SPEECH/01/528 Rede von Romano Prodi Präsident der Europäischen Kommission EIN GRÖSSERES UND VEREINTES EUROPA ALS GLOBALER AKTEUR Herausforderungen und Chancen im neuen Jahrhundert Europakolleg Brügge Brügge, 12. November 2001 Meine Damen und Herren, vor hundert Jahren kam der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, zur Welt. Ich freue mich, hier in Brügge, einer der großen Stätten der europäischen Kultur und Geschichte, über Europa sprechen zu dürfen. Besonders ehrt mich, dass ich im Europakolleg das Wort ergreifen darf, in dem die Auseinandersetzung mit den großen europäischen Themen Tradition hat. Die Terroranschläge vom Morgen des 11. September haben nicht nur die Vereinigten Staaten schwer getroffen, sondern die ganze Welt in eine neue, unbekannte Dimension voller Gefahren gestürzt. Dieser Morgen stellt den eigentlichen Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts dar. Zwei Tage später hielt ganz Europa inne, um drei Minuten schweigend der Opfer der Attentate zu gedenken. Wir alle haben erkannt, dass die Anschläge den Werten der gesamten freien Welt galten, dass es Anschläge auf die Freiheit und Sicherheit eines jeden von uns waren. Der Europäische Rat zeigte auf seiner Sondertagung vom 21. September Entschlossenheit und reagierte umgehend auf diese neue Krise. Auf der Grundlage von Vorschlägen, die die Kommission sofort vorgelegt hatte, beschloss er einen Aktionsplan mit in allen Mitgliedstaaten anwendbaren strafrechtlichen Sanktionen, einem europäischen Haftbefehl und einer umfassenden Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Geldwäsche. Jetzt gilt es, die eingegangenen Verpflichtungen in konkrete Taten umzusetzen. Seit dem 11. September ist das Regieren weltweit schwieriger geworden. Sicherheit, Wohlstand und Frieden zu sichern - das ist eine Aufgabe, die kein Staat, keine Institution und kein Volk, wie groß oder mächtig oder angesehen sie auch sein mögen, allein meistern kann. Durch die Erweiterung wird Europa das Gewicht gewinnen, das es für diese neue Phase seiner Geschichte benötigt. Doch Größe und Wirtschaftskraft allein reichen nicht aus. Europa muss auch seine Politik stärken und die erforderlichen institutionellen Reformen vornehmen. Vor allem aber muss es sich unmissverständlich zu seiner Einheit bekennen. Die Entscheidung liegt bei uns: Wollen wir auf dem Einigungsweg voranschreiten und Europa die nötigen Kräfte verleihen, damit es Gefahren abwehren und die Herausforderungen der heutigen Welt meistern kann? Oder wollen wir lieber zusehen, wie Europa schrittweise an Substanz verliert? Allzu viele Bürger erleben Europa als fernes, abstraktes und kompliziertes Gebilde. Wie könnte es auch anders sein, folgen doch den großen Reden über die Zukunft nächtelange Verhandlungen, in denen Positionen und Privilegien verteidigt werden. Und wie oft vergehen dann noch Monate oder gar Jahre, bis Beschlüsse, die bereits Tausenden von Journalisten mitgeteilt wurden, in die Praxis umgesetzt werden? 2 Gleichzeitig erwarten unsere Bürger, wie wir aus Umfragen wissen, nach wie vor, dass Europa sich aktiv für Frieden, Sicherheit und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Dieser Erwartung können wir gerecht werden. Wir verfügen über die Mittel, um Europa zu einem globalen Akteur zu machen. Wir wissen, wie sich eine Integration erreichen lässt, die supranational angelegt ist und gleichzeitig die beteiligten Nationen und Staaten achtet. Das Rezept heißt Gemeinschaftsmethode. Nur diese auf gemeinsame Institutionen gegründete Methode gestattet den Mitgliedstaaten - den großen wie den kleinen -, gleichberechtigt an der Verwirklichung eines gemeinsamen Projekts mitzuwirken. In Kürze tritt ein Konvent zusammen, dem Vertreter der europäischen und einzelstaatlichen Institutionen angehören werden und dessen Auftrag es sein wird, die Zukunft der Union vorzubereiten. Für Europa ist dies der Augenblick der Entscheidungen. Meine Damen und Herren, Nach einigen Überlegungen zur Wiedervereinigung Europas und zur Wirtschaftsund Währungsunion als Motor des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts werde ich auf die internationale Rolle eingehen, die Europa, gestützt auf diese beiden Säulen, spielen kann, sowie auf die institutionellen Reformen, die für die Union von morgen unerlässlich sind. Die Erweiterung Die Erweiterung steht seit dem Amtsantritt dieser Kommission ganz oben auf der Prioritätenliste. Wir haben schon weit vorangekommen, dennoch bleibt noch viel zu tun. Die kommenden zwölf Monate werden entscheidend sein. Morgen wird die Kommission den jährlichen Bericht über die Fortschritte der einzelnen Beitrittsländer vorlegen, aus dem hervorgeht, wo weitere politische, wirtschaftliche und soziale Anstrengungen erforderlich sind und inwieweit demokratische Institutionen noch gestärkt werden müssen. Allerdings kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass die Fortschritte sämtliche Erwartungen übertreffen; dies gilt für alle Bereiche, die für den Beitrittsprozess von Bedeutung sind. Damit war nicht unbedingt zu rechnen, als wir vor zwei Jahren Zeitziele, Einzelheiten und die verschiedenen Etappen der letzten Phase des komplexen Erweiterungsprozesses festlegten. In einem Jahr werden wir prüfen, ob die einzelnen Länder in der Lage sind, die Rechte und Pflichten zu übernehmen, die sich aus der Unionsmitgliedschaft ergeben. Wir gehen davon aus, dass wir dann die Verhandlungen mit den Ländern abschließen können, die die Beitrittskriterien erfüllen. Nach den erforderlichen Ratifikationen können diese Länder entsprechend den Zielvorgaben von Parlament und Rat vor den Wahlen im Juni 2004 Mitglied der Europäischen Union werden. 3 Innere Sicherheit Auch wenn wir entschlossen auf die Erweiterung hinarbeiten, sind wir doch nicht blind für die Ängste, die dieser Prozess hervorruft Unsere Sorge gilt in erster Linie der Sicherheit. Es ist dies eine berechtigte Sorge, auf die wir eine konkrete Antwort finden müssen. Mit der Erweiterung stellt sich für die Europäische Union das Problem der Kontrolle der Außengrenzen. Europa ist keine Festung im Belagerungszustand und will auch keine neuen Mauern um sich herum errichten. Nicht Grenzen, sondern die Anerkennung grundlegender gemeinsamer Prinzipien sichern sowohl die Einheit Europas als auch die nationale, regionale oder lokale Vielfalt. Gleichwohl ist eine wirksame Kontrolle der Grenzen heute unverzichtbar für die innere Sicherheit und unverzichtbar für das Vertrauen der Bürger. Diese Kontrolle wird allen Mitgliedstaaten zugute kommen. Deshalb dürfen die Kosten und die Verantwortung nicht nur den Grenzländern aufgebürdet werden. Das Problem betrifft uns alle. Daher gilt es, gemeinsame Analysen und Strategien mit Blick auf ein einheitliches Vorgehen bei der Grenzkontrolle zu erarbeiten. Wir müssen hier die Handlungslinien aufgreifen, die von der Kommission bereits in verschiedenen Dokumenten aufgezeigt wurden und die die Zustimmung einiger europäischer Regierungschefs gefunden haben. Diese Handlungslinien sind auch Thema einer umfassenden Studie unter Federführung Italiens. In diesem Sinne müssen wir auch über die polizeiliche Zusammenarbeit nachdenken. Zu prüfen wäre, ob die Kooperation über das Tätigkeitsfeld von Europol hinaus ausgeweitet werden könnte. Hierbei gilt, dass wir gleichzeitig die Freiheit des Einzelnen achten und größtmögliche Effizienz anstreben müssen. Ein konkreter Schritt wäre die Schaffung eines integrierten europäischen Polizeikorps, das die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität zur Aufgabe hätte. Ohne gegenseitiges Vertrauen und ohne gegenseitige Anerkennung kann es allerdings keine Fortschritte geben. Ich weiß, das ist ein schwieriges und politisch heikles Thema. Aber lieber will ich ein Risiko eingehen und zuviel Integration fordern als zulassen, dass kriminelle und terroristische Organisationen den europäischen Binnenmarkt für ihre Zwecke nutzen. 4 Wirtschaft, Markt und Gesellschaft Vor knapp fünfzig Jahren haben die Römischen Verträge den Europäern vier Grundfreiheiten, den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, und damit nicht nur wirtschaftliche, sondern auch bürgerliche Rechte gebracht. Das war für die damaligen Gründerstaaten keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Auf dieser Basis ist es den Europäern gelungen, über die Jahre einen Raum des Wohlstands, der Weiterentwicklung, der Stabilität und der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen. Am Ende dieses Weges stand die Schaffung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Schon heute ist die Währungsunion eine Erfolgsgeschichte. Man stelle sich nur vor, was geschehen wäre, wenn wir in der momentanen schwierigen Situation noch unsere Landeswährungen gehabt hätten, die den Spekulationsattacken schutzlos ausgeliefert gewesen wären. Die Einführung des Euro in knapp fünfzig Tagen wird der Entwicklung, Integration und wirtschaftlichen Stabilität des vereinten Europa weiteren Auftrieb geben. Wir haben unsere Wirtschaften integriert, auf solide Grundlagen gestellt und in den letzten Jahren beträchtlich umgebaut, so dass wir nunmehr in der Lage sind, den konjunkturellen Abschwung aufzufangen, den die Terrorattacken noch verschärft haben. In dieser Konjunkturflaute zeigt sich allerdings auch, wie sehr europäische Wirtschaft und die Weltwirtschaft miteinander verwoben sind. Ein haushaltspolitischer Alleingang einzelner Mitgliedstaaten wäre daher nicht nur fruchtlos, sondern sogar schädlich für die gesamte Euro-Zone und die Glaubwürdigkeit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Einzig und allein durch eine koordinierte Wirtschaftspolitik wird es uns gelingen, diese schwierige Zeit zu durchstehen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist der Anker, der unserer Politik nach wie vor Solidität und Glaubwürdigkeit verleiht. Er gibt den Rahmen für die Koordinierung der europäischen Volkswirtschaften vor. Kritiker behaupten, er enge den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten stark ein. Tatsächlich erlaubt er jedoch ein recht hohes Maß an Flexibilität und bedeutet nicht unbedingt eine einförmige Wirtschaftspolitik. Allerdings gilt es, Diskrepanzen Allgemeininteresse schaden. zu vermeiden, die letztendlich dem Wir brauchen also einen Konsens über die Haushaltspolitik, einen Verhaltenskodex, der eine kohärente Wirtschaftspolitik in der Euro-Zone gewährleistet und bei Bürgern und Märkten Vertrauen nicht nur in die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, sondern generell in die Effizienz der Wirtschaftspolitik schafft. 5 In diesem Verhaltenskodex müssen die wirtschaftspolitischen Grundsätze der Mitgliedstaaten und die Kriterien für den Einsatz der wirtschaftspolitischen Instrumente festgeschrieben werden, mit denen Wachstumspotenziale gefördert und unvorhergesehene Ereignisse bewältigt werden können, die die Union oder einzelne Länder treffen. Die Kommission, der es obliegt, die wirtschaftliche Entwicklung sorgfältig zu überwachen, wird in diesem Sinne Vorschläge unterbreiten und darauf achten, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, die im Widerspruch zum Verhaltenskodex stehen. Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität So wichtig Stabilität und eine einheitliche Wirtschaftspolitik auch sind, sie reichen nicht aus, um das nötige Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zu gewährleisten, das Europa erreichen kann und will. Deshalb hat der Europäische Rat von Lissabon, ausgehend von Vorarbeiten der Kommission, im März vergangenen Jahres eine Reformstrategie beschlossen, um der europäischen Wirtschaft noch in diesem Jahrzehnt zu optimaler Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in der wissensbasierten Gesellschaft zu verhelfen. Europa steht nicht vor der Wahl zwischen Effizienz und sozialer Gerechtigkeit. Beide sind Schlüsselfaktoren des europäischen Modells. Wachstum und Beschäftigung, Entwicklung und Solidarität schließen keineswegs einander aus, sondern sind eng miteinander verknüpft. Es erfüllt mich daher mit Sorge, wenn ich sehe, dass die Verabschiedung der Vorschläge, dem Rat und dem Europäischen Parlament bereits seit anderthalb Jahren vorliegen, nicht vorankommt. Auf dem Spiel steht die Glaubwürdigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Reformstrategie. Wir müssen mit herben Enttäuschungen und Rückschlägen rechnen, wenn auf die Ankündigungen des Europäischen Rates keine konkreten Taten folgen. Zunächst gilt es, noch vor der Tagung des Europäischen Rates im kommenden Frühjahr in Barcelona eine endgültige Einigung über das Maßnahmenbündel im Telekommunikationssektor, das Gemeinschaftspatent und die Regeln für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zu erzielen. Außerdem muss - ebenfalls noch vor Barcelona - eine politische Einigung über die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Luftraumes, die Pensionsfondsrichtlinie, den neuen Bezugsrahmen für die transeuropäischen Netze und die Maßnahmen im Bereich des öffentlichen Auftragswesens herbeigeführt werden. 6 Verkehrssicherheit Die Katastrophen im Gotthard- und im Mont-Blanc-Tunnel haben uns vor Augen geführt, dass wir die Verkehrssicherheit unbedingt verbessern und neue Schienenwege bauen müssen, die mehr Sicherheit bieten und die Umwelt weniger stark belasten als der Straßenverkehr. In diesem Zusammenhang schlage ich kurzfristig zwei Maßnahmen vor: Zunächst werden wir Parlament und Rat früher als geplant, nämlich bereits Anfang nächsten Jahres, einen Vorschlag über strengere Sicherheitsvorschriften für Tunnel unterbreiten. Zuvor aber möchte ich Vertreter der zuständigen Behörden und der einschlägigen Wirtschaftskreise aus den Alpen- und Pyrenäen-Ländern so bald wie möglich zu einem Arbeitstreffen einladen. Auch wenn die neuen Pläne finanziell nicht einfach zu realisieren sind: Wir müssen rasch handeln, und zwar in Absprache mit den betroffenen Mitgliedstaaten und der Schweiz und in Zusammenarbeit mit allen übrigen EG-Institutionen - allen voran die Europäische Investitionsbank. Wir können die derzeitigen Verhältnisse nicht länger hinnehmen. Die Bürger und Bürgerinnen Europas hätten hierfür kein Verständnis. Die Rolle Europas in der Welt Lassen Sie mich nun auf die Rolle Europas in der Welt zu sprechen kommen. Die größten Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren der Ost-West-Konflikt und die Folgen des Zerfalls der Sowjetunion. Europa hat entscheidend zu ihrer Bewältigung beigetragen. Die größte Herausforderung des neuen Jahrhunderts ist der Konflikt zwischen Nord und Süd. Auch hier muss Europa zu stabilen Verhältnissen beitragen. Die Beziehungen zwischen der Nord- und der Südhalbkugel bieten vielfältige Möglichkeiten der Zusammenarbeit, bergen aber auch in sich den Keim für Konflikte in den Bereichen Handel, Finanzen, Energie und Umwelt. In diesem neuen Jahrhundert, das auf der Suche nach einem neuen multipolaren Gleichgewicht ist, verfügt Europa über die Ressourcen und Fähigkeiten, um eine wichtige Rolle auf der Weltbühne übernehmen zu können. Das erweiterte Europa mit seiner Euro-Zone wird aufgrund seiner räumlichen Ausdehnung und seines demographischen, wirtschaftlichen und finanziellen Gewichts ein wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der Welt sein. Nicht minder wichtig für den Dialog mit den Ländern, die auf eine stabilere und entwicklungsfreundlichere Ordnung hinwirken, sind die Geschichte Europas sowie seine Erfahrungen mit einer demokratisch vollzogenen politischen Integration und mit der kulturellen Vielfalt. 7 Bei allen Unterschieden zwischen den Ländern eint die Völker Europas eine gemeinsame Vision der menschlichen Beziehungen sowie der Rechte und Pflichten des Bürgers und Staates, eine Vision, die von Solidarität geprägt ist. Europa und seine Bürger wissen nur zu gut, wie sehr durch die Entstehung, oder schlimmer noch die Vertiefung, von Ungleichheiten - meiner Ansicht nach gehen diese in erster Linie zu Lasten Afrikas - das weltweite Gleichgewicht gestört werden kann. Und ebenso selbstverständlich haben sich in Europa und bei seinen Bürgern, die seit jeher mit knappen natürlichen Ressourcen wirtschaften müssen, das Bewusstsein für Umweltzerstörung und das Interesse an nachhaltiger Entwicklung gefestigt. Die Rolle Europas bei den schwierigen Verhandlungen über das Kyoto-Protokoll, seine Initiative “Everything but arms”, die eine einseitige Öffnung seiner Märkte für die Exporte der ärmsten Länder vorsieht, und sein Einsatz für die Wiederaufnahme der WTO-Verhandlungen nach dem gescheiterten Treffen in Seattle - all dies beweist, dass Europa in der Lage ist, auf der internationalen Bühne entschlossen, aber auch mit dem nötigen Verständnis für die Interessen der anderen Länder zu agieren. Der Mittelmeerraum Das politische Gleichgewicht der kommenden Jahrzehnte wird wohl hauptsächlich durch die Nord-Süd-Beziehungen bestimmt. Heute sind es die Beziehungen zur islamischen Welt, die für den Ausgang der derzeitigen Krise entscheidend sein werden. Wenn wir längerfristig eine Koalition gegen den Terrorismus zusammenschmieden wollen, müssen wir jetzt im Trennenden die Chancen für eine Zusammenarbeit suchen. Dies ist umso wichtiger, wenn sich in Zukunft Stabilität und Entwicklung in dieser so bedeutenden Weltregion durchsetzen sollen, die unser unmittelbarer Nachbar ist und ein starkes Bevölkerungswachstum aufweist. Trotz der nicht enden wollenden Gewalt keimt im Nahen Osten wieder Hoffnung auf eine mögliche Wiederaufnahme des Dialogs auf. Damit bietet sich für Europa die Chance, eine aktivere Rolle zu spielen als bisher. Es ist an der Zeit zu demonstrieren, dass wir die Friedensstifter auf beiden Seiten voll unterstützen. Es ist aber auch der richtige Moment für die Europäische Union, um bei der Bilanzierung der Pros und Contras im Konflikt und im Befriedungsprozess ihre finanziellen und personellen Ressourcen, Investitionen und Technologien in die Waagschale zu werfen. Doch nicht nur der Friedensprozess im Nahen Osten fordert unser Engagement. Es ist an der Zeit, dass wir ein neues Kapitel in den Beziehungen zu allen Ländern des Mittelmeerraums aufschlagen. Die Ziele, die wir uns mit der Partnerschaft EuropaMittelmeer für die Region gesteckt haben, sind erst zu einem ganz kleinen Teil erreicht. Die Schwierigkeiten, auf die wir in der Vergangenheit gestoßen sind, haben uns deutlich erkennen lassen, dass wir die Partnerschaft Europa-Mittelmeer überdenken und ihr neue Impulse geben müssen, damit ein Binnenmarkt sowie ein Raum der Sicherheit, Freiheit und nachhaltigen Entwicklung entstehen kann. Ich denke dabei an drei konkrete Aktionsfelder: 8 Erstens müssen wir die Struktur und Arbeitsweise der Partnerschaft selbst dahingehend reformieren, dass wir ein dauerhaftes Konzertierungs- und Entscheidungsgremium einrichten. Zweitens müssen wir einsehen, dass die EU-Mittel nicht ausreichen, um in einer extrem heterogenen Region eine Politik zu betreiben, die durch Förderung der Zusammenarbeit auf subregionaler Ebene wirtschaftliche und soziale Unterschiede abbauen will. Es ist an der Zeit, wie vom spanischen Ministerpräsidenten José Maria Aznar gefordert, die Vorschläge umzusetzen, die darauf abzielen, gegebenenfalls unter Beteiligung der Europäischen Investitionsbank eine Entwicklungsbank für den Mittelmeerraum zu gründen. Diese neue Bank muss eine entscheidende Rolle bei der Konzipierung und Förderung gemeinsamer Investitions- und Entwicklungsprojekte spielen. Ich habe in der arabischen Welt eine Debatte über diese Vorschläge initiiert und konnte feststellen, dass sie auf weitgehende Zustimmung stoßen. Ebenso nützlich wird die Errichtung einer gemeinsamen Beobachtungsstelle sein, die standardisierte Daten über die Beschäftigung in und die Einwanderung aus den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten vorlegen soll. Zu diesen Themen werden wir bis zum nächsten Gipfel der Mittelmeerpartnerschaft einen Bericht erstellen. Während der spanischen Ratspräsidentschaft wird es möglich sein, in diese Richtung fortzufahren. Die Zusammenarbeit zwischen Europa und den Ländern des Mittelmeerraums darf sich jedoch nicht nur auf politische und wirtschaftliche Themen beschränken. Wir müssen – drittens – auch ein neues umfassendes Programm für den kulturellen Dialog in dieser Region auflegen. Und ich meine damit einen Dialog der Kulturen im Gegensatz zu dem "Kampf der Kulturen". Denkbar sind neue, aus Mitteln des MEDA-Programms zu finanzierende Projekte für die Begegnung und den Austausch von Akademikern, Studenten, Journalisten und Vertretern von Religionsgemeinschaften oder Nichtregierungsorganisationen. Ein Bogen der Stabilität an den Toren Europas Die neue EU-Mittelmeerpolitik muss Teil einer umfassenderen Strategie sein, die einen Bogen von Russland und der Ukraine bis zu den Mittelmeerstaaten spannt und damit alle unsere Nachbarn erfasst - eine "Politik der Nachbarschaft" mit festen Zielen, mit Institutionen und Finanzmitteln, die Europa die Möglichkeit gibt, eine besondere Beziehung zu diesen Ländern zu pflegen, ohne dass diese der Union beitreten. Auch hierzu werden wir konkrete Vorschläge ausarbeiten, und zwar nach dem Modell der bereits mit Russland vereinbarten Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Währung und gemeinsamer Wirtschaftsraums. 9 Europa mit einer Stimme Doch Europa – lassen Sie es mich noch einmal wiederholen – wird nur dann zu Frieden und Stabilität in der Welt beitragen und eine seiner Wirtschaftskraft angemessene politische Rolle beanspruchen können, wenn es geschlossen handelt. Die beste Lösung bestünde natürlich darin, die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik der Union - mit den erforderlichen Anpassungen - definitiv auf die Gemeinschaft zu übertragen. Ich zweifle nicht daran, dass dies eines Tages geschehen wird, auch wenn es heute noch Widerstände und Vorbehalte gibt. Diese sind im Übrigen völlig verständlich, denn es wird sich dabei um einen langwierigen und komplizierten Prozess handeln, den man allenfalls mit der Einführung der Einheitswährung vergleichen kann. Dieser Prozess hat indessen schon begonnen; wir müssen ihn nunmehr weiterbringen, mit Geduld und Pragmatismus, wie wir es stets in den schwierigen Phasen der Integration getan haben. Die Kommission wird ihren Beitrag dazu leisten. Sie wird realistisch vorgehen, sich aber entschieden gegen jede Initiative wenden, die die Geschlossenheit des europäischen Handelns gefährdet. Die Erfahrung lehrt uns, dass die Union dort, wo sie nicht geschlossen auftritt, nur in begrenztem Maße Einfluss nehmen kann. Dagegen kann sie sich in Bereichen wie der Handelspolitik, in denen sie die Mitgliedstaaten vertritt, oder der Wettbewerbspolitik, bei der sie mit klaren Handlungsbefugnissen ausgestattet ist, kraftvoll durchsetzen. Keine Angst – ich will keineswegs den Telefonanschluss einrichten, nach dem seinerzeit Henry Kissinger verlangte. Im Übrigen wäre das auch gar nicht nötig; schließlich hat noch jeder die richtige Telefonnummer gefunden, wenn es darum ging, die Europäische Union um einen finanziellen Beitrag zur Lösung seiner Probleme zu bitten. Ich denke vielmehr ganz konkret an all die Entscheidungen, die schon heute getroffen werden können und müssen, damit wirksames Handeln garantiert wird. Die europäische Integration ist ein komplizierter Vorgang und wird es wahrscheinlich auch bleiben. Trotzdem sollten wir darauf hinwirken, dass sich die Union nach außen als Einheit präsentiert. Wir können noch Vieles tun, um das zu erreichen. Der Balkan ist ein gutes Beispiel hierfür. In dieser Region, in der so unterschiedliche Akteure und Instrumente wie der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Stabilitätspakt, der Hohe Vertreter für Bosnien und der Sonderbeauftragte für Mazedonien wirken, hat die Union mit ihrer Stabilitäts- und Assoziationspolitik eine gewaltige Anstrengung zur Umsetzung einer langfristigen Strategie unternommen. 10 Diese Strategie funktioniert. Europa gewinnt in der Region an politischem Gewicht. Wir haben den europäischen Binnenmarkt für Einfuhren aus den Balkanländern geöffnet; wir leisten rasch und wirksam Hilfe, und die Europäische Agentur für den Wiederaufbau ist eine anerkannte Einrichtung. Die Kommission ist bereit, zur wirksameren Umsetzung der Maßnahmen der Union beizutragen. Der Stabilitätspakt muss verstärkt werden: Er muss sich auf bestimmte politische Prioritäten konzentrieren; er muss es den Ländern der Region ermöglichen, die regionale Zusammenarbeit schrittweise selbst in die Hand zu nehmen; und schließlich muss er den Stabilitäts- und Assoziationsprozess ergänzen. Die institutionellen Reformen Meine Damen und Herren, ich habe von der Erweiterung, der Wirtschaft und der Rolle gesprochen, die Europa international spielen kann. Gestatten Sie mir, abschließend auf die institutionellen Reformen einzugehen. Der Europäische Rat von Nizza hat die Reformen gebilligt, die für die Erweiterung erforderlich sind, ohne jedoch über das Allernotwendigste hinauszugehen. Wir müssen viel mehr wagen. Dass Europa sich endlich dazu durchgerungen hat, ist erfreulich. In weniger als dreißig Tagen wird der Europäische Rat von Laeken unter belgischem Vorsitz im Einklang mit den beharrlich vertretenen Positionen der Kommission die Einberufung eines Konvent beschließen, auf dem Vertreter der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission eine Reform der Unionsverträge vorbereiten sollen. Anschließend soll eine Regierungskonferenz den Reformprozess zum Abschluss zu bringen. Das soll noch vor den nächsten Europawahlen geschehen. Die Reform der Union wird damit öffentlich zur Diskussion gestellt. Bei der Ratifikation werden die Parlamente der Mitgliedstaaten zum ersten Mal nicht vor die Wahl gestellt, nur mit Ja oder Nein zu stimmen. Inzwischen ist in allen Mitgliedstaaten eine Debatte über die Zukunft Europas in Gang gekommen, die einer förmlichen Verpflichtung des Europäischen Rates von Nizza entspricht und in die Richtung des Weißbuchs "Regieren in Europa" geht. An dieser Debatte haben sich bereits herausragende Vertreter der europäischen Gesellschaft beteiligt. In den meisten Äußerungen erkenne ich eine Vorstellung von der Zukunft Europas als einer Union von Staaten und Völkern, der ich vorbehaltlos zustimmen kann. Vor dem Gipfel von Laeken wird die Kommission als Beitrag zu den Beratungen des Europäischen Rates über die Einberufung des Konvents eine Mitteilung vorlegen. 11 Der Konvent wird die doppelte Aufgabe haben, die demokratische Grundordnung und die praktische Handlungsfähigkeit der erweiterten Union zu erhalten. Aufgrund meiner Erfahrung und meiner Aufgaben als Präsident der Europäischen Kommission möchte ich darlegen, wo ich die Schwerpunkte der Reform unserer Institutionen sehe. Erstens müssen wir von einem Projekt für Europa ausgehen. Welches Ziel streben wir gemeinsam an? Was wollen wir zusammen erreichen? Welches Maß an Solidarität wollen wir verwirklichen? Von diesen Fragen und den Antworten, die wir darauf geben werden, hängt natürlich der Bauplan der neuen Institutionen ab. Zweitens müssen wir uns der Besonderheit der Union bewusst sein. Alles, was wir vom Binnenmarkt über vier Erweiterungsrunden bis zum Euro an Dauerhaftem geschaffen haben, ist das Ergebnis eines völlig neuartigen Systems, das auf dem empfindlichen Gleichgewicht zwischen den Organen der Union beruht. Diese Besonderheit ergibt sich unmittelbar aus dem Bekenntnis der Europäer zu einer Gemeinschaft der Völker und der Staaten. Eine Besonderheit, die wir bewahren müssen. Dieses auf dem Kräftedreieck aus Rat, Parlament und Kommission beruhende System (ein Kräfteviereck mit dem Gerichtshof als Garant einer Rechtsgemeinschaft und entscheidendem Integrationsfaktor wäre richtiger), hat sich als außerordentlich erfolgreich erwiesen. In diesem ausgewogenen System spielt jedes Organ eine eigene und entscheidende Rolle. Wer eines dieser Organe stärkt, stärkt das Ganze, wer eines der Organe schwächt, schwächt das Ganze. Mit ihrem Vorschlagsrecht, dem wichtigsten Merkmal ihrer Besonderheit, wird die Kommission als Hüterin der Verträge dieses System verteidigen. Drittens dürfen wir angesichts der Anforderungen von heute und mehr noch von morgen bei aller Treue zu unserem institutionellen System nicht die Augen davor verschließen, dass es Schwächen und Unzulänglichkeiten aufweist. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass nicht nur die Verfahren erneuert und verbessert, sondern auch die Funktionen und Aufgaben der einzelnen Organe klarer herausgestellt werden müssen. Wegen der Besonderheit unserer Institutionen lässt sich natürlich nicht eindeutig sagen, wer die Legislative und wer die Exekutive in der Europäischen Union ist. Hier müssen wir jedoch Fortschritte erzielen. Ein erster, ganz einfach zu verwirklichender Schritt könnte darin bestehen, die Legislativ- und die Exekutivfunktion des Ministerrats sichtbarer und überschaubarer als bisher zu trennen. Die Sitzungen des Rates sollten, wenn er Legislativfunktionen wahrnimmt, wie beim Parlament öffentlich zugänglich sein. Die Kommission muss ihr Vorschlagsmonopol behalten und sich vor allem auf strategische Aufgaben konzentrieren. 12 Bei keiner Reform der europäischen Institutionen dürfen die Rolle und die Aufgabe der nationalen Parlamente außer acht gelassen werden. Es gilt, einen Weg zu finden, wie sie an den wichtigeren Beschlüssen der Europäischen Union beteiligt werden können. Vor diesem Hintergrund wird der nächste Konvent ein nützliches Beispiel und ein wichtiger Präzedenzfall sein. Ich glaube jedoch, dass die Schaffung einer neuen Kammer ebenso nutzlos wie kontraproduktiv wäre. Unser institutionelles System ist jetzt schon kompliziert und schwerfällig genug. Es bedarf anderer und einfacherer Lösungen, bei denen eine mögliche Trennung zwischen exekutiven und legislativen Aufgaben des Ministerrates genutzt werden könnte. Außerdem ist aufgrund des Protokolls im Anhang zum Vertrag von Amsterdam sicherzustellen, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten angemessen und rechtzeitig von den Legislativvorschlägen der Gemeinschaft unterrichtet werden, damit sie auf nationaler Ebene sowohl ihre politische Aufgabe als auch ihre Kontrollfunktion wahrnehmen können. In einer auf 25 und mehr Mitglieder angewachsenen Union müssen die heutigen Verfahren einer systematischen Ratifikation der Verträge durch die Parlamente aufgegeben werden. Ein nützlicher Beitrag in diese Richtung kann sich, wie von der Kommission vor der letzten Regierungskonferenz vorgeschlagen, aus einer Aufteilung der Vertragsbestimmungen in zwei Gruppen ergeben. Für die erste Gruppe mit den grundlegenden Bestimmungen soll weiterhin die Regel gelten, dass alle Änderungen den Ratifikationsverfahren unterliegen. Für die zweite Gruppe mit Bestimmungen rein technischer Natur könnten vereinfachte Verfahren gefunden werden. Von keiner Reform wird sich jedoch sagen lassen, sie habe ihr Ziel erreicht, wenn es nicht gelingt, die Union wirklich handlungsfähig zu machen. Die Beachtung der demokratischen Grundregel und, wie ich bereits gesagt habe, die Notwendigkeit einer handlungsfähigen Union setzen den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen als allgemeine Regel voraus. In dem großen Europa, das durch die Erweiterung geschaffen wird, ist kein Platz mehr für das Vetorecht, es sei denn, in eindeutig festgelegten Sonderfällen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa mit der Erweiterung handlungsunfähig wird. Angesichts dessen werden auch die Eigenmittel der Union zur Sprache kommen. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Frage nach der Quelle unserer Mittel und dem Ermessen bei der Verwendung dieser Mittel zu stellen. Das ist keine technische, sondern eine politische Frage, die unbedingt in die Debatte über die Zukunft Europas aufgenommen werden muss. 13 Ich stelle mir die Frage, ob ein System, bei dem die Staaten immer mehr die Bürger als Beitragszahler der Union ablösen und bei dem das Verhältnis zwischen dem Bürger als Beitragszahler und der Union immer undeutlicher wird, nicht dem Wesen der Transparenz widerspricht. Und ich stelle mir die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, unser System vollständig zu demokratisieren, d.h. dem Rat und dem Parlament auch bei den Haushaltseinnahmen einen größeren Ermessensspielraum und mehr Entscheidungsmöglichkeiten einzuräumen. Das Handeln der Kommission Meine Damen und Herren, Vor zweieinhalb Jahren haben mir die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten ihr Vertrauen ausgesprochen und nach einer beispiellosen institutionellen Krise einmütig den Auftrag erteilt, der Kommission wieder zu größerem Gewicht und Ansehen zu verhelfen. Seit diesem Augenblick in der Geschichte Europas, als die Begeisterung und der Integrationsschwung eines Jahrzehnts, das zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion geführt hat, verloren schienen, setze ich mich dafür ein, diesem Vertrauen gerecht zu werden und der Kommission die Rolle zurückzugeben, die ihr im institutionellen System der Union zukommt. Ich habe nicht gezögert, das Parlament um das volle Vertrauen und den uneingeschränkten Auftrag zu bitten, die allein die Grundlage einer auf Zeit angelegten Arbeit sein können. Noch vor meiner förmlichen Amtseinführung habe ich vor dem Parlament darauf hingewiesen, dass die Erweiterung, die institutionellen Reformen sowie die Politik der Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts meine Prioritäten sind. Noch ehe in diesen Fragen ein voller Konsens zustande gekommen war, habe ich mich der Kritik der Mitgliedstaaten und der Presse gestellt und die Forderung erhoben, für den Erweiterungsprozess einen klaren Zeitrahmen festzusetzen und die Agenda um die institutionellen Reformen zu erweitern. Als das Ergebnis der österreichischen Wahlen den Bestand der Union in Gefahr brachte, haben weder ich noch die Kommission gezögert, uns der Verantwortung zu stellen, die sich aus ihrer Rolle als Hüterin der Verträge ergibt. Die Kommission unterscheidet nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Sie kennt nur Mitgliedstaaten. Ebenso wenig habe ich gezögert, Wege der Kommunikation und des Dialogs mit schwierigen Ländern wie Iran und Libyen aufrechtzuerhalten und notfalls zu öffnen. Wege, die nach und nach viele führende Politiker Europas genutzt haben und die sich heute beim Aufbau einer soliden Allianz gegen den Terrorismus als wertvoll erweisen. 14 Ich habe auch nicht gezögert, eine tiefgreifende Verwaltungsreform der Kommission voranzutreiben, der ersten echten Reform ihrer ganzen Geschichte, da ich erkannte, dass dies nicht nur für die Kommission, sondern auch für das gesamte institutionelle System der Union unumgänglich ist. In aller Offenheit muss ich sagen, dass ich immer noch nicht eine entsprechende Bereitschaft der anderen Organe sehe, sich vor der gesamten europäischen Öffentlichkeit in Frage zu stellen und dort, wo das notwendig ist, Reformen vorzunehmen. Angesichts der Verträge habe ich hingegen immer darauf geachtet, dass die Kommission sich nicht in Bereichen engagiert, in denen sie keine Zuständigkeiten besitzt. Die neue Europäische Lebensmittelbehörde, die Bekämpfung der Rinderseuche, die Festlegung einer Strategie für nachhaltige Entwicklung, die Umgestaltung der Frühjahrstagungen des Rates in wichtige Termine zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Union, der Schutz des freien Wettbewerbs und die Führung der Erweiterungsverhandlungen sind nur wenige Beispiele dafür, was die Kommission in den letzten beiden Jahren in einem Rahmen geleistet hat, der die europäische Politik in Bereichen stärken sollte, in denen nur ein Handeln in europäischem Maßstab erfolgreich sein kann. Die Vollendung des Binnenmarktes, der gemeinsame Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit, die nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage von Wachstum, Solidarität und Lebensqualität, das Verantwortungsgefühl für Stabilität und Demokratie in einem ganzen Raum, der auf die Union blickt, und das auf diesen Wertvorstellungen beruhende Streben, auf der internationalen Bühne tatkräftig und ausgewogen aufzutreten. Was bedeutet es heute, Europäer innerhalb und außerhalb Europas zu sein? Mit Taten und konkreten Vorschlägen eine Antwort auf diese Frage zu finden, war der Leitfaden unserer Arbeit. Die Globalisierung bietet uns nicht nur neue Risiken, sondern auch neue Chancen. Europa steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Einem Wendepunkt, für den diese Kommission sich beharrlich und sachkundig einsetzt. Der Kommission hat jedoch die Aufgabe, Vorschläge zu unterbreiten und dann zu handeln. Die Beschlüsse werden vom Parlament und vom Rat gefasst. Und diese Beschlüsse bleiben nur allzu oft aus. 15 Wenn die Erweiterung ein Erfolg sein soll, wenn wir wollen, dass Europa die Festigkeit, die Stärke, die Beschluss- und Handlungsfähigkeit behält, um den Anforderungen seiner Bürger gerecht werden zu können, bedarf es einen neuen gemeinsamen Schwungs, für den die Kommission nicht alleine sorgen kann. Dafür ist gemeinsame Handeln aller Institutionen erforderlich Bis zu den nächsten Europawahlen setzen alle Tagungen der Staats- und Regierungschefs der Union ein außergewöhnliches Maß an Engagement und Zusammenhalt voraus. Dieses Engagement wird auch vom Parlament verlangt, das alljährlich eine große Debatte über den künftigen Kurs und die Gesamtpolitik anberaumen sollte. Die Kommission wird alles in ihrer Macht stehende tun, damit Europa, ein größeres und geeintes Europa, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet ist und in diesem neuen Jahrhundert als kraftvoller und verantwortungsbewusster globaler Akteur auftreten kann. Das ist meine Vorstellung vom Europa der Zukunft. Walter Hallstein gewidmet 16