Vorlesung 21

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Prof. Dr. Cornelia Helfferich
EFH, Wintersemester 2006/07
GRUNDLAGEN DER QUALITATIVEN SOZIALFORSCHUNG
- SEMINAR FÜR STUDIERENDE IM 7. SEMESTER –
Die Lehrveranstaltung besteht aus zwei zweistündigen Vorlesungseinheiten und zwölf
zweistündigen Gruppensitzungen. In der Vorlesung wird ein erster allgemeiner Zugang als
Grundlage eröffnet. In den Gruppen wird dann weiteres Wissen zu Erhebungs- und
Auswertungsverfahren sowie die technischen Fähigkeiten mit Spezialisierungen vermittelt,
die notwendig sind, damit Studierende den Regeln der Methodik entsprechend Interviews
durchführen können.
2. EINFÜHRUNGSVORLESUNG 22.10.2007
 Zur Gestaltung von Interviews:
o Offenheit und Strukturierung
o Nähe und Fremdheit
 Formen von qualitativen Verfahren (Einzelinterviews, ExpertInnenInterviews, Gruppendiskussionen)
 Abgrenzung von Alltagskommunikation und Beratungsgespräch
Die Vorlesung stützt sich auf Helfferich, C. (2006): Die Qualität qualitativer Daten.
Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften, 2. Auflage
-
die Kapitel 4.1 und 4.2 zu Fremdheit und Nähe
-
Kapitel 1.2 und 1.3 zu Interviewformen und zur Abgrenzung gegenüber Alltagsund Beratungsgesprächen
Diese Vorlesung knüpft an die erste einführende Vorlesung an, und zwar an die drei
Leitgedanken qualitativer Forschung::
-
Verstehensleistung: Übersetzung einer Wahrnehmung in mein Bezugssystem; in der
qualitativen Forschung gilt es aber, die Filterwirkung des eigenen Bezugssystems und
Vorverständnisses gering zu halten und bereit zu sein, es zu überschreiten und das
Verständnis um Neues zu erweitern (hermeneutische Spirale)
-
Offenheit als Grundprinzip qualitativer Forschung bedeutete gerade das Zurückstellen
des eigenen Vorverständnisses,
-
Die Annahme von Fremdheit bedeutete eine Haltung, sich auf eine möglicherweise
sehr fremdes Bezugssystem bei dem Gegenüber einzulassen, und beinhaltet die
Ahnung, dass das Verstehen Arbeit und Anstrengung bedeutet. Es gilt ja schließlich,
die fremde, andersgeartete Sinngebung von ihrem eigenen Fokus und in ihrer eigenen
Logik zu begreifen und sie nicht an meine Logik anzuschließen. Fremdheit in der
qualitativen Forschung ist verbunden mit Respekt vor anderem Sinn als meinem.
-
Das dritte Prinzip war die methodische Kontrolle der Subjektivität und des
Fremdverstehens. Subjektivität ist konstitutiv für qualitative Verfahren; um als
wissenschaftliches verfahren zu gelten, darf dies aber nicht Beliebigkeit bedeuten.
1
Daher sind die Wege des Verstehens nachvollziehbar zu machen und die Subjektivität
bewusst zu machen und zu reflektieren.
Interviews und überhaupt alle Formen von qualitativen Methoden bilden nicht „die Wahrheit“
ab, sondern Kommunikation. Es geht um Sinn, um gemeinsam geteilten Sinn, um einen
symbolischen Ausdruck, um Verstehensprozesse. Dass Kommunikation abgebildet wird, gilt
vielleicht am wenigsten für die teilnehmende Beobachtung, aber auch hier sind die
Forschenden Teil der Situation. In dem Maß, wie sie eben nicht ganz verschwinden können,
sind sie ein Teil der gemeinsam hervorgebrachten Daten.
Während alle bisherigen Charakterisierungen sich in der Allgemeinheit auf alle qualitativen
Verfahren bezogen, soll es im Folgenden nur noch um qualitative Interviews gehen. Selbst in
diesem begrenzten Bereich ist die Vielfalt an Interviewverfahren, Varianten der Gestaltung
der Interviewdurchführung und Interviewauswertungsstrategien groß. Diese Formen lassen
sich gerade danach unterscheiden, wie sie mit den Fragen der Offenheit und der
Fremdheitsannahme umgehen. „Unterschiedlicher Umgang mit Offenheit“ bedeutet vor allem
ein unterschiedliches Ausmaß an Vorstrukturierung der Interviewsituation, „unterschiedlicher
Umgang mit Fremdheit“ bedeutet, dass mehr oder weniger Nähe in der Interviewsituation
hergestellt oder vorausgesetzt wird. Mit diesen Unterscheidungen kann man sich Übersicht in
der Vielfalt der Interviewformen verschaffen. Im Folgenden wird es daher vor allem um diese
beiden Aspekte gehen.
Dass es eine Vielfalt von Interviewmöglichkeiten gibt, heißt auch, dass ich eine Variante
auswählen muss. Welche Variante im Umgang mit Offenheit und Fremdheit geeignet ist,
hängt von meiner Fragestellung und meinem Forschungsinteresse ab (Näheres dazu in den
Seminaren). Ganz allgemein gilt:

Soviel Offenheit wie möglich, so viel Strukturierung wie nötig.
Offenheit und Strukturierung widersprechen sich, man kann also nur das Eine auf
Kosten des Anderen haben. Manchmal kann es sinnvoll sein - eben abhängig von der
Fragestellung -, mehr zu strukturieren, manchmal entspricht der Fragestellung mehr
Offenheit (s.u.).

So viel Fremdheit wie nötig und so viel Nähe wie nötig. Fremdheit und Nähe können
zusammengehen, daher ist bei beiden Aspekten die Frage: Was ist nötig (von meiner
Fragestellung her)?
1. Zur Gestaltung von Interviews:
1.1Soviel Offenheit wie möglich, so viel Strukturierung wie nötig
Offenheit ein zentrales Grundprinzip qualitativer Forschung wird bezogen auf die Erhebung
von Daten (Auch Texte gelten in der Forschung als Daten, Offenheit bei der Interpretation
wird in den Seminaren eingeübt) wird in zweierlei Verständnis gebraucht - im Sinn von
offenen fragen und im Sinn von Offenheit der Interviews:
(1) Fragen können in unterschiedlichem Maß Antworten vorgeben oder
Antwortmöglichkeiten einschränken. Offene Fragen werden von geschlossenen Fragen
unterschieden. Geschlossene Fragen können mit einem oder zwei Worten beantwortet
werden, offene Fragen verlangen Explikationen oder Erzählungen. „Wie ging es Dir?“ ist eine
offene Frage, „Und ging es Dir gut?“ oder „Ging es Dir gut oder schlecht?“ sind geschlossene
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Fragen. In einem standardisierten Fragebogen können auch offene Fragen eingebracht
werden. Dann werden entsprechend einige Zeilen freigelassen, um eine frei formulierte
Antwort einzutragen.
(2) Offene Interviews werden unterschieden von Interviews, die die Äußerungsmöglichkeiten
auf eine andere Weise einschränken, nämlich indem die Fragen und Strukturierungen
vorgeben. Das offenste Interviews in einer radikalen Form ist ein Interview, das nur eine
Erzählaufforderung stellt „Erzähle mir, wie-…“ und dann nicht weiter interveniert. Auf der
anderen Seite des Extrems steht ein Interview, in dem eine Liste von Fragen vorgegeben ist,
die in der Reihenfolge und im Wortlaut festgelegt ist. Die Unterscheidung von Offenheit und
Strukturierung kann man an einer bildlichen Vorstellung verdeutlichen: Zwischen zwei
Menschen, die kommunizieren, die z.B. ein Interview führen, gibt es einen
„Gesprächsraum“. Bei einem ganz offenen Interview, das nur mit einer Erzählaufforderung
beginnt und nichts weiter vorgibt, ist der Gesprächsraum ganz leer und beliebig gestaltbar und
mit Äußerungen zu füllen, wenn keine Struktur und keine Definitionen, Ziele, Themen,
Meinungen etc. vorgeben wird. Die Person, die interviewt wird, kann den Raum selbst
möblieren und einrichten. Bei einem stark strukturierten Interview sind in dem Raum Wege in
Form der „Führung“ des Interviews anhand einer Frageliste vorgegeben, und ebenso
Aufenthaltsorte in Form von Themen. Der oder die Interviewte kann sich eingeengt und von
den Fragen eingekesselt fühlen. Wird der Gesprächsraum von der einen Person strukturiert,
dann kann die andere nicht gleichfalls strukturieren oder es gibt einen Kampf um die
Besetzung des Gesprächsraumes.
Personen reagieren sehr unterschiedlich auf einen „leeren“ Gesprächsraum, wenn ihnen
angeboten wird, sie könnten ihn nach eigenem Belieben gestalten. Manchen Befragten ist der
Raum zu leer und sie bitten darum, dass ihnen der Interviewer oder die Interviewerin mehr
vorgibt, was sie sagen sollen. Andere genießen es, endlich einen freien Raum zu haben und
sich ohne Einschränkungen produzieren zu können.
Narratives
Interview
teilstrukturiertes
Interview
Stegreiferzählu
ng
Maximale
Offenheit,
vorgegebene
Strukturierung,
Keine
Nachfrage
Stark
strukturiertes
Interview
Keine
Antwortvorgaben,
aber maximale
Fragevorgaben
Nachfragen
Offenheit
Strukturierung
Unterscheidung qualitativer Interviews nach Strukturierungs- bzw. Offenheitsgrad
-
Eckpunkt narratives Interview
Maximaler Verzicht auf Steuerung und Vorgaben: Bitte um eine ununterbrochene
Stegreiferzählung; Nachfragen werden, wenn überhaupt, erst bei einem zweiten
Termin gestellt
-
„Mittelfeld“: Leitfaden-, teilstandardisierte oder teilnarratives Interviews
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mittlerer Grad an Steuerung: InterviewerIn bringt Themen ein, erzeugt immer wieder
neue Teilerzählungen; Frageformulierungen dem Interviewten anpassbar, spontane
Fragen sind möglich
-
Eckpunkt stark strukturierte und standardisierte Leitfadeninterviews
Der Leitfaden enthält zahlreiche offene Fragen, die in einer vorgegebenen Reihenfolge
und in vorgegebenen Formulierungen gestellt werden
Strukturierungen haben den Nachteil, dass sie Eingriffe darstellen und damit das Prinzip
der Offenheit verletzen, und den Vorteil, dass sie eine größere Vergleichbarkeit der
Interviews zur Folge haben, denn nun kommen die gleichen Themen in allen Interviews vor.
Vorgaben können auch besser das Forschungsinteresse der Forschenden einbringen –
allerdings darf dieses nicht zu eng sein und muss neben der Neugier auf das, was erzählt wird,
die Neugier auf das, wie erzählt wird, einbeziehen.
Strukturierungen erleichtern zudem auch die Auswertung. Eine der größten
Herausforderungen der qualitativen Forschung ist die Strukturierung des Materials, das so
unterschiedlich ist, wie Menschen unterschiedlich sind. Je offener die Erhebung ist, je
weniger also in der Interviewsituation strukturiert wird, desto mehr muss bei der
anschließenden Auswertung das Material „gebändigt“ werden.
Die Wahl des Strukturierungsgrades und des Vorgehens ist jeweils so zu treffen, dass es dem
Thema der Untersuchung und den befragten angemessen ist. Wichtig ist es in allen Fällen, ein
Feld zu finden und anzubieten, das die Befragten dazu animieren kann, eine freie Erzählung
zu produzieren. Meist werden Strukturierungen durch die Erarbeitung eines Leitfadens
vorgenommen; wie das geht, wird in den einzelnen Seminaren gezeigt
Die meisten Interviews bei Diplomarbeiten bewegen sich im „Mittelfeld“. In diesem
Mittelfeld kann eine weitere Unterscheidung getroffen werden, die sich nach dem Gegenstand
richtet.
1.2So viel Nähe wie nötig und so viel Fremdheit wie nötig
Nähe und Fremdheit zwischen interviewender und interviewter Person beeinflussen das, was
erzählt wird in mehrfacher Hinsicht. Es hat einen großen Einfluss, ob Befragte und Fragende
zwei sehr ähnliche Menschen sind, also gleiches Alter, gleiche Bildung, gleiches Geschlecht
haben, oder ob sie sich stark unterscheiden. Texte in Interviews werden immer auf eine
Person hin produziert, eine imaginäre oder eine reale Person (siehe Übungen im Seminar).
Am Beispiel: Sie schreiben einen Brief über den Semesterbeginn
a) an einen Freund, der auch Soziale Arbeit studiert, aber in Nürnberg,
b) an einen Onkel, der in Australien lebt,
c) als Teil einer Aufgabe bei einem Test im Rahmen von Bewerbungen für ein
Stipendium einer Studienstiftung,
d) an eine Freundin, die in Freiburg Medizin studiert,
e) an Ihre 8jährige Nichte.
Wem erzählen Sie was? Was ist ihr Ziel, was wollen Sie vermitteln? Was müssen Sie wem
erzählen, um etwas vermitteln zu können? Wo müssen Sie ausholen, welche
Anknüpfungspunkte können Sie voraussetzen?
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Sie können sich einfach vorstellen, dass sie denselben Sachverhalt anders darstellen, wenn Sie
als Interviewte von einer Person befragt werden, die sich in dem Bereich, über den Sie
sprechen, selbst gut auskennt. Man muss dann nicht alles erklären, um verstanden zu werden.
Umgekehrt holen Sie weiter aus, wenn Sie Ihre Erfahrungen jemandem Fremden zu erzählen.
In den Interviews kommen immer wieder Passagen vor, in denen der oder die Befragte
eruiert, ob der oder die Interviewende verstanden hat oder ob die Erklärung ausführlicher sein
muss. Ein Beispiel ist ein Interview-Anfang aus einem Gelsenkirchener Interview mit einem
etwa 50jährigen Arbeiter aus dem Männer-Projekt:
Forschungsbeispiel: Helfferich 2005, S. 111
Textbeispiel: Nähe erübrigt Explikation
„In meiner Kindheit? Ja, das war so eine Sache – ich bin Sohn eines Bergmanns, der
Zweitgeborene, ich habe noch einen Bruder …“
In der Interviewauswertung berichtete der Interviewer, der selbst im Ruhrgebiet
aufgewachsen ist, der Befragte habe ihn an dieser Stelle „Sohn eines Bergmanns“ fragend
angesehen. Der Interviewer hatte daraufhin genickt – er hatte den Gesichtsausdruck als
Vergewisserung verstanden, ob er mit dieser Aussage „Sohn eines Bergmanns“ etwas
anfangen könne. Die gemeinsame Kenntnis, was es bedeutet, in einer Bergmanns-Familie
aufgewachsen zu sein, ersparte eine Explikation, was das genau bedeutet.
Fremdheit erfordert Explikation
Gerade in den Interviews mit den Älteren findet sich auffallend häufig der Hinweis, früher sei
alles anders gewesen, was gegenüber den jüngeren Interviewern einen Explikationsbedarf
erzeugt.
Wenn ich mit einer Person Gemeinsamkeiten teile, erwarte ich häufig auch, dass sie mich
besser versteht als andere, mit denen ich keinen gemeinsamen Erfahrungshintergrund habe.
In gleichem Zug aber erübrigt seine Explikation, da man gemeinsame Vorannahmen teilt. Das
wiederum kann ein Nachteil sein, weil Selbstverständlichkeiten, die aber im Interviewkontext
wichtig sein könnten, nicht in eine Textform gebracht werden und damit nicht in die
Auswertung als Material eingehen können.
Nähe und Gemeinsamkeiten werden nicht in jedem Fall als wohltuend empfunden. Wenn
zwei Frauen mit Behinderung sich begegnen, ist damit auch eine Vergleichsebene zwischen
beiden gegeben, die Problem aufwirft. Gerade weil beide Frauen mit Behinderung sind,
können Konkurrenzen oder Rivalitäten oder das Schicksal der einen kann die andere
bedrohen.
Forschungsbeispiel Helfferich 2005, S. 113
Forschungsbeispiel:
Eine an Multiple Sklerose erkrankte Frau wurde in dem Projekt LIVE von einer Interviewerin
interviewt, die gehbehindert war und im Rollstuhl saß. Die erkrankte Befragte hatte große
Angst davor, „im Rollstuhl zu landen“; das Benutzen von Gehhilfen war für sie bereits ein
massives Zugeständnis an die unberechenbare Erkrankung – die Interviewerin, die
selbstverständlich Gehhilfen in Anspruch nahm, personifizierte und aktualisierte diese
Ängste. Im Interview ließ sich interpretieren, dass die Befragte gegenläufig den Kampf gegen
sich selbst und gegen jede Abhängigkeit betonte.
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Aus dem Protokoll der Auswertung eines anderen Interviews mit den Interviewerinnen:
Interview mit einer Frau mit derselben Behinderung, wie die Interviewerin sie hatte: „Wenn
ich halt mit Menschen zu tun hab, die dieselbe Behinderung haben, dann ist das wie mich im
Spiegel anzugucken, ich seh mich dann noch mal anders… ich bin dann verletzlicher und mir
macht das dann einfach noch mal was anderes aus. Und ich finde, das ist auch so ein Schutz,
nicht auf diese Ebene zu gehen.“. (Eiermann/Häußler/Helfferich 1999, 150)
Gemeinsamkeiten können dazu verführen, vorschnell anzunehmen, man wüsste bereits,
was der andere meint – das wiederum führt dazu, dass der Sinn (des
Fragenden/Interpretierenden) in den Text hinein gelegt wird und nicht aus ihm heraus
gewonnen wird. Anders formuliert: Gemeinsamkeit kann dazu führen, dass man nicht mehr
richtig zuhört, sich keine Mühe mehr mit dem Verstehen gibt.
Aus diesem Grund hat in der qualitativen Forschung die „Fremdheitsannahme“ eine große
Bedeutung. Sie beinhaltet die grundsätzliche Einstellung, dass mein Gegenüber mir fremd ist,
dass ich Mühe darauf verwenden muss, genau zuzuhören und zu verstehen. Vielleicht muss
ich dazu auch aus meinen gewohnten Denkweisen heraustreten, um verstehen zu können.
Diese Fremdheitsunterstellung beinhaltet den Respekt, dass mein gegenüber anders
denkt und handelt, als ich das an seiner oder ihrer Stelle tun würde.
So kann man die Frage diskutieren, wer wen besser verstehen kann: ein Mann ohne
Alkoholprobleme Frauen bei den Anonymen Alkoholikern? Oder eine Frau ohne
Alkoholprobleme? Oder ein ebenfalls mit Alkoholproblemen vertrauter Mann, der noch
trinkt? Oder eine, die abstinent lebt und auch bei den Anonymen Alkoholikern ist? Wie sollte
sich ein männlicher Interviewer verhalten, der ein Interview unter anderem zur Betreuung von
Kleinkindern durchführt, oder eine weibliche Interviewerin, die Männer zu
Partnerschaftserfahren befragt?
2 Formen von Interviews und Gruppendiskussionen
Alle empirischen Verfahren, standardisierte ebenso wie qualitative, bestehen zentral aus
mindestens zwei Schritten: aus der Erhebung des Materials (der Daten) und aus der
Auswertung des Materials. Zunächst soll es um die unterschiedlichen Wege gehen,
qualitatives Material zu erzeugen, die allesamt unter den Oberbegriff „qualitative Forschung“
fallen.
Schwerpunktmäßig wird auf die Varianten qualitativer Verfahren eingegangen, die sich für
Diplomarbeiten am besten eignen. Zuerst werden Gruppendiskussionen erwähnt, weil diese in
den Übungsgruppen nicht mehr vorkommen. Anschließend geht es um Einzelinterviews mit
ExpertInnen und mit Laien. Für die Einzelinterviews werden kurze Hinweise für die
Auswertung gegeben.
Für weitere Formen qualitativer Forschung wird auf die Literatur hingewiesen. Am Ende wird
dann auf die wichtigsten Titel in der Literatur hingewiesen.
Es gibt prinzipiell zwei Interessen, die mit Interviews verbunden werden:
- den Wunsch, bestimmte Informationen zu konkreten Fakten zu bekommen
- den Wunsch, zu verstehen, wie „die Welt im Kopf“ eines Menschen oder einer Gruppe
aussieht.
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Der große Anwendungsbereich qualitativer Interviews ist der zweite Aspekt. Für den ersten
kann es manchmal besser sein, zum Interview einen kleinen Fragebogen mitzunehmen und
Fakten getrennt zu erheben, um das Interview nicht zur Abfrage zu machen. Aber man kann
durchaus auch beides kombinieren. Wichtig ist nur, für sich selbst eine Frage zu finden: Was
will ich denn? Weiß ich eigentlich schon, was ich hören will? Wie tief will ich gehen? Reicht
es mir nicht, wenn ich das, was die Befragten sagen, als Fakten nehmen kann (z.B. bei
Experteninterviews).
Die Fragen: Was will ich, kann mehr in die eine oder in die andere Richtung beantwortet
werden. Die Palette unterschiedlicher Interviewformen bietet eine Auswahl entsprechender
Verfahren, die für unterschiedliche Zwecke geeignet sind.
2.1 Übersicht über die unterschiedlichen Verfahren
Alle qualitativen Verfahren haben als Gemeinsamkeiten die in der ersten Vorlesung
aufgeführten Leitideen: Es handelt sich um einen vorrangig deutenden und verstehenden
Zugang zu einer sozialen Wirklichkeit, es handelt sich um ein offenes, reflexives und
methodisch kontrolliertes Verfahren. Am häufigsten sind Interviews die Erhebungsform, dann
besteht das Material aus mündlichen und anschließend verschriftlichten Erzählungen oder
Gesprächen.
Mitunter findet man als Material auch Beobachtungsprotokolle, Filme oder Zeichnungen. Das
Material muss nur geeignet sein, sich „lesen“ und „verstehen“ zu lassen: Bei der Analyse geht
es jeweils darum, die Symbole und die Verbindungen zwischen den Symbolen zu
dechiffrieren und den zu Grunde liegenden Sinn, der darin repräsentiert ist, heraus zu
arbeiten.
Nicht in jedem Fall wird das Material eigens und neu erhoben. Man kann auch bereits
vorhandenes oder für einen anderen Zweck produziertes Material auswerten. Das ist der Fall,
wenn Briefe oder Werbespots qualitativ untersucht werden. Das entsprechende Verfahren
heißt Dokumentenanalyse. Es können auch für andere Zwecke aufgezeichnete Gespräche
ausgewertet werden – sofern das ethisch vertretbar ist. So gibt es spannende Auswertung über
Eingangs- und Abschlusspassagen von Telefongesprächen.
Ein gesonderter Fall, auf den hier ebenfalls nicht näher eingegangen wird, ist die
teilnehmende Beobachtung von Situationen. Meist wird vorher ein Beobachtungsraster erstellt
und die Beobachtungen protokolliert. Auch hier geht es darum, den Sinn der beobachteten
Praktiken und Arrangements zu interpretieren.
Bleiben wir in dem Bereich, der für Diplomarbeiten am praktikabelsten ist, also bei den
Verfahren, bei denen Personen antworten, erzählen, sprechen, diskutieren. Selbst wenn man
das Spektrum qualitativer Erhebungsverfahren auf diese Weise eingrenzt, gibt es noch eine
Vielzahl von Varianten.

Es können Interviews zu unterschiedlichen Themen geführt werden.

Es können einzelne Personen oder Gruppen befragt werden.

Es können Laien oder Professionelle befragt werden.

Es kann eine Liste von Fragen, auf die offen geantwortet werden soll, eingesetzt werden,
oder es kann das ganze Interview darin bestehen, dass die Zielperson eine Geschichte
erzählt, ohne unterbrochen zu werden.
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
Es kann vorher festgelegt werden, wie stark sich die Interviewenden in den
Interviewablauf einbringen und wie sehr sie steuern. Die Interviews können stärker
psychologisch oder psychoanalytisch oder linguistisch ausgerichtet sein.

Die Interviews können verschiedenen Forschungsinteressen dienen, z.B. ein Bild einer
historischen Epoche aus biografischen Erzählungen zu gewinnen („oral history“),
Alltagswissen oder subjektive Konzepte zu rekonstruieren oder psychische Bewältigungsund Beziehungsmuster zu analysieren.
(Ausführlicher: Helfferich 2005, 15f).
Die drei wichtigsten Verfahren, die sich gut als Methoden im Rahmen von Diplomarbeiten
eignen, sind:
- Qualitative Einzelinterviews mit Betroffenen/Laien
- leitfadengestützt/ problemzentriert
- narrativ
- Qualitative Einzelinterviews mit ExpertInnen/Professionellen
- Gruppendiskussionsverfahren
2.2 Gruppendiskussionen
Gruppendiskussionsverfahren haben eine andere Intention und eine andere Struktur. Ziel der
Verfahren ist es, eine kollektive Meinungsbildung einzufangen, d.h. den Austausch von
Sätzen zwischen den Gruppenmitgliedern, das Finden oder formulieren eines Konsens unter
den Gruppenmitgliedern oder auch Streit, Ausschluss von Mitgliedern mit einer
„abweichenden“ Meinung etc. Die Gruppendiskussion bildet beides ab: Bestimmte inhaltliche
Aussagen und den Prozess, wie in der Gruppe diese Meinung zustand kam. Damit ist eine
Gruppendiskussion mehr als eine ökonomische Form, mehrere Einzelmeinungen zu erheben
(Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile; vg. Durkheim – Soziologie im 1.
Semester!)
Gruppendiskussionen werden am ergiebigsten mit Gruppen geführt, die auch jenseits der
Erhebungssituation eine Gruppe bilden bzw. sich untereinander kennen. Die kollektive
Meinung bildet sich vor dem gemeinsamen Hintergrund der Gruppe heraus; wenn die
Gruppenmitglieder keinen gemeinsamen Hintergrund teilen, kann auch diese kollektive
Meinung nicht erfasst werden. Zudem sind die Diskussionen unter solchen Personen, die sich
kennen, lebhafter und weniger zurückhaltend-vorsichtig wie unter einander Unbekannten.
Da es in den Übungsgruppen um Einzelinterviews geht werde ich noch kurz skizzieren, wie
Gruppendiskussionen ablaufen und ansonsten auf die Literatur verweisen:
-
Die Gruppendiskussion sollte möglichst selbstläufig sein. Stärker noch als bei anderen
qualitativen Verfahren besteht die Kunst darin, dass sich die Diskussionsleitung
möglichst weitgehend zurückhält. Es sollte möglichst wenig strukturiert werden.
-
Statt Fragen gibt es Stimuli, die die Diskussion anregen sollen.
-
In der Regel greift der Gruppenleiter nicht in die Interaktionsdynamik ein: wenn ein
Teilnehmer sich zurückhält, wird das auch akzeptiert und er wird nicht extra
aufgefordert, sich zu äußern.
Die Erhebung selbst ist wenig aufwändig: Es genügt, einige gut überlegte (z.B. provokative)
Stimuli, die geeignet sind, tatsächlich eine Diskussion anzuregen, vorzubereiten. Die
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Interpretation ist hier aufwändiger, weil der Diskussionsverlauf ebenso wie die Inhalte in die
Auswertung eingeht.
Gruppendiskussionen sind besonders geeignet, wenn man auf soziale Kontraste aus ist, d.h.
wenn man z.B. Gymnasiastinnen mit Hauptschülerinnen, Ältere mit Jüngeren, Studenten an
der Uni und an der FH miteinander vergleichen will. Bei diesen Fragestellungen können
durchaus die individuellen Besonderheiten, die bei den Einzelinterviews im Vordergrund
stehen, in den Hintergrund treten und in der Kontrastierung der Gruppendiskussion der
Gymnasiasten mit der Gruppendiskussion der Hauptschüler kommt die Unterschiedlichkeit
der sozialen Situation der Gruppen besser zum Tragen. Da zu einer Gruppendiskussion gleich
mehrere Personen beitragen, hat man einen anderen Ausgangspunkt für Schlussfolgerungen
und Verallgemeinerungen als wenn je zwei oder drei Einzelinterviews einmal mit
Hauptschülern und einmal mit Gymnasiasten durchgeführt worden wären.
Wir haben Gruppendiskussionen in einer Untersuchung zu wohnungslosen Frauen
angewendet. Uns interessierte, wie wohnungslose Frauen die Stadt sehen und im Alltag in der
Stadt überleben. Der Grund für die Wahl von Gruppendiskussionen lag darin, dass
Einzelinterviews zu schnell sehr persönlich werden. Wir wollten den Frauen zugestehen, dass
sie sich auch in der Gruppe mit ihren sehr persönlichen Geschichten „verstecken“ können. Es
reicht uns, so haben wir formuliert, dass wir ein Gruppenbild oder einen Gruppenkonsens
bekommen, wie die Stadt gesehen wird.
Literatur zu Gruppendiskussionen
Loos, P., Schneider, B. (2001): Das Gruppendiskussionsverfahren. Opladen: Leske+Budrich
(insbesondere auch zur Durchführung)
Bohnsack, R. (1993): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis
qualitativer Forschung. Opladen: Leske+Budrich (ausführlich zur Auswertung)
Flick, U. (1996): Qualitative Forschung: Theorien, Methoden, Anwendung in Psychologie und
Sozialwissenschaften. Reinbek: Rowohlt, Kap. 10
2.3 Einzelinterviews ExpertInnen
Eine relativ einfach durchzuführende und einfach auszuwertende Interviewform sind
ExpertInnen-Interviews. Hierbei geht es weniger um die Einzelperson in ihrer Individualität,
sondern um Professionelle oder Expertinnen als Vertreterinnen ihrer Profession.
Professionelles Wissen kann Handlungswissen, Erklärungswissen oder Begründungwissen
(ethisches Wissen) sein. Es interessiert vorrangig, wie dieses Wissen sich in professionellen
Feldern mit ihren eigenen Erfahrungshorizonten herausbildet,, und weniger die persönlichen
Färbungen. Professionelles Wissen sollte mehr als die autobiografische Erzählung unabhängig
vom Befragungskontext sein: Wird eine Professionelle gefragt, welche Voraussetzungen sie
z.B. für eine Methadonsubstitution als gegeben ansehen würde, dann sollte sie dies am
Morgen im Büro ähnlich beantworten, wie am Abend in der Kneipe.
Das bedeutet auch, dass zum einen Strukturierungen und Vorgaben – und damit die
Einschränkung der Offenheit – vertretbarer sind, und zum anderen dass bei der Auswertung
weniger „in die Tiefe des Textes“ interpretiert werden muss, sondern der „Sinn“ kann
weitgehend durch Zusammenfassungen von Inhalten erfasst werden. ExpertInnen-Interviews
sind dort ein gutes Verfahren, wo kaum Material zu einer Frage vorliegt. Das professionelle
Wissen kann wie aus einem Buch aus der Quelle des Interviews gewonnen werden.
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Es bieten sich dieselben Möglichkeiten, Themen als Ausgangspunkt genommen wird, um das
Wissen abzufragen. Professionelle können ihre Berufsbiografie schildern oder
Routineabläufe. Üblicher sind aber zum einen die Abfrage bestimmter professioneller
Erfahrungen und Einschätzungen als konkrete Gegenstände, zu denen die Meinung eingeholt
wird, oder Vorgaben im Sinne von Fallvignetten, die kommentiert werden.
--. Auf Einzelinterviews mit Betroffenen und mit ExpertInnen wird in den Übungsgruppen
ausführlich eingegangen --Literatur zu Expertendiskussionen
Bogner, Alexander; Merz, Wolfgang (2005): Das theoriegenerierende Experteninterview. Erkenntnisinteresse,
Wissensformen, Interaktion. In: Alexander Boger, Beate Littig, Wolfgang Merz (Hg.): Das Experteninterview.
Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: VS Verlag, 2. Auflage, 33-70
2.4 Einzelinterviews Nicht-Professionelle
Eines der wichtigsten und interessantesten Verfahren sind qualitative Einzelinterviews – d.h.
Interviews mit Einzelpersonen - mit Menschen, die entsprechend dem Forschungsthema
ausgewählt wurden (für Diplomarbeiten variiert die Anzahl der Interviews zwischen einem als
Einzelfallstudie und zehn; letztes ist in der Regel nur im Rahmen von Forschungsprojekten
möglich. Eine gute Größe ist vier bis sechs; Näheres dazu in den Übungen)
Unterscheidung qualitativer Interviews nach Gegenstand oder Thema
-
Biografisches Interview
Erzählung eines (Ausschnittes aus einer) Biografie; Bsp.: Drogen“karriere“,
Krankheitsverlauf, Arbeitsbiografie, Wohnbiografie
-
Fokussierte oder problemzentriertes Interview
Sichtweisen zu einem bestimmten Fokus oder Gegenstand, Einstellungen
-
Dilemma- oder Fokus-Interview
Vorgabe einer „Vignette“, z.B. eines Statements oder eines Fallausschnitts und Bitte
um Sichtweise und Begründung der Sichtweise
Es gibt zwei bekannte Verfahren, die sich beide gut für Diplomarbeiten eignen, die beide in
dem „Mittelfeld“ angesiedelt sind und die in der Literatur öfter zu finden sind und auf die
entsprechend in den Übungsgruppen eingegangen wird: Das problemzentrierte und das
teilnarrative Interview. Beim problemzentrierten Interview „arbeiten“ Interviewer und
Befragter eher gemeinsam an etwas. Das heißt z.B., dass die Befragten um einen Bericht
gebeten werden, dann wird nachgehakt, wenn dieser Bericht nicht mit dem Vorwissen
übereinstimmt. Insbesondere wo Widersprüche auftauchen, werden die Befragten darauf
aufmerksam gemacht und um eine Aufklärung oder Korrektur gebeten. Dahinter steht die
Annahme, dass man an einer zunehmend besseren Version „arbeiten“ kann und dass die
Interviewenden alle Strategien nützen sollen, um diese bessere Version voran zu bringen.
Dazu können sie auch Suggestivfragen stellen, Provozieren, Vorgaben machen etc. Die
Interaktion zwischen interviewender und antwortender Person ist stärker dialogisch. Bei
dieser Form von Interviews kann ein Leitfaden verwendet werden, das Interview kann aber
auch stärker als nicht stark vorstrukturiertes Gespräch geführt werden.
nicht das „gemeinsam an etwas Arbeiten“,
sondern das „Erzählen lassen, Stehen lassen“. Die Erzählperson wird aufgefordert, etwas zu
Das (teil-)narrative Interview hat als Grundkonstellation
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erzählen, meist einen Ausschnitt aus ihrer Lebensgeschichte (weil hier gut am Stück und ohen
weitere Stützung erzählt werden kann). Sie hat sozusagen das alleinige „Rederecht“ und die
Konstellation ist weniger einem Dialog, sondern einem Monolog nachgestellt. Die Rollen
sind asymmetrischer verteilt; der Interviewer oder die Interviewerin stützt vor allem die
Erzählung und bringt sich selbst aber weniger stark ein als im problemzentrierten Interview.
Diese Zurückhaltung gibt der Erzählperson Raum dafür, ihre eigene Version zu entfalten, die
so, wie sie ist, akzeptiert wird. Die Zurückhaltung und der Respekt fremden und nicht auf
Anhieb verstehbaren Deutungen gegenüber dominiert.
Welche der beiden Formen – oder ob eine andere, dritte Form – gewählt wird, hängt allein
davon ab, was denn untersucht werden soll. Lässt sich das Thema gut erzählen und geht es
darum, Bewältigungsstrategien und auch widersprüchliche Sichtweisen zu erfassen, ist das
teilnarrative Interview zu bevorzugen. Soll die Sichtweise der Befragten mehr in einer
dialogischen Auseinandersetzung geschärft werden, so sind problemzentrierte Interviews der
beste Weg. Auf Details und auf die Auswertungsverfahren wird ausführlich in dem
begleitenden Seminaren eingegangen.
3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Qualitative Interviews - Alltagsgespräch
und qualitativen Interviews - Beratungsgespräch
Qualitative Interviews sind weder Alltags- noch Beratungsgespräche. Doch haben die
einzelnen Interviewformen eine unterschiedlich große Affinität zu diesen anderen
Kommunikationsformen:
Abgrenzung von Alltagskommunikation
Selbst wenn in der Alltagskommunikation eine Person eine Auskunftsperson ist und die
andere die Auskunft erhalten möchte, unterscheidet sich der Kontext dieses Gesprächs von
den Kontexten, in denen qualitative Interviews stattfinden, samt den jeweils geltenden
Regelsystemen auf mehreren Ebene:
o Die Situationsdefinitionen „Alltagsbegegnung“ und „sozialwissenschaftliches Interview“
unterscheiden sich – sowohl aus der Perspektive der Erzählperson, als auch aus der
Perspektive der interviewenden Person. Die Interviewenden verhalten sich, durch das
Forschungsinteresse geleitet, notwendigerweise strategisch; in der Alltagskommunikation
ist das nicht der Fall.
o Im Interview werden Regeln der Alltagskommunikation suspendiert, z.B. die
Reziprozitätsnorm, nach der beide zum Gespräch beitragen, oder das Verdikt des
Ausfragens (vgl. Hopf 1978, 107). Das Zurückstellen des eigenen Deutungshorizontes
und Bezugssystems wie beim narrativen Interview ist in der Alltagskommunikation nicht
üblich - es wäre auch eher verwirrend und entspricht nicht der Erwartung, dass sich auch
die Zuhörenden mit der Präsentation des eigenen Bezugssystems als authentische
Personen einbringen.
o Im Alltag greifen kommunizierende Menschen in der Regel auf gemeinsame
Vorerfahrungen oder Kontextinformationen zurück. Alltagskommunikation kann dadurch
unvollständiger sein und muss weniger explizieren („Du weißt schon, was ich meine“Codes). Im Alltag sind durchaus suggestive Frageformen oder Angebote von Deutungen
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üblich. Sie erfüllen in der Alltagskommunikation wichtige Funktionen, können aber,
unkontrolliert eingebracht, im Rahmen qualitativer Interviews dysfunktional wirken.
o In der Alltagskommunikation wird in der Regel naiv vorausgesetzt, dass die Person
gegenüber „die Wahrheit“ sagt, also die Wirklichkeit angemessen abbildet. Widersprüche
verlangen Aufklärung. In bestimmten Typen von qualitativen Interviews wird auf eine
solche Aufklärung verzichtet.
Abgrenzung von Beratungsgesprächen
Gemeinsamkeiten:
-
bestehen darin, dass Klienten zu einem „freien Ausdruck“ ermutigt werden, der Therapeut
nicht beurteilt oder kritisiert, nur aufgreift, was bereits vom Klienten zum Ausdruck
gebracht wurde, und sich im sprachlichen und kognitiven Horizont des Klienten bewegt
-
die konstruktivistische Grundannahme, dass es keine objektive Realität, sondern nur die
subjektive Wirklichkeit der Klienten gibt, und die große Bedeutung, die dem Zuhören,
dem Verstehen und einer wertschätzenden und nicht wertenden Akzeptanz zukommt.
-
die Prozesshaftigkeit: Das Interview/Gespräch wird als ein Prozess einer „(gemeinsamen)
Arbeit“ verstanden, in deren Verlauf „zunehmend Gefühle und Erfahrungen bewusst
werden, die in der Vergangenheit nicht zugänglich oder nur verzerrt wahrnehmbar
waren“.
Unterschiede:
o In der Beratung sind professionelle Zieldefinitionen im Sinne von gemeinsam festgelegten
Veränderungszielen vorgegeben wie z.B. Selbst- oder Beziehungsklärung, Hilfe bei der
Verarbeitung belastender Ereignisse oder beim Treffen von Entscheidungen; das Ziel bei
einem Interview ist das Erzeugen von Texten für ein wissenschaftliches Interesse. Bei
Beratung dient die Gesprächs-“Führung“ der Erreichung der Ziele durch ein Hinführen
der Klienten Schritt für Schritt. Eine diesbezügliche Zurückhaltung der Beratenden wäre
für Klienten mehr als verwirrend.
o Die Situationsdefinitionen sind unterschiedlich und damit der Auftrag (Heilung und Hilfe
zur Selbstklärung versus Sozialforschung), das Setting (Vereinbarungen, zeitlicher
Rahmen, Bezahlung), die Motivation der Erzählperson (Hilfe für eigene Leidensdruck
oder Selbstdarstellung im Dienste der Wissenschaft). Insbesondere ist Beratung in der
Regel ein Prozess, bei dem in einer bzw. in der folgenden Sitzung das aufgearbeitet
werden kann, was emotional aufgerührt worden ist. Bei einem Interview ist dies nicht der
Fall. Weder ist das Setting darauf angelegt, noch haben Interviewende in der Regel
Beratungs-Kompetenzen.
o In der Beratung werden die Äußerungen der Klienten im Rahmen des professionellen
Bezugssystems der Beratenden interpretiert; bei einigen qualitativen Interviewformen
stellen die Interviewenden ihr Bezugssystem, den Grundannahmen folgend, zurück.
o Die affektive Ebene steht bei Beratung im Vordergrund; es geht um ein „einfühlendes
Verstehen“. Die Gefühle der Klienten sind aufzugreifen und verbalisierend zu „spiegeln“,
emotionale Entlastung und Stützung sind wichtig. Insbesondere funktioniert
klientenzentrierte Gesprächsführung wie Therapie auf der Basis einer personalen
Beziehung, bei der sich die Beratenden authentisch und „echt“ als Personen einbringen. In
qualitativen Interviews kann es das Erzählverhalten in einer nicht gewünschten Weise
beeinflussen, wenn Interviewende sich mit ihren Gefühlen „authentisch“ einbringen,
während umgekehrt die sachliche Situationsdefinition „Dies ist ein Interview und ich bin
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hier als Interviewerin“ im Rahmen der klientenzentrierten Gesprächsführung als
„Verstecken hinter einer Rolle“ nicht dem professionellen Standard der „Echtheit“
entspricht.
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