Festvortrag Ravensburg 50jähriges Jubiläum der Dreifaltigkeitskirche am 12. Juni 2015 Erlöste Freiheit Worauf es im Christentum ankommt I. Freiheit als höchster Wert der Gegenwartskultur Unter allen moralischen Werten, die in der modernen Gesellschaft über soziale Unterschiede und politische Gegensätze hinweg Anerkennung finden, überragt einer alle anderen: das Ideal der Freiheit. Die Französische Revolution berief sich, um dem Anspruch auf eine politische Neugestaltung Europas eine moralische Grundlage zu geben, auf die drei Leitworte Freiheit, Gleichheit und universale Geschwisterlichkeit unter den Menschen. Die politische Philosophie der Aufklärung griff diesen Impuls auf und verband ihn mit der Idee der wechselseitigen Anerkennung freier Bürger als Grundlage eines demokratischen und – in einer späteren Erweiterung – sozialen Rechtsstaats. Die Freiheit des Einzelnen sollte in einer Gesellschaftsordnung zur Herrschaft gelangen, in der sich alle Menschen wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennen und sich zu gegenseitiger Solidarität verpflichten. Rechtliche Gleichheit und reziproke Solidarität gelten seitdem allgemein als Konstitutionsprinzipien moderner Staaten, die ihren Bürgern ein Leben in Freiheit, materieller Grundsicherheit und äußerem Frieden versprechen. Die Vorrangstellung unter allen moralischen Werten, die den Anspruch erheben, die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu prägen, kommt jedoch konkurrenzlos der Freiheit zu, nicht nur im Sinne rechtlicher Freiheit vor staatlicher Willkür, sondern verstanden als umfassende moralische Autonomie, als Freiheit zur Selbstbestimmung gemäß den eigenen Gewissensüberzeugungen. Das Wort „Selbstbestimmung“ entsteht in den europäischen Sprachen erst im 16. Jahrhundert zu Beginn der philosophischen Aufklärung. Im Deutschen ist die philosophische Bedeutung des Begriffs vor allem durch Immanuel Kant geprägt, der den Titel eines damals vielgelesenen Buches des protestantischen Theologen Johannes Spalding abwandelt, indem er ihm das Präfix „Selbst“ voranstellt. Die Bestimmung des D:\75887256.doc 1 Menschen – so lautete der Titel von Spaldings im Jahr 1797 erschienenem Werk, den Fichte drei Jahre später in seiner gleichnamigen Schrift übernahm – ist es, sich selbst zu bestimmen; er verwirklicht den Sinn seiner Existenz nicht, indem er vorgegebenen Zwecken folgt, sondern indem er sich selbst Zwecke setzt und ein selbstbestimmtes Leben führt.1 Was am Beginn der europäischen Aufklärung als philosophisches Programm ausgerufen wurde, um ein neues Selbstverständnis des modernen Menschen zu verkünden, das führte in den vergangenen Jahrhunderten zu einer Umgestaltung des kulturellen, sozialen, politischen und religiösen Lebens, wie sie nie zuvor durch eine moralische Idee angestoßen wurde. Am Ende des Transformationsprozesses, aus dem die moderne Welt hervorging, zeigt sich die Vormachtstellung der Freiheit in allen Bereichen des Lebens. Sie hat die ihr anfangs zur Seite gestellten Werte der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht verdrängt, aber sie zu Vorbedingungen oder nachfolgenden Ausformungen ihrer selbst gemacht.2 In der Spätphase der Moderne, die wir als Postmoderne oder reflexive Moderne bezeichnen, lassen sich alle anderen politischen Ideale nur in der Weise als moralische Werte artikulieren, dass sie als Facetten einer konstitutiven Leitkategorie, der als individueller Autonomie gedachten Freiheit, vorgestellt werden. Auch persönliche Lebensideale wie Natürlichkeit, Echtheit und Wahrhaftigkeit der Gefühle oder der Wert der Gemeinschaft werden als Aspekte des guten Lebens von der Sogwirkung der Freiheit erfasst. Sie gelten als erstrebenswert, weil sich durch sie das autonome Individuum in freier Selbstbestimmung verwirklicht. Sozialwissenschaftliche Diagnosen der reflexiven Moderne beschreiben diese deshalb mit emphatischen Worten als eine ihrer selbst bewusst gewordene Freiheitskultur. Der Prozess der Modernisierung, aus dem die gegenwärtigen Gesellschaften der Länder Europas, Nordamerikas und der asiatischen Schwellenländer hervorgingen, ist im Einzelnen durch vier Momente gekennzeichnet, die jedoch in dem gemeinsamen Merkmal einer wachsenden Freisetzung des Einzelnen aus gesellschaftlichen Zwängen und Bindungen übereinkommen: (1) durch eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen in Familie, Beruf und Gesellschaft, (2) durch eine Überzahl an wählbaren Optionen und Lebensprojekten, (3) durch eine daraus folgende höhere Riskiertheit der Lebensführung und (4) durch den Vorgang religiöser Individualisierung. Je nachdem welcher Aspekt der Freiheit als vorherrschend Vgl. V. Gerhardt, Artikel: „Selbstbestimmung“, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg 1999, 1432–1437. 2 Vgl. dazu A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M. 2011, 35ff. 1 D:\75887256.doc 2 angesehen wird, soll die moderne Gesellschaft deshalb als „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) oder als „Risikogesellschaft“ (Uwe Beck) gelten. Der amerikanische Philosoph Charles Taylor hat in seinem monumentalen Werk „Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“3 den Prozess nachgezeichnet, durch den die moralischen Ideale des vernunftgemäßen Lebens, des Einklangs mit der Natur oder der Authentizität der Gefühle, aber auch die altruistischen Vorstellungen der Liebe und der Geschwisterlichkeit unter den Menschen in den Bannkreis des Ideals der Freiheit gerieten. Sie können die Leitkategorie der Freiheit auf eine bestimmte Bedeutung festlegen, ihren Sinn abwandeln oder ihr einen besonderen erfüllenden Gehalt vor Augen stellen. Doch hat keine dieser moralischen Wertvorstellungen noch die Kraft, der Freiheit als eigenständige Alternative entgegenzutreten oder sie in ihrer Geltung als gesellschaftlicher Höchstwert zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Schärfe, die den Konflikt zwischen dem Christentum, insbesondere in seiner katholischen Form, und der Moderne noch immer bestimmt. Zwar anerkannte die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die modernen Freiheitsrechte und machte sich im Bekenntnis zur Gewissens- und Religionsfreiheit deren harten Kern ausdrücklich zu eigen. Doch begleitet sie die Erinnerung daran, dass sie im jahrhundertelangen Kampf um die Anerkennung der Freiheit zumeist auf der falschen Seite stand, wie ein langer Schatten, der bis in die Gegenwart reicht. Mit einigem Recht hat man die Anerkennung der Menschenrechte durch die Kirche im 20. Jahrhundert deshalb mit der nachträglichen Adoption eines zunächst verstoßenen unehelichen Kindes verglichen.4 Auch erwecken die Moralauffassungen der Kirche, insbesondere ihre normativen Aussagen zur Sexualethik bei vielen Zeitgenossen Zweifel, ob die ganze Tragweite des modernen Prinzips der Freiheit darin auch nur ansatzweise erahnt ist. Betrachtet man ihre amtlichen Verlautbarungen und die gängigen Antworten der Theologie auf zahlreiche Gegenwartsprobleme, so herrscht vielmehr der Eindruck vor, als begegne die Kirche der modernen Freiheitskultur insgeheim noch immer mit Argwohn. Zwar hat die Theologiegeschichte beachtliche Freiheitstheorien hervorgebracht, die bis in die Neuzeit hinein hohe öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Die Verteidigung der Willensfreiheit durch Origenes und Augustinus gegenüber dem antiken Fatalismus, die subtilen Analysen der mittelalterlichen Scholastik zum liberum arbitrium, der Disput, den 3 Frankfurt a. M. 1994. Vgl. E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987. 4 D:\75887256.doc 3 Erasmus und Luther um den unfreien Willen führten, oder die Kontroversen unter den Theologen des 17. Jahrhunderts über das Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Vorherbestimmung belegen das gedankliche Interesse, das der christliche Glaube zu allen Epochen am Verständnis der menschlichen Freiheit hatte. Ebenso ist daran zu erinnern, dass die Idee der Menschenwürde zumindest eine theologische Vorgeschichte hat und die Anfänge der modernen Autonomievorstellung bis in die Bibel zurückreichen. Der Begriff des „Sichselbst-Gesetz-Seins“ wird nämlich bereits von Paulus gebraucht, wenn er in Röm 2,14 beschreibt, warum auch die Heiden die Forderungen der Moral in ihrem Gewissen erkennen können. In der Gegenwart darf auf die bahnbrechenden Aussagen verwiesen werden, die das Zweite Vatikanische Konzil zur Würde des Gewissens macht. Diese eindrucksvollen Zeugnisse belegen, dass die christliche Theologie auf der Ebene allgemeiner anthropologisch-ethischer Bestimmungen zu allen Zeiten ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Freiheit und zur moralischen Autonomie des Menschen einnahm und bis heute einnimmt. Doch können die theologischen Bekenntnisse zur Freiheit den Eindruck nicht zerstreuen, die Kirche verdächtige das individuelle Gewissen noch im Akt seiner Anerkennung tendenziell der Beliebigkeit und sehe die Freiheitskultur der Moderne von vornherein durch eine ihr angeblich innewohnende Gefahr des moralischen Relativismus bedroht. Die Grundbotschaft des Christentums, die Rede vom Heil, von der Gnade Gottes und von der Erlösung wird deshalb in aller Regel nicht als eine Ermutigung zur Freiheit verstanden. Eher begreifen ihre Adressaten sie als eine Warnung vor den Ambivalenzen der Freiheit oder als einen möglichen Ausweg aus ihren Aporien. Daher darf man bezweifeln, ob die Kirche im Stil ihrer lehramtlichen Verkündigung und ihrer durchschnittlichen theologischen Reflexion schon verstanden hat, was es bedeutet, das Evangelium in einer Kultur zu verkünden, die auf die Vorrangstellung der Freiheit gegründet ist. Vieles deutet vielmehr darauf hin, dass sich an der besorgten Diagnose nichts geändert hat, die Papst Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ (1975) traf. Er schrieb darin: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Epoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Nr. 20). Von anderer Seite wird diese Diagnose durch einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber dem in vielfältigen Bedeutungen oszillierenden Faszinationswort „Freiheit“ unterstrichen. Lässt sich das, worauf es im Christentum vor allem ankommt, überhaupt im Paradigma der Moderne, unter dem Vorzeichen der Freiheit aussagen, ohne dass Entscheidendes ungesagt bleibt? D:\75887256.doc 4 Lautet das Grundwort der christlichen Botschaft in praktischer Hinsicht nicht Liebe statt Freiheit? Und bedarf der Freiheitsbegriff innerhalb dieser Botschaft, soll ihr Charakter als endgültige Offenbarung des biblischen Gottes unverkürzt zur Geltung kommen, nicht der Ergänzung durch den Begriff der Wahrheit? Ist das in der Moderne so missverständliche Wort „Freiheit“, wenn es zur Zentralaussage des Christentums werden soll, nicht auf nähere Bestimmungen angewiesen? Wie sonst kann ausgeschlossen werden, was Freiheit im Kontext der biblischen Erlösungsbotschaft nicht meinen soll – keine Freiheit der Beliebigkeit, keine Freiheit des Laissez faire, keine Freiheit zur Selbstdispens von moralischen Verpflichtungen, keine Freiheit auf Kosten der anderen? II. Die innere Mitte: Freiheit zur Liebe Schauen wir jedoch in das Evangelium, so fällt auf, dass Jesus der Freiheit der Menschen nicht mit Misstrauen begegnet, sondern sie überall dort wiederherstellen möchte, wo Menschen durch gesellschaftliche Missachtung oder die moralischen Vorurteile ihrer Umgebung an der Entfaltung ihrer Freiheit gehindert sind. In den Briefen des Apostels Paulus und im Johannesevangelium ist von der Freiheit in einem geradezu emphatischen Sinn die Rede: Die Freiheit erscheint dort als die innere Zielbestimmung der menschlichen Existenz. Im Galaterbrief wiederholt Paulus immer wieder die Spitzensätze seiner Freiheitsbotschaft: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Schwestern und Brüder“ – „Zur Freiheit seid ihr befreit“. Im Römerbrief spricht er von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“. Im ersten Korintherbrief verweist er auf den Ursprung der christlichen Freiheit: „Wo der Geist ist, da ist Freiheit“. Das Johannesevangelium sieht in der Freiheit das innere Ziel der Wahrheit, die in Jesus Christus in menschgewordener Gestalt erschienen ist: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Deshalb konnte der evangelische Theologe Ernst Käsemann das Evangelium und die gesamte christliche Offenbarungsbotschaft als „Ruf der Freiheit“ bezeichnen. Im Einzelnen legt Paulus die christliche Freiheit unter drei Aspekten aus: Sie ist Freiheit vom Anspruch des Gesetzes, das den Menschen dazu verurteilt, sich durch den Nachweis eigener Leistungen selbst zu rechtfertigen. Sie ist Freiheit zum Zwang zur Sünde, und sie ist Freiheit von Furcht und Todesangst. D:\75887256.doc 5 Sucht man jedoch nach einem einzigen Grundwort, in dem das gesamte paulinische Freiheitsverständnis ausgesprochen ist, so kommt dafür nur eines in Frage: Die eschatologische Freiheit, die den Getauften aus dem Tod Christi erwächst, ist die Freiheit zur Liebe. Die exegetische Diskussion darüber, in welchem Zentralgedanken das paulinische Freiheitsverständis seine systematische Mitte besitzt, lässt eine andere Antwort kaum zu. Unter den drei Schlüsselbegriffen, mit denen die paulinische Theologie der Freiheit häufig als Freiheit von der Sünde, vom Gesetz und vom Tode verstanden wird, ist keiner, der die anderen so bündeln könnte, dass diese als seine Voraussetzungen erscheinen.5 Alle drei Aspekte lassen sich jedoch als Teilkomponenten einer Freiheitskonzeption deuten, die in der Liebe ihre Erfüllung findet. Die Freiheit von der Sünde realisiert sich konkret nur im Tätigwerden der Liebe. Wenn die Getauften nicht mehr dem tötenden Buchstaben des Gesetzes unterstehen, sondern vom Geist Gottes neu geschaffen werden, so sind sie auf den Weg der Liebe gestellt, die die höchste (vgl. 1 Kor 13) unter den Charismen ist. Die Freiheit vom Tode schließlich befreit vom Gebundensein an sich selbst, das vom Einsatz für den Nächsten abhält.6 Die Freiheitslehre des Paulus erreicht ihren inneren Abschluss daher nicht in sich selbst, sondern darin, dass Paulus ihre ethischen Dimensionen als die andere Seite seiner Rechtfertigungsbotschaft aufzeigt. Indem sie als mit der dreifachen Freiheit von der Sünde, vom Gesetz und vom Tod verbunden gedacht wird, die den Gläubigen in der Taufe auf den Tod und die Auferstehung Christi geschenkt wird, ist die Liebe als eschatologische Wirklichkeit beschrieben: Sie ist nicht mehr in erster Linie moralische Forderung, sondern wird als ein Werk des Heiligen Geistes verstanden, aus dessen Kraft die Gläubigen leben. III. Die Erklärung zur religiösen Freiheit „Dignitatis humanae“ Die Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis humanae“, die vom Konzil nach heftigen Kontroversen und dramatischen verfahrensmäßigen Zuspitzungen am Vorabend seiner feierlichen Beendigung mit 2308 Ja-Stimmen verabschiedet wurde (70 Konzilsväter votierten 5 Die Dreiteilung hat sich im Anschluss an H. Schlier (vgl. Art.: eleutheros, in: ThWNT II, 492-500) und R. Bultmann (vgl. Theologie des Neuen Testaments, 71977, 332-353) weithin durchgesetzt; im angelsächsischen Sprachraum wurde sie durch A. Nygren, Commentary on Romans, London 1952, 188 einflussreich. Kritisch dagegen F.S. Jones, ‚Freiheit’ in den Briefen des Apostels Paulus, Göttingen 1987, der die Möglichkeit einer systematischen Darstellung des paulinischen Freiheitsverständnisses überhaupt bestreitet und in ihr nur ein Agglomerat von Versatzstücken sieht, die Paulus der Stoa und der kynischen Popularphilosophie entlehnt habe. 6 Es macht die Grenze der materialreichen und in ihren Einzelauslegungen höchst anregenden Studie von S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung, Göttingen 1989 aus, dass sie der Zentralstellung der Liebe innerhalb des paulinischen Freiheitsverständnisses nicht gerecht wird und dieses statt dessen in der Freiheit vom Gesetz bündeln möchte (vgl. a.a.O., 21). D:\75887256.doc 6 mit non placet und acht gaben eine ungültige Stimme ab), gilt allgemein als ein Meilenstein in dem Prozess der Annäherung an die Moderne, durch den die katholische Kirche ihre geistige und kulturelle Selbstisolation überwand. Wie durch kein anderes Dokument des jüngsten Konzils fand die katholische Kirche durch die öffentliche Anerkennung der Religionsfreiheit Anschluss an die bürgerliche Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts, die zu den wichtigsten geistigen, kulturellen und politischen Wurzeln der gegenwärtigen Welt zählt. Zwar handelt es sich bei diesem Dokument nicht wie bei „Dei verbum“, „Lumen gentium“ und „Gaudium et spes“ um eine dogmatische oder pastorale Konstitution, sondern „nur“ um eine Erklärung, doch kam ihrer Verabschiedung in buchstäblich letzter Stunde ein hoher Symbolwert für den erfolgreichen Abschluss der Konzilsberatungen insgesamt zu. Wäre die Erklärung über die Religionsfreiheit gescheitert, hätte das Zweite Vatikanum den angezielten Brückenschlag zur Moderne verfehlt. Den Konzilsvätern war die exemplarische Bedeutung ihres Ringens um ein klares Bekenntnis zur Religionsfreiheit durchaus bewusst. Auch viele zeitgenössische Beobachter sahen im Schicksal dieser Erklärung einen Testfall für den Willen des Konzils, zu einem neuen Stil der kirchlichen Lehrverkündigung in der modernen Welt zu finden. In den in der Konzilsaula geführten Debatten warnten prominente Vertreter der Majorität, bei einer Nichtverabschiedung drohe die Kirche in den Augen vieler Menschen selbst zum Skandalon zu werden, da vieles von dem, was das Konzil erhoffe, dann nicht angenommen und die Verkündigung des Evangeliums blockiert würde.7 Bischof Carlo Colombo, dessen Interventionen wegen seiner persönlichen Nähe zu Paul VI. große Beachtung fanden, sah in der Haltung des Konzils gegenüber der Religionsfreiheit die kritische Scheidelinie oder das „punctum saliens“, von dem abhänge, ob die Schicht der Gebildeten und die kulturelle Avantgarde der Zeit einen Dialog mit der Kirche noch für aussichtsreich halte oder ob es zwischen der katholischen Lehre und dem modernen Denken einen unheilbaren Riss gebe. 8 Sowohl den Befürwortern wie auch den Gegnern der Erklärung unter den Konzilsvätern war bewusst, dass ihrer feierlichen Verabschiedung eine „Signalfunktion“ dafür zukommt, ob es „der katholischen Kirche gelingen würde, das von Johannes XXIII. programmatisch 7 Vgl. die Interventionen von Kardinal Meyer, Chicago (AS III/2, 366-368) und Kardinal Ritter, St. Louis (AS IV/1, 225-226) und dazu Th. A. Weitz, Religionsfreiheit auf dem 2. Vatikanischen Konzil, St. Ottilien 1997, 61f. Die Redebeiträge der Konzilsväter werden zitiert nach: Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani Secundi, Vol. I-IV, Città del Vaticano 1970ff. (= AS). 8 AS III-II, 554. D:\75887256.doc 7 angekündigte ‚aggiornamento’ mit ganzem Herzen durchzuführen, oder ob sie den wie auch immer verstandenen Positionen des 19. Jahrhunderts verhaftet blieb“9. Eine Intervention von Kardinal Silva Henríquez aus Santiago/Chile kann schlaglichtartig verdeutlichen, in welch scharfer Tonlage die Auseinandersetzung zwischen den Konzilsvätern geführt wurde. Kardinal Ottaviani, der Leiter des Heiligen Officiums, der Vorgänger-Behörde der heutigen Glaubenskongregation, warf dem Texteentwurf vor, es sündige per excessum, wenn es auch dem irrenden Gewissen derjenigen Achtung bezeuge, die sich über die religiöse Wahrheit täuschen. Im gleichen Sinn warnte Kardinal Siri aus Genua pauschal und undifferenziert vor jedweder Konzession an den Irrtum. Er vertrat eine äußerst pessimistische Sichtweise der menschlichen Freiheit, die in dieser nichts anderes als das Einfallstor der Sünde sah. „Libertas est facultas et dat facultatem peccandi“ (= Freiheit ist die Fähigkeit und verleiht die Fähigkeit zu sündigen).10 Dagegen hob Henríquez in seiner Stellungnahme hervor: „Stärker als die Furcht vor dem Missbrauch der Freiheit müssen wir die Liebe fördern, von ihr Gebrauch zu machen.“11 Ein Widerhall dieser Aufforderung zur generellen Hochschätzung der Freiheit findet sich in Art. 8 der später verabschiedeten Erklärung, wo es als Aufgabe von Erziehung und Bildung beschrieben wird, Menschen zu formen, die „Liebhaber der echten Freiheit“ (genuinae libertatis amatores) sind.12 Mut zur Freiheit als christliches Bildungsziel statt Angst vor ihrer Inanspruchnahme durch die Menschen – so lautete das gemeinsame Motto, das die Reden vieler Konzilsväter der Majorität prägte. In der ersten großen Debatte während der dritten Sitzungsperiode hatte der damalige Erzbischof von Krakau Karol Wojtyła in seiner Intervention vom 25.9.1964 bereits in diese Richtung argumentiert. Ausgehend von dem Wort aus dem Johannes-Evangelium „die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32) fragte er nach dem reziproken Bedingungsverhältnis, in dem Freiheit und Wahrheit zueinander stehen. Einerseits ist dem Menschen die Freiheit um der Wahrheit willen gegeben, da diese nur in Freiheit erkannt werden kann. Andererseits aber ist die Wahrheit nicht die Entfremdung oder ein äußerer Octroi für die Freiheit, sondern ihre innere Erfüllung. In diesem Sinn führt der Krakauer Erzbischof aus: „Non datur libertas sine veritas.“ (= Es gibt keine Freiheit ohne Wahrheit.) Da aber die innere Beziehung der Freiheit insbesondere zur religiösen Wahrheit alles Weltliche 9 Th. A. Weitz, a.a.O., 63. Vgl. AS IV/1, 207. 11 AS IV/1, 229: „[…] potius quam metum ob libertatis abusum excolere debemus amorem pro libertatis usu.” 12 A.a.O., 447. 10 D:\75887256.doc 8 transzendiert, darf sich keine weltliche Instanz in die freie Wahrheitssuche des Menschen einmischen.13 Die Bedeutung der Erklärung „Dignitatis humanae“ kann kaum überschätzt werden. Zurecht wurde sie als der „Schlusspunkt“ des Konzils gewürdigt, der den von den Konzilspäpsten Johannes XXIII. und Paul VI. und der Mehrheit der Konzilsväter nahezu einmütig gewollten Brückenschlag zur modernen Welt vollendet.14 Durch die Anerkennung der in der Menschenwürde begründeten bürgerlichen Freiheitsrechte und die politisch-ethische Legitimation des liberalen Verfassungsstaates befreit sich die katholische Kirche aus der Gefangenschaft einer splendid isolation gegenüber der Freiheitskultur der modernen Welt, in die sie im 19. Jahrhundert durch ihren kompromisslosen Abwehrkampf geraten war. Die Konzilserklärung über die religiöse Freiheit schuf die Grundlage dafür, dass die katholische Kirche heute in der internationalen Politik und Diplomatie als weltweit agierende Anwältin der Menschenrechte anerkannt ist, die wie keine andere Institution neben den Vereinten Nationen für die Freiheit des Glaubens und des Gewissens, für die Unverletzlichkeit von Leib und Leben jedes Menschen und für die Respektierung der bürgerlichen Freiheitsrechte eintritt. Am Schluss soll ein Ausblick auf zwei Themenkreise stehen, die auf dem Konzil nicht befriedigend gelöst werden konnten oder unerledigt bleiben mussten: auf das Problem der religiösen Toleranz und auf die Frage der religiösen Freiheit in der Kirche. Da Toleranz als Achtung vor dem anderen immer auch mit den Grundhaltungen der Geduld und der Demut zu tun hat, befähigt erst so verstandene Toleranz auch zu einem friedlichen konflikthaften Miteinander und zum Ausharren in den Spannungen und Gegensätzen, die sich durch Unterdrückung und Gewalt nicht lösen lassen. Denn der religiöse Pluralismus ist nicht nur, wie es ein schwärmerisch-naives Verständnis des Begriffes annimmt, Ausdruck des Reichtums religiöser Vielfalt, sondern unvermeidlich auch eine Last, die zahlreiche Beeinträchtigungen und Leiden zur Folge haben kann. Im Extremfall können die Spannungen und Antagonismen, die mit dem religiösen Pluralismus in vielen Ländern einhergehen, zur Eruption von Hass und Gewalt bis hin zur Verfolgung, Bedrohung und physischen Vgl. AS III/2, 530-532 und die Zusammenfassung bei W. Kasper, Wahrheit und Freiheit: die „Erklärung über die Religionsfreiheit“ des II. Vatikanischen Konzils. Heidelberg 1988 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1988, 4), 26f. 14 R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum 11. Vatikanischen Konzil (1789-1965), Paderborn/München 2005 (Politikund kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 25), 480f. 13 D:\75887256.doc 9 Vernichtung Andersgläubiger führen. Die Proklamation des Rechts auf religiöse Freiheit ohne das dazugehörige Ethos der Toleranz kann die Verfolgung und Unterdrückung religiöser Minderheiten nicht verhindern, wie die wachsende Zahl von Ländern zeigt, in denen religiöse Minderheiten unterdrückt werden. Eine Fortschreibung der Konzilserklärung über die religiöse Freiheit, die auch das Problem der Toleranz einbezieht, könnte nicht nur den weltweiten interreligiösen Dialog befruchten, sondern den Blick der Weltgemeinschaft auf das Schicksal der verfolgten Christen richten helfen, die unter allen Glaubensgemeinschaften weltweit inzwischen am meisten unter den gewalttätigen Folgen religiöser Intoleranz zu leiden haben. Wenn das Konzil das Recht auf die religiöse Freiheit als ein Recht aller Menschen anerkennt, das in der Würde der Person gründet, muss dieses Recht auch innerhalb der Kirche, im Verhältnis der Gläubigen zu den kirchlichen Amtsträgern und im Verhältnis der Getauften untereinander gelten. Im Unterschied zur staatlichen Gemeinschaft und zur säkularen Zivilgesellschaft kann Freiheit in der Kirche aber nicht Freiheit vom Glauben, sondern nur Freiheit zur eigenen Glaubensbetätigung entsprechend dem eigenen Gewissen bedeuten. Die Freiheit, den eigenen Glauben in der Kirche zu artikulieren und gemeinsam mit anderen zu betätigen, schließt allerdings das Recht zur Suche nach einer authentischen persönlichen Glaubensgestalt, das Recht zum Austausch mit anderen und, da dem Glauben auch eine Pflicht zur intellektuellen Redlichkeit korrespondiert, unter Umständen das Recht zum Zweifel ein. Da es – um ein bekanntes Wort von Papst Benedikt XVI. aufzugreifen – so viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt, ist auch innerhalb der Kirche von einer Pluralität von Glaubensstilen, Spiritualitätsformen und theologischen Denkansätzen auszugehen. Ebenso sind Spannungen, Gegensätze und Konflikte Phänomene, die dem Wesen der Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht von vornherein widersprechen; wohl aber wäre es mit dem Glauben unvereinbar, derartige Konflikte und Spannungen durch die Androhung oder den Einsatz von Zwangsmitteln lösen zu wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe aller in der Kirche, also der Bischöfe, der Theologen und der Gläubigen, die gemeinsame Freiheit aller zu fördern, zu achten und im Konfliktfall zu schützen, gemäß dem alten Grundsatz, den Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache auf dem Konzil zitierte: Im Notwendigen Einheit, in Zweifelsfragen Freiheit und in allem die Liebe (in necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas).15 Wo in der Kirche Angst, Duckmäusertum, äußere Anpassung 15 Acta et documenta Concilio Oecumenico Vaticano II apparando, Series I (Antepraeparatoria) Vol. I,35 unter Hinweis auf den Grundsatz J. H. Newmans, dass Kontroversen die Einheit der Kirche nicht verletzen, sondern ein besseres Verständnis ihres Glaubens fördern. D:\75887256.doc 10 und gegenseitiges Misstrauen herrschen, bleibt eine zentrale Forderung des Konzils, die sich an alle Staaten, Religionsgemeinschaften und Individuen richtet, in ihr selbst uneingelöst. D:\75887256.doc 11