Universiteit Utrecht 2013-2014 Bachelorarbeit Betreuung: Dr. E. W. van der Knaap Hamlet: Forever Deutsch Die verschiedenen Interpretationen und Rollen von Hamlet in der deutschen Geschichte in der Nachkriegszeit bis zur Wende. Dick Sleeuwenhoek 08.03.1992 Leiden Tel: +316-51052530 Studentnummer: 4196341 Inhaltsangabe Einleitung 3 1. Vorgeschichte 4 2. Das Shakespearetheater in der Nachkriegszeit (1945-1961) 8 2.1 Die politischen und gesellschaftlichen Änderungen 8 in Deutschland von 1945 - 1961 Stunde Null und Neubeginn 2.2 Shakespeare in der DDR (1949 - 1961) 9 2.3 Shakespeare in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1961 17 3. Von der Trennung bis zur Wiedervereinigung 21 3.1 Die Deutsche Shakespearegesellschaft in Deutschland, 21 in einer sich ändernden Gesellschaft (1949-1989) 3.1.1. Bochum versus Weimar 23 3.2 Shakespeare in der DDR 1961-1989 24 3.3 Shakespeare in der Bundesrepublik Deutschland 1961-1989 31 Schlussbetrachtung 37 Bibliographie 40 2 Einleitung Obwohl Shakespeares Tragödien in England geschrieben worden und dort entstanden sind, nimmt Shakespeare eine wichtige Stelle im kulturellen Leben von Deutschland ein. Shakespeare wird in Deutschland neben Goethe und Schiller als »dritten deutschen Klassiker« gesehen. In Deutschland entsteht im 18. Jahrhundert ein wahrer Shakespeare-Kultus. Shakespeares Tragödien werden in Deutschland nicht ausschließlich gelesen, im Theater aufgeführt und im wissenschaftlichen Sinne analysiert, sondern gerade auch für kulturelle und politische Zwecke benutzt. Das gilt namentlich für die Tragödie Hamlet, das Shakespearestück, das in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert weitaus am meisten aufgeführt worden ist. In dieser Bachelorarbeit wird vor allem analysiert, wie die Dramenfigur Hamlet in den verschiedenen Perioden der deutschen Geschichte in der Nachkriegszeit bis zur Wende interpretiert wird und welche Bedeutung die Figur und das Drama Hamlet1 in der deutschen Geschichte gehabt hat. Dabei wird von der übergreifenden Hypothese ausgegangen, dass die Interpretation von Hamlet immer eine Beziehung zu der jeweiligen politischen Situation der verschiedenen »Deutschländer« im 20. Jahrhundert hat. Diese Hypothese wird in den verschiedenen Kapiteln ausgearbeitet und näher erläutert. Im ersten Kapitel wird ein kurzer Forschungsüberblick über diese übergreifende Hypothese gegeben. In den anderen Kapiteln wird auch noch von anderen Hypothesen ausgegangen, nämlich, dass es in der Nachkriegszeit bis zum Mauerbau in der DDR und Bundesrepublik Deutschland überwiegend eine Kontinuität mit dem klassischen Erbe gibt, so dass es in dieser Zeit nur politische Interpretationen von Hamlet gibt. In der Periode 1961-1989 gibt es einen Bruch mit dem klassischen Erbe, so dass auch andere als politische Interpretationen von Hamlet möglich werden. 1 Wenn in dieser Arbeit die Rede von Hamlet ist, dann werden entweder die Dramenfigur sowie das Drama oder nur die Dramenfigur gemeint. Wenn Hamlet kursiv steht, dann wird ausschließlich das Drama gemeint. 3 1. Vorgeschichte Vor 1740 war Shakespeare in Deutschland fast nicht bekannt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Shakespeare populär. Vor allem Hamlet gehörte zu den meist beliebten Dramen. Das Stück wurde an erster Stelle am 16. Januar 1773 in Wien aufgeführt. J.W. von Goethe war vor allem sehr begeistert von Hamlet. In seinem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796) ist Hamlet ein Zweifler, der durch Selbstzweifel und Grübeln nicht handeln kann. Er ist eine Art sensibler Intellektueller, aber er ist durch seine Unsicherheit völlig gelähmt und politisch gesehen ohnmächtig etwas zu ändern. Verschiedene Philosophen, wie Schlegel und Hegel, teilten die Meinung Goethes. Die ShakespeareÜbersetzung von Schlegel-Tieck erschien in 1871/72 und sie ist für lange Zeit die führende Übersetzung gewesen. Das Misslingen Hamlets wurde aus seiner poetischen und philosophischen Natur erklärt und auch gerechtfertigt. Goethes Bild von Hamlet hat die Interpretation Hamlets mehr als ein Jahrhundert beeinflusst. »Er hatte ein Schicksals versöhnliches Hamlet-Bild.«2 Als Kritik an diesem romantischen Hamlet-Bild als nicht/handelnde Person wird u.a. gesagt, dass Hamlet manchmal doch handlungsfähig ist und nicht so unentschlossen ist, wie das romantische Bild sehen lässt. Genannte Beispiele sind: die mutige und entschlossene Haltung, die Hamlet zeigt bei der Verfolgung des Geistes, die emotionale und wenig rationelle Haltung, die er hat, wenn er Polonius tötet, die Weise wie er mit Laertes duelliert und die kalkulierte Weise, mit der Rosenkranz und Guldenstern getötet werden.3 Im frühen 19. Jahrhundert bekam diese Hamlet-Interpretation, in der Welt der nationalpolitischen Burschenschaften und der liberalen und jungen Elite des Vormärz, viel Kritik.4 Heinrich Heine, Georg Gottfried Gervinus und Hermann Ferdinand Freiligrath holten den romantischen Hamlet auf eigener Weise von seinem Sockel herunter. Heine fand Hamlet einen Schwächling. Er deutete das Drama Hamlet als eine Art Jugendliteratur, die man entwachsen soll, bevor man erwachsene Werke wie Mephisto und Don Quijote verstehen kann.5 Gervinus' Meinung nach ist Hamlet zur Verkörperung der misslungenen Revolution von 1848 geworden.6 In Freiligraths Gedicht »Hamlet ist Deutschland« wird die Selbstkritik 2 Günther, Frank: Sein oder nicht Sein - Was ist hier die Frage? Vom Abbild der Zeiten im Spiegel Hamlet. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1988. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: 1988, S. 25-43, hier S. 30. 3 Böck Christine/ Neubauer, Martin: William Shakespeare. Hamlet. Inhalt-Hintergrund-Interpretation. München: Mentor Verlag 2010, S. 44. 4 Pfister, Manfred: Hamlet und der deutsche Geist. Die Geschichte einer politischen Interpretation. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1992. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: 1992, S. 13-38, hier S. 20. 5 Ebd. S. 21. 6 Ebd. S. 22. 4 noch deutlicher hervorgebracht. Sein Gedicht zeigt, dass »Deutschland ist Hamlet« nicht mehr Deutschlands Größe ist. Hamlet ist ein Symbol des erbärmlichen politischen Zustandes geworden: Doch darf ich schelten, alter Träumer? /Bin ich ja selbst ein Stück von dir/ Du ew'ger Zauderer und Säumer.7 Die Hamlet-Interpretationen im Wilhelminischen Zeitalter änderten sich mit den politischen Auffassungen dieser Zeit. Die dramatisierende Gleichschaltung »Hamlet ist Deutschland«, gehörte ganz und gar nicht zum steigenden preußischen Selbstbewusstsein. Das Bild eines Helden, der tragisch durch seine eigene Ohnmacht und den Mangel an Tatkraft scheiterte, musste verschwinden. Shakespeares Hamlet wurde wiederum in einem politischen Rahmen untergebracht: Laertes ist Frankreich und Hamlet ist Deutschland.8 Die Zukunft Deutschlands sollte ein anderes Ende als Hamlet haben. Von Fallersleben betonte dieses noch stärker. In einem Gedicht aus 1877, zu Ehren von Feldmarschall Graf von Moltke, lobte er ihn, dass von Moltke Deutschland »enthamletisiert« habe. »Du hast das Volk, das nur dachte,/ Zum Tatenvolk gemacht«. 9 Einer der großen Hamlet-Interpreten dieser Zeit war Josef Kainz. Er war ein berühmter Schauspieler und sein Hamlet ist ein intelligenter, aktiver, fest entschlossener Prinz, der bestimmt nicht wahnsinnig, melancholisch oder hysterisch ist.10 Sowohl die Bühne wie auch der Spielraum der Inszenierungen waren traditionell. Die Rolle und die Interpretation des Hauptdarstellers gehörten eng zusammen. Nach Kainz' Meinung bestimmt der Hauptdarsteller selbst die Interpretation der Rolle und nicht der Regisseur, die Inszenierung oder die Kleidung. 11 Kainz hat einen großen Einfluss auf spätere Hamlet-Interpreten, unter anderem Max Reinhardt, gehabt. Später, ab 1960, gab es Regisseure, zum Beispiel Fritz Kortner, die ganz anderer Meinung waren. Der Übergang zum 20. Jahrhundert führte zu verschiedenen Änderungen in der Welt der Künste. Eine Kontroverse zwischen den Traditionalisten und den Aktivisten handelte sich um die Frage, ob das Theater Realismus oder gerade Vergeistigung anbieten soll. Oft wurde der Begriff »Kulturtheater« benutzt. Die Traditionalisten möchten die Masse eigentlich in die national überlieferte Kultur einführen.12 Die meisten Deutschen in dieser Zeit betrachteten die 7 Conrady, Karl Otto von: Der Große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte. Düsseldorf: Patmos Verlag 2008, S. 465. 8 Mit diesem Bild wurde auf die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im Anfang der sechziger Jahre angespielt. 9 Pfister, S. 24. 10 Eine Auffassung von Sigmund Freud. 11 Hortmann, Wilhelm: Shakespeare und das deutsche Theater im XX. Jahrhundert. Berlin: Henschel Verlag 2001, S. 25. 12 Mit dem Begriff »Kulturtheater« machte man deutlich, dass das Theater einen wichtigen Beitrag liefern sollte. 5 Kultur also als den Kern der nationalen Identität. Das Ausbrechen des Ersten Weltkriegs sorgte für eine enorme Erschütterung. Deutschland wurde durch das Ausland nicht mehr als Land der Kultur, sondern als Land der Barbarei gesehen. Von 1900-1914 spielte die politische Auffassung von Hamlet kaum eine Rolle. Die Aktivisten wollten die Wirklichkeit darstellen. Deswegen wollten sie proletarische und aktuelle Stücke spielen.13 Die Kontroverse zwischen den Traditionalisten und Aktivisten wurde nie geklärt. Max Reinhardt erneuerte das Deutsche Theater und die Inszenierungen von Shakespeare, darunter auch Hamlet. Jede Inszenierung war für Reinhardt ein Experiment. Er variierte mit der Dekoration der Bühne, Kleidung, Licht, Tanz usw. Für Reinhardt war das Medium die Botschaft. Dieses Medium sollte dafür sorgen, dass Menschen Lust auf Theater bekamen.14 Seine Inszenierungen wurden Illusionstheater genannt. Sein Hamlet hatte keine tiefere symbolische Schicht, denn für Reinhardt war der Mensch Hamlet der Kern seiner Inszenierung. Wichtig ist, dass Reinhardt sich, im Gegensatz zu vielen Regisseuren in seiner Zeit, weit von der Politik entfernte. Mit seiner Arbeit »verteidigte er das Recht des Theaters auf Befreiung vom Zwang zur Ideologie«.15 Der Erste Weltkrieg sorgte weltweit für eine politische, eine wirtschaftliche und vor allem für eine moralische Änderung der Gesellschaft. Trotz der schwierigen Zeit brach von 1919 bis zum 1929 für die deutschen Theater, inhaltlich betrachtet, eine gute Zeit an. Es entstanden neue Stile und Formen des Theatermachens, wie Kubismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Futurismus und Expressionismus. Jede illusionistische Wiedergabe der Wirklichkeit wurde abgelehnt. Anstatt dessen kam zum Beispiel Abstraktion. Man suchte das »Wesen der Dinge«. Der Kampf zwischen den Traditionalisten und den Aktivisten wurde immer deutlicher und härter. Vor allem die Nazis kämpften gegen neue Kunstströmungen, die die Nazis »Bolschewisierung und Entartung der Kultur« nannten. Im Theater ging diese Diskussion über die Frage, ob Shakespeare erneuert werden musste oder ob er seine historische Gestalt behalten musste. Hortmann nennt drei verschiedene Auffassungen: die expressionistische16, die ästhetische17 und die erzieherisch-bildende18. Leopold Jeßner, der seit 1919 Intendant des Berliner Staatlichen Schauspieltheaters war, erfüllte eine wichtige Rolle. Durch ihn wurde Theater zu Politik. Auf das tägliche Leben 13 Hortmann, S. 30. Ebd. S. 49. »Was mir vorschwebt ist ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt«. 15 Ebd. S. 57. 16 Leopold Jeßner war davon der große Vertreter. 17 Hortmann, S. 69. Die Vertreter dieser Strömung werden auch »gemäßigt Moderne« genannt. Sie verbinden das Ästhetische mit den neuen Kunststilen. Fehling, Berger und Falckenberg vertreten diese Auffassung. 18 Ebd. S. 69. Shakespeares Dramen wurden gesehen als Bildungstheater. Die Anhänger dieser Auffassung sahen sich als Hüter der Tradition. 14 6 bezogen sein, bezeichnete er als Politik und Theater ist damit Politik, weil es sich dem Alltag nicht entziehen kann.19 Theater soll »den unverhüllten Tatbestand der Dinge« in Angriff nehmen. Keine Illusion, sondern die harte Wirklichkeit. Das Werk selbst soll die Kerngedanken deutlich auf die Bühne bringen.20 In seinen Inszenierungen gibt es keinen Raum für historischen Ballast, Details und eine realistische Wiedergabe der Zeit und des Ortes. Seine Shakespeare-Dramen beschränkte Jeßner auf die zentralen Themen. Bei Hamlet war für ihn nicht mehr der »Seelenzustand« Hamlets, sondern die Verderbtheit des Staatswesens wichtig.21 Die Fokussierung auf die Kernaussage des Stückes führte natürlich zu radikalen Erneuerungen für die Spielweise und das Bühnenbild. Alle dramaturgischen Mittel wurden benutzt. Außer von den Traditionalisten gab es vor allem von Herbert Ihering Kritik.22 Seiner Meinung nach beschäftigten Brecht und Piscator sich tiefer und wesentlicher als Jeßner mit der Problematik rundum »Mensch und Gesellschaft«. Nur der epische Stil konnte nämlich laut Brecht »den wirklichen, nämlich den philosophischen Gehalt Shakespeares zur Wirkung bringen«.23 Brecht stand durch Shakespeares Dramen für ein Problem. Sein politisches Ideal und seine Gedanken über »Solidarität« sollten miteinander korrespondieren. In Shakespeares Dramen erschienen aber vor allem Individuen. Sie waren weit von Solidaritätsgedanken entfernt. Ihm war wichtig, welchen »Materialwert« die Shakespeare-Dramen für ihn hatten. Brecht versuchte die Heldenfigur als Teil der Gesellschaft zu sehen, also nicht als Individuum.24 Mit der Machtergreifung der NSDAP 1933 brach auch für die Welt der Kunst eine andere Zeit an. Die Gleichschaltungsmaßnahmen der Nazis hatten auch für das Theater große Folgen. Goebbels benutzte das Theater für seine Propagandamaschine. Er stellte u.a. einen »Reichsdramaturgen« und Zensor an. Junge Nazi-Forscher nazifizierten Shakespeare gleichsam. Hamlet wurde als germanisches Kulturgut betrachtet und sein Charakter wurde, der Rassenlehre zufolge, als typisch nordisch gesehen. Die Nazi-Ideologie gab keinen Raum für Diversität und Eigenheit in der Theaterwelt. Die Nazi-Shakespeare-Forscher wollten vor allem klarmachen, dass Shakespeare zu Deutschland gehörte und dass andere Länder eigentlich nur durch die Deutschen Shakespeare kennengelernt hatten. Überall in Deutschland fanden ab 1933 Hamlet-Aufführungen statt. Aber das Berliner Schauhaus war der Ort, wo man Hamlet sehen sollte. Gustaf Gründgens war dort der große 19 Hortmann, S. 73. Dafür wurde das Wort Theaterpolitik benutzt. Ebd. S. 75. Jeßner nannte es selber den »Regiegedanke«. 21 Ebd. S. 76. 22 In seinem Essay »Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod«. 23 Hortmann, S. 98. 24 Ebd. S. 101. 20 7 Hamlet-Interpret. Gründgens wollte keinen romantischen, melancholischen Hamlet, sondern einen energischen, aktiven Hamlet, der bereit war ohne Angst vorzugehen.25 Seine Interpretation war die aktivste von allen aktiven Hamlets. Man kann schwer einschätzen, wie Gründgens Spiel von den Nazis wirklich beurteilt wurde. Jedenfalls ist deutlich, dass die Nazis seine Hamlet-Interpretation gut für ihre eigenen rassistischen, politischen Zwecke benutzen konnten. 2. Das Shakespearetheater in der Nachkriegszeit (1945-1961) 2.1 Die politischen und gesellschaftlichen Änderungen in Deutschland von 1945 - 1961 Stunde Null und Neubeginn Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Neuorientierung der Deutschen: »Einerseits gab es in Deutschland nach diesem Krieg materielle Schaden und viele Kriegsverletzte aber andererseits gab es auch enorme psychische Probleme wie Pessimismus, Angst, Erschütterung und totale moralische Verzweiflung an allem.«26 Man kann gut verstehen, dass man in Deutschland gerade mit diesen psychischen Fragen das Theaterstück Hamlet sehen wollte, weil auch Hamlet sich mit solchen Fragen und Gefühlen auseinandersetzt. Aber die Deutschen befassten sich in sehr unterschiedlicher Weise mit der Schuldfrage. Auch in den Theatern reagierte das deutsche Publikum immer heftig und verschieden auf die Schuldfrage: »Kümmere sich jeder um seine Eigene Schuld,« war oft die Antwort. 27 Gleichzeitig mit allen politischen und wirtschaftlichen Fragen spielte nämlich noch eine ganz andere Frage: Die Frage nach der Möglichkeit des kulturellen Lebens. Könnte es in Deutschland nach dieser katastrophalen Vergangenheit noch Kunst und Kultur geben? Könnte Deutschland noch eine Kulturnation werden? »Es ist erstaunlich, wie schnell das Theater wieder auflebte«28, in der Ostzone aber schneller als in den westlichen Zonen. Tatsächlich war das kulturelle Leben in Deutschland nach dem Krieg stark verteilt, wenn nicht zersplittert oder sogar zertrümmert. Die meisten Künstler erlebten die Stunde Null unterschiedlich und die Gegensätze wurden auch in der Welt der Künste, der Literatur, der Philosophie und des Theaters stark gespürt.29 Sehr bald nach Kriegsende gab es tiefe Spalten und Risse, die nicht oder schwer zu überbrücken waren. Es gab nämlich Künstler, die im Krieg in Deutschland geblieben waren, 25 Solche aktiven Hamlets hat es schon in Inszenierungen in der Provinz gegeben. Hortmann, S.170. Boterman, Frits: Cultuur als macht. Cultuurgeschiedenis van Duitsland 1800-heden. Utrecht u.a.: Uitgeverij de Arbeiderpers 2013, S. 556. 27 Glaser, Hermann: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart. Bonn: BpB 2003 3, S. 47. 28 Hortmann, S. 192. 29 Boterman, S. 576-578. 26 8 die sich der Nazi-Herrschaft angepasst hatten oder im Inneren Exil in Deutschland geblieben waren. Nach dem Krieg kehrten auch viele Künstler aus dem Exil nach Deutschland zurück, unter ihnen zum Beispiel Bertolt Brecht. Und es gab Künstler, die nicht mehr nach Deutschland zurückkommen wollten. Alle beteiligten sich an der »Diskussion über das Erbe und die Pflege deutscher kultureller Tradition.«30 In den folgenden Paragraphen wird analysiert, wie die Wirkung, Aufnahme und Pflege von Shakespeares Dramen - und vor allem von Hamlet - sich in der DDR und der Bundesrepublik bis zum Mauerbau vollzogen hat. 2.2 Shakespeare in der DDR (1949 - 1961) Schon 1944 waren viele Theater geschlossen worden und wurden viele Theatergebäude in den letzten Monaten des Krieges beschädigt oder zertrümmert.31 »Es war deswegen sehr erstaunlich, wie schnell das Theater wieder auflebte«32, in nahezu allen deutschen Städten, in der Ostzone in Berlin aber schneller als in den westlichen Zonen von Berlin. Es gab einen so genannten »Theaterrausch« in der Ostzone.33 Die Produktionen waren aber nicht revolutionär und die Personalsituation war sehr schwierig. Manche Akteure waren im Krieg gestorben oder starben kurz nach 1945. »Andere wurden von den Entnazifizierungsbehörden mit Spielverboten« belegt.34 In Berlin war vor allem »der Kulturattaché bei der sowjetischen Botschaft Oberst Dymschitz« für das Theater verantwortlich und er sorgte dafür, dass in der Ostzone Berlins wieder schnell Theater gespielt werden konnte. Schon zwei Wochen nach dem Kriegsende konnte nämlich schon das Stück Raub der Saberinnen von Schönthan im Renaissancetheater aufgeführt werden.35 Die Säle waren provisorisch eingerichtet und es wurde in den Kulissen und in der Kleidung, die man nach dem Krieg gefunden und gerettet hatte, gespielt.36 »Hier war Theater auf das absolute Minimum beschränkt, doch es erfüllte ein tief empfundenes Bedürfnis.«37 In den Jahrbüchern der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft werden auch zahllose Aufführungen kurz nach dem Krieg erwähnt. »Das Theater hat in der DDR direkt nach der Einrichtung der sowjetischen Besatzungszone ein besonderen Stellenwert gehabt für den Staat DDR und seine Bewohner.«38 30 Ledebur, Ruth Freifrau von: Deutsche Shakespeare-Rezeption seit 1945. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft 1974, S. 2. 31 Glaser, S. 114. 32 Hortmann, S. 192. 33 Glaser, S. 115. 34 Hortmann, S. 194. 35 Ebd. S. 192. 36 Ebd. S.193. 37 Ebd. S. 193. 38 Irmer, Thomas/ Schmidt, Matthias: Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR. Ein kurzer Abriß mit längeren Interviews. Bergmann, Wolfgang (Hg.). Bonn: BpB 2006, S. 7. 9 Die Menschen kamen aus ihren Trümmern und Ruinen ins Theater, weil sie Sehnsucht nach Kultur hatten. Das war eine Art kultureller Nachholbedarf nach der Gleichschaltungspolitik, unter der die Kultur während der Nazi-Herrschaft von 1933 bis 1945 gelitten hatte.39 Neben Theater gab es auch Kabarett- und Musikaufführungen. Zahllose neue Zeitschriften und Zeitungen erschienen.40 Im Osten gab es eine andere Entwicklung des Theaterlebens als im Westen. Ostdeutschland sollte in Europa nämlich ein Land werden, das nach sowjetischem Beispiel den realen, echten Sozialismus darstellte. Bei der Verbreitung der sozialistischen Ideologie spielte die Kultur eine sehr wichtige Rolle. Drei Themen bildeten den Kern dieses Denkens: Antifaschismus, Marxismus und Humanismus.41 Antifaschismus wurde nach Glasers Meinung aber vor allem als magische Formel benutzt, den Kampf gegen den Klassenfein zu rechtfertigen.42 In allen kulturellen Äußerungen, wie in Filmen, Theateraufführungen und Vorlesungen wurde eine antifaschistische Einstellung angepriesen und gefragt. Immer wieder wurde dargestellt, welche Unterschiede es zwischen der DDR und dem kapitalistischen Westen gab. Man gab Beispiele, dass in der DDR viel kräftiger gegen die ehemaligen Faschisten vorgegangen wurde als in der Bundesrepublik.43 In der DDR war man einerseits fest davon überzeugt, dass immer gegen den Faschismus gekämpft werden musste. Der Kapitalismus aber war andererseits kein großer Feind gewesen. Es war also nicht sehr leicht, die DDR-Bürger von der Ideologie des Marxismus zu überzeugen.44 Die marxistische Ideologie kam mit den Argumenten, dass der sogenannte spätbürgerliche Kapitalismus bald zusammenbrechen würde, aber er sei noch immer eine große Gefahr für die Länder der dritten Welt. Der Kapitalismus wäre die letzte Phase vor der proletarischen Revolution. Nur der Marxismus-Leninismus wäre in der Lage, den Kapitalismus zu stoppen. Nur der sozialistische Staat könne für Gerechtigkeit und Frieden sorgen. Mit diesen Parolen und Maßnahmen wurden in der DDR von oben der Klassenkampf verordnet, um das Ideal des Arbeiter- und Bauernstaates zu realisieren. Zum Beispiel wurden große Ländereien zuerst mit der Parole »Junkerland in Bauernhand« aufgeteilt und bald danach unter Zwang kollektiviert.45 Der atheistische Humanismus lieferte eine gewisse Definition und Grundregeln für das Verhalten der Menschen, als Bürger in der DDR. Alle Meinungen und Ideen wurden gemessen mit der Messlatte des atheistischen/ sozialistischen 39 Boterman, S. 559. Glaser, S. 156, S. 261 und Boterman, S. 559. 41 Hortmann, S. 376. 42 Glaser, S. 50. 43 Hortmann, S. 377. 44 Ebd. S. 377. 45 Ebd. S. 377. 40 10 Humanismus, damit man feststellen konnte, ob die Ideen zu dem vorgeschriebenen humanistisch-sozialistischen Denken der SED und der DDR passten.46 Namentlich galt das für kulturelle Ideen und Aufführungen. In der DDR stellte man eine Art sozialistischen Kanon auf. Damit mussten alle Künstler in Einklang sein, wodurch man sich schützte gegen westliche, anti-sozialistische Kulturäußerungen.47 Die kommunistische Partei gab immer wieder Beispiele um den kapitalistischen Westen anzuschwärzen: Im Westen gebe es nur Armut und Verbrechen. Die Reichen herrschen über die Armen und nutzen sie aus. Man wollte in der DDR dagegen die kulturellen Traditionen der eigenen Nation säubern und »aus dem blutgetränkten Lehm des alten preußischen Adams einen neuen sozialistischen Menschen schaffen.«48 Der Sozialismus aber würde das deutsche kulturelle Erbe wieder frei von allem Übel machen. Damit würden die Menschen wieder frei werden, soziale Gleichheit und mehr Gerechtigkeit bekommen. Diese Parteiparole wurde schon früh und schnell verbreitet. Kritik dazu war nicht erwünscht. In den Schulen wurde das Parteilied: »Die Partei, die Partei hat immer Recht« laut mitgesungen. Der Mensch sollte von der Kinderkrippe bis zum Grabe ständig betreut, belehrt, indoktriniert werden. Der Schriftsteller Rainer Kunze sagte das in seinem Gedicht Dialektik sehr zutreffend wie folgt: »Unwissende/ damit ihr unwissend bleibt/ werden wir euch/ schulen«.49 Das neue kulturelle Leben in Ostdeutschland wurde von den sowjetischen Kulturoffizieren Dymschitz, Bersarin und Fradkin begleitet. Sie kannten sich in der deutschen Literatur und Philosophie aus und konnten damit in gewissem Maße die künstlerische Intelligenz überzeugen.50 Aber es gab auch viel Widersprüche zwischen sozialistischer Theorie und Praxis: Fabrikarbeiter wurden ausgebeutet, Bauern und Handwerker mussten ihre Selbständigkeit aufgeben, das Bürgertum wurde enteignet. Dafür war vor allem Walter Ulbricht verantwortlich, der seine Ausbildung zum Stalinisten in der Sowjetunion in der DDR in die Praxis brachte.51 Die Künstler und die Intellektuellen litten vor allem unter der Diktatur der Partei im intellektuellen Bereich. Man musste sich mit den Fragen beschäftigen, zum Beispiel: Bleibe ich oder verlasse ich die DDR? Ist das Regime paranoide in seinem Kampf gegen den Klassenfeind?52 Für Künstler waren die Antworten sehr schwierig und viele 46 Hortmann, S. 378. Irmer, S. 60. 48 Hortmann, S. 378. 49 Conrady, S. 972 und Glaser, S. 342. 50 Hortmann, S. 378. 51 Vgl. Hortmann, S. 379. 52 Ebd. S.380. Weitere Fragen waren: Darf man Schulkinder schon mit Hass gegen den Westen impfen? Darf man regimekritische Autoren verbieten oder sogar verhaften? Muss man Westkontakte bestrafen? 47 11 Schriftsteller, unter anderen Erich Loest, Christa Wolf, Wolf Biermann haben sich damit in verschiedenster Weise beschäftigt. Dazu kam also auch noch die Propaganda und die Zensur der DDR-Regierung. Man sah in der DDR nicht gern, dass es Initiative gab, die mit Ideen aus dem Westen übereinstimmten und nicht mit der offiziellen sozialistisch-stalinistischen Parteilinie im Einklang waren. Das galt sicher auch für die Shakespeare-Forschung. In der DDR kam diese Forschung erst langsam auf und sie richtete sich nicht mehr nach der angelsächsischen Welt, sondern nach der Sowjetunion.53 Viele jungen Intellektuellen und Künstler hatten aber andere Ideale. Selbst wenn sie Anhänger des Sozialismus in der DDR waren, betrachteten sie den real existierenden Sozialismus der DDR mit Skepsis und sie fragten sich, ob für sie eine Existenz in der DDR möglich wäre.54 Wer an eine Existenz in der DDR zweifelte ging in den Westen und in den fünfziger Jahren flohen immer Menschen in den Westen. Zwischen 1949 und 1961 flüchteten circa 3 Millionen Menschen von der DDR in die Bundesrepublik. Es gab aber auch Künstler, die sich der DDR-Regierung anpassten aus Angst vor der Partei, ohne dass sie Widerstand leisten wollten, oder weil sie von der Wahrheit der Ideen der Partei überzeugt waren. Auf der anderen Seite gab es Künstler die von dem Westen in den Osten gingen, wie Peter Hacks und Benno Besson.55 Am Ende der fünfziger Jahre waren schließlich die meisten DDR-Bürger, die noch dort wohnten, einigermaßen mit dem Sozialismus und dem Alltag in der DDR zufrieden oder sie trauten sich nicht zu eine neue Existenz in der Bundesrepublik aufzubauen und nahmen den Sozialismus ohne weitere Kritik, so wie er war. Was bedeutete die DDR-Politik für das Theater in der DDR? Die Situation in den Theatern war anders als in der Bundesrepublik. Das DDR-Theater musste immer mit der Zensur der Partei rechnen. Die Partei musste ja immer die Entwicklung der sozialistischen Kultur betreuen und überwachen. Dieser Vorgang hatte auch gewisse Vorteile. In der DDR gab es immer genug Theatergruppen, weil das Theater vom Staat finanziert wurden. Geld und Personal gab es immer und die Akteure bekamen genug Zeit für die Proben. Das Spielschema und die Zahl der Aufführungen lagen pro Theaterstück mehr oder weniger fest. Dadurch gab es auch eine gewisse Stabilität. Manche Regisseure sogar, wie zum Beispiel Adolf Dresen und Benno Besson arbeiteten sowohl in West- wie in Ostdeutschland.56 Trotz der steigenden politischen Spannungen der fünfziger Jahre hatte das Theaterleben eine enorme Vitalität. Glaser spricht über eine Asylfunktion der Kultur. Man weiß, dass man den 53 Ledebur: seit 1945, S. 56. Hortmann, S. 380. 55 Ebd. S. 379. 56 Ebd. S. 383. 54 12 Alltag der DDR meistern muss, aber man braucht ab und zu eine Flucht aus diesem selben Alltag heraus.57 In diesem Zusammenhang sagt Dresen über das Theaterpersonal: »In den Anfangsjahren gab es ein überpersönliches, begeistertes Engagement. Sie hatten ein politisches Ziel. Aus diesem Pathos entstand die kulturelle Identität der DDR, die Eigenständigkeit, die DDR-Künstler in ihrem Aufruf »Für unser Land« noch kürzlich beschworen haben.«58 Mit anderen Worten: die Künstler wollten mit ihrem Engagement doch eine bessere Gesellschaft ermöglichen und daran beitragen, wie die Schriftsteller der DDR das mit der Bitterfelder Konferenz das wollten. Dieses Engagement in dieser Zeit fühlte als eine Art Renaissance mit neuen moralischen Werten und neuen humanistischen Zielen. Das betraf auch die Shakespeare Forschung und das Shakespearetheater. Man verglich die Zeit in der DDR mit der Zeit von Shakespeare. Auch dem elisabethanischen Zeitalter waren heftige ideologische Auseinandersetzungen und sogar Terror vorangegangen. Durch diese starke Wesensverwandtschaft mit der Renaissance fühlte man sich noch extra von Shakespeare angezogen.59 Vor allem die Forschungen von Kirchner und Schlösser über Richard den Dritten zeigen, wie die Shakespeareforschung in der DDR eine marxistische Basis bekommt.60 Studenten lernen an Hand von Shakespeares Dramen eine marxistische Literaturbetrachtung. »Schlössers marxistisches Geschichtsbild setzt voraus, dass die progressiven Kräfte im elisabethanischen Zeitalter, mit denen Shakespeare sich identifiziert habe, die feudalistische Ordnung und das mittelalterliche Gottesgnadentum bereits als veraltet und dekadent erkannt hatten.«61 Mit anderen Worten: Shakespeare wäre nach der Meinung von Schlösser auch schon antikapitalistisch und atheistisch, weil er diese Gedanken als veraltet und dekadent dargestellt hätte. Das Theater in der DDR musste laut Aufgabe der DDR-Regierung mit vier Arten von Stücken einen Beitrag an die sozialistische Kultur liefern. Zuerst waren das die klassischen Werke der Weltliteratur. An zweiter Stelle waren das sozialistische Stücke aus der DDR oder aus den sozialistischen Brüderländern, wie zum Beispiel Cuba, Polen oder die Sowjetunion. Drittens waren das Werke der kritischen Realisten, wie zum Beispiel Ibsen und Shaw und viertens schließlich die anti-imperialistischen Werke oder »Befreiungswerke« aus dem Westen oder aus der dritten Welt.62 57 Boterman, S. 560. Hortmann, S. 384. 59 Hamburger, S. 408. 60 Ledebur: seit 1945, S. 55-57. 61 Ebd. S. 61. 62 Vgl. Hortmann, S.385. 58 13 Viele dieser neuen Werke ergaben keine neuen Einsichten, waren »intellektuell anspruchslos« und entsprachen ganz korrekt den Kriterien der DDR.63 Andererseits gab es auch DDRSchriftsteller, die in neuen Werken kritisch und realistisch über die sozialistische Gesellschaft schrieben. Der Inhalt und meistens auch die Form dieser neuen Werke entsprach also nicht den DDR-Kriterien. Diese Schriftsteller mussten immer wieder nach Formen und Methoden suchen, um die eigenen Ideen in der DDR zu veröffentlichen.64 »Die Geschichte der großen dramatischen Literatur in der DDR ist auch die Geschichte des Kampfes um eine großzügigere Auslegung des Sozialismus, des Ringens um eine pluralistische Sicht der Realität und ein weniger uniformes Verständnis von Realismus«65. Mit diesen Worten wird beschrieben, wie Schriftsteller und Dramaturgen wie Heiner Müller, Volker Braun, Peter Hacks und Christoph Hein ihre künstlerische Arbeit in der DDR gemacht haben. Die Aufführungen der klassischen Werke, wie zum Beispiel die Werke von Shakespeare ergaben normalerweise weniger Probleme. Diese Werke wurden gelesen und aufgeführt, als ob sie schon den sozialistischen Sieg über den Feudalismus darstellen würden. Aber die Zensur war immer wachsam. Eine Produktion konnte bewusst oder unbewusst, ohne, dass man genau wusste warum, als subversiv eingestuft werden66. Schon am 11. Dezember 1945 wurde in Berlin die erste Hamlet-Aufführung gespielt. Vor allem durch die Vergangenheit der Schauspieler bekam diese Aufführung eine spezielle politische Bedeutung im Hintergrund. »Künstler die sich in unterschiedlichster Weise zum nationalsozialistischen Regime verhalten hatten, sei es konsolidierend, sei es subversiv, sei es oppositionell, trafen sich zu einem Neuanfang auf einer Bühne im Ostsektor von Berlin.«67 Die große Verschiedenheit der Vergangenheit wird hier mit einigen Beispielen kurz dargestellt: Armin-Gerd Kuckhoff, der Dramaturg dieses Stückes, war der Sohn des ermordeten Widerstandskämpfers der Roten Kapelle Gerd Kuckhoff. Horst Caspar, der die Hamletrolle spielte, war in der Nazi-Zeit als Schillerscher Held eine Kultfigur des Theaters geworden. Heinrich Graf war aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt. Paul Wegener spielte Polonius und hatte sich in der Nazizeit angepasst und in einigen Filmen mitgespielt. Gerda Müller, eine Vorläuferin des expressionistischen Theaters in Frankfurt, hatte sich während des 63 Hortmann, S. 385. Er erwähnt die Komödie »Du bist der Richtige« von Gustav von Wangenheim als gutes Beispiel für Treue zur Parteilinie. 64 Ebd. S. 385. 65 Ebd. S. 386. 66 Ledebur: seit 1945, S. 62 und Hortmann, S.387. 67 Hamburger, S. 394. 14 Krieges geweigert im Theater zu spielen. Man kann sich fragen, welche Diskussionen oder Gespräche es über diese Vergangenheit während der Proben gegeben hat.68 Der Regisseur war der Kommunist Gustav Von Wangenheim, der aus dem russischen Exil in die DDR zurückgekehrt war. Er hatte mit seiner Produktion ein deutliches politisches Ziel vor Augen. Hamlet musste in diesem Stück Hoffnung für die Zukunft machen und neue energische Kräfte hervorrufen, damit eine neue humanistische sozialistische Gesellschaft entstehen könnte.69 In dieser Aufführung gab es keinen zweifelnden Prinzen wie in vielen anderen Hamlet-Aufführungen der deutschen Theatergeschichte, sondern einen aktiven, durchtastenden leidenschaftlichen Prinzen, der ganz genau wusste, was er wollte. Von Wangenheim will mit den folgenden Wörtern seine Zuschauer anfeuern, indem er im Programm schreibt: »Seid radikal, seid radikal wie Hamlet .. wir wissen den Ausweg. Wir verstehen den Sinn unserer Kämpfe. Wir sind glücklicher als Hamlet-Shakespeare, denn wir wissen: Wenn wir ganze Kerle sind, sind wir nicht allein. Das gibt uns Kraft und Lust zu leben.«70 Mit solchen Worten wird »das Konstrukt Hamlet-Shakespeare ein Ikone, ein Vorbild für humanistische Tradition und eine neue Kultur. Der Regisseur und seine Kritiker in der DDR haben eine Vorliebe für Schwarzweißmalerei, in der der gute Hamlet einer bösen Welt gegenübersteht.«71 Dieses Beispiel macht noch einmal sehr deutlich, dass man in der DDR einerseits Traditionsbewusstsein verlangte und dass man andererseits einen radikalen Neubeginn mit einer sozialistischen Perspektive machen wollte. Wangenheims Produktion bekam dadurch etwas sehr krampfhaftes. Diesen Neubeginn wollte von Wangenheim am liebsten künstlerisch gestalten. Horst Caspar aber hatte keine Antenne für diese anderen Zeiten in der Ostzone und konnte mit seinem Spiel die Erwartungen von von Wangenheim nicht erfüllen. Heinrich Graf konnte den Erwartungen andererseits gerade sehr gut gerecht werden und war als Fortinbras dem Hamlet von Caspar weit überlegen.72 Bis zum Ende der fünfziger Jahre würde in den ostdeutschen Shakespeare-Aufführungen vor allem »die Wiederbelebung humanistischer Werte auf rationaler, atheistischer Basis«73 im Vordergrund stehen. In den fünfziger Jahren ist es vor allem Robert Weimann, der »die Grundlagen und Maßstäbe für eine marxistische Shakespeare-Forschung gründlich erweitert hat.«74 In dieser Zeit 68 Hamburger, S. 394. Ebd. S. 395. 70 Mehl, Dieter: Shakespeares Hamlet. München: Verlag C.H. Beck 2007, S. 90 und Hamburger, S. 396. 71 Hamburger, S. 396. 72 Ebd. S. 396. 73 Ebd. S. 397. 74 Ledebur: seit 1945, S. 65. 69 15 standen vor allem die sozialen Verhältnisse und die Gesellschaftsstruktur in den ShakespeareDramen im Vordergrund und wie die Rollen in dieser Struktur ihre Form bekamen. 75 An sich bildete dieser soziale Blickwinkel eine neue Perspektive und andere Ansichten für neue Inszenierungen. Ein Beispiel von diesen überraschenden Konstellationen bietet 1953 Othello von Wolfgang Heinz am Deutschen Theater durch Ernst Busch.76 »In Shakespeares Hamlet spielen deutlich politische und soziale Tendenzen eine Rolle.«77 In dieser Zeit (1946-1963) war Wolfgang Langhoff der wichtigste Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin. Langhoff war in den dreißiger Jahren nach Zürich geflüchtet, wo er mit Wolfgang Heinz zusammen arbeitete. »Das Deutsche Theater begriff sich als ein sozialistisches, der Tradition des Humanismus verpflichtetes Theater.«78 Dieser Satz ist also das Motto in der DDR. Man legte vor allem Wert auf die zivilisierende und sozialisierende Wirkung des Theaters. Bemerkenswert ist noch, dass Langhoff vom späteren Chefdramaturgen der Berliner Volksbühne (1959-1962) Fritz Erpenbeck von Anfang an kritisiert wurde. Langhoff benutzte auch epische Stilmittel in seinen ShakespeareInszenierungen.79 Fritz Erpenbeck war Rezensent der Parteizeitung Neues Deutschland und dieser beschuldigte Langhoff von Modernismus. Mit dieser Kritik wollte Erpenbeck auch Bertolt Brecht, der damals schon das Berliner Ensemble führte, attackieren. Trotz dieser Kritik gab es von Langhoffs Produktion in acht Jahren 129 Aufführungen. In den folgenden Jahren wurde Brechts Ansatz trotz der Kritik Erpenbecks offiziell durchgesetzt.80 Am Ende der fünfziger Jahre wurde deutlich, dass viele Künstler unter der strengen, repressiven Kulturpolitik der Partei gelitten hatten. In den sechziger Jahren würden die Verhältnisse zwischen dem Staat und der kulturellen Elite immer schwieriger werden.81 Vor allem im Vergleich zu der Theaterpraxis von Shakespeare-Aufführungen in der Bundesrepublik. Im folgenden Paragraphen wird diese Theaterpraxis in der Bundesrepublik näher analysiert. 75 Ledebur: seit 1945, S. 64. Hamburger, S. 397. 77 Erzgräber, Willi: Hamlet-Interpretationen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 24. 78 Hamburger, S. 399. 79 Ebd. S. 401. 80 Ebd. S. 404. 81 Schabert, Ina (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit-Der Mensch-Das Werk-Die Nachwelt. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1992, S. 717-745. Überblick über die gesamte Wirkungsgeschichte von Shakespeare in Deutschland. 76 16 2.3 Shakespeare in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1961 Auch in Westdeutschland war es für die Menschen und für das Theaterleben im Jahre 1945 schwierig, um nach dem schrecklichen Krieg mit der Theaterpraxis fort zu fahren. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus brauchte man neue Normen und neue moralische Werte. Konnte man einfach wieder die Weimarrepublik als Ausgangspunkt nehmen oder musste man nach dem totalen Umbruch ganz neu anfangen? Die Entwicklung der Theaterpraxis in den drei westlichen Zonen verlief anders als in der Ostzone, obwohl auch im Westen das kulturelle Leben wieder schnell lebendig wurde. »Im Februar 1946 wurde in Berlin an fast 200 Stellen Theater gespielt.«82 Die jüngere Generation der Schauspieler hatten einen großen Elan und großen Bedürfnis, um die verlorene Zeit von zwölf Jahren nach zu holen. Die meisten Werke im Westen vermieden aber eine Konfrontation mit der Vergangenheit und eine Auseinandersetzung mit der Politik. Hellmuth Karasek nennt drei Stücke, die sich direkt mit der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzten: Günther Weisenborns Die Illegalen, Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür und Carl Zuckmayers Des Teufels General. »Das eigene Leid, die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und die Last der Kollektivschuld verschlug den Autoren die Sprache.«83 Aus diesen Gründen griff man auf die Klassiker zurück und verfasste kaum neue Stücke. Das Theater bekam wieder eine erzieherische Aufgabe und es musste helfen einen neuen Menschen zu schaffen. Dieser Mensch wäre dann ein Beispiel des christlichen Humanismus des klassischen Abendlandes, also eines anderen Humanismus als des sozialistischen Humanismus der Ostzone. Maik Hamburger spricht in diesem Zusammenhang von »Das geistige Theater«. 84 Schillers Idee vom »Theater als moralische Anstalt der Nation« tauchte in dieser Diskussion wieder auf.85 Nach der Meinung von Gustav Rudolf Sellner, ein wichtiger deutscher Schauspieler, Dramaturg, Regisseur und Intendant in Ost- und Westdeutschland, tätig zwischen 1925 und 1973, brauchte man in Westdeutschland nach dem Krieg einen neuen Geist. Nicht einen exklusiven deutschen Geist, wie Friedrich Gundolf zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwähnt hatte, sondern einen neuen Geist, denn Sellner sagte: »Der neue Geist mußte so umfassend sein, dass er alle Menschen, die guten Willens waren, Deutsche inbegriffen, einschloß.«86 Dieser Trend hatte auch Folgen für die ShakespeareInszenierungen. 82 Hortmann, S. 192. Ebd. S. 195. 84 Williams, Simon/ Hamburger, Maik: A history of German theatre. Cambridge: University Press 2008, S. 288. 85 Glaser, S. 114 und Hortmann, S. 197. 86 Hortmann, S. 197. 83 17 Die Shakespeare-Forschung hatte nach dem Krieg zwei Probleme: Einerseits musste sich das Shakespearetheater nach der Nazizeit erneuern und andererseits musste man wieder einen Anschluss an der angelsächsischen Tradition finden.87 Vor allem Sehrt, Oppel, Gabler und Habicht zeigen das, laut Ruth von Ledebur, in ihren Forschungen. 88 In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre liegt der Akzent vor allem auf Shakespeares Weltbild und auf die christlichen Themen in seinen Werken.89 Shakespeares Werke sind vor allem populär, weil er »Kontinuität verkörperte«.90 In zwanzig Jahren (von 1955 bis 1975) werden 35 verschiedene Werke von Shakespeare mit insgesamt fast 37.000Aufführungen gespielt. Hamlet ist der Favorit unter den Tragödien und einer der populärsten Werke schlechthin. Die Tragödie Hamlet bot eine gute Möglichkeit, sich mit Fragen von Ursache und Wirkung der Fragen der Kriegszeit auseinanderzusetzen. Die Komödien boten Gelegenheit, wieder Freude am Leben und am Theater zu empfinden.91 Die Shakespeare-Inszenierungen waren nicht neu, sondern benutzten noch zwanzig Jahre lang denselben Stil und dieselben Formen, weil man Kontinuität wollte.92 Sellners instrumentale Theater der Abstrahierung konnte aber in einer anderen Weise bei der Suche nach der Wahrheit helfen. Der Theaterkritiker Georg Hensel sieht die fünfziger Jahre in Deutschland in Westdeutschland als eine positive Zeit, weil es viele verschiedene Arten von Aufführungen gab. »Durch ihre Stücke beschäftigte man sich mit dem Marxismus, mit existentialistischen und katholischen, mit evangelischen, agnostischen und nihilistischen Debatten.«93 Drei Inszenierungen von Shakespeare fallen am Anfang der fünfziger Jahre auf, nämlich Sellners Sommernachtstraum, Lindtbergs Hamlet und Stroux' Hamlet. Das Problem bei diesen Inszenierungen ist, dass das deutsche Publikum am liebsten festliche Inszenierungen sehen wollte und keine Anspielungen auf die Politik. Die Erwartungen des Publikums nach Kontinuität und Gaststars sorgten dafür, dass Regisseure in den fünfziger Jahren wenig Spielraum für neue Ideen bekamen.94 Die Hamlet-Inszenierung von Lindtberg am Burgtheater in Wien war deshalb beliebt, weil er keine Anspielungen auf die Politik machte. Es ging in dieser Inszenierung nicht mehr um die Korruption der Macht, sondern um die Tragik der 87 Ledebur: seit 1945, S. 23. Ebd. S. 26. 89 Ebd. S. 29. 90 Hortmann, S. 198. 91 Ebd. S. 199. 92 Ebd. S. 202. Das galt sogar noch 1963 für den Hamlet von Gründgens mit Maximilian Schell. 93 Ebd. S. 201. 94 Ebd. S. 209. 88 18 Person Hamlet.95 »Hier ist ein schmieriger, feiger Mörder und ein Gefolge von Schwächlingen. Ihr Verbrechen ist Dumpfheit.«96 Mit solchen Worten kann man Personen typisieren und solche Beschreibungen haben eine Allgemeingültigkeit. Weiter kann Hamlet auch als tragisch, pathetisch, ironisch und grotesk dargestellt werden.97 Ein weiteres Beispiel eines unpolitischen Hamlets sieht man in der Inszenierung von Stroux. Stroux' Inszenierung von Hamlet in Recklinghausen war keine politische Interpretation aber stellte auch keinen psychologischen Hamlet dar. Stroux gab den Schauspielern alle Möglichkeiten ihre Spielqualitäten zu zeigen. Obwohl die Kritiker unzufrieden waren, war das Publikum sehr begeistert und der Meinung, dass Stroux die »zeitlose Essenz« von Hamlet dargestellt hatte.98 Stroux hatte es bestimmt auch leicht, weil in dieser Hamlet-Aufführung große Stars der Schauspielkunst mitspielten. Will Quadflieg als Hamlet, Walter Richter als Claudius und Elisabeth Flickenschildt als Gertrud. Sie verfügten über eine rhetorische Meisterschaft. Hier könnte man die Kritik üben, dass diese Schauspieler ihr Publikum immer begeistern könnten. Aus dem ganzen könnte man schließen, dass in Stroux' Inszenierungen die Hauptdarsteller am wichtigsten sind, weil er vor allem das Publikum begeistern wollte. Sellner wollte genauso wie Stroux zeitloses Theater darstellen. Sellners Inszenierungen zeigen, dass die Theatergesellschaften mit Theater die Wahrheit suchen wollten. Das Ziel einer Inszenierung sollte sein, »die zeitlosen, allgemeinen Eigenschaften herauszuarbeiten und die speziellen historischen Elemente in den Hintergrund treten zu lassen.« 99 Mit diesem Zitat wird auch deutlich, wie Sellner in der Shakespeare-Inszenierungen in den fünfziger Jahren die allgemeinen Eigenschaften am wichtigsten fand. Mit seiner werkimmanenten Methode löst Sellner das Werk von seinem historischen Kontext und konzentriert er sich auf die zeitlosen »Worte« von Shakespeare selbst. Auch laut Gerhard Müller-Schwefe sei »nur der in seiner auf dem Wort beruhende Dichtung ernst genommene Shakespeare der »wahre« Shakespeare«.100 Alles in Sellners Inszenierungen diente dazu, das Wesen des Stückes zu zeigen. In seinem »instrumentalen Theater« waren Spieler und Regisseur die Mittel, das zu erreichen. Die Pflicht des Regisseurs ist es, um »objektive Beziehungen zu klären und nicht Ideologien zu verbreiten. Der Regisseur sollte sich hinter seine Schöpfung zurückziehen«.101 Sellner wollte das Theater mit ästhetischen Mitteln neu gestalten. Man konnte zum Beispiel 95 Hortmann, S. 205. Ebd. S. 206. 97 Kaiser, Joachim: Hamlet, heute. Essays und Analysen. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1965, S. 150. 98 Hortmann, S. 210. 99 Ebd. S. 215. 100 Ledebur: seit 1945, S. 38. 101 Hortmann, S. 216. 96 19 nicht mehr sehen, wo die Geschichte spielte. Das Bühnenbild wurde minimal und verschwand sogar zum größten Teil. Mit Lichteffekten versuchte er die gewünschte Atmosphäre zu schaffen. Dasselbe galt für Vortrag, Bewegung und Musik. Die Schauspieler sollten zeigen, dass sie Schauspieler sind, sie sollten Distanz von der eigenen Rolle haben. Mit seinem Theater wollte er die »Befreiung und das Engagement der schöpferischen Phantasie im Darsteller wie im Zuschauer auslösen oder gar die Geburt des Stücks im Zuschauer bewirken«.102 Von verschiedenen Seiten kam Kritik auf Sellners Produktionen. Fritz Kortner kritisierte seine Produktionen als »neo-expressionistisch«. Brechts Nachfolger kritisierten seine Aufführungen als »Eskapismus«. Das Publikum war aber noch immer begeistert, weil sie Harmonie und eine gewisse Spiritualität suchten. »Die vorherrschende Ästhetik der Vergeistigung, Nüchternheit und Abstraktion entsprach dem allgemeinen Bedürfnis nach Harmonie und Ordnung.«103 Trotzdem würde Sellners Stil merkwürdigerweise keine richtigen Nachfolger haben. Drei legendäre Regisseure der zwanziger Jahre ermöglichten nach Sellners Zeit einen Paradigmenwechsel in die sechziger und siebziger Jahre: Brecht, Piscator und Kortner. Brecht kritisierte das Schlaf erregende Theater der fünfziger Jahre. Brechts Theater war materialistisch-realistisch und wollte verhindern, dass das Theater zur »bildungsbürgerlichen Selbstgefälligkeit«104 zurückkehrte. Piscator wollte politisches Theater, sein Einfluss darauf war sehr groß.105 Auch Kortner wollte politisches Theater, aber er neigte »weder zu Brechts politischer Didaktik noch zu Piscators dokumentarischem Enthüllungs- und Anklagetheater.«106 Diese Meinungen zeigen deutlich die Diversität der Regisseure und dass die Zeit für neue Auffassungen und Inszenierungen reif war. Genauso wie Brecht kritisierte auch Kortner das Theater der fünfziger Jahre. Wie konnte Theater die Wahrheit dienen, wenn Form und Stil nicht anders waren als in den Hitlerjahren? Wenn Theater helfen soll, die Wahrheit zu finden, dann müssen die gängige Vortragsweise und die falsche Heldenverehrung aus den Inszenierungen verschwinden. Anstatt dessen soll Realismus vermittelt werden. Der Held soll ein real existierender, konkreter, authentischer Mensch sein, der psychologisch glaubwürdig ist. Er soll »den Widerstreit mit sich selbst 102 Hortmann, S. 220. Ebd. S. 221. 104 Ebd. S. 222. 105 Glaser, S. 338. 106 Hortmann, S. 222. 103 20 erleben.«107 Kortners Ansichten und Theorien bedeuteten einen Bruch mit der Art und Weise, wie Shakespeare-Dramen bis dann aufgeführt waren. In der Theatertradition konnten Helden mit ihren Handlungen zu mythischen Proportionen in den Himmel wachsen.108 Kortner wollte dagegen keine Helden, sondern realistische und authentische Menschen darstellen. Die Proben für Kortners Theaterproduktionen waren zeitraubend, weil es immer eine Suche nach Authentizität war. Dabei wurde immer stark auf die Details geachtet, zum Beispiel, wie der Text ausgesprochen werden musste. Der Text musste »greifbar« und »real« sein. Schauspieler mussten manchmal zig mal ihren Text wiederholen. Kortner interessierte sich mehr für den Prozess als für das Produkt. Seine Inszenierungen waren fesselnd und spannend, weil anscheinend alles möglich war. »Die Wirkung des Drama liege in dem direkten emotionalen Bezug, den die Zuschauer zur Handlung herstellen konnten.«109 Kortner bekam sowohl scharfe Kritik als auch großen Beifall. Kortners Produktionen sind schwierig einem bestimmten Stil zuzuordnen. Die Kritiker urteilten, dass er immer sehr stark an sein Prinzip Authentizität durch Realismus festhalten wollte. »Kortner, der leidenschaftliche Antifaschist, mißtraute Größe, Helden, Theorien und Bewegungen (einschließlich Marxismus und Kommunismus) im Namen des lebendigen Menschen und konkreter Humanität.«110 Kortner stellte oft in seinen Rollen lebendige und glaubhafte Menschen da, mit ihren persönlichen Ängsten und Freuden, wie zum Beispiel Hamlet. Er wurde bis zu seinem Tode geschätzt als Person aber seine Auffassungen von Theaterproduktionen wurden nicht weiter geführt. 3. Von der Trennung bis zur Wiedervereinigung 3.1 Die Deutsche Shakespearegesellschaft in Deutschland, in einer sich ändernden Gesellschaft (1949-1989) Am Ende der fünfziger Jahre gab es große Änderungen in der Gesellschaft in der ganzen Welt und auch in Deutschland. In der Politik, der Religion, der Kunst, der Musik, im kulturellen und gesellschaftlichen Leben waren die sechziger und siebziger Jahre weltweit die »Jahre der Revolution«.111 Vor allem in Deutschland gab es viele Konfrontationen zwischen den Jugendlichen, die nach dem Krieg geboren waren, und der Kriegsgeneration. Die Jugendlichen wurden individualistischer und freier, sie konnten in die ganze Welt reisen und sie sträubten sich gegen den Paternalismus, gegen die konservativen und kleinbürgerlichen 107 Hortmann, S. 224. Glaser, S. 121. 109 Hortmann, S. 227. 110 Ebd. S. 231-232. 111 Vgl. Boterman, S. 620. Man könnte den Begriff »Revolution« in diesem Rahmen kritisieren, aber weil die Gesellschaft sich sehr eingreifend änderte, wurde dieser Begriff doch gewählt. 108 21 Werte ihrer Eltern.112 Sie kamen in Aufstand gegen den Kapitalismus und den Krieg in Vietnam, wählten links orientierte Parteien und entwickelten viele alternative Lebensstile. Dazu kamen die zunehmenden Spannungen zwischen den kapitalistischen und den kommunistischen Machtblöcken im Kalten Krieg. Der Tiefpunkt in der Konfrontation zwischen den kapitalistischen Vereinigten Staaten und der kommunistischen Sowjetunion bildeten 1961 die Kuba-Krise und der Mauerbau in Berlin. Dadurch entstand eine fast unüberbrückbare Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik mit großen Folgen für die Politik und das kulturelle Leben in den beiden deutschen Staaten. In der Bundesrepublik verliefen diese revolutionären, gesellschaftlichen Änderungen genau so wie in den anderen westlichen Ländern, aber in der DDR entwickelte sich die Gesellschaft unter dem Einfluss des Kommunismus und des Marxismus-Leninismus sich völlig anders. In der Bundesrepublik waren die sechziger und siebziger Jahre entscheidend für ein neues intellektuelles, sozial-politisches und kulturelles Klima.113 In der Bundesrepublik gibt es in dieser Zeit viele wichtige Fragen, worüber heftig gestritten und diskutiert wurde. Beispielsweise: der Eichmannprozess und die immerwährende Konfrontation mit dem Holocaust sind zwei Themen aus diesen interessanten, aber sehr komplexen Zeiten von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Änderungen. Aber die Deutschen wollten nach dem Krieg nicht mit politischen Fragen und der Schuldfrage konfrontiert werden. Darum wollten sie vor allem Komödien sehen und keine Tragödien. In der Welt des Theaters gab es in dieser Zeit auch große Veränderungen. Namentlich auch für das Shakespeare-Theater und die Shakespeare-Forschung. Darin spielte die Deutsche Shakespearegesellschaft (weiter als DSG erwähnt) eine wichtige Rolle. Die DSG wurde 1864 in Weimar gegründet. Die Gesellschaft hatte als Hauptzwecke »die Herausgabe von Shakespeares Werken, den Aufbau der Shakespeare-Bibliothek und die Herausgabe des Shakespeare-Jahrbuchs.«114 Ab 1870 nahm die Vermischung von Politik, Ideologie und Literatur innerhalb der DSG zu. Der DSG-Vorstand war damals konservativ. Das war zum Teil verständlich, weil die Weimarer Residenz die DSG finanziell unterstützte. Aber u.a. Förster und Rothe kritisieren diese konservative Einstellung der DSG. Nach der Machtübernahme von Hitler kam die DSG unter dem direkten Einfluss der Nazi-Herrschaft. Bei der Gleichschaltung spielte vor allem Carl von Schirach eine bedeutende Rolle. Er war General-Intendant des Hoftheaters in Weimar gewesen und wohnte dort in direkter Nähe der DSG. Viele Mitglieder der DSG 112 Boterman, S. 615 und Glaser, S. 74. Ebd. S. 616. 114 Ledebur, Ruth Freifrau von: Der Mythos vom deutschen Shakespeare. Die Deutsche ShakespeareGesellschaft zwischen Politik und Wissenschaft 1918-1945. Köln u.a.: Böhlau Verlag 2002, S. 3. 113 22 wurden von Mitgliedern der NSDAP ersetzt. Damit war die DSG sehr leicht Teil der NaziIdeologie geworden. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war neben Weimar die Stadt Bochum auch ein wichtiger Ort der Shakespeare-Aufführungen geworden, vor allem unter dem Einfluss vom Regisseur Saladin Schmitt. Durch seine Popularität und überraschende Inszenierungen entstand eine große Rivalität zwischen Bochum und Weimar. Am 1. August 1945 fand in Weimar die erste Nachkriegssitzung der DSG statt. Ein halbes Jahr später fand eine Neukonstituierung derselben Gesellschaft in Westfalen statt. So entstanden in der DSG zwei parallele Organisationen. Auch die verschiedenen politischen Systeme der Bundesrepublik und der DDR spielten in dieser Situation eine Rolle. Es war nicht einfach für die DSG, dass der Vorsitzende , Saladin Schmitt, in Bochum wohnte und die anderen Mitglieder des Vorstandes der DSG in Weimar.115 3.1.1. Bochum versus Weimar Die meisten Shakespeare-Tage nach dem Krieg fanden in Bochum statt und damit wird Bochum als Zentrum der Shakespeare-Forschung und Shakespeare-Pflege immer wichtiger. Saladin Schmitt spielte darin eine wichtige Rolle, weil er die Shakespeare-Dramen jedes Jahr in Bochum aufführte.116 Die Jahrbücher der DSG, die einen Gesamtüberblick der Shakespeare-Forschung und der Theateraufführungen des vorangehenden Jahres geben, wurden noch bis zum Jahre 1963 an alle Mitglieder der Geschäftsstellen Bochum und Weimar verschickt.117 Im Jahre 1964 fand eine schmerzliche Trennung der DSG statt. In diesem Jahr wurde der vierhundertste Geburtstag von Shakespeare gefeiert und auch der hundertste Jahrestag der DSG. Bei den Vorbereitungen dieser Feier wurde immer deutlicher, dass unter anderem die Spannungen und Konflikte zwischen den unterschiedlichen ideologischen Systemen der Bundesrepublik und der DDR ein richtiges Vereinsleben unmöglich machten. Am 26. Oktober 1964 wurde eine DSG-West gegründet, während es die DSG in Weimar noch immer gibt. Die Gesellschaften publizieren beide ihr eigenes Jahrbuch und damit ist die Trennung definitiv. Über die Ursache dieser Trennung sind die Analysen in Bochum und in Weimar unterschiedlich.118 Die Kritik zwischen Weimar und Bochum wird immer schärfer. Pfister beschreibt diesen Konflikt als einen Kulturkampf.119 »Die Eskalation dieses politischen und ideologischen Konflikts manifestiert sich vor allem in der Diktion der 115 Ledebur: seit 1945, S.105. Ebd. S. 118. 117 Ebd. S. 115. 118 Ledebur analysiert das in ihrer Arbeit sehr ausführlich, S. 128ff. 119 Pfister, S. 25. 116 23 Rundschreiben.«120 Ledebur macht deutlich, dass beide Gesellschaften nach der Trennung versuchen ihre eigene Position zu verstärken.121 Sie nennt zwei wichtige Unterschiede: während die DSG-West sich in der Bundesrepublik nicht mit Politik befasst, sieht die DSG in der DDR sich selbst gerade als einen wichtigen politischen Faktor in der sozialistischen Gesellschaft der DDR. Pfister interpretiert diese Sache anders, indem er gerade diese Wahl der DSG-West, sich nicht in die Politik einzumischen und keine marxistische Inszenierungen von Shakespeare zuzulassen, als eine politische Entscheidung sieht.122 In diesem Rahmen sieht er auch die Ernennung vom CDU-Kultusminister Dr. Werner Schütz als Vorsitzender der DSG-West als eine politische Stellungnahme. Schütz zeigt jedenfalls deutlich seine Meinung über Shakespeare bei einem CDU-Kongress, wenn er sagt, dass man »Shakespeare gerade immer für die politische Formung der Jugend fruchtbar machen muß.«123 Mit seiner Analyse könnte Pfister also Recht haben. Ledebur nennt noch einen zweiten Unterschied: Während das Selbstvertrauen der DSG in der DDR größer wurde, entstand in der Bundesrepublik seit 1970 immer mehr Zweifel an den Zielsetzungen der DSG und an der Shakespeare-Forschung und Shakespeare-Pflege. Nach der Trennung wurden keine richtigen Versuche zur Wiedervereinigung gemacht, obwohl es einige Personen gab, zum Beispiel Dieter Mehl, die versuchten an den Tagungen der beiden Gesellschaften teil zu nehmen. Aber grundlegend stimmt es, dass »aus dem Faktum zweier Deutscher Shakespeare-Gesellschaften zwei grundsätzlich verschiedene Arten der Shakespeare-Pflege und - Rezeption resultierten.«124 Es würde noch bis 1992 dauern, bis die beiden Gesellschaften sich wieder ganz vereinen würden. 3.2 Shakespeare in der DDR (1961-1989) Zum 400. Geburtstag William Shakespeares feierte die DSG in Weimar in der DDR 1964 ihr 100-jähriges Bestehen. Die DSG war gerade getrennt und Alexander Abusch, Minister für Kultur, hob in seiner Rede deutlich die Kontinuität zwischen dem elisabethanischen Zeitalter und der DDR-Zeit hervor.125 Auf diese Weise politisierte Abusch ganz direkt und konkret Shakespeares Werk Hamlet. Namentlich Hamlet bezeichnete er als Vorläufer des 120 Ledebur: seit 1945, S. 133ff. Ebd. S. 148. 122 Pfister, S. 26. 123 Ebd. S. 26. 124 Ledebur: seit 1945, S. 148. 125 Hamburger, Maik: Shakespeare auf den Bühnen der Deutschen Demokratischen Republik. In: Shakespeare und das deutsche Theater im XX. Jahrhundert. Hrsg. v. Wilhelm Hortmann. Berlin: Henschel Verlag 2001, S. 409 und Pfister, S. 28. 121 24 Sozialismus.126 »Hamlet erscheint als heldmütiger Kämpfer gegen ein korruptes Feudalsystem, der die bürgerliche Opposition in Publikum auf seiner Seite hatte , und seine Tragik ergibt sich aus dem lähmenden Zwiespalt zwischen der Größe seiner Aufgabe, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurenken, und der Unzulänglichkeit der Wirklichkeit.«127 Mit diesen Worten sagt er, dass Hamlet eigentlich zu früh gelebt hätte. Die Zeit war noch nicht reif für ihn und darum misslang sein Auftrag. In der DDR ist Hamlet aber sowohl politisch als auch pädagogisch von großer Bedeutung. Damit deutet Abusch auch auf Lenins Widerspiegelungstheorie, dass »die Kunst Widerspiegelung der Wirklichkeit sein müsste.« Marxistische Literaturkritiker sehen diese Worte von Hamlet als den Kern von Shakespeares Kunstauffassung.128 Shakespeares Werke wiederspiegeln das Denken und das Tun seiner eigenen Zeit und können auch das Denken und das Tun der DDR-Gesellschaft darstellen. Einige Beispiele aus Hamlet machen diese Analyse deutlich, nämlich »Die gesellschaftliche Kritik des Dichters ist in seinen Werken immanent.« und Hamlet sieht es als seine Aufgabe, um »die Welt zu ordnen, d.h. die Diskrepanz zwischen seinem Ideal und der gegenwärtigen Wirklichkeit aufzuheben.«129 In der DDR wurden Hamlets eigene Worte in der Rede an die Schauspieler vor allem als eine Art Glaubensbekenntnis des Marxismus gesehen.130 Die Hamlet-Inszenierung von Hans Dieter Mäde im Jahre 1964 war eine perfekte Inszenierung von Abusch' Rede. Hamburger schreibt über Mädes Arbeit: »die Parteidoktrinäre hätten sich keine bessere Übereinstimmung zwischen Ideologie und Kunstwerk, zwischen Parteilinie und Bühnenwirklichkeit wünschen können.«131 Auf Mädes Inszenierung kam scharfe Kritik vom Dramaturgen Alexander Weigel, der die Inszenierung schlecht und oberflächlich fand. Mädes Antwort war deutlich: er antwortete, dass es unanständig wäre, Personen im Zentralkomitee zu widersprechen. Der einzige Pluspunkt der Inszenierung wäre die Darstellung der Hamlet-Rolle von Jürgen Hentsch. Er zeigte deutlich Momente von Selbstzweifel über die Möglichkeit, seine Aufgaben zu meistern. Damit wurde auch beim Publikum Zweifel aufgerufen, ob sie als Bürger die gesellschaftlichen Aufgaben meistern könnten.132 126 Ledebur, S. 71-73. Pfister, S. 28. 128 Ledebur, S. 72. 129 Schrader, S. 78. 130 Ledebur, S. 72. 131 Hamburger, S. 410. 132 Ebd. S. 411. 127 25 Es gab 1964 noch drei andere Hamlet-Inszenierungen, die sich einerseits an die gängige DDR-Interpretation hielten, nämlich an die »verordnete Interpretation eines optimistisch nach vorne weisenden Prinzen«. Andererseits zeigten diese Aufführungen, dass es außerhalb der dogmatischen Parteilinie der DDR noch andere Möglichkeiten für Regisseure gab.133 Zuerst gab es die Hamlet-Aufführung von Wolfgang Heinz am Deutschen Theater Berlin. Wolfgang Heinz war Kommunist und gehörte zu den Schauspielern, die nach dem Krieg aus Zürich nach Deutschland zurück gekommen waren. Seine Hamlet-Inszenierung wurde am 17. April 1964 uraufgeführt. Heinz war der Meinung, dass Hamlets humanistische Ideale erst in der Zukunft in der DDR realisiert werden könnten und nicht jetzt schon. Seine Inszenierung stimmte in diesem Sinne nicht mit der Kulturpolitik überein und wurde schon schnell vergessen.134 An zweiter Stelle machte Peter Kupke 1963 aus seiner Hamlet-Aufführung in Potsdam fast einen Thriller. Hamlet ist eine tragische Figur, die seine hohen und schwierigen Aufgaben nicht meistern kann und daran selbst zu Grunde geht. Kupkes Hamlet war eine deutliche Klage gegen eine Machtpolitik, die »unschuldige, hoffnungsvolle Menschen zwischen ihren Kiefern zermalmt.«135 Das Publikum sah durch diese Hamlet-Figur ein, dass die Realisierung der humanistischen Ideale noch zu schwierig war und auch erst in der weiter entfernten Zukunft erreicht werden könnte. Die dritte Hamlet-Inszenierung aus 1964 ist von den Regisseuren Adolf Dresen und Maik Hamburger in Greifswald. Beide machten eine eigene Übersetzung von Hamlet, die nicht mehr in dem Bild des Hamlets als Beispiel von sozialistischer Humanität passte.136 Hamlet war in ihren Augen ein Intellektueller, der humanistisch war, so lange er selbst zweifelte. Wenn er aber aktiv handeln musste tat er das mit groben und blutrünstigen Gewalttaten. »Hamlet ist der Sündenfall des Geistes, der viele Opfer fordert«. 137 Dresen sah in der Hamlet-Figur ein Paradigma für viele Geschehnisse in der deutschen Geschichte. Seine Gedanken darüber fasst er in dem einen Satz »Buchenwald liegt bei Weimar« zusammen.138 Die intellektuellen Verdienste der Weimarer Klassik mit Goethe und Schiller stellt er neben die Verbrechen an der Menschheit im Zweiten Weltkrieg. Wie konnten eine solche hohe Kultur und solche große Barbarei zur gleichen beide in Deutschland existieren? Das Regieteam erklärte darüber: »Uns kann die Tragödie des Dänenprinzen nicht zur Verklärung einer Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis dienen, sondern man muß 133 Mehl, S. 91. Hamburger, S. 413. 135 Ebd. S. 414. 136 Pfister, S. 30. 137 Schrader, S. 80. 138 Hamburger, S. 415. 134 26 zeigen, wohin solche Diskrepanz führt. Hamlet hatte in seiner Zeit keinen Ausweg. Uns, die wir die Macht haben, den Verstand zu handhaben, würde keine Zeit entschuldigen«. 139 Hamlet will nicht töten, aber am Ende des Stückes ist er verantwortlich für acht Leichen. Durch diese Fragen wurden die Widersinnigkeiten des Hamlet-Dramas von Dresen und Hamburger plötzlich zu Schlüsselstellen. 140 »Mit ihrer Verquickung von kritischer Analyse mit volkshaften Theater erfüllte sie anscheinend auf ideale Weise die Forderungen sozialistischer Kulturpolitik«141. Dresen wollte mit dieser Hamlet-Aufführung das sozialistische und humanistische Denken verbessern. Aber schon während der Proben kam die Kritik. Generalintendant Georg Roth wollte die Aufführungen stoppen. Georg Roth wurde erst noch von der SED des Landeskreises zurückgehalten, aber nach zehn Vorstellungen wurden die HamletAufführungen von der Theaterleitung dann doch stillschweigend gestoppt.142 Fünfundzwanzig Jahre später, kurz vor der Wende wurde »die Greifswalder Hamlet-Übersetzung im Jahrbuch der Weimarer Shakespeare-Gesellschaft gewürdigt, was fast einer offiziellen Rehabilitierung gleichkam.«143 Weil Dresens und Hamburgers Hamlet-Interpretation eine aktuelle Bedeutung bekam, wurde er als subversiv gesehen. Ihre Hamlet-Figur hatte keine Vorbildfunktion und entsprach nicht den Werten »des sozialistischen Menschen der DDR«. Die Inszenierungen waren aber etwas sehr besonders und das wurde schnell überall bekannt. Obwohl es nur wenige Aufführungen gab, wurden sie von bekannten Theaterregisseuren wie Benno Besson, Heiner Müller und Wolfgang Heinz gesehen und sehr positiv gewertet. Aber die Zensur der DDR arbeitete schnell und die Stasi verbot nicht nur die Aufführungen, sondern auch Rezensionen, Szenenfotos und eine Fernsehsendung. Hamburgers und Dresens Inszenierung hatte nicht ein bestimmtes Thema, das polemisch dargestellt wurde und es war für ein breites Publikum gemeint, nicht für eine bestimmte Gruppe mit einer bestimmten Ideologie. Das Stück könnte auf mehrere Weisen interpretiert werden. Hamburger nannte das »integrative Subversion«. Das war im gewissen Sinne naiv, weil die DDR-Regierung gerade gewisse Absichten mit der Kunst hatte. Es war zwar immer noch möglich, um einige Vorschriften der SED nicht genau zu nehmen, aber der Gedanke, das man mit kritischer Kunst die sozialistischen Ziele der DDR erreichen könnte, musste man 139 Schrader, S. 80. Hamburger, S. 415. 141 Ebd. S. 416. 142 Ebd. S. 417. 143 Mehl, S. 91. 140 27 hinterher als unmöglich betrachten.144 Dresen würde später in diesem Zusammenhang ein Buch über dieses Thema schreiben mit dem Titel: »Wieviel Freiheit braucht die Kunst«. Offenbar gab es beim Zentralkomitee der SED schon sehr viel Misstrauen gegen die Arbeit der Künstler, weil sie nicht der Kulturpolitik folgten. Denn beim 11. Plenum des Zentralkomitees wurden 1965 der Kunst strengere Grenzen gesetzt. Die Künstler standen im Mittelpunkt der Anklage. »Danach konnte Subversion, auch mit den Texten der Klassiker nicht länger naiv oder integrativ sein.«145 Die Zensur und die Aufsicht der SED wurde nach 1965 stärker. In den siebziger Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit mehr auf die Komödien von Shakespeare. Die neue Kulturpolitik der DDR, die am achten Parteitag der SED bekannt gegeben wurde, zielte seit 1970 mehr auf den realistischen Sozialismus im Alltag und weniger auf die politische Ideologie. Erich Honecker sagte: »Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.«146 Die neue Kulturpolitik fand es wichtig, dass Phantasie und schöpferisches Suchen gefördert wurde.147 Das Interesse verschob sich mehr von den politischen Idealen zu dem Menschen selbst.148 Existenzielle Themen wie Glück, die eigene Identität, Geborgenheit, Einsamkeit und der Überlebungsstreit in der Gesellschaft kommen an der Stelle von den politischen Idealen, die vom Staat vorgeschrieben wurden. Vor allem Shakespeares Sommernachtstraum und Was ihr wollt werden oft aufgeführt. Die Theater von Magdeburg und Halle und die dort entstandenen Inszenierungen werden das Beispiel für die Spielweise in mehreren Theatern. Man distanzierte sich hier vom romantischen Illusionismus von Max Reinhardt. Die wichtigsten Regisseure in dieser Zeit waren Peter Brook, Thomas Langhoff und Alexander Lang. Lang machte total andere Inszenierungen als Reinhardt. Neben den Komödien bleibt Hamlet immer ein beliebtes Drama. Man konnte in Hamlet immer die eigene Identität zurückfinden. In der Politik gab es aber überhaupt keine Entwicklungen. Dadurch wurden vor allem die Intellektuellen enttäuscht über die Gesellschaft und ihre Zukunft. Das führte auch zu eingreifenden Änderungen in den Hamlet-Inszenierungen.149 In den sechziger Jahren war Hamlet noch die Figur, »die eine Position in Tronnähe einnimmt und einmal eingesetzt sich königlich bewährt hätte«. Aber in den siebziger Jahren wurde Hamlet »als individualistischer 144 Hamburger, S. 418. Ebd. S. 419. 146 Jäger Manfred: Kultur und Politik in der DDR 1945-1990. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1994, S. 140. 147 Ebd. S. 139. 148 Hamburger, S. 422. 149 Ebd. S. 422. 145 28 Rebell, als anarchistischer Malcontent dargestellt, als ein Aussteiger aus dem etablierten Machtsgefüge«.150 Mit dieser Kennzeichnung begannen heftige politische und ästhetische Diskussionen. Zuerst wurde das 1973 in der Hamlet-Inszenierung von Gert Jurgons in Schwerin dargestellt. Hamlet erschein in einem Kostüm aus Leder, halb Prinzen, halb Rockstar, in einem Zirkuszelt. Das Spiel war eine Mischung mit clownesken Mitteln aus Pantomime und Puppenspiel. Hamlets Stimmungen waren stark wechselnd und impulsiv. Manchmal war er sanft und zärtlich, dann wieder grausam und unbeherrscht. Ein Kernsatz aus Hamlet, wie »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch« der als der Kern der humanistischen Ideologie galt, sprach er auf dem Boden liegend aus. Viele linientreue Kritiker urteilten negativ, nämlich, dass in dieser Hamlet-Inszenierung durch die Aktion, das Tempo und harte Töne »den humanistischen Kern der Dichtung verspielt wurde«. 151 Die Aufführung wurde als einen Angriff auf den Humanismus eingestuft und das war nicht in Übereinstimmung mit »der marxistisch-leninistischen Haltung zum Erbe«.152 Schrader sagt, dass »das Stück in dieser Form nicht mehr unter den Begriff des positiven Erbe fiel und es bestünde wenig Anlaß es ausgerechnet zum 25. Jahrestag der DDR aufzuführen«. 153 und Hamlet wurde von den Kritikern als Nihilisten betrachtet. Das Regieteam antwortete, dass er eher ein Exzentriker war und dass nicht der Humanismus diskutiert werden sollte, sondern Hamlet als Vertreter eines solchen Humanismus.154 Der Regisseur Jurgons selbst entgegnete den Angriff auf seine Inszenierung mit den Worten: »Vom vorliegenden Stück ausgehend war es nicht möglich die Perspektivlosigkeit des untergehenden Feudalismus zu verschleiern, die Brutalität seiner Praktiken zu mildern und die durchaus ehrenwerten Fehlkonzeptionen bürgerlicher oder frühbürgerlicher Opposition (Hamlet) mit dem milden Licht allgemeinmenschlichen Fortschrittsglaubens zu umgeben.«155 In korrekter marxistischer Terminologie benannte er mit diesen Worten den Einwand eines Praktikers gegen die Doktrin vom DDR-Erbe. Benno Besson ging 1977 mit seiner Hamlet-Inszenierung in Berlin noch einen Schritt weiter. In seinem Stück gab es überhaupt keinen Prinzen oder humanistischen Studenten mehr. Hamlet tobte und wütete gegen Alles und Alle und auch gegen seine Eltern. Bemerkenswert war die Reaktion des Geistes seines Vaters, der wütend auf seinen Sohn Hamlet wurde.156 150 Hamburger, S. 436. Pfister, S. 30. 152 Hamburger, S. 439. 153 Schrader, S. 30. 154 Hamburger, S. 438. 155 Ebd. S. 439. 156 Ebd. S. 440. 151 29 Hamlet ist in Bessons Hamlet-Aufführung einen Menschen, der allein gelassen worden ist. Ein Außensteher in einer gefühllosen Welt. Auffallend ist, dass Besson auch alle andere Figuren in Hamlet isoliert leben und auftreten lässt. Wichtig ist Weimanns Kritik an Bessons Inszenierung. Er kritisierte Bessons Interpretation aber lobte sie auch mit den Worten: »die geistige Physiognomie der Gestalt war etwas verflacht, aber der Humanismus der Gestalt war nicht verschwunden doch auf eine andere Ebene verlagert: auf die mehr isolierte Humanität seines warmherzigen Suchens nach menschlichem Kontakt«.157 Besson erweiterte mit dieser Hamlet-Aufführung den Begriff des Humanismus. In Hamlets Rede an die Schauspieler wurde erst recht deutlich, wie Besson den Künstler wichtiger als den Staat fand. »Anstelle des ungeschliffenen Wandermimen, der von einem humanistisch gebildeten Prinzen belehrt wird, gab es hier einen selbstbewußten Künstler, dem höfischen Gönner laienhafte Ratschläge erteilt«.158 Im ganzen Stück konnte man eine Art Drohung hören. Kurz nach der Aufführung würde Besson die DDR verlassen und nach Paris gehen, er leugnete aber, dass er aus politischen Gründen das Land verlassen hatte. Die dritte Hamlet-Inszenierung, die wirklich revolutionär und provokativ genannt werden könnte, wurde von Piet Drescher 1983 in Potsdam dargestellt. Dieser Hamlet betonte die Zwangslage eines Intellektuellen in einem Land unter totaler Überwachung. Alle Personen und Theatermittel zeigten, wie Terror funktioniert. Das Stück enthielt viele deutliche Anspielungen auf die DDR-Gesellschaft und auf die Ängste der Bürger. Drescher lässt zum Beispiel Hamlet die Zeitung Neues Deutschland lesen. Wenn Hamlet gefragt wird, was er liest, antwortet er: »Worte, Worte, Worte.«159 Eine solche Antwort in einem Theaterstück war neu und gewagt. Die Vorstellungen waren alle ausverkauft. Die Reaktion der Partei zeigte, nach der Meinung Hamburgers, aber schon eine Änderung des Zeitgeistes.160 Die SED dachte, dass sie öffentliche Formen von Widerstand oder Widerrede schon entgegneten konnten. Darum wurde dieses Stück nicht verboten. Die SED hatte mehr Angst vor Stücken mit einer undeutlichen Botschaft, wie Othello von Frank Castorf, das letztendlich verboten wurde. Wenn es um die Shakespeare-Forschung und Pflege geht, sehen wir auch eine große Änderung. Der Ton des Theaterschaus in den Shakespeare-Jahrbüchern verändert, wenn Maik Hamburger im Schau eine verständnisvollere Kritik übt an den »Potsdamer Hamlet« aus 1983 und an den »Weimarer Hamlet«. In Neues 157 Schrader, S. 31 und Hamburger, S. 441. Hamburger, S. 443. 159 Ebd. S. 442-444. 160 Ebd. S. 445. 158 30 Deutschland wurde darüber geschrieben, »daß der politische Kontext dem Interesse an den privaten Familienbeziehungen geopfert wird.«161 Hamburger hat darüber eine total andere Meinung. Mit dem Beispiel eines Hamlets in Halle, unter der Regie von Peter Soldau, das er als eine Familientragödie kennzeichnet, macht Hamburger deutlich, dass es gerade eine Wende geben sollte von der historisch-politischen Perspektive zu einer individuellen-privaten Perspektive. Hamburgers Kritik und Denkweise sind wichtig, weil sie eine Revision oder Destruktion des kanonischen DDR-Hamlets darstellen. Die letzte Shakespeare-Inszenierung von Hamlet, die in diesem Abschnitt noch kurz erwähnt wird, ist einzigartig und erfordert eine gesonderte Analyse, die in dem Rahmen dieser Bachelorarbeit zu weit führen würde: Heiner Müllers Stück Die Hamletmaschine. Heiner Müller hatte in den siebziger Jahren schon eine Hamlet-Übersetzung verfasst. Parallel zu dieser Übersetzung schrieb Heiner Müller 1977 Die Hamletmaschine.162 »Er betonte, dass es eine authentische Aufführung, welche die Intention des Autors verwirkliche, im Grunde nicht gebe.«163 Er hielt 1988 eine Rede über die Übersetzung. In dieser Rede nennt er Hamlet einen »Versager. Dieser neue DDR-Hamlet, zurückgezogen in die Privatheit individueller Bedürfnisse und familiärer Konfliktszenarien, in sich widersprüchlich und gebrochen, von allen guten Geistern der humanistischen und sozialistischen Utopie verlassen, desillusioniert und ein Versager - er ist der Hamlet der sich auflösenden DDR und der fallenden Mauer.«164 Diese Worte machen deutlich, dass Heiner Müller den Verfall der DDR sehr deutlich sieht. Er ist sehr kritisch über die Politik der DDR. Sein Hamletprojekt, das nach der Wende aufgeführt wird, bildet die letzte große Shakespeare-Aufführung des DDR-Theaters. 1989 fällt die Mauer und werden die Bundesrepublik und die DDR wiedervereinigt. Kurz danach beginnt ein neues Kapitel der deutschen Hamletgeschichte: In der Shakespeare-Forschung, Shakespeare-Pflege, in der Theaterpraxis und in der DSG, die 1992 wieder vereint wird. 3.3. Shakespeare in der Bundesrepublik Deutschland (1961-1989) Die Entwicklungen der Theaterwelt in der Bundesrepublik waren ganz anders als in der DDR. Die großen politischen und gesellschaftlichen Unterschiede spielten darin eine bedeutende Rolle. Aus verschiedenen Gründen ist es schwieriger, einen totalen Überblick der Theaterwelt 161 Pfister, S. 32. Greiner, Bernhard: Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur: Heiner Müllers Shakespeare Factory. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1989. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: 1989, S. 88-112, hier S. 99. 163 Borgmeier, Raimund: Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West vom 7. Mai 1984 bis 21. April 1985. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1986. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: Ferdinand Kamp Verlag 1986, S. 273-279, hier S. 274. 164 Pfister, S. 33. 162 31 der Bundesrepublik in diesem Zeitraum zu geben. Erstens gab es in der Bundesrepublik keine Staatsvorschriften für den Inhalt der Shakespeare-Inszenierungen, wie in der DDR. Es gab in der Bundesrepublik keinen kanonisierten Hamlet. Regisseure konnten ihre eigen Inszenierung verwirklichen und dadurch gab es eine große Zahl von ganz unterschiedlichen Aufführungen. Zweitens hatten Regisseure und Spieler ausländische Kontakte und dadurch wurden sie auch von der Theaterwelt im Ausland beeinflusst. Und drittens gab es keine direkte Zusammenarbeit zwischen der Shakespeare-Forschung und der Theaterpraxis, wie es in der DDR der Fall war.165 In der Bundesrepublik kommen die politisch inspirierten HamletInterpretationen also nicht von Shakespeare-Forschern, sondern von Regisseuren und Schriftstellern. Martin Walser zum Beispiel sieht in seinem eigenen Theaterstück Der schwarze Schwan eine große Ähnlichkeit mit Hamlet. Er schreibt darüber einen langen Artikel mit dem Titel »Hamlet heute«. Dort nennt er Hamlet einen »intimen Bundgenossen der Generation, der wissen will was sein Vater zwischen 1933 und 1945 getan hat«.166 Mit einem solchen Text bekommt Hamlet sehr stark eine politische und psychologische Bedeutung. Hamlet ist in dieser Weise kein weltfremder, passiver Träumer mehr, sondern jemand, der nach seiner eigenen Identität sucht. Er beobachtet, beschreibt, was er sieht und nimmt eine gewisse Verantwortlichkeit für die Ereignisse um ihn herum. Die Jugendlichen, die dieses Stück in den sechziger Jahren sehen, sind oft auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Dabei ist es nicht mehr wichtig, was Hamlets Vater macht, »sondern was der eigene Vater gemacht hat«. 167 Diese Frage wird sehr oft in der Literatur dieser Zeit gestellt und damit ruft die jüngere Generation die Kriegsgeneration ihre Väter zur Rechenschaft.168 Die Shakespeare-Forschung dagegen hielt sich in der Bundesrepublik gerade sehr weit von der Politik entfernt und richtete sich vor allem »auf gattungs- und topogeschichtliche Zusammenhänge des Hamlets und auf die Rezeptions- und Bühnengeschichte.«169 So entstanden zwei verschiedene Welten, die ohne eine einzige Beziehung zueinander funktionierten. Das Theater in der Bundesrepublik entwickelt sich völlig anders als das Theater der fünfziger Jahre. Brecht, Piscator und Kortner hatten mit ihrer Arbeit in den fünfziger Jahren schon einige Ansätze für Änderungen gegeben. Nachdem der Bau der Mauer die Bundesrepublik und die 165 Pfister, S. 33. Ledebur: seit 1945, S. 247 und Pfister, S.33. 167 Loquai, S. 171. 168 Glaser, S. 47. 169 Pfister, S. 34. 166 32 DDR voneinander getrennt hatte, wurde auch die DSG 1964 getrennt. In der ShakespeareForschung kann man das Jahr 1964 als großen Wendepunkt betrachten. Das Theater änderte sich auch einschneidend. In den fünfziger Jahren hatte man mit den ShakespeareInszenierungen noch auf die Werte des christlichen Humanismus zurückgegriffen, die die Grundlage einer neuen demokratischen Gesellschaft bildeten. Aber in den sechziger Jahren verabschiedete die Theaterwelt diese Anschauung. Das Theater wurde »Schlachtfeld, Tribunal, Propagandaforum, Zirkus, aber nicht mehr Kultstätte und Museum.«170 In vielen Theatern gab es neue Initiativen und Experimente. Sie wollten alles ausprobieren, nichts war verrückt genug. Man wollte lieber Provokation als Poesie.171 Das Theater sollte »zu einem Instrument der »Aufklärung« und antibürgerlichen Agitation umgebildet werden.« Drei Wege sollten zu diesem Ziel führen: »erbarmungslos anklagende Stücke über Gegenwartsprobleme, Änderung der Machtstrukturen innerhalb der Theater selbst und rücksichtslose Demontage des klassischen Erbe.«172 Zusammenfassend könnte man sagen: Klage, Kritik, Umsturz und totale Zertrümmerung. In der Bundesrepublik schrieben die Regisseure selber ihre Shakespeare-Stücke um. Dadurch hatten sie viele Möglichkeiten, nach ihren eigenen Einsichten und Absichten zu arbeiten. In vielen anderen Ländern mussten die Regisseuren mit den festgelegten Texten von professionellen Schriftstellern arbeiten. Dadurch hatten sie viel weniger Freiheit für Experimente oder radikale Änderungen. Wilhelm Hortmann gibt dafür verschiedene Erklärungen.173 Zuerst bekommen die Theater in der Bundesrepublik Subventionen. Dadurch waren die Regisseure nicht von den Wünschen des Publikums abhängig und sie konnten also frei mit ihren Inszenierungen experimentieren. Junge Intendanten und Regisseure konnten so auch eine Stellung bekommen und ihre Ideen ausprobieren. Neben diesem praktischen Unterschied spielte in der Bundesrepublik immer wieder die Schuldfrage des Krieges: Wie konnte es zum Holocaust kommen? Hatten die Klassiker nicht dazu beigetragen, ein repressives Wertesystem zu unterstützen?174 Und mit diesen Fragen kam auch immer wieder die spezifische deutsche politische Annäherung an Shakespeare an die Öffentlichkeit. Es gab 170 Hortmann, S. 237. Ebd. S. 240. 172 Ebd. S. 239. 173 Ebd. S. 241. 174 Glaser, S. 304. 171 33 auch Hamlet-Aufführungen, wo Hamlet in einer Art Traum lebt. Er hat keinen vollständigen Text und keine deutlichen Handlungen.175 Bis dann gab es immer eine gewisse Diktatur der Regie. Die Regisseure bestimmten fast die ganze Inszenierung. »Trotz allem Gerede über Mitbestimmung waren die Schauspieler nämlich oft zu bloßen Werkzeugen in der Hand von Regietyrannen geworden.«176 In manchen Theatern wurde dieses Auftreten der Regie nicht akzeptiert und wurde vereinbart, dass alle Beteiligten über das Stück und die Inszenierung reden und entscheiden durften. Regisseure wie Peter Stein und Peter Palitzsch sahen im Theater eine Möglichkeit, durch dieses sogenannte »Mitbestimmungstheater« neue Ideen an das Publikum weiter zu geben. Durch unter anderem diese Regisseure wurde so eine völlig andere Ästhetik geschaffen. Der Dekor brauchte nicht schön zu sein, durfte hässlich sein. Für Gewalt und Absurdität gab es viele Möglichkeiten. Mit allen Konventionen und Gewohnheiten aus der Vergangenheit rechneten die jungen Regisseure rücksichtslos ab. Viele Konventionen wurden als bürgerlich und altmodisch an die Seite geschoben. Alles war total anders als das Publikum gewohnt war und die Zuschauer wurden »mit atemberaubenden Innovationen in Bild, Sprache, Handlungslogik und Bedeutung überwältigt.«177 Eine sehr interessante Person dieser Zeit ist der Regisseur Peter Zadek. Er wird als das »enfant terrible« seiner Zeit gesehen. Er wurde geliebt, gehasst, bejubelt, beschimpft. Hortmann bemerkt, dass er schwierig auf eine Formel zu bringen ist. Seine Regie war unorthodox und experimentell und seine Stücke zeigen in allen Facetten Widerstand und Aufstand. Theater soll sich nach Zadeks Meinung von der Herrschaft der Vernunft frei machen. Dafür dürfen und müssen Regisseure alle Mittel radikal einsetzen.178 Zadek schreckt davor nicht zurück und fürchtet auch die Kritik nicht. Das wurde vor allem deutlich, als er den Kaufmann von Venedig inszenierte. Seine drei Inszenierungen zogen alle Aufmerksamkeit des Publikums und der Theaterkritiker auf sich. Vor allem seine Shylock-Darstellung rief einen großen Wut der jüdischen Gemeinschaft hervor und führte zu heftigen Diskussionen. Zadek war selber jüdisch und war 1933 mit seinen Eltern nach England geflüchtet und nach dem Krieg nach Deutschland zurück gekehrt. Mit seinen Stücken wollte er nicht wirklich einen politischen Effekt erzielen, sondern mehr »das dramatische Potential des Stücks für ein Theaterereignis ausschöpfen, das den Zuschauer unterhalb der Ebene der Rationalität packte 175 Hortmann, Wilhelm: Spielorte und Bühnenräume. Zur Szenographie von Shakespeare-Inszenierungen der jüngsten Vergangenheit. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1989. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: 1989, S. 13-41, hier S. 29. 176 Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 315. 177 Ebd. S. 242. 178 Vgl. Glaser, S. 121. und Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 269. 34 und überwältigte.«179 Laut Zadek wachsen bei Shakespeare »die schönsten Blumen auf den obszönsten Häufen; einem Sinnenmenschen wie ihm machte es Spaß, den Zuschauern beides zu präsentieren.«180 Aus den vielen heftigen Reaktionen kann man schließen, dass es ihm gelungen war durch Schreckliches eine gewisse Schönheit zu vermitteln. An anderen Inszenierungen von Shakespeare-Stücken wie einen Hamlet im Jahre 1977 konnte man spüren, dass das Publikum sich an seine Weise von Theater-Darstellungen gewöhnt hatte. Man bejubelte oder verdammte seinen Hamlet und Manfred Pfister hält Zadeks Hamlet vor allem für ein Beispiel des Widerstands gegen die Art und Weise, wie Hamlet in der Vergangenheit immer interpretiert worden war.181 Der andere Aufsehen erregende Regisseur der sechziger und siebziger Jahre war der ehemalige Assistent von Piscator während seiner Zeit in Mannheim. Hansgünther Heymes Hamlet wurde 1979 von Rezensenten als das Ende der Theaterrevolution der sechziger und siebziger Jahre betrachtet. Heymes Hamlet bildet eine Art Brücke in die achtziger Jahre. Mit seiner Kritik an die Gesellschaft und seinen Radikal-Inszenierungen vertritt er einerseits noch das Zeitalter der sechziger und siebziger Jahre. Aber andererseits wurde im Theater durch seine Benutzung von Fernsehgeräten, Kameras, Mikrofonen, Transistorradios, Kopfhörern und durch die fehlenden Kulissen eine ganz neue Bühne, eine ganz andere Theaterwelt geschaffen. Mit seiner Benutzung von neuen Medien ist er ein Vorläufer des postmodernen Theaters, das in der achtziger Jahre immer normaler wird.182 Kostüme und Requisiten wie eine Foto- oder Video-kamera gaben Hamlet und anderen Spielern ein absurdes Aussehen. »Hamlet ist ein peinlicher Fremdkörper. Er geht herum, schießt Fotos, bedient die Videokamera, reagiert aber auf nichts und niemand, geht keine Kontakte mehr ein. Er ist bereits weggetaucht in seine leidvolle Innenwelt, zerfallen und gespaltet.«183 Durch die Apparate und weil er so sehr damit beschäftigt ist, spielt Hamlet in der normalen Welt eigentlich keine Rolle mehr, er ist ein Außenseiter, eine seltsame Person geworden. Heyme lässt zwei verschiedene Personen spielen, nämlich »einen Hamlet auf der Bühne, der schier sprachlos in die Sexualphantasien seines Unterbewußten regrediert und einen RegisseurHamlet im Publikum der seine Reflexionen über Lautsprecheranlagen kundgibt.«184 Auffallend ist, dass alle Figuren im Stück auswechselbar sind und auch manchmal von mehreren Schauspielern gespielt werden. 179 Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 275. Ebd. S. 286. 181 Pfister, S. 37. 182 Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 294. 183 Ebd. S. 295. 184 Pfister, S. 37. 180 35 Der Individualist Hamlet aber ist die einzige Figur, die nicht angepasst ist. Er ist eine Art Anachronismus geworden und geht definitiv zu Grunde. Heymes Botschaft mit dieser Hamlet-Inszenierung war, dass »Individualismus nur noch lebt in der Person des an dieser Welt irre Gewordenen.«185 Mit diesen Worten sagt er eigentlich, dass nur Irren in der Gesellschaft individualistisch sein können. Es gab in der Bundesrepublik nicht viele von solchen großen und Aufsehen erregenden Hamlet-Inszenierungen, aber sie bekamen gerade viel Aufmerksamkeit, weil diese Stücke in Zeitungen rezensiert wurden. Der größte Teil der Shakespeare-Inszenierungen waren gar nicht so revolutionär. Es gab noch viele Theater in der Bundesrepublik, wo Regisseure überhaupt nicht experimentieren wollten. »Schließlich stand Shakespearepflege immer noch in einer langen und ehrenhaften Tradition, selbst wenn sie in aufgeklärten Kreisen als museal belächelt wurde.«186 Am Ende der siebziger Jahre hatte man keine Lust mehr auf diese Art von Inszenieren. Die Überzeugungen, welche die revolutionären Hoffnungen der sechziger Jahre getragen hatten, waren verflogen. Die Radikalinszenierungen hatten viel Geld gekostet. »Gesellschaftliche Botschaften waren mit Einbußen an historischer Wahrheit, psychologischer Komplexität und Bedeutungstiefe bezahlt worden.«187 Man fühlte im allgemeinen, dass wesentliche Sachen der Stücke durch die Radikalinszenierungen verloren gegangen waren. Man sprach von einer »Sinnkrise des Theaters«. Manche Regisseure wollten wieder die Schlegel-Tiecksche Übersetzung benutzen oder sogar die Übersetzung von Wieland. Frank Patrick Steckle machte eine Hamlet-Aufführung, die sieben Stunden dauerte. Das bedeutete jedoch nicht, dass man zu einer »Wiederbelebung des humanistischen Gehalts der Stücke« zurückkehrte. Es entstanden verschiedene Arten von neuen Stücken mit Respekt für die Texte von Shakespeare aber in einer neuen Form. Der Regisseur Klaus Michael Grüber fragte sich, wie man Hamlet inszenieren sollte, der über hundert Jahre als »Identifikationsikone für den deutschen Geist und die deutsche Seele gedient hat.«188 Seine Hamlet-Aufführung, die fast sieben Stunden dauerte, wäre dann auch ein ganz anderes Kunstwerk geworden. »Grüber stellte traditionelle Elemente so kunstvoll, aber auch so gezielt künstlich aus, daß das Ganze sowohl als Hommage an die Geschichte wirkte und dennoch nachdrücklich vor Augen führte, daß Tradition nicht zurückgewonnen werden kann. Es war ein Hamlet der Superlative.«189 Bruno Ganz spielte Hamlet und die 185 Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 297. Ebd. S. 310. 187 Ebd. S. 317. 188 Ebd. S. 327. 189 Ebd. S. 321. 186 36 Kosten für diese Aufführung waren achtzig Millionen DM. Grüber wollte nicht mehr einen »aktuellen Hamlet schaffen, damit man durch den Shakespearschen Text zu den Erfahrungen unserer Zeit findet, zu unserer Unruhe und unserer Sensibilität.«190 Er wollte einen Hamlet darstellen, der »die Bedeutungsschwere der eigenen Tradition enthielt, der die Geschichte seiner Rezeption noch einmal in sich sammelte und würdig beschließen konnte.«191 Er wollte nicht unbedingt, dass die Zuschauer in Hamlet ihre eigenen existenziellen Probleme wieder erkennen, sondern er wollte die Kunst und die Rezeptionsgeschichte darstellen. Darum wurde der Text als Poesie ausgesprochen und nicht als Worte, die mit Emotionen geladen waren. Auch in der Weise wie man mit dem Visuellen umging, wurde das deutlich. Alle Mittel wurden für dieses Ziel eingesetzt. Grüber wollte Hamlet als deutscher Kulturmythos, als Kunstdenkmal und als Ikone darstellen. Er wollte Hamlet als schöne Erinnerung für das Publikum bewahren. Die Beziehung vom Theater zu der Geschichte betrachtete Grüber also nicht politisch, sondern ästhetisch. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Hamlet-Inszenierungen in der Bundesrepublik ein ganz breites Spektrum von Interpretationen zeigten. Oft wurden die alten ShakespeareÜbersetzungen wieder benutzt und so wieder zu Ehren gebracht. Das Theaterstück Die Hamletmaschine von Heiner Müller bildete 1990, wie schon erwähnt, einen Übergang zu einer neuen Zeit. Seit 1990 konnten die Bundesrepublik und die DDR und die beiden Deutschen Shakespeare-Gesellschaften wieder zusammenwachsen. Schlussbetrachtung In dieser Bachelorarbeit ist analysiert worden, wie Shakespeares Werke und vor allem die Dramenfigur Hamlet in der Nachkriegszeit bis zur Wende interpretiert wurden und welche Bedeutung die Figur Hamlet und das Drama Hamlet hatte. Dabei bin ich von der übergreifenden Hypothese ausgegangen, dass die Interpretation von Hamlet fast immer eine Beziehung zu der jeweiligen politischen Situation der verschiedenen »Deutschländer« im 19. und 20. Jahrhundert hatte. Im Kapitel Vorgeschichte ist gezeigt worden, dass die Hamlet-Interpretationen vom Vormärz bis einschließlich den Zweiten Weltkrieg (1800-1945) immer mit der Politik verbunden waren. Der romantische Hamlet und das Illusionstheater von unter anderem Max Reinhardt bildeten darauf eine Ausnahme. 190 191 Hortmann: XX. Jahrhundert, S. 323. Ebd. S. 323. 37 Im zweiten Kapitel ist gezeigt worden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Diskussionen über das Erbe und die Pflege deutscher kultureller Tradition und Diskussionen über die politischen Ideologien sehr verschiedene Einsichten und Meinungen über die Aufnahme und Pflege von Shakespeares Werken und vor allem Hamlet in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR bildeten. In der DDR gab es einerseits eine Kontinuität mit dem klassischen Erbe, weil man die gängige Shakespearetradition benutzte. Andererseits gab es einen totalen Bruch mit den bestehenden Interpretationen, weil Shakespeares Werke in der DDR politisch, nämlich marxistisch, interpretiert wurden und auch benutzt um spezifische -sozialistisch humanistische- Werte an die Bürger der DDR zu vermitteln. Darum hatten in der DDR die Shakespeare-Forschung und das Shakespearetheater in den fünfziger Jahre die politische Aufgabe, die Tradition des sozialistischen Humanismus zu verbreiten. Shakespeares Werke wurden in den sozialistischen Kanon aufgenommen, weil man Shakespeare als Vorläufer dieses Humanismus sah. Hamlet wurde als Ikone des neuen sozialistischen Menschen betrachtet. Diese Kulturpolitik der SED bedeutete für viele Künstler eine große Einschränkung ihrer kreativen Freiheit. In der Bundesrepublik gab es keine Vorschriften der Regierung und waren die Künstler frei in ihrer Wahl. Direkt nach dem Krieg wollten Künstler und Zuschauer sich von politischen Ansichten fernhalten und sich weder mit der Schuldfrage noch mit der Nazizeit beschäftigen. Man wollte eine Kontinuität mit der Zeit vor 1933 und benutzte klassische Werke, mit Nachdruck auf die christlichen, humanistischen Werte. Für die Shakespearestücke und vor allem Hamlet bedeutete das, dass sie keine politische Bedeutung bekamen. Die HamletInszenierungen von Stroux und Sellner waren populär, weil sie zeitlos und unpolitisch waren. Mit Kortner wurde das unpolitische Theater der Bundesrepublik der fünfziger Jahre beendet. Im dritten Kapitel ist dargestellt worden, wie die Unterschiede in den Interpretationen von Shakespeares Werken in der Bundesrepublik und der DDR 1964 zu einer Trennung der 'Deutsche Shakespeare Gesellschaft' (DSG) führten. Die Trennung durch die Mauer spielte dabei natürlich auch eine große Rolle. In der Bundesrepublik gingen Shakespearetheater und Shakespeare-Forschung getrennte Wege, aber in der DDR blieben sie miteinander verbunden. In der DDR stand immer noch die politische, marxistische Interpretation von Hamlet zentral. Hamlet lebte in seiner Zeit schon nach denselben humanistischen Idealen, wie sie in der DDR nachgestrebt werden, so hieß es offiziell. Die meisten Hamlet-Inszenierungen blieben diesem Denken bis 1964 mehr oder weniger treu. Die Hamlet-Aufführung von Adolf Dresen und Maik Hamburger bildete aber einen Wendepunkt. Sie bekam sehr scharfe Kritik der SED und 38 wurde verboten. Die Zensur und Aufsicht der SED wurde 1965 noch strenger. In den siebziger Jahren wurden die Hamlet-Aufführungen ganz deutlich anders. Der politische Charakter verschwand. Die Inszenierungen von Jurgons und Besson stellten Hamlet als einen individualistischen Rebellen dar, als anarchistischen Aussteiger. Das führte zu starken politischen und ästhetischen Diskussionen, aber es hatte keine Folgen für die Regisseure und ihre Arbeit. Die Hamlet-Inszenierung von Drescher von 1983 war wieder politisch, aber gerade indirekt gegen die DDR-Politik. Hamlet ist ein Intellektueller, der unter dem Terror der Regierung leidet. Am Ende der achtziger Jahre verschob die Hamlet-Interpretation unter Einfluss von Maik Hamburger von einer historisch-politischen zu einer individuellen-privaten Perspektive. Diese Änderung bedeutete mindestens eine Revision des kanonischen DDR-Hamlets oder sogar eine Destruktion dessen. In Heiner Müllers Die Hamletmaschine ist Hamlet ein Versager geworden und Symbol der sich auflösenden DDR und des Falles der Mauer. In der Bundesrepublik waren Shakespeare-Forschung und Theater nicht explizit miteinander verbunden. Die Regisseure schreiben die Shakespearestücke um, und haben viel Freiheit sie auf ihre eigene Weise zu inszenieren. Der Einfluss von bestimmten Regisseuren war so groß, dass man von einer Tyrannei der Regisseure sprach. Als Reaktion darauf entstand ein sogenanntes Mitbestimmungstheater. Es gab also viele verschiedene Hamlet-Aufführungen in der Bundesrepublik aber ohne direkte politische Bedeutung. In den sechziger und siebziger Jahren gibt es in der Bundesrepublik immer mehr Radikalisierungen von Shakespearestücken. Vor allem die Hamlet-Inszenierungen von Zadek und Heyme fallen auf durch ihre Auffassung von Hamlet, die radikal anders ist, aber auch keine politische oder historische Interpretation bietet. Neben den Radikalinszenierungen wurde Hamlet übrigens in vielen Theatern ohne Experimente aufgeführt. In den achtziger Jahren benutzte man in der Bundesrepublik wieder die ursprüngliche Schlegel-Übersetzung, man inszenierte aber in einer neuen Form. Auch dann gibt es keinen politischen Hamlet. Zum Schluss kann man sagen, dass Hamlet in der Periode 1945 bis 1989 in der DDR vor allem mit politischen Absichten aufgeführt worden ist, während man in der Bundesrepublik im allgemeinen frei war bei der Wahl der Interpretation des Stückes. 39 Bibliographie Primärliteratur: - Shakespeare, William: Hamlet. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Holger M. Klein. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1984 - Shakespeare, William: Hamlet. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Frank Günther. München: DTV 201410 Sekundärliteratur: - Böck Christine/ Neubauer, Martin: William Shakespeare. Hamlet. Inhalt-HintergrundInterpretation. München: Mentor Verlag 2010 - Borgmeier, Raimund: Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West vom 7. Mai 1984 bis 21. April 1985. In: Deutsche Shakespeare-Gesellschaft West. Jahrbuch 1986. Hrsg. v. Werner Habicht. Bochum: Ferdinand Kamp Verlag 1986, S. 273-279 - Boterman, Frits: Cultuur als macht. Cultuurgeschiedenis van Duitsland 1800-heden. 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