DR. REINHARD MARX - Rechtsanwalt RA Dr. Reinhard Marx - Mainzer Landstr. 127a – D- 60327 Frankfurt am Main Bundesverwaltungsgericht 10. Senat Simsonplatz 1 Mainzer Landstraße 127a (Eingang Rudolfstraße) D-60327 Frankfurt am Main Telefon: 0049 / 69 / 24 27 17 34 Telefax: 0049 / 69 / 24 27 17 35 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ramarx.de 04107 Leipzig 3489/08M/S -- Bei Antwort und Zahlung bitte angeben. 5. Dezember 2012 In der Verwaltungsstreitsache S. S. A. gegen Bundesrepublik Deutschland BVerwG 10 C 20.12 wird zur Vorbereitung auf die Revisionsverhandlung und im Hinblick auf die Verfügung des Berichterstatters des Senats vom 18. Oktober 2012 zu der Frage, wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012 – C-71 und C-99/11 – Y. und Z. - zur Auslegung und Anwendung der Frage der Verfolgung aus Gründen der Religion (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG - RL 2011/95/EU) auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einwirkt und zu den sich hieraus ergebenden Folgerungen für das anhängige Verfahren Stellung genommen. Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse von 1822 (BLZ 50050201) Kto.-Nr. 668 702 Gerichtsstand für Streitigkeiten aus Anwaltsvertrag ist Frankfurt am Main Leitsätze: 1. Ausgangspunkt der Gefahrenbewertung (Verfolgungsprognose) ist nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs die „religiöse Identität“ des Antragstellers (Rdn. 70). Daher bedarf es insbesondere der sorgfältigen Feststellung des Umfangs und des subjektiven Verständnisses der religiösen Praxis des Antragstellers. Anschließend ist die Situation der Personen im Herkunftsland, die dort in der Art und Weise wie der Antragsteller ihren Glauben leben, zu prüfen. Erleiden diese wegen der festgestellten Glaubenspraxis Verfolgungen, muss auch der Antragsteller begründet Verfolgung befürchten. 2. Die Richtlinie 2004/83/EG stellt mit guten Gründen in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) unveränderbare und die Identität des Antragstellers prägende Merkmale als gleichrangig nebeneinander, weil diese sich gegenseitig beeinflussen und ergänzen und auch nicht voneinander trennen lassen. Dies verdeutlicht gerade die religiöse Identität in ihrer die Ganzheit des Menschen erfassenden Totalität, die einerseits Ausdruck kulturell gefestigter Erfahrung und Hingabe an einen unbedingten Glauben ist, zugleich aber auch nach außen auf Entfaltung drängt und sich in Gemeinschaft vollziehen will. 3. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die im Rahmen der Gefahrenanalyse „willensgesteuerte Handlung des Asylbewerbers“, die über den „Kernbereich“ seiner Religionsfreiheit hinausgehen, nicht berücksichtigt (BVerwGE 138, 270 (288) = NVwZ 2011, 755 Rdn. 50), verkennt die Schutzwirkung der Richtlinie 2004/83/EG, wie sie vom Gerichtshof beschrieben wird. Der Richtlinie ist bei religiösen Verfolgungen eine Unterscheidung in ein internum forum und ein externum forum fremd (Rdn. 63). Eine die handlungsorientierte Dimension der religiösen Identität (Rdn. 70) negierende rechtliche Bewertung ist auch mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen kaum zu vereinbaren, weil sie das – willensgesteuerte - Recht auf Selbstbestimmung des Menschen, der sich als ein geistig-sittliches Wesen versteht, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (BVerfGE 45, 187 (227); 117, 71 (89)), verfehlt. 4. Die Prüfung der „religiösen Identität“ des Antragstellers und seiner darauf beruhenden konkreten Glaubenspraxis ist anhand der in der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Kriterien und Regeln nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorzunehmen. Die Glaubwürdigkeitsprüfung kann sich nur auf die Frage beziehen, ob dem Betroffenen geglaubt wird, dass er ein durch seine religiöse Identität geprägtes Leben führt. Davon zu unterscheiden ist die Glaubhaftmachung der hierfür maßgebenden Tatsachen. Dies ist keine Frage der Glaubwürdigkeit, sondern eine nach den Kriterien der Schlüssigkeit und Stimmigkeit vorzunehmende Prüfung. Glaubhaftmachung des Sachverhalts heißt demnach, dass der Asylsuchende die individuellen Tatsachen seiner Glaubenspraxis schlüssig, stimmig, konkret und erlebnisfundiert darzulegen hat. Diese Tatsachen bilden anschließend die Grundlage für die Gefahrenbewertung und in diesem Rahmen auch für die Glaubwürdigkeitsprüfung. 5. Die für die Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs vom 5. September 2012 aufgeworfene Frage ist danach dahin zu beantworten, dass die Behörden im Rahmen der tatsächlichen Feststellung der Verfolgungsgefahr den Antragsteller zwar fragen dürfen, ob er im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland auf die Ausübung seiner Religionsfreiheit verzichten wird. Die primärrechtlich geschützte Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh) erfordert jedoch darüber hinaus, dass sie diesen auch nach den für seinen Verzicht maßgebenden Gründen 2 gezielt befragen. Erklärt er, dass er wegen der festgestellten Gefahr drohender Verfolgung, die er für den Fall der Entfaltung religiöser Aktivitäten befürchtet, die wesentlich für seine religiösen Identität sind, auf die öffentliche Glaubensbetätigung verzichten wird, ist seine Furcht vor Verfolgung objektiv begründet und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. In diesem Sinne wird das Urteil auch von der britischen Rechtsprechung verstanden (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 95 bis 117 - MN). 6. Dieses Ergebnis folgt mit hinreichender Klarheit aus einer vollständigen Analyse des Urteils des Gerichtshofs vom 5. September 2012 im Lichte anerkannter Grundsätze des Flüchtlingsrechts. Die Entscheidung im anhängigen Verfahren setzt damit nicht voraus, dass zuvor erneut eine offene unionsrechtliche Zweifelsfrage geklärt werden müsste. Gliederung A. B. C. Zum Verständnis des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012 Rdn. 1 I. Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) 2 II. Begriff der „schwerwiegenden“ Menschenrechtsverletzung 7 III. Spezifische Formen der Verfolgungshandlung bei religiösen Verfolgungen 11 IV. Subjektiv geprägtes Verständnis der Religionsfreiheit 17 Zu der vom Berichterstatter des Senats aufgeworfenen Frage 19 I. Ausgangspunkt der aufgeworfenen Fragestellung 19 II. Begründete Furcht vor Verfolgung 23 III. Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Verfolgung 30 1. Methodische Kriterien für die Wahrscheinlichkeitsprüfung 30 2. Funktion der „religiösen Identität“ im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsprüfung 37 a) Maßgeblichkeit der individuellen Lage (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG 37 b) Bedeutung der „religiösen Identität“ für die Gefahrenanalyse 41 c) Handlungsorientierter Begriff der „religiösen Identität“ 47 3. Risikobewertung bei religiösen Verfolgungen aus polizeirechtlicher Sicht 51 4. Darf die Vermeidbarkeit der Verfolgung in die Risikobewertung eingestellt werden? 54 5. Darf nach dem Verzicht auf die Glaubensbetätigung gefragt werden? 56 6. Beantwortung der Frage des Berichterstatters 65 7. Prüfung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers 66 IV. Vorlagefrage 72 Folgerungen für das anhängige Verfahren 76 I. Allgemeine Lage für gläubige Ahmadis im Herkunftsland des Klägers 76 II. Individuelle Lage des Klägers 84 3 A. Zum Verständnis des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012 1. Die vom Senat dem Gerichtshof vorgelegten Fragen sind vollständig geklärt worden. Ausgehend von der spezifisch deutschen Dogmatik zur Verfolgung aus religiösen Gründen hatte der Senat dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Klärung vorgelegt, die sich auf drei herunter brechen lassen: 1. Wann liegt eine Verfolgungshandlung vor? 2. Ist die Freiheit der öffentlichen Glaubensbetätigung geschützt? 3. Ist ein Verzicht auf die öffentliche Ausübungsfreiheit zwecks Vermeidung von Verfolgung zumutbar? I. Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) 2. In der Vorlagefrage Nr. 1 hatte der Senat ausgehend von seiner ständigen Rechtsprechung die Frage aufgeworfen, ob eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit nur dann vorliegt, wenn ihr Kernbereich betroffen ist. Als Kernbereich identifizierte er dabei die Ausübungsfreiheit im privaten Bereich. Für den Senat liegt die von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG vorausgesetzte schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechtes nur dann vor, wenn die Verfolgung der Religionsbetätigung im privaten Bereich gilt. Bereits gegen die Formulierung dieser Frage sprechen methodische Bedenken, weil nicht zwischen den tatbestandlichen Merkmalen der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den für diese maßgeblichen Gründen (Verfolgungsgründe - Art. 10 RL 2004/83/EG) differenziert wird. Vielmehr bezieht der Senat sich bei der Frage, ob Maßnahmen die erforderliche Schwere aufweisen, auf den verengten, lediglich privaten Schutzbereich der Religionsfreiheit und definiert damit die Verfolgung selbst nach Maßgabe der Kriterien der Verfolgungsgründe. 3. Auf diesen methodischen Fehler weist der Gerichtshof mit der Feststellung hin, dass nach Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG zwischen der Verfolgung und den Verfolgungsgründen eine Verknüpfung bestehen (Rdn. 55), also zunächst zwischen beiden getrennt werden muss. Was aber getrennt werden muss, muss auch jeweils eigenständig bestimmt werden. Es kann daher im Rahmen von Art. 9 RL 2004/83/EG nicht auf eine „schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit“ ankommen. Maßgebend ist vielmehr die schwerwiegende Verletzung eines „grundlegenden Menschenrechts“ (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG) unabhängig 4 davon, ob damit auf das Recht des Betroffenen auf politische Betätigung, auf die sexuelle Selbstbestimmung oder Religionsfreiheit gezielt wird. Bei der Verfolgung wird vielmehr danach gefragt, ob in der Art und Weise der Repression eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechtes erkannt werden kann (Rdn. 65). Wird diese Frage bejaht, ist nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie im Rahmen der Anknüpfung danach zu fragen, ob damit ein geschützter Status des Betroffenen, etwa die politische Meinungsfreiheit (politische Überzeugung) oder die Religionsfreiheit getroffen werden soll. 4. Grundlage für den methodischen Ansatz des Senats ist, dass er den 1987 in der deutschen Rechtsprechung entwickelten Ansatz, wonach nur die schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit einen Asylanspruch begründet, zur Grundlage der Vorlagefragen gemacht hat. Diese deutsche Dogmatik weist der Gerichtshof mit der Feststellung zurück, dass bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit den Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abgestellt werden darf, „in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist“ (Rdn. 65). Es ist damit für die Bestimmung der Verfolgung unerheblich, ob die Maßnahmen in die private oder öffentliche Glaubenspraxis eingreifen. Vielmehr kommt es auf die schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte an. 5. Der Zweck des Flüchtlingsschutzes erfordert eine methodisch sachgerechte Erfassung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs und damit eine Trennung zwischen seinen einzelnen Elementen. Der Verfolgungsbegriff kann nicht präzise definiert werden. Während die Schwere einer Menschenrechtsverletzung nicht abschließend geregelt ist und wegen des jederzeit wandelbaren Charakters der Art, Schwere und Erscheinungsform politischer Repressionen auch nicht enumerativ geregelt werden kann, Maßnahmen der Verfolger sich nämlich wandeln und in unterschiedlichen Formen auftreten können, sind die den Maßnahmen zugrunde liegenden Gründe in der Konvention wie in der Richtlinie abschließend geregelt. Dies hat seinen Grund darin, dass die Schutzbedürftigkeit der in ihren Menschenrechten verletzten Personen einen von den Vertragsstaaten akzeptierten Konsens über die Anwendung des maßgeblichen Diskriminierungsverbots voraussetzt, wie er seinen Ausdruck in den Konventionsgründen findet, der Grund für die Menschenrechtsverletzung also anders als deren Form (Schwere) nicht offen bleiben kann. 5 6. Unmissverständlich stellt der Gerichtshof klar, um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung gelten können, sei es nicht angebracht, zwischen Handlungen, die in einen „Kernbereich“ („forum internum“) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollten, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfassen solle, und solchen, die diesen „Kernbereich“ nicht berührten, zu unterscheiden (Rdn. 62). Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof hatte keiner der Beteiligten, weder die Kommission noch die französische noch die niederländische Regierung, diesen Ansatz vertreten. Auch die Bundesregierung wies in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass eine derartige Unterscheidung nicht in das Unionsrecht übertragen werden könne (Stellungnahme der Bundesregierung in den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C-99/11 vom 17. Juni 2011, Rdn. 34). Der Gerichtshof hebt deshalb auch hervor, diese sei nicht vereinbar mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in der Richtlinie, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbeziehe. Zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung im Sinne der Richtlinie darstellen könnten, gehörten nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (Rdn. 63). Damit schafft der Gerichtshof eindeutige Klarheit in dieser in der deutschen Rechtsprechung so kontrovers diskutierten Frage. II. Begriff der „schwerwiegenden“ Menschenrechtsverletzung 7. Von diesem Ansatz aus beantwortet der Gerichtshof die Vorlagefrage Nr. 1 und führt hierbei aus, dass die Religionsfreiheit eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft sei und ein grundlegendes Menschenrecht darstelle. Ein Eingriff in dieses Recht könne „so gravierend sein, dass es einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden“ könne (Rdn. 47). Damit verweist der EuGH auf den notstandsfesten Kern der Menschenrechte, zu dem insbesondere das Folterverbot nach Art. 3 EMRK sowie das Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK gerechnet werden. Die anderen in Art. 15 Abs. 2 EMRK bezeichneten Rechte sind für das Asylverfahren praktisch nicht relevant, wie z.B. das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK). Das in Art. 7 EMRK enthaltene strafrechtliche Rückwirkungsverbot gibt für die Begriffsbestimmung der 6 Verfolgung wenig her. Damit muss die Verfolgung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG die begrifflichen Kriterien einer Foltermaßnahme oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung erfüllen. Weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen sind danach nicht erfasst. 8. Auffallend ist, dass sich der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nicht auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot bezieht. Im Blick auf die erforderliche Art der Repressionen weist dieser darauf hin, dass die Verfolgung eine „äußerst gravierende Handlung“ darstelle, weil mit ihr „in flagranter Weise hartnäckig die grundlegendsten Menschenrechte“ vorenthalten würden. Geht es hier um die Vorenthaltung von Menschenrechten, also um klassische Formen der Diskriminierung aus religiösen Gründen, bezieht sich der Generalanwalt für den Eingriff in derartige Rechte auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Refoulementschutz nach Art. 9 EMRK. So habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur „unter außergewöhnlichen Umständen, wenn für den Betroffenen die „tatsächliche Gefahr einer flagranten Verletzung“ der Religionsfreiheit bestehe, eine Verpflichtung der Vertragsstaaten zum Refoulementschutz anerkannt. Zur Verdeutlichung fasst der Generalanwalt in seinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage zusammen, dass eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG anzunehmen sei, wenn der Antragsteller aufgrund der Ausübung der Religionsfreiheit oder aufgrund von Verstößen gegen Beschränkungen dieser Freiheit der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt sei, „exekutiert, gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, versklavt oder in Leibeigenschaft gehalten oder willkürlich verfolgt oder inhaftiert zu werden (Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den verbundenen Rechtssachen C-71/11 und C99/11 vom 19. April 2012, Rdn. 56, 76, 107). 9. Diese Ausführungen übernimmt der Gerichtshof nicht. Dies dürfte in dem fragwürdigen methodischen Ansatz des Generalanwalts begründet sein. So kann der Refoulementschutz nach Art. 33 GFK, um den es beim Flüchtlingsschutz geht, nicht nach Maßgabe des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für Art. 9 EMRK anerkannten Refoulementschutzes bestimmt werden. Ferner hat der Gerichtshof in aller Deutlichkeit Refoulementschutz bislang nur für Art. 3 EMRK anerkannt und Refoulementschutz aus anderen Konventionsnormen nur dann bejaht, wenn deren Verletzung im Ergebnis eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung zur Folge hat (zur neueren Rechtsprechung des EGMR 7 Lehnert, Asylmagazin 2012, 226 (Refoulementschutz nach Art. 5 und 6 EMRK)). Darüber hinaus berücksichtigt der Generalanwalt anders als der Gerichtshof nicht den Kumulationsansatz nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Folglich macht sich der Gerichtshof auch nicht die extremen Zuspitzungen des Generalanwalts zu eigen, sondern formuliert eher abstrakt, dass die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen „so gravierend“ sein muss, dass der Antragsteller in „ähnlicher“ Weise wie bei Zuwiderhandlungen gegen Art. 3 EMRK davon betroffen sein muss. Dies wird von der britischen Rechtsprechung, die apodiktisch feststellt, dass nur nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfeste Rechtsverletzungen Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG sein könnten (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 100 Buchst. b) – MN), verkannt. Demgegenüber weist auch der Oberste Gerichtshof der Republik Irland darauf hin, dass weitverbreitete Diskrimierung als Ausdruck eines Klimas der Gleichgültigkeit, Feindschaft und Intoleranz gegenüber einer bestimmten Volksgruppe die Merkmale der Verfolgung nach der Konvention erfüllen könne (High Court (2011) IEHC 431 Rdn. 4, 7 – E.D.). Eine Vertiefung dieser Frage kann jedoch dahinstehen, da nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen vorliegend religiöse Aktivitäten der Amadis in Pakistan mit Art. 15 Abs. 2 EMRK zuwiderlaufenden Maßnahmen sanktioniert werden. 10. Nach der Auffassung des Gerichtshofs muss es sich weder um „äußerst“ gravierende noch um „hartnäckige, flagrante“ Rechtsverletzungen handeln. Bei der Frage, ob weniger gravierende Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung „so gravierend“ sind wie Verletzungen absolut geschützter Rechte (Art. 15 Abs. 2 EMRK), bleibt den Mitgliedstaaten damit ein erheblicher Beurteilungsspielraum, den der Gerichtshof offensichtlich nicht einschränken wollte. Zu bedenken ist auch, dass mit der Formulierung „in ähnlicher Weise“ zureichender Spielraum für einen offenen und pragmatischen Umgang mit dem Begriff der „schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung“ geschaffen wird, was ja insbesondere auch durch die Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie bestätigt wird. Der Gerichtshof hatte keinen Anlass, den Kumulationsansatz näher zu vertiefen, weil die Vorlagefragen ausschließlich auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie gemünzt waren. Damit kann festgehalten werden, dass sich der Gerichtshof lediglich zu Buchstabe a) von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG geäußert, den in Buchst. b) enthaltenen Kumulationsansatz jedoch nicht abschließend geklärt und der Generalanwalt diesen überhaupt nicht behandelt hat. 8 III. Spezifische Formen der Verfolgungshandlung bei religiösen Verfolgungen 11. Religiöse Verfolgung kann verschiedene Formen annehmen. Je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls einschließlich der Auswirkungen auf den Betroffenen, zählt dazu das Verbot, Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zu sein, das Verbot der Unterweisung in dieser Religion, das Verbot, die Riten dieser Religion in Gemeinschaft mit anderen privat oder öffentlich auszuüben, oder schwere Diskriminierung von Personen wegen ihrer Religionsausübung, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder ihres Wechsels der Glaubensrichtung (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 72). Am Beispiel religiöser Verfolgung wird im Handbuch des UNHCR also der generelle Ansatz des Verfolgungsbegriffs aufgegriffen, wonach die Bedrohung des Lebens oder der Freiheit aus den Gründen der Konvention stets eine Verfolgung darstellt, hingegen andere Verstöße gegen die Menschenrechte schwerwiegend sein müssen (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 51). 12. Nicht jede religiöse Diskriminierung stellt daher notwendigerweise religiöse Verfolgung dar. Der Ansatz des Gerichtshofs, dass nicht jede Handlung, die gegen das in Art. 10 Abs. 1 GRCh verankerte Recht auf Religionsfreiheit verstößt, eine Verfolgung darstellt (Rdn. 61), bringt ein im Flüchtlingsrecht anerkanntes Prinzip zum Ausdruck (Musalo, Claims for Protection Based on Religion, IJRL 2004, 165 (177), mit Hinweisen). Der Verfolgungsbegriff schließt zwar konzeptionell alle Menschenrechte ein. Den Flüchtlingsschutz unterscheidet jedoch vom Menschenrechtsschutz, dass mit diesem nicht die ungehinderte größtmögliche Ausübungsfreiheit der Menschenrechte gewährt, sondern die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt werden soll, wenn deren Verletzung ernsthaft genug ist. Allgemein anerkannt ist, dass Bedrohungen von Leben und Freiheit stets als Verfolgung angesehen werden (so auch BVerfGE 54, 341 (357) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641 = JZ 1980, 804 – Ahmadiyya I). Einigkeit besteht auch, dass schwerwiegende Diskriminierungen Verfolgungen darstellen. Wann Diskriminierungen schwerwiegend sind, wird jedoch sehr unterschiedlich bewertet. Dem Begriff der Verfolgung ist damit ein unvermeidbares Element der Relativität immanent (Goodwin-Gill/McAdams, The Refugee in International Law, 3. Aufl., 2007, S. 132), das ja auch die Abgrenzung zwischen unmenschlichen und allgemein hinzunehmenden Maßnahmen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kennzeichnet (EGMR, RJD 1999-V = HRLJ 1999, 238 - Selmouni v. France; EGMR, HRLJ 1999, 459 9 (468) – V v UK; EGMR, HRLJ 2002, 378 (384) – Kalashnikov; s. auch EGMR, HRLJ 1990, 335 (362) = EZAR 933 Nr. 1 = NJW 1990, 2183 – Soering; EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1332) Rdn. 135 – Saadi; s. auch Harris/O'Boyle/ Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, 1995, S. 62). 13. In der Staatenpraxis geht es hierbei in der Regel um Fälle der Vorenthaltung an sich allgemein zugänglicher Bildungs- und beruflicher Maßnahmen, die Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften mit Blick auf ihre Zugehörigkeit zu diesen vorenthalten werden. Hier ist die Praxis generell restriktiv (Hinweise bei Musalo, Claims for Protection Based on Religion, IJRL 2004, 165 (178 ff.)). Verfolgung liegt aber vor, wenn Maßnahmen darauf gerichtet sind, die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft physisch zu vernichten oder mit vergleichbar schweren Sanktionen, z.B. Austreibung oder Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen, zu bedrohen. Elementare Lebensgrundlagen können auch berührt werden, wenn der Zugang zu den normalerweise verfügbaren Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen versperrt wird (BVerfGE 76, 143 (158) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87 – Ahmadiyya II; High Court Ireland (2011) IEHC 431 Rdn. 7 – E.D.). Ob solche Akte der Diskriminierung eine schwerwiegende Diskriminierung darstellen, muss unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Allein die Herausbildung eines feindlichen Umfeldes für eine religiöse Minderheit verbunden mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen reicht nicht aus. Der Antragsteller muss mehr vorbringen, nämlich die Erwartung ernsthafter und nicht zu rechtfertigender Schädigungen (Helton/Münker, Religion and Persecution, IJRL 1999, 310 (319)) Dabei wird die Furcht vor Verfolgung umso eher begründet sein, wenn der Antragsteller bereits eine Reihe diskriminierender Akte dieser Art zu erdulden hatte und daher ein kumulatives Moment vorliegt (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 55; Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG). 14. Die Verfasser der Konvention wollten den Begriff der Verfolgung nicht begrifflich festlegen, weil sie die Unmöglichkeit erkannten, alle denkbaren Formen ernsthafter Einschränkungen von Rechten aus Gründen der Konvention zu definieren. Anders als es die Bezugnahme auf die Rechte, die unter dem absoluten Schutz von Art. 15 Abs. 2 EMRK stehen, nahe legt, bestand auf der Bevollmächtigtenkonferenz von vornherein kein starres und absolutes Verständnis von Verfolgung nach der Konvention. Andererseits entwickelt auch der 10 Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen von Art. 3 EMRK kein starres Anwendungskonzept: 15. Zur gebotenen Abgrenzung von insoweit unbedenklichen Maßnahmen kommt es nach seiner Rechtsprechung darauf an, ob die Maßnahmen darauf abzielen, den Betroffenen zu erniedrigen oder zu entwürdigen, und ob in Ansehung der Auswirkungen dieser Maßnahme die Persönlichkeit des Betroffenen in einer Weise beeinträchtigt wird, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar ist. Maßnahmen »unmenschlichen« Charakters im Sinne von Art. 3 EMRK treten in unterschiedlichen Formen auf. Körperliche Angriffe, die Verwendung psychologischer Vernehmungsmethoden oder die Inhaftierung einer Person unter unmenschlichen Bedingungen verletzen Art. 3 EMRK. Auch wenn eine Maßnahme nicht den erforderlichen Grad an »unmenschlicher Behandlung« erreicht hat, kann sie gleichwohl »erniedrigenden« Charakter haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verweist auf den absoluten Charakter von Art. 3 EMRK. Zwar wäre es absurd, wegen ihres gewöhnlicherweise für den Betroffenen erniedrigenden Charakters eine Bestrafung generell als »erniedrigend« im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen. Vielmehr müssten zusätzliche Elemente festgestellt werden können, um eine derartige Feststellung treffen zu können. Die Erniedrigung oder Entwürdigung müsse also eine bestimmte Schwere erreicht haben und in jedem Fall aber über das übliche Maß Bestrafungsmaßnahmen an Erniedrigung verbunden sei. hinausgehen, Daraus, dass das gewöhnlicherweise Art. 3 EMRK mit ausdrücklich »unmenschliche« und »erniedrigende« Bestrafung verbiete, könne geschlossen werden, dass zwischen derartiger und allgemeiner Bestrafung grundsätzlich ein Unterschied bestehe. Die Demütigung oder Herabsetzung müsse einen bestimmten Grad erreichen, um als »erniedrigende« Bestrafung eingestuft zu werden, die gegen Art. 3 EMRK verstoße und jedenfalls anders als das gewöhnliche Element der Demütigung wirken. Die Einordnung sei naturgemäß relativ. Alles hänge von den Umständen des Einzelfalles ab und insbesondere von der Art und dem Zusammenhang der Strafe wie auch der Art und Weise ihrer Durchführung (EGMR, Series A 26 = EuGRZ 1979, 162 (164) (§ 30) – Tyrer) 16. Die Flüchtlingseigenschaft beruht auf der Gefahr ernsthafter Schädigungen, setzt jedoch nicht tödliche Gefahren voraus. Ernsthafte Schädigungen einzuschließen, ist Zweck des Kumulationsansatzes. Zusätzlich zum Entzug grundlegender bürgerlicher und politischer Rechte wollten die Verfasser der Konvention auch ernsthafte soziale und wirtschaftliche Auswirkungen von gezielten Maßnahmen mit dem Konzept der Verfolgung auffangen 11 (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 102 f.). Dabei ist ein komplexes Bündel von Faktoren zu berücksichtigen, wie z.B. die Intensität und Dauer der Maßnahmen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit, das Familienleben oder die Möglichkeit, am politischen Leben einer Gesellschaft teilzunehmen (Zimmermann/Mahler, in: Zimmermann, The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 1 A para. 2, Rdn. 227). Für die Praxis bedeutsam ist der Hinweis des Gerichtshofs, dass alle Akte zu berücksichtigen sind, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung gelten können (Rdn. 68). Diese auf Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG zurückgehende Praxisanleitung empfiehlt bereits das Handbuch von UNHCR. IV. Subjektiv geprägtes Verständnis der Religionsfreiheit 17. Vor Behandlung der vom Berichterstatter des Senats aufgeworfenen Frage nach dem Verzicht auf die religiöse Ausübungsfreiheit ist es sinnvoll die Klärung der Vorlagefrage Nr. 2b zu erörtern: Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die Behörde bei der Prüfung, ob der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt zu werden, eine Reihe objektiver wie subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen habe (Rdn. 70). Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ein relevanter Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der Verfolgungsgefahr, selbst wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt (Rdn. 70). Der Gerichtshof stützt sich hierbei auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Hieraus gehe hervor, dass der Schutzbereich des mit der Religion verbundenen Verfolgungsgrundes sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die die Person für sich selbst als unverzichtbar empfinde, d.h. diejenigen Verhaltensweisen, „die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen“, umfasse, als auch solche Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet würden, d.h. diejenigen, die „nach dieser (Überzeugung) vorgeschrieben sind“ (Rdn. 71). Es ist danach der statusrechtlichen Sachentscheidung ein subjektiver Religionsbegriff zugrundezulegen. Anders könnte die Konversion gar nicht erfasst werden 12 18. Der Senat hatte bereits im Vorlagebeschluss angedeutet, dass es nunmehr auch seiner Ansicht nach auf die subjektive religiöse Überzeugung des Antragstellers ankommt (BVerwGE 138, 270 (286) = NVwZ 2011, 755 Rdn. 43). Damit hatte er seine frühere Rechtsprechung, wonach weder das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft noch das des einzelnen Gläubigen von der Bedeutung des Glaubenselements, das von dem staatlichen Eingriff betroffen ist, maßgebend ist (BVerwGE 80, 321 (325) = EZAR 201 Nr. 16 = NVwZ 1989, 477 = InfAuslR 1989, 167; BVerwGE 85, 139 (147) EZAR 202 Nr. 18 = NVwZ 1990, 1175 = InfAuslR 1990, 312 ; BVerwGE 87, 52 (58) = EZAR 201 Nr. 21 = NVwZ 1991, 337) bereits von sich aus aufgegeben. Jedoch konnte sich das Bundesverwaltungsgericht für seine frühere Rechtsprechung nicht auf das Bundesverfassungsgericht stützen, weil auch dieses von einer Verfolgung ausgeht, wenn die Maßnahme darauf gerichtet ist, eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte der Glaubensüberzeugungen durchzusetzen (BVerfGE 76, 143 (158) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87 – Ahmadiyya II). Überzeugungen sind stets subjektiv und damit einer objektiven Bewertung nicht zugänglich. B. Zu der vom Berichterstatter des Senats aufgeworfenen offenen Frage I. Ausgangspunkt der aufgeworfenen Fragestellung 19. Der Berichterstatter des Senats bezeichnet als offene Frage, ob auch ein unter dem Verfolgungsdruck tatsächlich zu erwartender Verzicht des Asylsuchenden auf eine religiöse Betätigung zur Statuszuerkennung führen könne. Der Gerichtshof habe die Vorlagefrage Nr. 2a im Vorlagebeschluss nicht ausdrücklich beantwortet. 20. Der Gerichtshof hat die Frage zwar nicht unmittelbar angesprochen. Aus dem Gesamtkontext der Entscheidungsbegründung in seinem Urteil vom 5. September 2012 folgt jedoch, dass diese Frage von ihm der Sache nach bejaht wird. Dabei muss das Urteil im Lichte des Flüchtlingsrechts bewertet werden. Um die aufgeworfene Frage sachgerecht und entsprechend dem Verständnis des Gerichtshofs zu behandeln, darf der Blick nicht ausschließlich bei den Ausführungen in Rdn. 79 verweilen. Vielmehr müssen auch in diesem Kontext zunächst die vollständigen Ausführungen des Gerichtshofs zur Reichweite der nach Art. 10 Abs. 1 GRCh geschützten Religionsfreiheit (Rdn. 62 bis 66, 69) in den Blick genommen werden. Diese sind im Zusammenhang mit den Feststellungen des Gerichtshofs zu den Umständen, die bei der Bewertung der Frage, ob der Asylsuchende „tatsächlich Gefahr läuft“, wegen der Religion verfolgt zu werden (Rdn. 67 bis 68, 75 bis 13 79), zu sehen. Die Vorlagefrage Nr. 2 hat der Gerichtshof nach seiner ausdrücklichen Feststellung in Rdn. 49 im Rahmen der Klärung der Verfolgungshandlung geprüft und beantwortet. 21. Die vom Berichterstatter aufgeworfene Frage konnte der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nicht beantworten, weil sich die Frage des subjektiven Verzichts auf die religiöse Ausübungsfreiheit nicht im Rahmen der Klärung der objektiven Kriterien der Verfolgungshandlung stellen kann. Im Zusammenhang mit der Verfolgungshandlung war danach die Frage, ob ein Verzicht auf die öffentliche Glaubensbetätigung verlangt werden kann, für den Gerichtshof nicht relevant. Vielmehr hat er nach Maßgabe objektiver Kriterien die für den Eingriff in die Religionsfreiheit maßgeblichen Rechtsfragen geklärt. Für die Umsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs ist zu bedenken, dass für diese das Verständnis des Gerichtshofs maßgebend ist. Während das vorlegende Gericht die Frage des Verzichts in der Vorlagefrage Nr. 2 als Regelungsbereich der Verfolgungshandlung behandelt, prüft der Gerichtshof diese im Rahmen der begründeten Furcht vor Verfolgung. Dies folgt mit der erforderlichen Klarheit aus der Antwort unter Nr. 2 am Schluss des Urteils, welche keinen Zweifel an den Feststellungen des Gerichtshofs lässt: 22. Ausgangspunkt ist der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK, an den der Gerichtshof in diesem Zusammenhang mit dem Hinweis auf Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG anknüpft. Danach liegt eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ vor, wenn im Hinblick auf die „persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr der Verfolgung aussetzen.“ Bei der individuellen Prüfung der Frage, ob die zuständigen Behörden „vernünftigerweise“ annehmen können, dass der Antragsteller nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr der Verfolgung aussetzen, dürfen diese ihm nicht zumuten, auf „religiöse Betätigungen zu verzichten“ (Antwort Nr. 2). Maßgebend ist insoweit der weite Schutzbereich, der die „öffentliche“ Glaubensbetätigung, wie sie in der Antwort Nr. 1 ausdrücklich geklärt wird, einschließt. Dabei ist die Frage, ob der Antragsteller „die Gefahr der Verfolgung durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte, „grundsätzlich irrelevant“ (Rdn. 79). II. Begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Religion 14 23. Die vom Berichterstatter des Senats aufgeworfene Frage wird also im Rahmen der Prüfung der begründeten Furcht vor Verfolgung relevant. Dieses Teilelement des völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriffs wird in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes im Rahmen der Verfolgungsprognose (Prognosetatsachen) geprüft. Demgegenüber verwendet der Gerichtshof den Begriff der Verfolgungsprognose nicht, sondern beurteilt die Frage der Zumutbarkeit der Rückkehr entsprechend dem Ansatz des in Art. 1 A Nr. 2 GFK niedergelegten Flüchtlingsbegriffs (Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG) danach, ob die Furcht des Asylsuchenden begründet ist. Bei dieser Prüfung kommt dem subjektiv geprägten Begriff der Religion nach der Richtlinie (Rdn. 70) naturgemäß besondere Bedeutung zu. Der Gerichtshof stellt für die Feststellungsverfahren der Mitgliedstaaten fest, dass die zuständigen Behörden eine Reihe objektiver wie subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben (Rdn. 70). Ausgangspunkt ist dabei die Frage, ob die Furcht des Antragstellers begründet ist (Rdn. 75). Da es im anhängigen Verfahren an ernsthaften Hinweisen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie fehlt, stellte sich für das vorliegende Gericht die Frage, „inwieweit von dem Antragsteller, wenn er seine Furcht nicht mit einer wegen seiner Religion bereits erlittenen Verfolgung begründen kann, verlangt werden könne, dass er nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland die tatsächliche Gefahr einer Verfolgung weiterhin vermeidet.“ 24. Zunächst stellt der Gerichtshof also mit Hinweis auf Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG klar, dass sich die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage der Zumutbarkeit des Verzichts auf die öffentliche Glaubensbetätigung nur für die Asylsuchenden stellt, die nicht bereits im Herkunftsland wegen ihrer Religion verfolgt oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht wurden (Rdn. 74). Darauf hatte im Übrigen auch der Senat im Vorlagebeschluss zur Erläuterung seiner Rechtsprechung hingewiesen (BVerwGE 138, 270 (288) = NVwZ 2012, 193 Rdn. 50). Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Antragsteller wegen privater oder öffentlicher Glaubensbetätigung verfolgt oder bedroht wurde. In einem wie im anderen Fall beantwortet bereits Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie die Frage nach der Verfolgungsgefahr. Daher stellt sich für den Gerichtshof die Verzichtsfrage nur für die Antragsteller, die ihre Furcht vor Verfolgung nicht mit einer wegen ihrer Religion bereits erlittenen Verfolgung (oder Verfolgungsbedrohung) begründen können (Rdn. 75). 15 25. Es geht also einerseits um diejenigen Asylsuchenden, die sich vor ihrer Ausreise religiös indifferent verhalten haben und nach ihrer Ausreise Glaubensaktivitäten entfalten oder den Glauben wechseln. Andererseits geht es um Asylsuchende – wie hier -, die vor ihrer Ausreise zwar privat ihren Glauben konkret gelebt haben, aber deshalb nicht verfolgt wurden und die nunmehr mit Blick auf ihre im Bundesgebiet entfaltete Glaubensbetätigung ihre Rückkehr verweigern. Für die Ahmadis in Pakistan, die vor der Ausreise auf die öffentliche Glaubensbetätigung verzichtet, aber ihren Glauben privat gelebt haben und deshalb ernsthaften Diskriminierungen ausgesetzt waren, löst sich die Frage der Verfolgungsgefahr nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG. Haben sie hingegen ihren Glauben zwar privat ausgeübt, können sie aber keine ernsthaften Diskriminierungen glaubhaft machen, kommt es auf die Art ihrer religiösen Lebensführung im Bundesgebiet an. Damit spitzt sich die Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs vom 5. September 2012 auf die Frage zu, ob diesen Asylsuchenden nunmehr mit Hinweis auf ihre frühere Beschränkung auf die private Glaubensbetätigung für die Rückkehr der Verzicht auf die öffentliche Glaubensbetätigung auch für die Zukunft abverlangt werden kann, um die Verfolgung zu vermeiden. Diese Frage kann nach einer Analyse des Urteils des Gerichtshofs mit der erforderlichen Klarheit beantwortet werden. Dazu bedarf es einer Berücksichtigung des Aufbaus des Flüchtlingsbegriffs, wie er dem Urteil zugrunde liegt: 26. Der Gerichtshof knüpft an den Zentralbegriff des Flüchtlingsrechts, den Begriff der begründeten Furcht vor Verfolgung (Art. 1 A Nr. 2 GFK, Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG), an (Rdn. 75). Die Ausführungen zur Frage, ob auf die öffentliche Religionsausübung verzichtet werden kann, nimmt also ihren Ausgang bei der Furcht vor Verfolgung. Dabei ist der subjektive Umstand, dass für den Asylsuchenden die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkungen ist, „zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist“, ein „relevanter Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre“ (Rdn. 70) Diesem Ansatz des Gerichtshofs liegt zugrunde, dass dem Begriff der Furcht vor Verfolgung eine in die Zukunft gerichtete Einschätzung und Abwägung von Verfolgungsrisiken innewohnt. Welche Risiken in die Bewertung einzustellen sind, richtet sich dabei nach dem hinreichend deutlichen Hinweis des Gerichtshofs insbesondere nach dem Selbstverständnis des Asylsuchenden vom Bedeutungsgehalt und der Reichweite seines Rechts auf religiöse Selbstbestimmung 16 („religiöse Identität“). Dabei verknüpft der Gerichtshof ausdrücklich diesen subjektiven Begriff mit den auf die „religiöse Identität“ zielenden Verfolgungshandlungen: 27. Die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis ist Ausdruck der subjektiv geprägten religiösen Identität des Antragstellers. Von diesem Ausgangspunkt aus nimmt der Gerichtshof „die beanstandeten Einschränkungen“ (Rdn. 70), also die den jeweils spezifischen subjektiven Ausdrucksformen der religiösen Identität des Asylsuchenden geltenden Verfolgungshandlungen in den Blick. Anschließend stellt der Gerichtshof fest, sobald feststeht, dass sich der Asylsuchende im Herkunftsland „in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird“, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 der Richtlinie zuzuerkennen (Rdn. 79). 28. Der Gerichtshof hat also für die Behandlung der vom Berichterstatter des Senats als offen bezeichneten Frage die maßgebenden unionsrechtlichen Kriterien mit hinreichender Klarheit heraus gearbeitet: In die Risikoabschätzung ist zuallererst das subjektive religiöse Selbstverständnis („religiöse Identität“) des Asylsuchenden (Rdn. 70) einzustellen. Für diese Bewertung sind die persönlichen Umstände des Antragstellers, z.B. sein individueller Hintergrund, Eigenschaften und Verhältnisse (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG) von Bedeutung. Es geht im Rahmen dieser Prüfung also zunächst um die Identifizierung des individuellen religiösen Profils des Antragstellers. Dies ist eine Prüfung, welche die Ermittlung der Umstände, Tatsachen und Hinweise, welche die konkret gelebte religiöse Lebensführung des Asylsuchenden betreffen, zum Gegenstand hat. Ob eine dem Antragsteller drohende Verfolgung dazu führen wird, dass er für den Fall der Rückkehr „unter dem Verfolgungsdruck“ auf bestimmte für sein religiöses Selbstverständnis wichtige Äußerungsformen verzichten wird, richtet sich dabei nach dem durch Art. 4 der Richtlinie vorgegebenen Prüfungsumfang: 29. Haben die zuständigen Behörden anhand einer Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte (Rdn. 70) die Umstände und Tatsachen identifiziert, die für den Antragsteller „zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig“ (Rdn. 70) sind, haben sie den für die Prüfung der begründeten Furcht vor Verfolgung maßgeblichen Prüfungsrahmen abgesteckt. Nichts deutet in der Urteilsbegründung des Gerichtshofs darauf hin, dass im Rahmen dieser Prüfung alternative Sachverhalte geprüft werden dürften, nämlich wie der Fall zu bewerten wäre, „würde“ der Antragsteller „unter dem 17 Verfolgungsdruck“, der auf einer öffentlichen Glaubensbetätigung lastet, auf diese verzichten. Nur wenn feststeht, dass der Antragsteller unter diesem Druck auf seine religiöse Ausübungsfreiheit verzichtet, liegt ein tatsächlicher Sachverhalt vor. Das Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012 lässt jedoch nicht zu, dass ein derartiger Sachverhalt in die Gefahrenbewertung eingestellt wird. Diese Auswirkung des Urteils auf die nationale Feststellungspraxis der Mitgliedstaaten ist nachfolgend anhand der für die Wahrscheinlichkeitsbewertung maßgebenden Grundsätze aufzuzeigen. III. Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Verfolgung 1. Methodische Kriterien für die Wahrscheinlichkeitsprüfung 30. Der Gerichtshof führt im Urteil vom 5. September 2012 aus, sobald feststeht, dass sich der Antragsteller nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr der Verfolgung aussetzen wird, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (Rdn. 79). Ob bei der Feststellung einer derartigen Gefahr auch nach dem Verzicht auf das die Gefahr auslösende Verhalten gefragt werden darf, setzt zunächst eine Klärung der Methodik der Wahrscheinlichkeitsprüfung voraus. Die Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ist eine Aufgabe, welche die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihres nationalen Verfahrensrechts vollziehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Prognose die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Antragstellers in seinem Herkunftsland zum Gegenstand und macht eine zusammenfassende Bewertung des Sachverhalts erforderlich. Wegen der Vielzahl von Ungewissheiten über die relevante Situation im Herkunftsland verlangt die Bewertung eine sachgerechte und der jeweiligen Materie angemessene und methodisch einwandfreie Erarbeitung ihrer tatsächlichen Grundlagen. Von einer solchermaßen erarbeiteten Prognosebasis kann nur die Rede sein, wenn die Tatsachenermittlungen einen hinreichenden Grad an Verlässlichkeit aufweisen und dem Umfang nach zureichend sind (BVerwGE 87, 141 (149 f.) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ 1991, 384; BVerwG, NVwZ 1991, 382 (384)). 31. Da jede Prognose eine geistige Vorwegnahme der Zukunft darstellt, also eine Aussage ist, die – im Unterschied zu Aussagen über Vergangenheit und Gegenwart – typischerweise mit Unsicherheiten verbunden ist, muss eine zukunftsorientierte Aussage, soll sie mehr sein 18 als eine bloße »Weissagung« oder »Prophezeiung«, in besonderem Maße von Rationalität und Plausibilität getragen werden (BVerwGE 87, 141 (150) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ 1991, 384). Maßgebend ist andererseits lediglich, dass die Prognose den an sie zu stellenden methodischen Anforderungen genügt, nicht aber, dass die Prognose durch die spätere tatsächliche Entwicklung mehr oder weniger bestätigt oder widerlegt wird (BVerwG, DÖV 1985, 68). Die Behörde muss sich also nach der Ermittlung der Prognosetatsachen Gewissheit darüber verschaffen, ob aufgrund des für glaubhaft bewerteten Sachvorbringens unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland des Antragstellers der Eintritt der Verfolgungsgefahr wahrscheinlich ist. Dies ist eine nach sachgerechten methodischen Kriterien vorzunehmende wertende Entscheidung. Dabei müssen die im Einzelnen festgestellten Verfolgungsrisiken aus der Sicht des Antragstellers (Furcht vor Verfolgung) in ihrem jeweiligen Gewicht identifiziert und gegeneinander abgewogen werden, um die Frage zu beantworten, ob der Eintritt der Verfolgung wahrscheinlich ist. Hier ist nicht das Regelbeweismaß anzuwenden. Vielmehr geht es um eine Risikoabschätzung nach Maßgabe des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (191) = NVwZ 2010, 505 Rdn. 84 – Abdulla) unter Berücksichtigung von wertenden, am Gedanken der Zumutbarkeit ausgerichteten Grundsätzen (BVerwGE 79, 143 (150 f.) = EZAR 201 Nr. 13 = NVwZ 1988, 838 = InfAuslR 1988, 230; BVerwGE 88, 367 (377 f.) = EZAR 202 Nr. 21 = NVwZ 1992, 578 = InfAuslR 1991, 363; BVerwGE 89, 162 (168 f.) = EZAR 202 Nr. 22 = NVwZ 1992, 582; weitere Hinweise bei Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 29 Rdn. 25 (S. 300 ff.)). Demgegenüber sind die Prognosetatsachen nach Maßgabe des Regelbeweises (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) festzustellen. 32. Wird festgestellt, dass die vom Antragsteller vorgebrachten Verfolgungsbehauptungen im Blick auf die allgemeinen Verhältnisse in seinem Herkunftsland eine reale (begründete) Tatsachenbasis haben, ist im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsprüfung anhand von Plausibilitätskriterien zu ermitteln, ob ihm für den Fall der Rückkehr wahrscheinlich eine Verfolgungsgefahr droht. Im Blick auf die objektiven Tatsachen, welche die Furcht vor Verfolgung begründen, wird damit das Regelbeweismaß angewandt und festgestellt, ob aufgrund des in sich stimmigen und im Einzelnen konkretisierten Sachvortrags Verfolgung droht. Auch wenn insoweit – wie sich bereits aus dem Gefahrenbegriff ergibt – eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein »voller Beweis« nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass die Behörde von der Richtigkeit ihrer 19 verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (BVerwGE 71, 180 (181 f.) = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32 = BayVBl. 1985, 567 = EZAR 630 Nr. 17 = NVwZ 1985, 2685 = InfAuslR 1985, 244). 33. Gemessen an diesen Grundsätzen kann die vom Berichterstatter aufgeworfene Frage beantwortet werden, ohne dass zuvor eine unionsrechtliche Zweifelsfrage geklärt werden müsste: Zunächst ist entsprechend des vom Gerichtshof vorgegebenen materiellen Maßstabs das religiös geprägte subjektive Selbstverständnis des Antragstellers zu ermitteln (Rdn. 70 und nachfolgend). Da das anhängige wie auch alle anderen Verfahren, in denen die aufgeworfene Frage relevant ist, Fallgestaltungen ohne Vorverfolgung betreffen, kann es hierfür nicht auf individuelle Verfolgungsbehauptungen, die sich auf die Situation vor der Ausreise beziehen, ankommen. Vielmehr ist maßgebend, ob und in welchem Umfang der Antragsteller im Entscheidungszeitpunkt (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) seinen Glauben lebt. Anschließend sind die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob und in welchem Umfang Personen, die wie der Antragsteller ihren Glauben leben, verfolgt werden. 34. Bereits in seiner früheren Rechtsprechung hatte das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass das Vorhandensein einer für den Herkunftsstaat möglicherweise noch nicht erkennbar in Erscheinung getretenen politischen Überzeugung Verfolgungsgefahr ernsthaft befürchten lasse, wenn in dem Herkunftsland Träger dieser Überzeugung Verfolgung erleiden (BVerwGE 55, 82 (55) = EZAR 201 Nr. 3 = NJW 1978, 2463). Aus methodischer Sicht beruht diese Wahrscheinlichkeitsprüfung auf der Erwägung, dass aus der Praxis der Verfolgung gegen bestimmte Personengruppen Wahrscheinlichkeitsaussagen im Blick auf die Personen hergeleitet werden, die dieser Gruppe zuzuordnen sind. Für den Beitritt zu Exilorganisationen kommt es zwar darauf an, dass der Betroffene in dieser erkennbar hervorgetreten ist, um die erforderliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgung annehmen zu können. Dies sind aber an der Praxis des Herkunftslandes orientierte Einschränkungen, die dann gemacht werden, wenn anhand der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu dem betroffenen Herkunftsland aus tatsächlicher Sicht die Annahme gerechtfertigt ist, dass nicht jede exilpolitische Aktivität von den Behörden im Herkunftsland als ernsthafter und den Bestand des Staates berührender Ausdruck politischer Opposition gewertet wird. Es handelt sich folglich bei einer derartigen Einschränkung nicht um einen allgemeinen 20 Prognosegrundsatz, sondern um ein tatsächliches Moment im Rahmen der Einzelfallbewertung. 35. Bei einer Übertragung dieser prognoserechtlichen Grundsätze auf religiöse Glaubensbetätigungen besteht im methodischen Ausgangspunkt eine Vergleichbarkeit beider Fallgruppen, soweit aus der Praxis der Verfolgung gegen bestimmte Personengruppen Wahrscheinlichkeitsaussagen für die Personen hergeleitet werden, die dieser Gruppe zuzuordnen sind. Ob für religiös geprägte Glaubensbetätigungen die an der Praxis ausgerichteten Einschränkungen zugrundzulegen sind, wie sie etwa für exilpolitische Aktivitäten entwickelt wurden, ist wiederum eine Tatsachenfrage. Geht es bei politischen Betätigungen um die Erkennbarkeit einer politisch oppositionellen Ausrichtung und darauf beruhender Aktivitäten des Betroffenen, um die Frage beantworten zu können, ob er im Falle der Rückkehr deshalb Verfolgungen befürchten muss, kommt es bei religiös geprägten Glaubensaktivitäten auf die Frage, ob diese den Verfolgern im Entscheidungszeitpunkt bereits bekannt sind, dann nicht an, wenn aufgrund der tatsächlichen Feststellungen davon auszugehen ist, dass im Herkunftsland Träger dieser religiösen Glaubenspraxis Verfolgungen erleiden. Während bei politischer Betätigung im Aufnahmeland darauf abgestellt wird, ob diese den Behörden des Herkunftslandes bekannt geworden ist, kommt es hierauf im Falle der Religionsausübung also nicht an. Die Frage des Verzichts auf die politische Betätigung stellt sich nicht, wenn den Behörden die exilpolitischen Aktivitäten des Betroffenen bekannt sind und sie ihn deshalb verfolgen werden. Er kann dann die Verfolgung auch durch Verzicht nicht mehr vermeiden. Demgegenüber wird die religiöse Orientierung des Betroffenen im Aufnahmeland erst dann zu einem Problem, wenn sie im Herkunftsland fortgesetzt wird. Werden Gläubige, die in der Art und Weise wie der Betroffene ihren Glauben leben, verfolgt, rechtfertigt eine methodisch sachgerechte, plausible und rationale Wahrscheinlichkeitsannahme den Schluss, dass er im Herkunftsland Verfolgung befürchten muss. Für diese Annahme bedarf es zunächst der sorgfältigen Feststellung des Umfangs und des subjektiven Verständnisses der religiösen Praxis des Antragstellers und anschließend der Prüfung der Situation der Personen im Herkunftsland, die dort in der Art und Weise wie der Antragsteller ihren Glauben leben. Erleiden sie deshalb Verfolgungen, muss auch der Antragsteller begründet Verfolgung befürchten. 36. Damit bedarf es unter Berücksichtigung derart tatsächlicher Voraussetzungen im Herkunftsland keines individuellen Nachweises, dass bestimmte individuelle religiöse 21 Handlungen des Antragstellers den Behörden im Entscheidungszeitpunkt bereits bekannt sind. Vielmehr ist im Rahmen der Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Verfolgung eine methodisch einwandfreie rationale und plausible Einschätzung vorzunehmen, ob der Antragsteller im Blick auf die allgemeinen Verhältnisse in seinem Herkunftsland (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) begründet Verfolgung befürchten muss. Das festgestellte religiös geprägte und gelebte subjektive Selbstverständnis des Antragstellers (Rdn. 70) ist dabei die Grundlage für die Bewertung der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland. Führt die Prüfung der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland zu dem Ergebnis, dass Personen, die wie der Antragsteller ihren Glauben leben, dort verfolgt werden, ergibt eine nach methodisch sachgerechten Kriterien getroffene Wahrscheinlichkeitsbewertung, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 der Richtlinie (§ 3 Abs. 4 AsylVfG) zuzuerkennen ist. 2. Funktion der „religiösen Identität“ im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsprüfung a) Maßgeblichkeit der individuellen Lage (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG) 37. Maßgebend für die Wahrscheinlichkeitsprüfung sind die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers im Entscheidungszeitpunkt (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und c) RL 2004/83/EG) Nicht hypothetische, sondern ausschließlich tatsächlich vorliegende Umstände dürfen in die Prüfung eingestellt werden. Der Gerichtshof bezieht sich in Rdn. 77 ausdrücklich auf die Ausführungen unter Rdn. 90 in Abdulla, wonach die Beurteilung der Größe der Gefahr ausschließlich „auf einer konkreten Prüfung der Ereignisse und Regeln, die insbesondere in Art. 4 der Richtlinie enthalten sind, beruht. In Abdulla hebt der Gerichtshof hervor, dass bei dieser Beurteilung „Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören“ (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 90 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla). Der Prüfungsrahmen nach Art. 4 der Richtlinie wird im vorliegenden Fall durch den vom Gerichtshof geklärten Schutzumfang der Religionsfreiheit abgesteckt, zu dem insbesondere die Freiheit gehört, „diesen Glauben öffentlich zu leben“ (Rdn. 63). Die Behörde hat danach zu prüfen, ob die „religiöse Identität“ (Rdn. 70) des Antragstellers, also seine „Integrität“ (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 90 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla), die Betätigung des Glaubens in der Öffentlichkeit umfasst. Steht dies im Entscheidungszeitpunkt 22 fest, ist damit der Prüfungsrahmen für die Beurteilung der Größe der Gefahr, die ihm aufgrund seiner Religionsausübung droht, abgesteckt. 38. Bereits in Abdulla hatte der Gerichtshof festgestellt, dass nur die im Entscheidungszeitpunkt festgestellten Tatsachen und Umstände berücksichtigt werden dürfen. Das sind insbesondere die „mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Ergeben die mit dem „Herkunftsland verbundenen Tatsachen,“ dass aufgrund der „individuellen Lage“ des Antragstellers, wie sie sich aus seiner im Entscheidungszeitpunkt tatsächlich festgestellten religiösen Identität ergibt, ihm dort Verfolgung droht, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. 39. Danach ist festzuhalten, dass die - sich den Behörden aufgrund der Erklärungen des Antragstellers (Art. 4 Abs. 3 Buchst. b) RL 2004/83/EG) im Entscheidungszeitpunkt darstellende - „religiöse Identität“ (Rdn. 70) ein wesentlicher „persönlicher Umstand“ (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG) nach der Richtlinie ist. Steht danach fest, dass der Antragsteller aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor Verfolgung hat, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 57 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla). Diese Umstände sind die Ursache dafür, dass sich der Antragsteller in begründeter Weise weigert, den Schutz seiner Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 59 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla). Der Gerichtshof stellt an anderer Stelle klar, dass „die Beibringung der für die Beurteilung der Umstände relevanten Anhaltspunkte allein unter dem Gesichtspunkt der wirklichen Tatsachenlage“ (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 86 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla), nicht jedoch aufgrund einer hypothetischen Tatsachenlage erfolgen darf. 40. Daraus folgt mit hinreichender Klarheit, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die er im Urteil vom 5. September 2012 erneut bestätigt hat, der Prüfungsrahmen nach Art. 4 der Richtlinie durch die im Entscheidungszeitpunkt für die zuständigen Behörden ersichtliche wirkliche Tatsachenlage bestimmt wird. Diese haben sie nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie für die Zwecke der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Mitwirkung des Antragstellers festzustellen. Dazu gehört insbesondere die den Antragsteller spezifisch prägende religiöse Identität. Folgt aus der Feststellung dieser religiösen Identität, dass er aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände eine begründete Furcht vor Verfolgung hat, ist ihm die 23 Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) Rdn. 57, 61 = NVwZ 2010, 505 – Abdulla). b) Bedeutung der „religiösen Identität“ für die Gefahrenanalyse 41. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gewinnt damit die „religiöse Identität“ für die Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Verfolgung entscheidungserhebliche Bedeutung (Rdn. 70). Wird die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Verfolgungsgefahr nach den aufgezeigten methodischen Kriterien festgestellt, kann die Frage die Vermeidbarkeit der Verfolgung nicht ohne Berücksichtung dieser Funktion bewertet werden. Nach der Feststellung des Gerichtshofs ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Antragsteller als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repression, denen er ausgesetzt sein wird (Rdn. 65). Dass er diese Folgen durch Verzicht auf bestimmte Betätigungen vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant (Rdn. 79). Für die Gefahrenanalyse stellt der Gerichtshof damit einen Zusammenhang zwischen dem subjektiven Gesichtspunkt der „religiösen Identität“ (Rdn. 70) und der Unzumutbarkeit des Verzichts auf die Religionsausübung (Rdn. 79) her. Diese beiden unionsrechtlich vorgegebenen Wertungen leiten also diese Analyse. 42. Eine Analyse der Praxis der Vertragsstaaten ergibt, dass die Frage des Verzichts auf die Ausübung von Rechten insbesondere bei Verfolgungen wegen der sexuellen Orientierung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Satz 2 RL 2004/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2011/95/EU) erörtert wird. Auch der Senat hatte im Vorlagebeschluss unter Hinweis auf die britische Rechtsprechung hierauf hingewiesen (BVerwGE 138, 270 (289) = NVwZ 2011, 755 Rdn. 53). Es verspricht deshalb Erkenntnisgewinn, die dort entwickelten Grundsätze zu prüfen und anschließend zu untersuchen, ob sie auf Verfolgungen wegen der Religion übertragbar sind. Für die angelsächsische Rechtsprechung ist Ausgangspunkt der Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung die „sexuelle Identität“, die als der persönlichen Identität vorgegeben angesehen wird und das Recht umfasst, sich frei und offen zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen und entsprechend zu verhalten (UK Supreme Court (2010) UKSC 31 Rdn. 78 – HJ). Es gebe keine Legitimation, vom Antragsteller zu verlangen, wegen der befürchteten Gefahr von Verfolgung seine sexuelle Orientierung zu verbergen. Vielmehr sei zu ermitteln, 24 ob Personen, die ihre sexuelle Orientierung in einer Gesellschaft offen auslebten, deshalb verfolgt würden. Sei dies der Fall, müsse festgestellt werden, wie sich der Antragsteller nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland verhalten werde. Werde er seine sexuelle Orientierung offen ausleben, sodass er deshalb Verfolgung befürchten müsse, habe er auch dann eine begründete Furcht vor Verfolgung, wenn er diese dadurch vermeiden könnte, dass er sie verberge (High Court of Australia (2003) HCA 71 Rdn. 78 ff. – Appellant S395/2002; UK Supreme Court (2010) UKSC 31 Rdn. 82 – HJ; UK Supreme Court (2012) UKSC 38 Rdn. 18 – RT, für die politische Überzeugung). 43. Ebenso wie bei der Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung ist bei der Verfolgung wegen der Religion der Begriff der Identität maßgebend (Rdn. 70). Nicht vertieft wird in der angelsächsischen Rechtsprechung der Inhalt und die Bedeutung der Identität für die Gefahrenanalyse. Die britische Rechtsprechung knüpft an das Merkmal der „sexuellen Identität“ an: „Sexual identity is inherent to one’s very identity as a person“ (UK Supreme Court (2010) UKSC 31 Rdn. 78 – HJ). Die sexuelle Identität wird also als der persönlichen Identität „vorgegeben“ (innewohnend, anhaftend) definiert. Dies ruft die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Erinnerung, das Homosexualität wie „Rasse“ und „Nationalität“ als „unabänderlich anhaftendes persönliches Merkmal“ und damit „im Sinne einer irreversiblen Prägung“ als „unentrinnbare schicksalhafte Festlegung“ und nicht als eine „bloße Neigung“ versteht, der „nachzugeben mehr oder weniger im Belieben“ des Betroffenen stehe (BVerwGE 79, 143 (147 f.) = EZAR 201 Nr. 13 = NVwZ 1988, 838 = InfAuslR 1988, 230). Derartige Identitätsbeschreibungen sind aus menschenrechtlicher Sicht fragwürdig, weil Identität Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen und damit willensgesteuert und handlungsorientiert ist. Die Verengung der Identität auf einen nicht mehr veränderbaren Inhalt läuft dem ihr innewohnenden grundlegenden Prinzip der Selbstbestimmung zuwider. Identität als zeitloses, unveränderbares Attribut der menschlichen Person ist damit Negation der Identität zu ordnungspolitische Zwecken. Diese Funktionalisierung der Identität illustriert die Abgrenzung einer „unentrinnbaren schicksalhaften Festlegung auf homosexuelles Verhalten“, also eines nicht vermeidbaren Verhaltens einerseits, von einem „mehr oder weniger im Belieben“ des Betroffenen stehenden Verhalten andererseits. Dieses erscheint aus einer objektiven, nicht wertenden (s. aber nachfolgend Rdn. 51 ff.), allein gefahrenabwehrrechtlichen Perspektive anders als eine willensgesteuerte Identitätsbegriff und soll handlungsorientierte also die Identität Gefahrenanalyse vermeidbar. leiten, diese Ein nicht derartiger von einer 25 „willensgesteuerten Handlung des Asylbewerbers“ abhängig machen (BVerwGE 138, 270 (288) = NVwZ 2010, 755 Rdn. 50). Die Frage des Berichtserstatters, ob „man gar nicht mehr nach dem Verzicht fragen“ darf, gewinnt erst im Lichte dieses funktionalen Identitätverständnisses erkenntnisfördernde Konturen. 44. Die britische Rechtsprechung orientiert sich nicht an der Richtlinie 2004/83/EG. Dort wird aber nicht nur ein „angeborenes“ oder „unveränderbares“, sondern insbesondere auch ein „Merkmal oder eine Glaubensüberzeugung“ eingeschlossen, „die so bedeutsam für die Identität“ ist, dass der Antragsteller nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Satz 1 erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG). Unionsrecht weist dem Identitätsbegriff also einen menschenrechtlichen Inhalt zu und knüpft an die Selbstbestimmung des Menschen an. Zur Auslegung eines Verfolgungsgrundes nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die anderen Verfolgungsgründe herangezogen werden (Weis, Du droit international 1960, 928 (970); UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 67), insbesondere kann für die Auslegung des Begriffs der Religion der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen (religiösen!) Gruppe fruchtbar gemacht werden wie auch umgekehrt. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Zugehörigkeit des Einzelnen zu bestimmten Gruppen Persönlichkeitsrelevanz und damit grundrechtliche Relevanz. Gehöre jemand durch Geburt oder Sozialisation einer Gruppe an, besitze sie zumeist identitätsbildenden Einfluss auf die Person. Sein Ansehen hänge nicht allein von seinen individuellen Eigenschaften und Leistungen, sondern auch von der Einschätzung der Gruppen ab, denen er angehöre (BVerfGE 99, 185 (194)). 45. Die britische Rechtsprechung ist ambivalent, wenn sie einerseits mit dem Hinweis auf „inherent“ der Identität einen eher unabänderlichen Charakter zuzuweisen scheint, andererseits festhält, dass sich Homosexuelle „frei und offen“ zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen und entsprechend verhalten dürfen (UK Supreme Court (2010) UKSC 31 Rdn. 78 – HJ), es also in die freie Selbstbestimmung des Menschen gestellt wird, wie er seiner „sexuellen Identität“ Ausdruck verleiht. Stillschweigend scheint die britische Rechtsprechung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückzugreifen, der in der Frage der gleichgeschlechtlichen Sexualität einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in den Vertragsstaaten des Europarates erkennt und deshalb bereits 1984 aus dieser Erkenntnis ableitete, dass homosexuelles Verhalten »eine 26 wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit« ist (EGMR, NJW 1984, 541 (543) – Dudgeon; EGMR, EuGRZ 1985, 567 (570) Rdn 72 – Abdulaziz; EGMR, EuGRZ 1979, 454 (456) Rdn. 33 – Marckx; ebenso für transsexuelles Verhalten EGMR, HRLJ 1992, 358 (361) – B. v. France; EGMR, Urteil vom 9. April 2003 – Nr. 39392/98 und 39829/98 Rdn. 38 ff. – L. and V. v. Austria; ausführlich hierzu Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., 2012, § 25 Rdn. 1 ff., (S. 208 ff.)). 46. Im Lichte eines derartigen Verständnisses des Identitätsbegriffs stellen sich für die Gefahrenanalyse vollständig andere Fragen als für eine an einer „schicksalhaften Unentrinnbarkeit“ ausgerichtete Bestimmung der Identität. Eine derartige Bestimmung der Identität ist auch mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen kaum zu vereinbaren, weil sie das Recht auf Selbstbestimmung des Menschen, der sich als ein geistig-sittliches Wesen versteht, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (BVerfGE 45, 187 (227); 117, 71 (89)), verfehlt. Einerseits ist für die Begriffsbestimmung der Verfolgungsgründe an einen menschenrechtlich orientierten Begriff der Identität anzuknüpfen, der Ausdruck der freien und offenen Sebstbestimmung des Menschen ist und diesen nicht zum „schicksalhaften“ Klischee seiner selbst funktionalisiert. Andererseits verdeutlicht die konventionsrechtliche am Auslegungsprinzip des „living instruments“ orientierte Rechtsprechung, dass individuelle Schutznormen - wie z.B. Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG - nicht nach Maßgabe des Konsenses im Zeitpunkt ihrer Verabschiedung, sondern „im Lichte der aktuellen Anschauungen und Wandlungen der Rechtsauffassungen“ interpretiert werden (EGMR, EuGRZ 1979, 162 - Tyrer, seitdem stdg. Rspr.). Dementsprechend gewinnt auch die Frage, ob nach dem Verzicht auf die Ausübung anerkannter Rechte gefragt werden darf, eine vollständig gewandelte Bedeutung. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Satz 1 erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG macht deutlich, dass frühere prognoserechtliche Grundsätze in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Bewertung zukünftigen Verhaltens hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit einem gewandelten Rechtsverständnis als problematisch erscheinen. c) Handlungsorientierter Begriff der„religiösen Identität“ 47. Die homosexuelle Orientierung wie auch die Religionsausübung können damit nach einheitlichen Grundsätzen behandelt werden: In beiden Fällen steht am Ausgang der Wahrscheinlichkeitsprüfung das Recht auf Selbstbestimmung in seinen unterschiedlichen 27 Ausprägungen, sei es in sexueller, sei es in religiöser Hinsicht. Die Freiheit ist nicht angeboren, sondern muss als Ausdruck der Selbstbestimmung gegen gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Widerstände vielfältigster Art täglich neu erkämpft und bewahrt werden. Selbstbestimmung ist die Kompetenz der Person, ihre Handlungen als eigener Akteur zu initiieren. Identität, gleichviel ob religiöse, sexuelle, politische oder kulturelle, bezeichnet also nicht einen statisch unveränderbaren, dem Individuum vorgegebenen Status, sondern einen dynamischen in die Öffentlichkeit sowie auf Gemeinschaft gerichteten und Aktivitäten des Einzelnen einschließenden Begriff. 48. Aus der Analyse des Begriffs der „sexuellen Identität“ erschließen sich damit für die Gefahrenbewertung bei religiöser Verfolgung wesentliche Erkenntnisse: Der Begriff knüpft an die Persönlichkeit des Menschen an, will also durch die Gewährleistung freier und offener Ausdrucksmöglichkeiten deren Herausbildung fördern, das heißt also, die in der Persönlichkeit angelegten Potenzen in ihrem Drang nach Verwirklichung schützen (EGMR, NJW 1984, 541 (543) – Dudgeon). Für die „religiöse Identität“, die für den Gerichtshof Ausgangspunkt der Gefahrenbewertung ist (Rdn. 70), ist wesentlich, dass sich die Gewissensfreiheit und mit ihr auch die Religionsfreiheit von ihren ersten Anfängen an immer auch als Recht verstanden hat, das in „Richtung auf die Freiheit der Gewissensbetätigung, auf das Handeln- und Sich-Verstehenkönnen gemäß der eigenen Gewissensüberzeugung“ geht und dabei dem ihr innewohnenden Prinzip nach auf „private oder öffentliche Betätigungsformen“ drängte (Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 265, Hervorhebung dort). Zugleich aber haftet der religiösen Identität auch eine Tendenz des bereits Festgelegten, Willensunabhängigen an. Religiöse Gebräuche, Kulthandlungen und Symbole prägen den Gläubigen, indem sie in diesem bestimmte charakteristische Dispositionen wecken (Tendenzen, Fähigkeiten, Neigungen, Kenntnisse, Gewohnheiten, Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten, Empfänglichkeiten), „die den Ablauf seiner Tätigkeiten und die Art seiner Erfahrung in gewisser Weise festlegen. Dementsprechend heißt fromm sein nicht lediglich, eine Art frommer Handlung zu begehen, sondern die Neigung zu derartigen Handlungen. Motivationen zu religiösen Handlungen haftet damit „eine beständige Tendenz, eine stets vorhandene Neigung an, gewisse „Arten von Handlungen zu begehen (Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 1987, S. 55 f., Hervorhebungen nicht im Orginal). 28 49. Ausgangspunkt für die religiöse Identität ist der Religionsbegriff. Dieser wird als die Gesamtheit von Verhaltensweisen und Werten verstanden, welche es den Menschen einer religiösen Gemeinschaft ermöglicht, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Antwort zu erhalten. Eng verbunden hiermit ist die Spiritualität, welche als Bewusstsein verstanden wird, dass in einem Absoluten oder Transzendenten verwurzelt ist und soziale Konsequenzen zeigt, indem es als das Ich-Bewusstsein transzendierendes Bewusstwerden von Verantwortung aufgefasst wird, das die existentielle Begrenztheit des Menschen in einer „anderen – göttlichen, transzendenten – Wirklichkeit“ aufhebt (Jäggi/Krieger, Fundamentalismus. Phänomen der Gegenwart, 1991, S. 51). Aus kulturtheoretischer Sicht bildet Religion für den Gläubigen ein Sinncodierungssystem, das Grundbestandteil seiner Kultur ist. Darum kann Religion unter kulturtheoretischem Aspekt als eine Grundform menschlicher Deutungskultur bezeichnet werden, die sämtliche Sphären der individuellen und sozialen Lebenswelt thematisch umfasst und sinnstiftend durchdringt. Das religiöse Bewusstsein ist von seinem Ursprung aus niemals nur auf Teilmomente des Daseins gerichtet, sondern hat auch immer, und häufig sogar vorrangig, die Lebensführung im umfassenden Sinne zum Inhalt. Die meisten anthropologischen Symbole monotheistischer Religionen bezeichnen Totalbestimmungen des Menschen (Geschöpflichkeiten, Sünde, Erlösungsbedürftigkeit, Heil, Erlösung als Totalbestimmung des Menschen) und beziehen sich damit nicht auf partikulare Aspekte, sondern betreffen ihn in seiner Gesamtheit. Diese Ganzheitsintention, welche das Dasein und Sich-Wissen vor Gott betreffen, ist vom frommen Bewusstsein unabtrennbar, gerade in seiner reflexiven Wendung, die seit Beginn der Moderne zunehmend ins Bewusstsein rückt. Die Religion umgreift damit alle Lebensbezüge des Menschen und verbürgt damit die Einheit seiner personalen Identität (Barth, Religion in der Moderne, 2003, S. 25, 57, 148 f.). 50. Die Gefahrenbewertung bei Verfolgungen wegen der Religion muss diesen dynamischen und komplexen Begriff der religiösen Identität berücksichtigen. Da der Gerichtshof diesen Begriff zum Ausgangspunkt dieser Bewertung macht (Rdn. 70), die religiöse Identität den Gläubigen in seiner Ganzheit disponiert, in Handlungen nicht nur Akte freier Selbstbestimmung, sondern zugleich auch bereits festgelegte Neigungen zum Ausdruck kommen, verfehlt die Frage nach dem Verzicht auf die religiöse Ausübungsfreiheit den Sinn des Begriffs der religiösen Identität. Eingriffe in diese sind zwar erlaubt, wenn der religiöse Entfaltungsdrang über die anerkannten zulässigen Schranken der Religionsfreiheit 29 hinausgeht. Darum geht es jedoch vorliegend nicht, sondern darum, das Wesen der religiösen Identität in ihrer vielschichtigen Bedeutung sachgerecht zu erfassen und anschließend zur Grundlage der Gefahrenbewertung zu machen. Die Vermeidbarkeitsfrage kann daher nicht mehr nach bisherigen traditionellen Grundsätzen behandelt werden. Vielmehr ist sie unter völlig veränderten menschenrechtlichen Voraussetzungen zu handhaben. Die Richtlinie stellt mit guten Gründen in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) unveränderbare und die Identität prägende Merkmale als gleichrangig nebeneinander, weil diese sich gegenseitig beeinflussen und ergänzen und auch nicht voneinander trennen lassen. Dies verdeutlicht gerade die religiöse Identität in ihrer die Ganzheit des Menschen erfassenden Totalität, die einerseits Ausdruck kulturell gefestigter Erfahrung und Hingabe an einen unbedingten Glauben ist, zugleich aber auch nach außen auf Entfaltung drängt und sich in Gemeinschaft vollziehen will. 3. Risikobewertung bei religiösen Verfolgungen aus polizeirechtlicher Sicht 51. Im Lichte dieser unionsrechtlich vorgegebenen materiellen Grundsätze ist die Methodik der Gefahrenbewertung bei religiösen Verfolgungen zu entwickeln. Dabei ist zu bedenken, dass Gefahrenbewertung auch im Gefahrenabwehrrecht niemals ausschließlich nach rein objektiven, sondern zugleich auch nach wertenden Kriterien vorgenommen wird. Auch eine objektive, allein gefahrenabwehrrechtliche Perspektive kann daher aus rechtlichen Gründen die willensgesteuerte und handlungsorientierte Identität nicht unberücksichtigt lassen: 52. Eine konkrete Gefahr setzt eine im Einzelfall bestehende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts voraus (Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, 2007, S. 321, 318). Der Begriff der polizeilichen Gefahr erfordert eine Prognoseentscheidung, das heißt, eine auf Tatsachen gegründete subjektive Einschätzung über einen zukünftigen Geschehensablauf. Die Entscheidung über eine bestimmte Gefahrenabwehrmaßnahme muss im Wege einer optimierenden Synthese von Diagnose, Prognose und Bewertung mehrere nicht unmittelbar kommensurable Urteilselemente zueinander ins Verhältnis setzen (Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., 2007, S. 322 Rdn. 52). Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist der erwartete Schadenseintritt in tatsächlicher Hinsicht. Welche ursächlichen Ereignisse und Geschehensabläufe in die Gefahrenprognose eingestellt oder nicht eingestellt werden dürfen, ist jedoch eine vorgreifliche wertende Entscheidung. 30 53. Bedeutsam ist hierbei insbesondere, inwieweit die Rechtsordnung bestimmte Risiken, die mit einem Verhalten oder dem Zustand einer Sache verbunden sind, toleriert, etwa indem dieses Verhalten, z.B. Sportwettkämpfe, Teilnahme am Straßenverkehr, Alkoholgenuss, das sich seinerseits als Ausübung von Grundrechten darstellt, trotz seiner Gefährlichkeit geduldet wird (Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl., 2011, S. 41 Rdn. 77; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl., 2009, S. 55 Rdn. 109). Die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Gefahreneintritts ist damit insbesondere nach normativen und nicht allein nach empirischen Gesichtspunkten zu bestimmen. Polizeirechtliche Grundsätze der Gefahrenbewertung müssen daher rechtlich erlaubte Verhaltensweisen berücksichtigen. Ob die Ausübung rechtlich geschützter Handlungsbereiche zum Zwecke der Gefahrenabwehr zurückgedrängt werden darf, ist dabei abhängig davon, ob die zu erwartende Ausübung von Rechten rechtlich anerkannte Schranken überschreiten wird, ob die Religionsfreiheit also die Schranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK überschreitet. Dies ist für den Fall der öffentlichen Glaubensbetätigung jedoch nicht der Fall (Rdn. 69, 79). Aus gefahrenabwehrrechtlicher Sicht folgt damit, dass der alternative Sachverhalt des Verzichts auf die Ausübung allgemein anerkannter Rechte, wie die öffentliche Glaubensbetätigung, nicht in die Gefahrenbewertung eingestellt werden darf. Auch aus der polizeirechtlichen Sicht stellt sich damit für die Gefahrenbewertung nicht die Frage der Vermeidbarkeit der Gefahr (der Verfolgung) durch Verzicht auf rechtlich geschützte Handlungsbereiche. 4. Darf die Vermeidbarkeit der Verfolgung in die Risikobewertung eingestellt werden? 54. In der Rechtsprechung der Vertragsstaaten der Konvention erfolgt die Prüfung der „Begründetheit der Verfolgung“ („well-foundedness“) anhand eines objektiven Maßstabs. Wie ausgeführt, folgt aus nationalem Verfahrensrecht unter Berücksichtigung anerkannter Rechtsgrundsätze, dass eine objektive Gefahr – in der Sprache der Konvention also eine Begründetheit der Furcht – nicht deshalb verneint werden darf, weil diese durch rechtlich anerkanntes Verhalten ausgelöst wird. Die Frage der Vermeidbarkeit der Verfolgung stellt sich für die Konvention ausschließlich, wenn hiergegen im Herkunftsland wirksamer Schutz gewährt wird, ohne dass dazu auf die gefahrenbegründende Rechtsausübung verzichtet werden müsste. 55. Der australische Oberste Gerichtshof weist ausdrücklich darauf hin, dass es die Konvention nur dann rechtfertigt, vom Antragsteller zu verlangen, die Verfolgung 31 abzuwenden, wenn er Schutz gegen die ihm objektiv drohende Verfolgung in anderen Teilen seines Herkunftslandes erlangen kann (High Court of Australia (2007) HCA 40 Rdn. 53, 55 – SZATV). Diese Vermeidbarkeitserwägung hat aber ihre Rechtfertigung in der Konvention selbst. Denn die Flüchtlingseigenschaft wird nur zuerkannt, wenn der Betreffende wegen einer befürchteten Verfolgung den Schutz seines Herkunftslandes nicht in Anspruch nehmen kann (Art. 1 A Nr. 2 GFK). Kann er den erforderlichen Schutz gegen die befürchtete Verfolgung im Herkunftsland erlangen, fällt er nicht unter den Flüchtlingsbegriff (Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 133; Zimmermann/Mahler, in: Zimmermann, The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Article 1 A para. 2 Rdn. 606 f.). Es wird ihm hierbei aber nicht zugemutet, auf die Inanspruchnahme seiner anerkannten Rechte zu verzichten. Vielmehr wird ihm zugemutet, den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen, wenn dieser ihn gegen die deshalb drohende Verfolgung wirksam schützt. Rechtlich vermeidbar ist die Verfolgung, wenn entsprechend dem völkerrechtlichen Subsidiaritätsprinzip der Herkunftsstaat hiergegen wirksam Schutz gewährt. Der Betroffene muss in diesem Fall aber nicht auf die Inanspruchnahme des vollen Gebrauchs seiner anerkannten Rechte verzichten. 5. Darf nach dem Verzicht auf die Glaubensbetätigung gefragt werden? 56. Der Gerichtshof stellt für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darauf ab, dass „sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzt“ (Rdn. 79). Der Berichterstatter des Senats sieht es als offene und vom Gerichtshof nicht geklärte Frage an, ob „man gar nicht mehr nach dem Verzicht fragen“ dürfe, sondern bereits unmittelbar anerkennen müsse, wenn die „Religionsfreiheit eines Ausländers in seinem Heimatland schwerwiegend verletzt wird.“ Dieser Fragestellung liegt eine Annahme zugrunde, für die es im Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012 keinen Anhalt gibt. Dieser hat nicht festgestellt, dass einem Antragsteller unmittelbar die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, wenn „die Religionsfreiheit eines Ausländers in seinem Heimatland schwerwiegend verletzt wird.“ Vielmehr gilt dies nur für den Antragsteller, für den festgestellt worden ist, dass er sich im „Herkunftsland in einer Art. und Weise betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird“ (Rdn. 79). Auch für die Gefahrenbewertung nach dem Übereinkommen gegen Folter kann allein das Bestehen einer 32 ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Menschenrechtsverletzungen (Art. 3 Abs. 2) im Herkunftsland noch nicht das Urteil einer individuellen Gefährdung rechtfertigen. Vielmehr müssen weitere Umstände festgestellt werden, welche die Annahme eines Indizes auf die persönliche Gefährdung des Betroffenen nahe legen. Umgekehrt, rechtfertigt das Fehlen einer derartigen Praxis nicht das Urteil, dass dieser wegen seiner individuellen Verhältnisse nach Rückkehr nicht gefoltert wird (CAT, HRLJ 1994, 164 (168), Rdn. 9.3 – Mutombo; CAT, HRLJ 1994, 426 (431), § 12.3 – Khan). 57. Nicht allen Ausländern aus einem Herkunftsland, in dem die Religionsfreiheit schwerwiegend verletzt wird, ist deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, sondern nur denjenigen, denen es nach sorgfältiger Prüfung ihrer religiösen Identität und deren Reichweite nicht zuzumuten ist, Verfolgung – schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit - zu erleiden. Auch wenn der Gerichtshof den zuständigen Behörden nicht ausdrücklich untersagt, nach dem Verzicht auf die Ausübung der Religionsfreiheit zu fragen, ergibt eine Analyse seiner Ausführungen unter Rdn. 79, dass dem Betroffenen, der die Frage nach dem Verzicht auf seine Ausübungsfreiheit bejaht und hierfür auf den festgestellten Verfolgungsdruck hinweist, die Flüchtlingseigenschaft nicht versagt werden darf. Denn der Gerichtshof knüpft unmittelbar an die Feststellung der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung infolge einer bestimmten religiösen Betätigung den Hinweis, dass ein etwaiger Verzicht auf diese hierbei „grundsätzlich irrelevant“ ist. Die Behörde darf damit zwar nach dem Verzicht fragen. Weist der Antragsteller auf diese Frage als Beweggrund für den Verzicht jedoch auf den bestehenden Verfolgungsdruck hin, ist der festgestellte Verzicht „grundsätzlich irrelevant.“ 58. Diese Analyse der Ausführungen des Gerichtshofs wird durch die Staatenpraxis bestätigt. Nach der britischen Rechtsprechung muss festgestellt werden, wie sich der Antragsteller nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland verhalten werde. Dabei sei zu ermitteln, ob er seine sexuelle Orientierung offen ausleben werde (UK Supreme Court (2010) UKSC 31 Rdn. 82 – HJ). Die Frage, was ein Betroffener berechtigt ist zu tun, wird dabei zwar grundsätzlich abgegrenzt von der Frage, was er tatsächlich tun wird. Haben die zuständigen Behörden andererseits durch ermittelnde Fragen festgestellt, dass er tatsächlich auf die Ausübung seiner Religionsfreiheit verzichten wird, ist damit die Prüfung jedoch noch nicht abgeschlossen. Vielmehr haben sie die für den Verzicht maßgebenden Gründe zu ermitteln, wenn ein Antragsteller auf Frage erklärt, dass er nach seiner Rückkehr seine 33 Identität verbergen wird. Erklärt er, dass er seine tatsächlich gelebte Identität aus Furcht vor Verfolgung verbergen wird, hat er eine begründete Furcht vor dieser, beruht seine Furcht also auf einer objektiv festgestellten Gefahr. 59. Die australische Rechtsprechung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die fundamentale Frage, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat, nicht ermittelt wurde, wenn lediglich gefragt wird, ob ein Antragsteller unter dem Druck von Verfolgung seine tatsächliche Identität verbergen, jedoch nicht zugleich auch geprüft wird, warum er sich so verhalten wird. Wird daher festgestellt, dass es nicht möglich ist, offen seine Identität auszuleben, weil andernfalls Verfolgung droht, begründen diese ernsthaften Konsequenzen bei einer Aufdeckung der tatsächlichen Identität eine Furcht vor Verfolgung (High Court of Australia (2003) HCA 71 Rdn. 88 – Appellant S395/2002). 60. Es ist also der wertende Gedanke der Zumutbarkeit, der bei der Ermittlung zukünftigen Verhaltens zu berücksichtigen ist. Dieser Gedanke findet auch im Gefahrenabwehrrecht Berücksichtigung, weil auch dort die Rechtsausübung, soweit sie grundrechtlich geschützt ist, nicht in die Gefahrenbewertung eingestellt werden darf (Rdn. 51 ff.). Der Gerichtshof erachtet es grundsätzlich für unzumutbar, dass der Antragsteller die Gefahr der Verfolgung „durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte“ (Rdn. 79). Die Behörde darf daher zwar nach dem Verzicht, muss jedoch zugleich auch nach den hierfür maßgebenden Gründen fragen. Erklärt der Betroffene etwa, eine bestimmte Art und Weise der Religionsausübung sei für seine religiöse Identität nicht prägend, ergibt bereits die objektive Wahrscheinlichkeitsprüfung, dass ihm keine Verfolgung drohen wird. Denn in diesem Fall ist die „individuelle Lage“ (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG) durch eine religiöse Identität gekennzeichnet, die nicht Gegenstand von Einschränkungen nach der Rückkehr im Herkunftsland werden wird (Rdn. 70). Hat der Antragsteller jedoch erklärt, dass für ihn eine bestimmte religiöse Identität und ihr Ausdruckspotenzial prägend sind und sind diese Gegenstand befürchteter Einschränkungen (Rdn. 70), darf ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht versagt werden. Aus der immanenten Logik der Ausführungen im Urteil unter Rdn. 70 und 79 folgt damit, dass die zuständigen Behörden nach den Gründen für der Verzicht auf die Religionsausübung fragen müssen. 34 61. Der Antragsteller muss also die Behörde nicht davon überzeugen, dass er auch unter dem Druck von Verfolgungsgefahren seinen Glauben entsprechend seiner religiösen Identität leben wird. Der Flüchtlingsschutz ist keine Wohltat, die nur demjenigen zuteil wird, der um seines Glauben willens auf Leib und Leben verzichtet. Vielmehr sind nach Auffassung des Gerichtshofs alle Akte zu berücksichtigen, denen er ausgesetzt zu werden droht (Rdn. 68). Der subjektive Umstand, dass für ihn die öffentliche Glaubensbetätigung, gegen die sich in seinem Herkunftsland Verfolgungen richten, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist für diese Prüfung ein relevanter Gesichtspunkt (Rdn. 70). Dass er eine deshalb wahrscheinliche Gefahr von Verfolgung durch Verzicht auf diese öffentliche Glaubensbetätigung vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant (Rdn. 79). Denn für den Gläubigen hat die religiöse Identität personale Stabilisierungsfunktion, weil sie seine innere Balance zwischen der eigenen personalen Identität und der Vielzahl sozialer Rollen berührt. Diese Balance rückt damit auch in den Vordergrund religiöser Kommunikation. Deren Zweck besteht darin, die Bildungs- und Selbstbestimmungsbemühungen der beteiligten Subjekte zu stärken und damit zugleich auch die Selbstbildung der religiösen Individuen zu fördern (Barth, Religion in der Moderne, 2003, S. 187). 62. Im Lichte dieses Religionsverständnisses gewinnt das spezifisch religiöse Selbstverständnis des Antragstellers, das ja nach Auffassung des Gerichtshofs für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgebend ist (Rdn. 70), seine eigentliche Funktion: Durch die ethisch-religiöse Reflexivität des Gewissens werden zuallererst die verschiedenen Momente des Wollens und Handelns eines Individuums zur Kontinuität personaler Lebensführung verbunden. Umgekehrt wird dadurch das verantwortliche Dasein zur Darstellung der Einheit der Person. Indem das Gewissen den anthropologischen Ort darstellt, an dem sich nicht nur die ethische Bewusstheit des Menschen, sondern kraft religiöser Deutung auch deren Unbedingtheitsdimension aufbaut, bildet es gleichsam den Fokus der Verantwortung. Funktion des religiösen Bewusstseins ist es also, sämtliche Grundstrukturen des ethischen Bewusstseins in eine Unbedingtheitsperspektive einzurücken bzw. die einzelnen Unbedingtheitsmomente von Verantwortung zur Geltung zu bringen. Auf der normativen Ebene praktischer Selbstdeutung geht es dabei um die Letztverbindlichkeit des Orientierungsmaßstabs, auf der Ebene der individuellen Selbstwahrnehmung um die Ganzheit personal-konkreter Identität, auf der sozialen Ebene schließlich um den transzendenten Beziehungsgrund universeller wechselseitiger Anerkennung (Barth, Religion 35 in der Moderne, 2003, S. 337 f.. 342). Würde dem Gläubigen der Verzicht auf einen wichtigen Aspekt seiner personal-konkreten Identität, etwa auf die öffentliche Ausübungsdimension, auferlegt, würde damit das Wesen der rechtlich geschützten Religionsfreiheit schwerwiegend verfehlt. Dass der Gläubige vor der Ausreise seine nach außen drängende religiöse Identität wegen des akuten Verfolgungsdrucks nicht ausgelebt hat, bezeichnet ja nur den für ihn unerträglichen Druck, unter dem er gelebt hat, rechtfertigt jedoch nach den insoweit eindeutigen und mit dem anerkannten Umfang der Religionsfreiheit übereinstimmenden Feststellungen des Gerichtshofs nicht, ihn auch für die Zukunft einem derart unerträglichen Druck erneut auszusetzen. 63. In diesem Sinne versteht auch die britische Rechtsprechung das Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012. Diese erachtet es als unzumutbar für Ahmadis, welche sich als gläubige Muslime verstehen, sich einer Gesetzgebung zu unterwerfen, welche ihre grundlegende religiöse Identität untergrabe. Es könne von einem aktiven Ahmadi nicht verlangt werden, seine Glaubenspraxis einschließlich ihrer Verbreitung nach außen zu verbergen (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 115 f. – MN). Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass der Gerichtshof in Rdn. 79 das Verfolgungsrisiko nicht nur auf die Personen begrenzt habe, die eine begründete Verfolgung darlegen könnten, weil sie ihren Glauben praktizieren würden. Vielmehr habe er in dieses auch die Personen einbezogen, die zwar ihren Glauben praktizieren wollten, wegen der Gefahr von Verfolgung hierauf jedoch verzichten würden. Andernfalls würden die Betroffenen gezwungen, sich angesichts der bestehenden Risiken in unzumutbarer Weise waghalsig zu verhalten. Dies sei jedoch nicht die Grundlage für die Bewahrung und den Schutz der Religionsfreiheit und damit auch für den Schutz der Konvention (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 97 – MN). Die vom Berichterstatter aufgeworfene Frage stellt sich angesichts der Eindeutigkeit des Aussagegehalts des Urteils des Gerichtshofs für die britische Rechtsprechung nicht. Werde schlüssig dargelegt, dass für den Betroffenen bestimmte religiöse einschließlich öffentliche Aktivitäten für seine Identität prägend sind und werde oder wünsche er diese auszuüben, sei es unerheblich, dass er das Risiko der Verfolgung durch Verzicht auf diese Praxis abwenden könne (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 100 Buchst. f) – MN). Nicht die Frage, ob der Betroffene verfolgungsbegründende Aktivitäten nach der Rückkehr aufnehmen wird, ist damit der Kerngehalt des Urteils des Gerichtshofs, sondern die Frage, 36 ob eine bestimmte religiöse Glaubenspraxis einschließlich ihrer öffentlichen Manifestation für die religiöse Identität prägend ist (Rdn. 70 und 79). 64 Offensichtlich liegt der Ausgangsthese des Berichterstatters die im Vorlagebeschluss nachgezeichnete ständige Senatsrechtsprechung zugrunde. Danach verneint der Senat – wie bereits oben ausgeführt - die erforderliche Unmittelbarkeit der Gefährdung von Leib, Leben oder physischer Freiheit, wenn die Realisierung der Gefahr „noch von einer willensgesteuerten Handlung des Asylbewerbers“ abhängt, die sich nicht sicher prognostizieren lässt. Dem Betroffenen wird danach zugemutet, die Gefahr zu vermeiden, soweit dadurch nicht der Kernbereich seiner Religionsfreiheit verletzt wird (BVerwGE 138, 270 (288) = NVwZ 2011, 755 Rdn. 50). Wird hingegen der „Kernbereich“ der Religionsfreiheit verletzt, wird dem Betroffenen nicht zugemutet, die Gefahr durch eine „willensgesteuerte Handlung“, nämlich den bewussten und gewollten Verzicht auf die Religionsausübungsfreiheit, abzuwenden. Dieser Ansatz verkennt die Schutzwirkung der Richtlinie 2004/83/EG wie sie nunmehr vom Gerichtshof klargestellt worden ist und der bei religiösen Verfolgungen eine Unterscheidung in ein internum forum und ein externum forum fremd ist (Rdn. 63). Unausgesprochen liegt der Fragestellung des Berichtserstatters zugrunde, dass keine rechtlichen Bedenken gesehen werden, „unmittelbar anzuerkennen“, wenn die im privaten Bereich ausgeübte „Religionsfreiheit eines Ausländers in seinem Heimatland schwerwiegend verletzt wird und dies seine religiöse Identität betrifft.“ Nach der Klärung der Verzichtsfrage durch den Gerichtshof (Rdn. 79) ist jedoch kein sachlich zu rechtfertigender Grund ersichtlich, nicht unmittelbar die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn die öffentlich ausgeübte „Religionsfreiheit eines Ausländers in seinem Heimatland schwerwiegend verletzt wird und dies seine religiöse Identität betrifft.“ 6. Beantwortung der Frage des Berichterstatters 65. Nach alledem ist die Frage des Berichterstatters dahin zu beantworten, dass die zuständigen Behörden im Rahmen der tatsächlichen Feststellung der Verfolgungsgefahr den Antragsteller zwar danach fragen dürfen, ob er im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland auf die Ausübung seiner Religionsfreiheit verzichten wird. Damit hat es jedoch nicht sein Bewenden. Vielmehr erfordert die primärrechtlich geschützte Religionsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 GRCh), dass sie den Antragsteller zugleich auch nach den für seinen Verzicht maßgebenden Gründen gezielt befragen. Erklärt dieser, dass er wegen der festgestellten 37 Gefahr drohender Verfolgung, die er für den Fall der Ausübung seiner religiösen Identität befürchten muss, auf die öffentliche Glaubensbetätigung verzichten wird, ist seine Furcht vor Verfolgung begründet und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dieses Ergebnis folgt mit hinreichender Klarheit aus einer vollständigen Analyse des Urteils des Gerichtshofs vom 5. September 2012 im Lichte anerkannter Grundsätze des Flüchtlingsrechts. Die Entscheidung im anhängigen Verfahren setzt damit nicht voraus, dass zuvor eine offene unionsrechtliche Zweifelsfrage geklärt werden müsste. 7. Prüfung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers 66. Konsequenz einer Wahrscheinlichkeitsprüfung bei religiöser Verfolgung ist danach, dass die subjektiv geprägte religiöse Identität des Antragstellers (Rdn. 70) sorgfältig zu ermitteln ist. Dies ist anhand der in der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Kriterien und Regeln nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorzunehmen. Die Glaubwürdigkeitsprüfung kann sich aber nur auf die Frage beziehen, ob dem Betroffenen geglaubt wird, dass er ein durch seine religiöse Identität geprägtes Leben führt. Davon zu unterscheiden ist die Glaubhaftmachung der hierfür maßgebenden Tatsachen. Dies ist keine Frage der Glaubwürdigkeit, sondern eine nach den Kriterien der Schlüssigkeit und Stimmigkeit vorzunehmende Prüfung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss die Behörde die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Antragsteller behaupteten individuellen Lebenssachverhaltes erlangen, aus dem er seine Verfolgungsfurcht herleitet (BVerwGE 71, 180 (181) = EZAR 630 Nr. 17 = NVwZ 1985, 685 = InfAuslR 1985, 244; BVerwG, NVwZ 1990, 171 = InfAuslR 1989, 341; BVerwG, InfAuslR 1990, 238). Glaubhaftmachung des Sachverhalts heißt demnach, dass der Asylsuchende die individuellen Tatsachen seiner Glaubenspraxis (z.B. Gebet, Gottesdienst, Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, Verbreitung des Glaubensschlüssig) stimmig, konkret und erlebnisfundiert darlegt. Diese Tatsachen bilden anschließend die Grundlage für die Gefahrenbewertung und in diesem Rahmen auch für die Glaubwürdigkeitsprüfung. 67. In diesem Sinne hält die britische Rechtsprechung die Feststellungsbehörden dazu an, festzustellen, ob der Antragsteller tatsächlich ein Ahmadi ist. Hierzu seien alle Umstände und Tatsachen zu berücksichtigen. Dazu könne auch die Aufklärung gehören, ob er in Pakistan als Ahmadi registriert gewesen sei und wie er dort seinen Glauben gelebt habe. 38 Religiöse Aktivitäten nach der Einreise seien ebenfalls festzustellen. Im nachfolgenden Prüfungsschritt seien die Vorstellungen und Absichten des Antragstellers hinsichtlich seiner Glaubensaktivitäten zu ermitteln, müsste er nach Pakistan zurückkehren. Dies sei deshalb erforderlich, um festzustellen, ob und welche religiösen Aktivitäten für die religiöse Identität des Antragstellers von Bedeutung seien. Dabei obliege dem Antragsteller die Darlegungslast dafür, dass seine Absichten und Wünsche, bestimmte Komponenten seiner religiösen Identität zu praktizieren und nach außen zu bekunden, tatsächlich von besonderer Bedeutung für die Bewahrung seiner religiösen Identität ist und diese nach den strafrechtlichen Vorschriften in Pakistan nicht erlaubt seien (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 123 – MN). 68. Die Glaubwürdigkeitsprüfung darf nicht nach Maßgabe bestimmter Klassifikationen durchgeführt werden, weil dies die Gefahr in sich birgt, dass der Antragsteller und seine charakteristischen persönlichen Eigenschaften und Verhältnisse (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG) zugunsten abstrakter Muster ausgeblendet bleiben (High Court of Australia (2003) HCA 71 Rdn. 76 – Appellant S395/2002). Vielmehr hält der Gerichtshof die Praxis dazu an, den subjektiven Umstand, dass für den Antragsteller die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, sorgfältig zu ermitteln (Rdn. 70). Diese Bewertung ist mit „Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören“ (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) = NVwZ 2010, 505 Rdn. 90 - Abdulla). Das Eingeständnis, dass bei drohender Verfolgung die religiöse Identität und Orientierung nicht ausgelebt werden wird, darf nicht gegen die Glaubwürdigkeit des Antragstellers eingewandt werden. Darf der Verzicht auf die religiöse Betätigung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorausgesetzt werden, rechtfertigt ein entsprechendes individuelles Verhalten zwecks Vermeidung von Verfolgung auch keine Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit des Betroffenen. 69. Ferner ist die Vermutungsregelung des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn eine den Antragsteller prägende religiöse Identität bereits für die individuelle Situation vor der Ausreise festgestellt wurde und im Aufnahmemitgliedstaat fortgesetzt und offen ausgelebt wird. In diesem Fall ist die religiöse Identität nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden religiösen Überzeugung oder Ausrichtung des Antragsteller (Art. 5 Abs. 2 RL 39 2004/83/EG). Haben die zuständigen Behörden Feststellungen getroffen, dass der Antragsteller vor der Ausreise ein religiös bestimmtes Leben geführt hat, ist diese Feststellung Grundlage für die Anwendung der unionsrechtlichen Vermutungsregelung. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob er dort seinen Glauben privat oder öffentlich, individuell oder kollektiv ausgeübt und ob und welche Maßnahmen er aufgrund seiner religiösen Lebensführung erlitten hat bzw. ihm drohten. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie stellt vielmehr allein auf Aktivitäten des Antragstellers ab, welche nachweislich Ausdruck einer bereits vor der Ausreise bestehenden religiösen Überzeugung oder Ausrichtung sind. Diese bildet die Grundlage für die Anwendung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie. 70. Setzt der Antragsteller die vor der Ausreise für ihn maßgebende religiös bestimmte Lebensführung im Aufnahmemitgliedstaat fort, bestimmt diese Fortsetzung seine im Entscheidungszeitpunkt (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) maßgebende „religiöse Prägung.“ Daraus folgt, dass Art. 4 Abs. 3 Buchst. d) RL 2004/83/EG nicht angewandt werden kann, wenn der Antragsteller bereits im Herkunftsland nachweislich aufgrund einer bestehenden religiösen Überzeugung oder Ausrichtung Aktivitäten entfaltet hat. Diese Aktivitäten können sich auf den Bereich der privaten Glaubensbetätigung beschränkt haben. Es muss deshalb auch nicht – wie bereits erwähnt – zu gegen den Antragsteller gerichteten Verfolgungen oder Verfolgungsbedrohungen gekommen sein. Dann findet ohnehin Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG Anwendung und bedarf es keiner weiteren Prüfung der Glaubwürdigkeit der religiösen Identität des Antragstellers. Vielmehr ist für die Anwendung von Art. 5 Abs. 2 RL 204/83/EG allein maßgebend, dass eine religiöse Prägung und hierauf beruhende konkrete Lebensführung („Aktivitäten“), wenn auch im Verborgenen, für die individuelle Lage vor der Ausreise festgestellt worden ist. 71. Die Vermutungswirkung des Art. 5 Abs. 2 2. Hs. RL 2004/83/EG trägt insbesondere dem Auslegungsprinzip Rechnung, dass die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers besonders in den Blick zu nehmen sind (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG spricht für eine Regelvermutung, da zwischen der »begründeten« Furcht vor Verfolgung und den das Kontinuitätsmerkmal begründenden Aktivitäten im Ausland durch das Wort »insbesondere« ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt wird. Ebenso spricht die Begründung des Vorschlags der Kommission für eine Regelvermutung. Danach sind »Sur place«-Ansprüche 40 leichter zu begründen, wenn es sich bei den Aktivitäten um das Kundtun von Überzeugungen handelt, die der Antragsteller bereits im Herkunftsland vertreten hat und weiterhin vertritt und deretwegen er internationalen Schutz benötigt. Die »Kontinuität ist hierbei zwar nicht unbedingt eine Voraussetzung, sie ist jedoch ein Indiz für die Glaubwürdigkeit« des Antragstellers (Kommissionsentwurf v. 12. September 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 17). IV. Vorlagefrage 72. Der Berichterstatter des Senats hat in der prozessleitenden Verfügung vom 18. Oktober 2012 die prozessuale Möglichkeit angesprochen, dass eine erneute Vorlage an den Gerichtshof herbeizuführen sei, wenn es auf die Frage, ob nicht mehr nach dem Verzicht gefragt werden darf, für die Entscheidung im anhängigen Verfahren ankommt. Zwar kommt es für die Entscheidung im anhängigen Verfahren auf diese Frage an. Jedoch folgt – wie ausgeführt – aus einer Analyse des Urteils des Gerichtshofes vom 5. September 2012 mit der erforderlichen Klarheit, dass zwar der Verzicht zum Gegenstand der Ermittlungen gemacht werden darf, dabei jedoch nach den hierfür maßgeblichen Gründen zu fragen ist. 73. Einzuräumen ist, dass der Gerichtshof die aufgeworfene Frage nicht unmittelbar angesprochen, wenn auch unter Rdn. 70 und 79 behandelt hat. Die britische Rechtsprechung weist dementsprechend darauf hin, es entspreche gefestigter Rechtsprechung der britischen Gerichte und des Gerichtshofs, dass ein Ahmadis nicht zuzumuten sei, die Verfolgung durch Verzicht auf die Religionsausübung zu vermeiden (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 104, 107 – MN). Sollte der Senat der hier vertretenen Bewertung des Urteils des Gerichtshofs nicht folgen, stellt sich allerdings die Notwendigkeit, eine erneute Klärung durch den Gerichtshof herbeizuführen. Maßgebend hierfür wäre die Erwägung, dass der Gerichtshof für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft darauf abstellt, dass „sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzt“ (Rdn. 79), er den zuständigen Behörden aber nicht ausdrücklich untersagt, nach dem Verzicht auf die Ausübung der Religionsfreiheit zu fragen. Wenn also die Behörden feststellen, dass der Betroffene unter dem Druck der Verfolgung auf die Ausübung seiner Religionsfreiheit verzichten wird, droht ihm keine Gefahr der Verfolgung. 41 74. Offen bliebe bei einer derartigen Bewertung des Urteils, ob aus der Randnummer 79 des Urteils folgt, dass der Verzicht auf die Religionsausübung bei einer wertenden, Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten einschließenden Bewertung der Größe der Gefahr (EuGH, InfAuslR 2010, 188 (192) = NVwZ 2010, 505 Rdn. 90 - Abdulla) dann nicht zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden darf, wenn die zuständigen Behörden festgestellt haben, dass er glaubwürdig eine bestimmte religiöse Identität aufweist, nach dieser im Aufnahmemitgliedstaat sowie im Entscheidungszeitpunkt konkret lebt und diese Gegenstand der Verfolgungshandlungen ist und für seinen eingeräumten Verzicht auf das offene Gestalten seiner religiösen Identität der Druck drohender Verfolgungshandlungen ursächlich ist. 75. Dementsprechend wird für den Fall, dass der Senat der hier dargestellten Bewertung des Urteils des Gerichtshofs vom 5. September 2012 nicht folgen sollte, vorgeschlagen, nach Art. 267 AEUV folgende Fragen dem Gerichtshof zur Klärung vorzulegen: „1. Dürfen die zuständigen Behörden den Betroffenen fragen, ob er unter dem Druck von drohenden Verfolgungshandlungen wegen einer bestimmten Art und Weise der Religionsausübung auf diese im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland verzichten wird? 2. Sind die Behörden in dem Fall, in dem der Betroffene erklärt, dass er auf eine bestimmte Art und Weise der Religionsausübung nach der Rückkehr in sein Herkunftsland verzichten wird, verpflichtet, diesen nach den Gründen zu fragen, die für seinen Verzicht maßgebend sind? 3. Ist dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er auf gezielte Fragen angibt, dass er seinen Glauben nicht öffentlich ausüben wird, weil er deshalb Verfolgung befürchtet?“ C. Folgerungen für das anhängige Verfahren I. Allgemeine Lage für gläubige Ahmadis im Herkunftsland des Klägers 76. Im Blick auf die allgemeine Lage in Pakistan werden nach den vorinstanzlichen Feststellungen (BVerwGE 138, 270 (271 f.) = NVwZ 2011, 755) Ahmadis als Nicht-Muslime angesehen und als religiöse Minderheit eingestuft. Die Ahmadis hingegen würden sich als „innerislamische Erneuerungsbewegung“ verstehen. Nach den maßgebenden strafrechtlichen Vorschriften würden Ahmadis mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe 42 bestraft, wenn sie den Anspruch erheben würden, Muslime zu sein, ihren Glauben als Islam bezeichneten, ihn predigten oder propagierten oder andere aufforderten, ihren Glauben anzunehmen. Ferner könne mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden, wer den Namen des Propheten Mohammad verunglimpfe. Den Ahmadis sei untersagt, öffentliche Versammlungen sowie religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet werde. Hingegen werde es ihnen nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gotteshäusern zu versammeln. Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen sei den Ahmadis jedoch jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, untersagt und werde regelmäßig strafrechtlich verfolgt. Ahmadis seien seit Jahren in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen würden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewährten. 77. Die Ahmadis, die in Pakistan aufgrund ihrer religiös geprägten Identität den Anspruch erheben, Muslime zu sein und ihren Glauben entsprechend predigen oder propagieren oder andere auffordern, ihren Glauben anzunehmen, werden danach mit schwerwiegenden Maßnahmen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG verfolgt. In seinem Schlussantrag vom 19. April 2012 kommt Generalanwalt Bot zu der Schlussfolgerung, dass angesichts der im Vorlagebeschluss mitgeteilten Informationen die in Art. 9 und 10 der Richtlinie festgelegten Kriterien erfüllt seien, weil die Religionsausübung mit schweren und nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen der Person verbunden sei. Einerseits stelle das im Gesetz enthaltene Verbot dadurch, dass es dem Einzelnen eines wesentlichen Teils seiner Persönlichkeit beraube, eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit dar. Andererseits führten die mit diesem Verbot verbundenen Sanktionen dazu, dass demjenigen der sich weiterhin zu seinem Glauben bekenne, eine Freiheitsstrafe oder sogar die Todesstrafe drohe und er damit seiner wichtigsten Rechte beraubt werde (Rdn. 81, 83 ff.). 78. Soweit der Generalanwalt einwendet, die zuständigen Behörden müssten feststellen, dass das Gesetz von den pakistanischen Behörden auch tatsächlich angewandt werde (Rdn. 82), sind nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmungen etwa 2000 Strafverfahren gegen diese eingeleitet worden. Allein im Jahre 2006 soll es zu 21 Anklagen gegen Amadis 43 gekommen sein. Die Strafbestimmungen würden keinesfalls restriktiv angewandt. 2006 sei nach dem eingeführten amtlichen Lagebericht insoweit eine „besorgniserregende steigende Tendenz“ festgestellt worden. Faire erstinstanzliche Gerichtsverfahren würden häufig nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehle. Dies beruhe nicht zuletzt darauf, dass sie zum Teil durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt würden oder aber im hohen Maße korrupt seien. In der Regel würden die Betroffenen bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen. Anwälte von Betroffenen würden gleichfalls von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt (UA, S. 13 f.). 79. Nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen berufungsgerichtlichen Feststellungen müssen die Ahmadis, die in Pakistan nach außen ihren sie prägenden Glauben bekunden, also schwere und nicht hinnehmbare Beeinträchtigungen ihrer Person befürchten. Zutreffend weist das Berufungsgericht darauf hin, dass „angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten Übergriffen extremistischer Gruppen es der gesunde Menschenverstand nahe legen, wenn nicht gar gebieten wird, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Die seit nunmehr weit über 20 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und –bedingungen der Glaubenspraxis“ würden auch einen „nicht unwesentlichen Faktor für die bereits eingangs festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen.“ Insoweit gebe die „absolute Zahl der Strafverfahren und ihr Verhältnis zu der Zahl der Gläubigen daher isoliert betrachtet notwendigerweise ein unzutreffendes Bild ab. Würden gläubige Ahmadis „ihr selbstverständliches Menschenrecht aktiv wahrnehmen, so müssten sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen und nach Art und Zahl zunehmenden Reaktionen von staatlicher Seite bzw. auch von Dritten rechnen“ (UA, S. 15 f.). 80. Damit steht fest, dass nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen aktive, in Gemeinschaft mit anderen und nach außen ihren Glauben bekundende Ahmadis in Pakistan mit schwerwiegenden Maßnahmen, welche die Schwelle von Art. 15 Abs. 2 EMRK überschreiten, sanktioniert werden. Eine statistische Gefahrenanalyse, welche auf der Relation aus der Anzahl der Ahmadis zu den festgestellten Strafverfahren und weiteren schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen beruht, darf nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zugrunde gelegt werden. Die den Begriff der Verfolgungsdichte im 44 Rahmen der Gruppenverfolgung beherrschende rein quantitaive Gefahrenanalyse bezeichnet schlagwortartig die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen anzunehmen ist, dass jedes Gruppenmitglied ohne Rücksicht auf seine persönliche Situation Verfolgung wegen eines gruppenspezifischen Merkmals befürchten muss (BVerwGE 89, 162 (168) = EZAR 202 Nr. 22 = Buchholz 402.25 §1 AsylVfG Nr. 147). Insoweit vertritt das Bundesverwaltungsgericht seit Jahrzehnten einen quanitativen Maßstab: Danach bestehe zwischen der Größe der verfolgten Gruppe und den Anforderungen an die Intensität der Verfolgungsdichte eine Abhängigkeit (BVerwG, U. v. 22. 5. 1996 – BVerwG 9 B 136.96, NVwZ 1996, 1116 (nur LS); BVerwGE 126, 243 (249 ff.) = EZAR NF 62 Nr. 8 = NVwZ 2006, 1420 = InfAuslR 2007, 33; BVerwG, NVwZ 2009, 1237 (1238) = InfAuslR 2009, 315 = EZAR NF 60 Nr. 12). Später relativierte es seinen quantitativen Maßstab. Die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtungen zur Verfolgungsdichte ließen sich nicht mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. Es reiche vielmehr aus, die „ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge“ zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen (BVerwG, NVwZ 2009, 1237 (1238) = InfAuslR 2009, 315 = EZAR NF 60 Nr. 12, mit Hinweis auf BVerwGE 96, 200 (213) = InfAuslR 1994, 424 = NVwZ 1995, 175 = EZAR 202 Nr. 25). 81. Diese Rechtsprechung kann bereits deshalb keine Anwendung finden, weil es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die individuelle Lage des Betroffenen ankommt (Rdn. 68 und 70; Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG), es also nicht darum geht, „ohne Rücksicht“ auf seine persönliche Situation mittels einer Beweiserleichterung eine prognoserechtliche Vermutungsregelung zu seinen Gunsten anzuwenden. Vielmehr ist im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsprüfung das festgestellte und gelebte subjektive Selbstverständnis des Antragstellers (Rdn. 70) die Grundlage für die Bewertung der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland. Ergeben die mit dem „Herkunftsland verbundenen Tatsachen,“ dass aufgrund der „individuellen Lage“ des Antragstellers, wie sie sich aus seiner im Entscheidungszeitpunkt tatsächlich festgestellten religiösen Identität ergibt, ihm dort Verfolgung droht, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Insoweit verdeutlichen die mit Pakistan verbundenen Tatsachen, nämlich dass aufgrund der seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmungen etwa 2000 Strafverfahren gegen diese eingeleitet wurden, dass aktive und nach außen ihren muslimischen Glauben bekundende Ahmadis tatsächlich verfolgt werden. Dass nicht über 45 diese Zahl hinausgehende Strafverfahren festgestellt wurden, ist nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen in der Einschüchterungswirkung auf die gesamte Ahmadiyya-Bewegung begründet, rechtfertigt jedoch als solches nicht die Feststellung, dass jeder Ahmadi, der in Pakistan seinen Glauben aktiv nach außen bekundet, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit strafrechtliche und vergleichbare schwerwiegende Maßnahmen befürchten muss, in Zweifel zu ziehen. 82. Für die Gefahrenanalyse im konkreten Einzelfall bedarf es daher nicht der Anwendung einer prognoserechtlichen Vermutungsregelung. Vielmehr steht nach den berufungsgerichtlichen und das Revisionsgericht bindenden Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) fest, dass aufgrund der allgemeinen Lage in Pakistan jeder aktiv nach außen seinen Glauben bekundende Ahmadis tatsächlich in einer Art. 15 Abs. 2 EMRK zuwiderlaufenden Weise verfolgt werden wird. Die berufungsgerichtlichen Feststellungen werden durch die britische Rechtsprechung bestätigt. Diese stellt fest, dass Ahmadis, die sich entgegen den gegen sie gerichteten strafrechtlichen Bestimmungen verhielten, strafrechtliche Verfolgung einschließlich Untersuchungshaft befürchten müssten. Ferner würden sie Opfer von Feindseligkeiten der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung. Die Ablehnung und Missbilligung ihres Glaubens habe sich mit der zunehmenden Islamisierung der pakistanischen Gesellschaft in Verbindung mit dem sich verstärkenden Fundamentalismus gesteigert. Zusätzlich zu terroristischen Bedrohungen durch Taliban seien sie oppositionellen Akten durch die Khatmee-Nabuwat ausgesetzt. Letztere initiierten polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen (FIR) und Einschüchterungstaktiken gegen Ahmadis (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 102 – MN). 83. Angesichts der berichteten Einzelfälle in den letzten 24 Jahren könnte zwar eingewandt werden, dass das Verfolgungsrisiko nicht so groß sei, wie die Betroffenen befürchteten. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Phänomen darauf zurückzuführen sei, dass sich die Ahmadis generell durch Selbtverleugnung, zivilen Ungehorsam und Rücknahme ihrer religiösen Bekundungen auf ein geringes Maß an die repressiven Verhältnisse angepasst hätten. Der Hinweis auf die tatsächlich festgestellten Einzelfälle könne daher nicht die Tatsache in Zweifel ziehen, dass die Art und Weise, in der Ahmadis ihren Glauben praktizierten und bekundeten, durch strafrechtliche Sanktionen unterbunden werde. Sei es zumutbar, von den Ahmadis zu erwarten, sich zurückzuhalten und ihren Glauben nicht frei und offen wie es der Bedeutung des einzelnen Gläubigen entspreche, zu bekunden? Es 46 entspreche gefestigter Rechtsprechung der britischen Gerichte und des Gerichtshofs (Rdn. 79), dass ein derartiges Verhalten unzuzumutbar sei, wenn es den Zweck verfolge, die Verfolgung zu vermeiden (Upper Tribunal (2012) UKUT 00389(IAC) Rdn. 104, 107 – MN). II. Individuelle Lage des Klägers 84. Im Hinblick auf die individuelle Lage des Klägers hat das Berufungsgericht festgestellt, dass der Kläger „mit seinem Glauben eng verbunden“ sei und diesen in der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt habe und auch gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Falle der Rückkehr nach Pakistan unmittelbar von religiöser Verfolgung bedroht wäre. So habe der Kläger nicht nur überzeugend ausgeführt, bereits in Pakistan ein religiös geprägtes Leben geführt zu haben, indem er wiederholt am Tag in die Moschee gegangen sei und gebetet sowie an religiösen Festen teilgenommen habe. Er habe darüber hinaus auch zusammen mit anderen Familienangehörigen die Interessen der Ahmadis in seinem Heimatort in führender Rolle vertreten. Aus den Ersten Informationsberichten über eine Straftat (FIR) folge, dass sich der Kläger in seiner Heimat zu seinem Glauben bekannt und sich für diesen eingesetzt habe. Dabei habe er seinen Glauben auch gegenüber anderen kundgetan. Er übe seinen Glauben auch weiterhin aus, wie aus seinen detaillierten Angaben zu seinem religiösen Leben im Bundesgebiet folge (UA, S. 16 f.). 85. Nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen sind damit religiöse Aktivitäten in Gemeinschaft mit anderen und nach außen ein wesentlicher Aspekt der religiösen Identität des Klägers. Da nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen in Pakistan derartige religiöse Aktivitäten mit Art. 15 Abs. 2 EMRK zuwiderlaufenden Maßnahmen sanktioniert werden, ist die Revision zurückzuweisen. Dr. M a r x Rechtsanwalt 47