern verstanden als umfassende
moralische Autonomie, als Freiheit zur Selbstbestimmung gemäß den eigenen
Gewissensüberzeugungen. Das Wort „Selbstbestimmung“ entsteht in den europäischen
Sprachen erst im 16. Jahrhundert zu Beginn der philosophischen Aufklärung. Im Deutschen
ist die philosophische Bedeutung des Begriffs vor allem durch Immanuel Kant geprägt, der
den Titel eines damals vielgelesenen Buches des protestantischen Theologen Johannes
Spalding abwandelt, indem er ihm das Präfix „Selbst“ voranstellt. Die Bestimmung des
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1
Menschen – so lautete der Titel von Spaldings im Jahr 1797 erschienenem Werk, den Fichte
drei Jahre später in seiner gleichnamigen Schrift übernahm – ist es, sich selbst zu bestimmen;
er verwirklicht den Sinn seiner Existenz nicht, indem er vorgegebenen Zwecken folgt,
sondern indem er sich selbst Zwecke setzt und ein selbstbestimmtes Leben führt.1
Was am Beginn der europäischen Aufklärung als philosophisches Programm ausgerufen
wurde, um ein neues Selbstverständnis des modernen Menschen zu verkünden, das führte in
den vergangenen Jahrhunderten zu einer Umgestaltung des kulturellen, sozialen, politischen
und religiösen Lebens, wie sie nie zuvor durch eine moralische Idee angestoßen wurde. Am
Ende des Transformationsprozesses, aus dem die moderne Welt hervorging, zeigt sich die
Vormachtstellung der Freiheit in allen Bereichen des Lebens. Sie hat die ihr anfangs zur Seite
gestellten Werte der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht verdrängt, aber sie zu
Vorbedingungen oder nachfolgenden Ausformungen ihrer selbst gemacht.2 In der Spätphase
der Moderne, die wir als Postmoderne oder reflexive Moderne bezeichnen, lassen sich alle
anderen politischen Ideale nur in der Weise als moralische Werte artikulieren, dass sie als
Facetten einer konstitutiven Leitkategorie, der als individueller Autonomie gedachten
Freiheit, vorgestellt werden. Auch persönliche Lebensideale wie Natürlichkeit, Echtheit und
Wahrhaftigkeit der Gefühle oder der Wert der Gemeinschaft werden als Aspekte des guten
Lebens von der Sogwirkung der Freiheit erfasst. Sie gelten als erstrebenswert, weil sich durch
sie das autonome Individuum in freier Selbstbestimmung verwirklicht.
Sozialwissenschaftliche Diagnosen der reflexiven Moderne beschreiben diese deshalb mit
emphatischen Worten als eine ihrer selbst bewusst gewordene Freiheitskultur. Der Prozess der
Modernisierung, aus dem die gegenwärtigen Gesellschaften der Länder Europas,
Nordamerikas und der asiatischen Schwellenländer hervorgingen, ist im Einzelnen durch vier
Momente gekennzeichnet, die jedoch in dem gemeinsamen Merkmal einer wachsenden
Freisetzung des Einzelnen aus gesellschaftlichen Zwängen und Bindungen übereinkommen:
(1) durch eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen in Familie, Beruf und
Gesellschaft, (2) durch eine Überzahl an wählbaren Optionen und Lebensprojekten, (3) durch
eine daraus folgende höhere Riskiertheit der Lebensführung und (4) durch den Vorgang
religiöser Individualisierung. Je nachdem welcher Aspekt der Freiheit als vorherrschend
Vgl. V. Gerhardt, Artikel: „Selbstbestimmung“, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von H. J. Sandkühler,
Hamburg 1999, 1432–1437.
2
Vgl. dazu A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M.
2011, 35ff.
1
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2
angesehen wird, soll die moderne Gesellschaft deshalb als „Multioptionsgesellschaft“ (Peter
Gross) oder als „Risikogesellschaft“ (Uwe Beck) gelten. Der amerikanische Philosoph
Charles Taylor hat in seinem monumentalen Werk „Quellen des Selbst. Die Entstehung der
neuzeitlichen Identität“3 den Prozess nachgezeichnet, durch den die moralischen Ideale des
vernunftgemäßen Lebens, des Einklangs mit der Natur oder der Authentizität der Gefühle,
aber auch die altruistischen Vorstellungen der Liebe und der Geschwisterlichkeit unter den
Menschen in den Bannkreis des Ideals der Freiheit gerieten. Sie können die Leitkategorie der
Freiheit auf eine bestimmte Bedeutung festlegen, ihren Sinn abwandeln oder ihr einen
besonderen erfüllenden Gehalt vor Augen stellen. Doch hat keine dieser moralischen
Wertvorstellungen noch die Kraft, der Freiheit als eigenständige Alternative entgegenzutreten
oder sie in ihrer Geltung als gesellschaftlicher Höchstwert zu verdrängen.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Schärfe, die den Konflikt zwischen dem Christentum,
insbesondere in seiner katholischen Form, und der Moderne noch immer bestimmt. Zwar
anerkannte die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die modernen
Freiheitsrechte und machte sich im Bekenntnis zur Gewissens- und Religionsfreiheit deren
harten Kern ausdrücklich zu eigen. Doch begleitet sie die Erinnerung daran, dass sie im
jahrhundertelangen Kampf um die Anerkennung der Freiheit zumeist auf der falschen Seite
stand, wie ein langer Schatten, der bis in die Gegenwart reicht. Mit einigem Recht hat man die
Anerkennung der Menschenrechte durch die Kirche im 20. Jahrhundert deshalb mit der
nachträglichen Adoption eines zunächst verstoßenen unehelichen Kindes verglichen.4 Auch
erwecken die Moralauffassungen der Kirche, insbesondere ihre normativen Aussagen zur
Sexualethik bei vielen Zeitgenossen Zweifel, ob die ganze Tragweite des modernen Prinzips
der Freiheit darin auch nur ansatzweise erahnt ist. Betrachtet man ihre amtlichen
Verlautbarungen und die gängigen Antworten der Theologie auf zahlreiche
Gegenwartsprobleme, so herrscht vielmehr der Eindruck vor, als begegne die Kirche der
modernen Freiheitskultur insgeheim noch immer mit Argwohn.
Zwar hat die Theologiegeschichte beachtliche Freiheitstheorien hervorgebracht, die bis in die
Neuzeit hinein hohe öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Die Verteidigung der
Willensfreiheit durch Origenes und Augustinus gegenüber dem antiken Fatalismus, die
subtilen Analysen der mittelalterlichen Scholastik zum liberum arbitrium, der Disput, den
3
Frankfurt a. M. 1994.
Vgl. E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische
Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987.
4
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3
Erasmus und Luther um den unfreien Willen führten, oder die Kontroversen unter den
Theologen des 17. Jahrhunderts über das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher
Vorherbestimmung belegen das gedankliche Interesse, das der christliche Glaube zu allen
Epochen am Verständnis der menschlichen Freiheit hatte. Ebenso ist daran zu erinnern, dass
die Idee der Menschenwürde zumindest eine theologische Vorgeschichte hat und die Anfänge
der modernen Autonomievorstellung bis in die Bibel zurückreichen. Der Begriff des „Sichselbst-Gesetz-Seins“ wird nämlich bereits von Paulus gebraucht, wenn er in Röm 2,14
beschreibt, warum auch die Heiden die Forderungen der Moral in ihrem Gewissen erkennen
können. In der Gegenwart darf auf die bahnbrechenden Aussagen verwiesen werden, die das
Zweite Vatikanische Konzil zur Würde des Gewissens macht.
Diese eindrucksvollen Zeugnisse belegen, dass die christliche Theologie auf der Ebene
allgemeiner anthropologisch-ethischer Bestimmungen zu allen Zeiten ein grundsätzlich
positives Verhältnis zur Freiheit und zur moralischen Autonomie des Menschen einnahm und
bis heute einnimmt. Doch können die theologischen Bekenntnisse zur Freiheit den Eindruck
nicht zerstreuen, die Kirche verdächtige das individuelle Gewissen noch im Akt seiner
Anerkennung tendenziell der Beliebigkeit und sehe die Freiheitskultur der Moderne von
vornherein durch eine ihr angeblich innewohnende Gefahr des moralischen Relativismus
bedroht. Die Grundbotschaft des Christentums, die Rede vom Heil, von der Gnade Gottes und
von der Erlösung wird deshalb in aller Regel nicht als eine Ermutigung zur Freiheit
verstanden. Eher begreifen ihre Adressaten sie als eine Warnung vor den Ambivalenzen der
Freiheit oder als einen möglichen Ausweg aus ihren Aporien. Daher darf man bezweifeln, ob
die Kirche im Stil ihrer lehramtlichen Verkündigung und ihrer durchschnittlichen
theologischen Reflexion schon verstanden hat, was es bedeutet, das Evangelium in einer
Kultur zu verkünden, die auf die Vorrangstellung der Freiheit gegründet ist. Vieles deutet
vielmehr darauf hin, dass sich an der besorgten Diagnose nichts geändert hat, die Papst Paul
VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ (1975) traf. Er schrieb darin:
„Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Epoche,
wie es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Nr. 20).
Von anderer Seite wird diese Diagnose durch einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber dem in
vielfältigen Bedeutungen oszillierenden Faszinationswort „Freiheit“ unterstrichen. Lässt sich
das, worauf es im Christentum vor allem ankommt, überhaupt im Paradigma der Moderne,
unter dem Vorzeichen der Freiheit aussagen, ohne dass Entscheidendes ungesagt bleibt?
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4
Lautet das Grundwort der christlichen Botschaft in praktischer Hinsicht nicht Liebe statt
Freiheit? Und bedarf der Freiheitsbegriff innerhalb dieser Botschaft, soll ihr Charakter als
endgültige Offenbarung des biblischen Gottes unverkürzt zur Geltung kommen, nicht der
Ergänzung durch den Begriff der Wahrheit? Ist das in der Moderne so missverständliche Wort
„Freiheit“, wenn es zur Zentralaussage des Christentums werden soll, nicht auf nähere
Bestimmungen angewiesen? Wie sonst kann ausgeschlossen werden, was Freiheit im Kontext
der biblischen Erlösungsbotschaft nicht meinen soll – keine Freiheit der Beliebigkeit, keine
Freiheit des Laissez faire, keine Freiheit zur Selbstdispens von moralischen Verpflichtungen,
keine Freiheit auf Kosten der anderen?
II. Die innere Mitte: Freiheit zur Liebe
Schauen wir jedoch in das Evangelium, so fällt auf, dass Jesus der Freiheit der Menschen
nicht mit Misstrauen begegnet, sondern sie überall dort wiederherstellen möchte, wo
Menschen durch gesellschaftliche Missachtung oder die moralischen Vorurteile ihrer
Umgebung an der Entfaltung ihrer Freiheit gehindert sind. In den Briefen des Apostels Paulus
und im Johannesevangelium ist von der Freiheit in einem geradezu emphatischen Sinn die
Rede: Die Freiheit erscheint dort als die innere Zielbestimmung der menschlichen Existenz.
Im Galaterbrief wiederholt Paulus immer wieder die Spitzensätze seiner Freiheitsbotschaft:
„Ihr seid zur Freiheit berufen, Schwestern und Brüder“ – „Zur Freiheit seid ihr befreit“. Im
Römerbrief spricht er von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“. Im ersten
Korintherbrief verweist er auf den Ursprung der christlichen Freiheit: „Wo der Geist ist, da ist
Freiheit“. Das Johannesevangelium sieht in der Freiheit das innere Ziel der Wahrheit, die in
Jesus Christus in menschgewordener Gestalt erschienen ist: „Die Wahrheit wird euch frei
machen“. Deshalb konnte der evangelische Theologe Ernst Käsemann das Evangelium und
die gesamte christliche Offenbarungsbotschaft als „Ruf der Freiheit“ bezeichnen.
Im Einzelnen legt Paulus die christliche Freiheit unter drei Aspekten aus: Sie ist Freiheit vom
Anspruch des Gesetzes, das den Menschen dazu verurteilt, sich durch den Nachweis eigener
Leistungen selbst zu rechtfertigen. Sie ist Freiheit zum Zwang zur Sünde, und sie ist Freiheit
von Furcht und Todesangst.
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5
Sucht man jedoch nach einem einzigen Grundwort, in dem das gesamte paulinische
Freiheitsverständnis ausgesprochen ist, so kommt dafür nur eines in Frage: Die
eschatologische Freiheit, die den Getauften aus dem Tod Christi erwächst, ist die Freiheit zur
Liebe. Die exegetische Diskussion darüber, in welchem Zentralgedanken das paulinische
Freiheitsverständis seine systematische Mitte besitzt, lässt eine andere Antwort kaum zu.
Unter den drei Schlüsselbegriffen, mit denen die paulinische Theologie der Freiheit häufig als
Freiheit von der Sünde, vom Gesetz und vom Tode verstanden wird, ist keiner, der die
anderen so bündeln könnte, dass diese als seine Voraussetzungen erscheinen.5 Alle drei
Aspekte lassen sich jedoch als Teilkomponenten einer Freiheitskonzeption deuten, die in der
Liebe ihre Erfüllung findet. Die Freiheit von der Sünde realisiert sich konkret nur im
Tätigwerden der Liebe. Wenn die Getauften nicht mehr dem tötenden Buchstaben des
Gesetzes unterstehen, sondern vom Geist Gottes neu geschaffen werden, so sind sie auf den
Weg der Liebe gestellt, die die höchste (vgl. 1 Kor 13) unter den Charismen ist. Die Freiheit
vom Tode schließlich befreit vom Gebundensein an sich selbst, das vom Einsatz für den
Nächsten abhält.6 Die Freiheitslehre des Paulus erreicht ihren inneren Abschluss daher nicht
in sich selbst, sondern darin, dass Paulus ihre ethischen Dimensionen als die andere Seite
seiner Rechtfertigungsbotschaft aufzeigt. Indem sie als mit der dreifachen Freiheit von der
Sünde, vom Gesetz und vom Tod verbunden gedacht wird, die den Gläubigen in der Taufe auf
den Tod und die Auferstehung Christi geschenkt wird, ist die Liebe als eschatologische
Wirklichkeit beschrieben: Sie ist nicht mehr in erster Linie moralische Forderung, sondern
wird als ein Werk des Heiligen Geistes verstanden, aus dessen Kraft die Gläubigen leben.
III. Die Erklärung zur religiösen Freiheit „Dignitatis humanae“
Die Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis humanae“, die vom Konzil nach heftigen
Kontroversen und dramatischen verfahrensmäßigen Zuspitzungen am Vorabend seiner
feierlichen Beendigung mit 2308 Ja-Stimmen verabschiedet wurde (70 Konzilsväter votierten
5
Die Dreiteilung hat sich im Anschluss an H. Schlier (vgl. Art.: eleutheros, in: ThWNT II, 492-500) und R.
Bultmann (vgl. Theologie des Neuen Testaments, 71977, 332-353) weithin durchgesetzt; im angelsächsischen
Sprachraum wurde sie durch A. Nygren, Commentary on Romans, London 1952, 188 einflussreich. Kritisch
dagegen F.S. Jones, ‚Freiheit’ in den Briefen des Apostels Paulus, Göttingen 1987, der die Möglichkeit einer
systematischen Darstellung des paulinischen Freiheitsverständnisses überhaupt bestreitet und in ihr nur ein
Agglomerat von Versatzstücken sieht, die Paulus der Stoa und der kynischen Popularphilosophie entlehnt habe.
6
Es macht die Grenze der materialreichen und in ihren Einzelauslegungen höchst anregenden Studie von S.
Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung, Göttingen 1989 aus, dass sie der Zentralstellung der Liebe innerhalb
des paulinischen Freiheitsverständnisses nicht gerecht wird und dieses statt dessen in der Freiheit vom Gesetz
bündeln möchte (vgl. a.a.O., 21).
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6
mit non placet und acht gaben eine ungültige Stimme ab), gilt allgemein als ein Meilenstein in
dem Prozess der Annäherung an die Moderne, durch den die katholische Kirche ihre geistige
und kulturelle Selbstisolation überwand. Wie durch kein anderes Dokument des jüngsten
Konzils fand die katholische Kirche durch die öffentliche Anerkennung der Religionsfreiheit
Anschluss an die bürgerliche Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts, die zu den wichtigsten
geistigen, kulturellen und politischen Wurzeln der gegenwärtigen Welt zählt. Zwar handelt es
sich bei diesem Dokument nicht wie bei „Dei verbum“, „Lumen gentium“ und „Gaudium et
spes“ um eine dogmatische oder pastorale Konstitution, sondern „nur“ um eine Erklärung,
doch kam ihrer Verabschiedung in buchstäblich letzter Stunde ein hoher Symbolwert für den
erfolgreichen Abschluss der Konzilsberatungen insgesamt zu. Wäre die Erklärung über die
Religionsfreiheit gescheitert, hätte das Zweite Vatikanum den angezielten Brückenschlag zur
Moderne verfehlt.
Den Konzilsvätern war die exemplarische Bedeutung ihres Ringens um ein klares Bekenntnis
zur Religionsfreiheit durchaus bewusst. Auch viele zeitgenössische Beobachter sahen im
Schicksal dieser Erklärung einen Testfall für den Willen des Konzils, zu einem neuen Stil der
kirchlichen Lehrverkündigung in der modernen Welt zu finden. In den in der Konzilsaula
geführten
Debatten
warnten
prominente
Vertreter
der
Majorität,
bei
einer
Nichtverabschiedung drohe die Kirche in den Augen vieler Menschen selbst zum Skandalon
zu werden, da vieles von dem, was das Konzil erhoffe, dann nicht angenommen und die
Verkündigung des Evangeliums blockiert würde.7 Bischof Carlo Colombo, dessen
Interventionen wegen seiner persönlichen Nähe zu Paul VI. große Beachtung fanden, sah in
der Haltung des Konzils gegenüber der Religionsfreiheit die kritische Scheidelinie oder das
„punctum saliens“, von dem abhänge, ob die Schicht der Gebildeten und die kulturelle
Avantgarde der Zeit einen Dialog mit der Kirche noch für aussichtsreich halte oder ob es
zwischen der katholischen Lehre und dem modernen Denken einen unheilbaren Riss gebe. 8
Sowohl den Befürwortern wie auch den Gegnern der Erklärung unter den Konzilsvätern war
bewusst, dass ihrer feierlichen Verabschiedung eine „Signalfunktion“ dafür zukommt, ob es
„der katholischen Kirche gelingen würde, das von Johannes XXIII. programmatisch
7
Vgl. die Interventionen von Kardinal Meyer, Chicago (AS III/2, 366-368) und Kardinal Ritter, St. Louis (AS
IV/1, 225-226) und dazu Th. A. Weitz, Religionsfreiheit auf dem 2. Vatikanischen Konzil, St. Ottilien 1997, 61f.
Die Redebeiträge der Konzilsväter werden zitiert nach: Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici
Vaticani Secundi, Vol. I-IV, Città del Vaticano 1970ff. (= AS).
8
AS III-II, 554.
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7
angekündigte ‚aggiornamento’ mit ganzem Herzen durchzuführen, oder ob sie den wie auch
immer verstandenen Positionen des 19. Jahrhunderts verhaftet blieb“9.
Eine Intervention von Kardinal Silva Henríquez aus Santiago/Chile kann schlaglichtartig
verdeutlichen, in welch scharfer Tonlage die Auseinandersetzung zwischen den Konzilsvätern
geführt wurde. Kardinal Ottaviani, der Leiter des Heiligen Officiums, der Vorgänger-Behörde
der heutigen Glaubenskongregation, warf dem Texteentwurf vor, es sündige per excessum,
wenn es auch dem irrenden Gewissen derjenigen Achtung bezeuge, die sich über die religiöse
Wahrheit täuschen. Im gleichen Sinn warnte Kardinal Siri aus Genua pauschal und
undifferenziert vor jedweder Konzession an den Irrtum. Er vertrat eine äußerst pessimistische
Sichtweise der menschlichen Freiheit, die in dieser nichts anderes als das Einfallstor der
Sünde sah. „Libertas est facultas et dat facultatem peccandi“ (= Freiheit ist die Fähigkeit und
verleiht die Fähigkeit zu sündigen).10 Dagegen hob Henríquez in seiner Stellungnahme
hervor: „Stärker als die Furcht vor dem Missbrauch der Freiheit müssen wir die Liebe fördern,
von ihr Gebrauch zu machen.“11 Ein Widerhall dieser Aufforderung zur generellen
Hochschätzung der Freiheit findet sich in Art. 8 der später verabschiedeten Erklärung, wo es
als Aufgabe von Erziehung und Bildung beschrieben wird, Menschen zu formen, die
„Liebhaber der echten Freiheit“ (genuinae libertatis amatores) sind.12 Mut zur Freiheit als
christliches Bildungsziel statt Angst vor ihrer Inanspruchnahme durch die Menschen – so
lautete das gemeinsame Motto, das die Reden vieler Konzilsväter der Majorität prägte.
In der ersten großen Debatte während der dritten Sitzungsperiode hatte der damalige
Erzbischof von Krakau Karol Wojtyła in seiner Intervention vom 25.9.1964 bereits in diese
Richtung argumentiert. Ausgehend von dem Wort aus dem Johannes-Evangelium „die
Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32) fragte er nach dem reziproken
Bedingungsverhältnis, in dem Freiheit und Wahrheit zueinander stehen. Einerseits ist dem
Menschen die Freiheit um der Wahrheit willen gegeben, da diese nur in Freiheit erkannt
werden kann. Andererseits aber ist die Wahrheit nicht die Entfremdung oder ein äußerer
Octroi für die Freiheit, sondern ihre innere Erfüllung. In diesem Sinn führt der Krakauer
Erzbischof aus: „Non datur libertas sine veritas.“ (= Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit.) Da
aber die innere Beziehung der Freiheit insbesondere zur religiösen Wahrheit alles Weltliche
9
Th. A. Weitz, a.a.O., 63.
Vgl. AS IV/1, 207.
11
AS IV/1, 229: „[…] potius quam metum ob libertatis abusum excolere debemus amorem pro libertatis usu.”
12
A.a.O., 447.
10
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8
transzendiert, darf sich keine weltliche Instanz in die freie Wahrheitssuche des Menschen
einmischen.13
Die Bedeutung der Erklärung „Dignitatis humanae“ kann kaum überschätzt werden. Zurecht
wurde sie als der „Schlusspunkt“ des Konzils gewürdigt, der den von den Konzilspäpsten
Johannes XXIII. und Paul VI. und der Mehrheit der Konzilsväter nahezu einmütig gewollten
Brückenschlag zur modernen Welt vollendet.14 Durch die Anerkennung der in der
Menschenwürde begründeten bürgerlichen Freiheitsrechte und die politisch-ethische
Legitimation des liberalen Verfassungsstaates befreit sich die katholische Kirche aus der
Gefangenschaft einer splendid isolation gegenüber der Freiheitskultur der modernen Welt, in
die sie im 19. Jahrhundert durch ihren kompromisslosen Abwehrkampf geraten war. Die
Konzilserklärung über die religiöse Freiheit schuf die Grundlage dafür, dass die katholische
Kirche heute in der internationalen Politik und Diplomatie als weltweit agierende Anwältin
der Menschenrechte anerkannt ist, die wie keine andere Institution neben den Vereinten
Nationen für die Freiheit des Glaubens und des Gewissens, für die Unverletzlichkeit von Leib
und Leben jedes Menschen und für die Respektierung der bürgerlichen Freiheitsrechte eintritt.
Am Schluss soll ein Ausblick auf zwei Themenkreise stehen, die auf dem Konzil nicht
befriedigend gelöst werden konnten oder unerledigt bleiben mussten: auf das Problem der
religiösen Toleranz und auf die Frage der religiösen Freiheit in der Kirche.
Da Toleranz als Achtung vor dem anderen immer auch mit den Grundhaltungen der Geduld
und der Demut zu tun hat, befähigt erst so verstandene Toleranz auch zu einem friedlichen
konflikthaften Miteinander und zum Ausharren in den Spannungen und Gegensätzen, die sich
durch Unterdrückung und Gewalt nicht lösen lassen. Denn der religiöse Pluralismus ist nicht
nur, wie es ein schwärmerisch-naives Verständnis des Begriffes annimmt, Ausdruck des
Reichtums religiöser Vielfalt, sondern unvermeidlich auch eine Last, die zahlreiche
Beeinträchtigungen und Leiden zur Folge haben kann. Im Extremfall können die Spannungen
und Antagonismen, die mit dem religiösen Pluralismus in vielen Ländern einhergehen, zur
Eruption von Hass und Gewalt bis hin zur Verfolgung, Bedrohung und physischen
Vgl. AS III/2, 530-532 und die Zusammenfassung bei W. Kasper, Wahrheit und Freiheit: die „Erklärung über
die Religionsfreiheit“ des II. Vatikanischen Konzils. Heidelberg 1988 (Sitzungsberichte der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1988, 4), 26f.
14
R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der
Französischen Revolution bis zum 11. Vatikanischen Konzil (1789-1965), Paderborn/München 2005 (Politikund kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 25), 480f.
13
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9
Vernichtung Andersgläubiger führen. Die Proklamation des Rechts auf religiöse Freiheit ohne
das dazugehörige Ethos der Toleranz kann die Verfolgung und Unterdrückung religiöser
Minderheiten nicht verhindern, wie die wachsende Zahl von Ländern zeigt, in denen religiöse
Minderheiten unterdrückt werden. Eine Fortschreibung der Konzilserklärung über die
religiöse Freiheit, die auch das Problem der Toleranz einbezieht, könnte nicht nur den
weltweiten interreligiösen Dialog befruchten, sondern den Blick der Weltgemeinschaft auf
das Schicksal der verfolgten Christen richten helfen, die unter allen Glaubensgemeinschaften
weltweit inzwischen am meisten unter den gewalttätigen Folgen religiöser Intoleranz zu
leiden haben.
Wenn das Konzil das Recht auf die religiöse Freiheit als ein Recht aller Menschen anerkennt,
das in der Würde der Person gründet, muss dieses Recht auch innerhalb der Kirche, im
Verhältnis der Gläubigen zu den kirchlichen Amtsträgern und im Verhältnis der Getauften
untereinander gelten. Im Unterschied zur staatlichen Gemeinschaft und zur säkularen
Zivilgesellschaft kann Freiheit in der Kirche aber nicht Freiheit vom Glauben, sondern nur
Freiheit zur eigenen Glaubensbetätigung entsprechend dem eigenen Gewissen bedeuten. Die
Freiheit, den eigenen Glauben in der Kirche zu artikulieren und gemeinsam mit anderen zu
betätigen, schließt allerdings das Recht zur Suche nach einer authentischen persönlichen
Glaubensgestalt, das Recht zum Austausch mit anderen und, da dem Glauben auch eine
Pflicht zur intellektuellen Redlichkeit korrespondiert, unter Umständen das Recht zum
Zweifel ein. Da es – um ein bekanntes Wort von Papst Benedikt XVI. aufzugreifen – so viele
Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt, ist auch innerhalb der Kirche von einer Pluralität
von Glaubensstilen, Spiritualitätsformen und theologischen Denkansätzen auszugehen.
Ebenso sind Spannungen, Gegensätze und Konflikte Phänomene, die dem Wesen der Kirche
als Glaubensgemeinschaft nicht von vornherein widersprechen; wohl aber wäre es mit dem
Glauben unvereinbar, derartige Konflikte und Spannungen durch die Androhung oder den
Einsatz von Zwangsmitteln lösen zu wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe aller in der Kirche,
also der Bischöfe, der Theologen und der Gläubigen, die gemeinsame Freiheit aller zu
fördern, zu achten und im Konfliktfall zu schützen, gemäß dem alten Grundsatz, den Papst
Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache auf dem Konzil zitierte: Im Notwendigen
Einheit, in Zweifelsfragen Freiheit und in allem die Liebe (in necessariis unitas, in dubiis
libertas, in omnibus caritas).15 Wo in der Kirche Angst, Duckmäusertum, äußere Anpassung
15
Acta et documenta Concilio Oecumenico Vaticano II apparando, Series I (Antepraeparatoria) Vol. I,35 unter
Hinweis auf den Grundsatz J. H. Newmans, dass Kontroversen die Einheit der Kirche nicht verletzen, sondern
ein besseres Verständnis ihres Glaubens fördern.
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und gegenseitiges Misstrauen herrschen, bleibt eine zentrale Forderung des Konzils, die sich
an alle Staaten, Religionsgemeinschaften und Individuen richtet, in ihr selbst uneingelöst.
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