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Universität Duisburg-Essen
WS 2006/07
SE: Kritik der Moral
Dozentin: Francesca Raimondi
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral
- Ein Resümee -
Kritik der Moral
‚Kritik der Moral’ bedeutet für Nietzsche, die Frage nach dem „Wert der Moral“ zu
stellen (vgl. GdM § 6), und zwar sowohl mit Blick auf einzelne moralische Aspekte und
Grundbegriffe (Schuld, Verantwortung, Freiheit, Gewissen, Zurechenbarkeit), als auch
mit Blick auf die moralische Perspektive als solche, d. h. genauer, auf die Perspektive
der christlich-abendländischen Moral.1 Nach dem Wert der Moral zu fragen heißt
zunächst, sie nicht länger als ein unhinterfragbar gültiges und wertvolles System von
Normen
zu
betrachten,
sondern
sie
in
einen
Begründungs-
und
Rechtfertigungszusammenhang zu stellen. Die ‚Instanz’, vor der sich die Moral als
wertvoll ausweisen muss, ist bei Nietzsche „das Leben“ (vgl. GdM § 3). Leben wird von
Nietzsche als ein konstitutiv offener Begriff verwendet, dessen einzig feststehende
Bestimmung darin liegt, ein permanenter Prozess der „Selbstüberwindung“ (GdM, S.
410) und Neuordnung zu sein. Diese kontinuierliche Transformation, die für lebendige
Prozesse charakteristisch ist, versteht Nietzsche (im Unterschied zu Darwin) nicht als
einen Vorgang der ständigen Anpassung an äußere Umstände zum Zweck der
Selbsterhaltung. Was Leben für Nietzsche primär kennzeichnet, sind „die spontanen,
1
Nietzsche spricht stets mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von der Moral, ohne sich um
eine genauere Charakterisierung zu bemühen. Zielscheibe seiner Moralkritik sind jedenfalls: die
universalistische Ausrichtung, die Werte der Selbstlosigkeit, der Nächstenliebe, des Mitleids, die
Vorstellung von der Schuldhaftigkeit bzw. einer amoralischen instinkthaften Natur des
Menschen, die durch die Moral in Schach gehalten werden muss.
1
angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden
Kräfte“ (GdM, S. 316), also gewissermaßen die Kräfte der Selbsterschaffung.
Lebensprozesse sind für Nietzsche sowohl auf der individuellen wie auf der
gesellschaftlichen Ebene durch das aktive Wirken eines „Willens zur Macht“ (ebd.)
geprägt, mit dem sich die Impulse zur Neugestaltung durchzusetzen und neue Formen
und Dimensionen des Lebens zu etablieren versuchen. Nietzsche beschreibt diese
Gestaltungsprozesse in Termini von „Wertschätzung“ (GdM, S. 259) oder auch von
Bejahung (vgl. GdM, S. 270 f.). Individuelle und gesellschaftliche Transformationen
sind demnach als Prozesse zu beschreiben, in denen unterschiedliche Wertordnungen
einander bekämpfen und ablösen, und so jeweils neue Formen des Lebens erzeugen.
Wenn also Nietzsche nach dem Wert der christlich-abendländischen Moral fragt, dann
fragt er danach, ob diese Moral als eine (noch) dominante Wertordnung nicht
überwunden werden müsse, und er gründet seine Kritik auf ihre „Nützlichkeit“ für die
Entfaltung solcher lebendiger Prozesse.
Nietzsches Hinterfragung der Moral liegt somit ein ‚Vertrauensverlust’ (vgl. M § 2)
gegenüber ihrer Autorität als eine das Leben leitende, qualifizierende und normierende
Instanz zugrunde. Seine kritische Haltung zur Moral ist dabei vor dem Hintergrund der
allmählichen Säkularisierung moralischer Vorstellungen zu sehen, und sie zieht eine
denkbar radikale Konsequenz (für wie plausibel auch immer man sie halten mag) aus
diesem Prozess:2 In einer säkularisierten Welt, in der die moralischen Gebote nicht
mehr als religiösen Ursprungs, sondern als Menschenwerk betrachtet werden, 3 kann
eine normative Ordnung keine unbedingte Geltung mehr für sich beanspruchen. Auch
2
Anders als Nietzsches Wertfrage stellt Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ den Versuch dar,
gegen die überkommene Metaphysik und Religion die Geltung des (universalistischen)
moralischen Gesetzes als Ausdruck der Bestimmungen der menschlichen Vernunft und ihrer
Freiheit zu erläutern. In Nietzsches Augen geht die Kantische Kritik eben darin nicht weit genug,
dass sie die Geltung der Moral nicht grundsätzlich in Zweifel zieht, sondern bloß versucht, sie
auf eine andere Grundlage zu stellen. Kant, so könnte man sagen, bleibt mit seiner Aufklärung in
Nietzsches Augen ein ‚Moral-Gläubiger’.
3
Ich greife hier auf die Unterscheidung zwischen (metaphysischem) „Ursprung“ und
(historischer) „Herkunft“ zurück, die Foucault in seinem Genealogie-Aufsatz mit Bezug auf
Nietzsche entwickelt.
2
die Moral kann daher aus der Perspektive anderer Wertordnungen in Frage gestellt oder
zumindest in ihrem Geltungsanspruch relativiert werden.
Das genealogische Verfahren
Den Wert der Moral erschließt Nietzsche dadurch, dass er ihre Herkunft anzugeben
versucht. Gegen die christliche Zurückführung der moralischen Gebote auf einen
göttlichen Ursprung soll gezeigt werden, wie sich die moralische Werteordnung aus der
menschlichen Praxis heraus gebildet hat. Nietzsches Genealogien geben dabei zum
einen an, gegen welche anderen Werte sich die christlich-abendländische Moral
durchgesetzt hat, und sie stellen zum anderen deren besonderen Werte und
Vorstellungen in einen Zusammenhang mit bestimmten Lebensformen (die der Priester
und des priesterlichen Volkes). Damit soll nahe gelegt werden, dass sich in den Werten
der christlichen Moral eine spezifische Welt- und Lebenseinstellung niederschlägt, die
auf jene Gruppe zurückverweist, aus der sie entstanden sind. In dem Maße, wie die
moralische Werteordnung auf eine bestimmte Lebensform zurückgeführt wird, zeichnen
Nietzsches Genealogien in der Tat so etwas wie eine gewisse ‚Abstammung’ nach. 4 Im
Gegensatz zu der etablierten genealogischen Praxis der Rekonstruktion von
Stammbäumen
(Ahnenforschung),
die
im
Wesentlichen
dazu
dient,
durch
Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen Sonderstellungen zu legitimieren,
verfolgt Nietzsches Genealogie der Moral aber den Anspruch, die Moral durch die
Aufdeckung ihrer Herkunft zu diskreditieren.
Nietzsche bezeichnet seine Genealogien von vornherein als „Hypothesen“ (oder in
seiner überzeichnenden Terminologie als Irrtümer, vgl. GdM, S. 251) und versteht sie
daher als bloß mögliche Geschichten. Er erhebt dementsprechend nicht den Anspruch,
einen faktischen historischen Hergang angemessen zu rekonstruieren. In seinen
Genealogien verbinden sich in der Tat Verweise auf ‚reale’ gesellschaftliche Umbrüche
4
Dieser Zug darf gleichwohl nicht in einem biologistischen Sinn verstanden werden, da es
Nietzsche nur darum geht, eine Korrelation zwischen Werten und einer bestimmten Lebensform
nachzuweisen, nicht aber darum, deren Entstehung durch Rückgriff auf physiologische Prozesse
zu erklären. Der Biologismus reduziert historische Vorgänge auf natürliche Gesetzmäßigkeiten,
was sich mit Nietzsches Auffassung von Leben als einem Prozess der permanenten
Selbsterschaffung offensichtlich nicht verträgt.
3
(wie sie sich etwa im Übergang von der griechischen zur christlichen Antike ergeben
haben) mit eindeutig überzeichnenden und simplifizierenden Elementen (z. B. die
Beschreibung der Priesterkaste). Das hat seinen Grund u. a. darin, dass seine
Genealogien eine primär sozialkritische Funktion haben und die Wiedergabe
vergangener Ereignisse somit von vornherein auf eine Kritik der zeitgenössischen
Verhältnisse abzielt. Nietzsches genealogische Arbeit hat ihren Grund in einer
„Bedenklichkeit“ (GdM, S. 249) gegenüber der geltenden moralischen Werteordnung
und ihren praktischen Auswirkungen auf die Kultur. In dieser Bedenklichkeit artikuliert
sich ein ‚Unbehagen’, das quer zu ihrer allgemeinen Akzeptanz liegt und daher auf
Aspekte der Moral bezogen ist, die (aus Nietzsches Sicht zumindest) vom etablierten
Selbstverständnis der Moral unterschlagen werden. Die Genealogien sollen daher dazu
dienen, diese Schattenseiten hervorzukehren bzw. die Werteordnung der Moral in ein
ambivalentes Licht zu stellen. Die rhetorischen Mittel der Übertreibung und
Überspitzung werden daher von Nietzsche gezielt eingesetzt, um einen solchen
Perspektivenwechsel herbeizuführen. Gleichwohl müssen sich auch fiktive Genealogien
an ihrem Gegenstand bewähren. Sie müssen in einem irgendwie plausiblen
Zusammenhang mit den verschiedenen Bestimmungen der Phänomene stehen, die sie
aufklären sollen (was in Nietzsches Augen z. B. bei den Erzählungen der englischen
Genealogen nicht der Fall ist).
Nietzsche macht mit seinen Genealogien aber nicht nur deutlich, inwiefern Normen und
Praktiken eine konkrete gesellschaftliche Herkunft haben. Er weist zugleich auch darauf
hin, dass sie als historische Phänomene selbst wiederum dem historischen Wandel und
einer permanenten Umdeutung ausgesetzt sind. Die Geschichte dieser Umdeutungen
lässt sich nicht als ein lineares, rationales und teleologisches Fortschreiten der
menschlichen
Praxis
„Überwältigungsprozessen“,
rekonstruieren.
„deren
Sie
Ursachen
ist
selbst
das
unter
Ergebnis
sich
nicht
von
im
Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter
einander folgen und ablösen“ (GdM, S. 314). Sofern sie sich in kontinuierlichen
Umdeutungsprozessen formieren und weiter transformieren, sind geschichtlich
gewordene Phänomene (wie z. B. die Strafe) niemals endgültig definierbar (vgl. §§ 1213). Jeder Versuch der Bestimmung eines solchen Phänomens stellt vielmehr selbst nur
eine weitere Interpretation desselben dar. Die Arbeit des Genealogen ist davon nicht
4
ausgenommen; sie reiht sich ebenfalls in die „fortgesetzte Zeichen-Kette von immer
neuen Interpretationen und Zurechtmachungen“ (GdM, S. 314) der menschlichen
Praxis. Da sie allerdings die Entstehungsbedingungen von Praktiken und Institutionen
interpretiert und dabei verschiedene Bedeutungsschichten heraus stellt, ist sie gerade
nicht auf eine eindeutige Bestimmung ihres Gegenstandes aus. Durch die genealogische
Perspektive soll im Gegenteil gerade die vielfältige Bestimmbarkeit menschlicher
Praktiken hervorgekehrt werden, um sie dadurch für wiederum neue mögliche
Deutungen freizugeben – daher erklärt sich auch zum Teil die eigentümliche
Unbestimmtheit von Nietzsches eigener moraltheoretischen Position.
Die Hauptthemen der drei Abhandlungen
Erste Abhandlung
a. Genealogie von „gut“ und „böse“: Mit der Etablierung dieser zwei zentralen
Kategorien zeichnet Nietzsche die Durchsetzung der christlichen Moral als
Werteordnung nach. „Gut“ und „böse“ seien an die Stelle des früheren Wertepaars
„gut“ und „schlecht“ getreten, dessen Bedeutung noch stark an die Standesunterschiede
innerhalb der Gesellschaft gebunden gewesen sei. Die ehemals „Guten“ waren nämlich
die Mächtigen, die Vornehmen, die Starken, die Krieger, die Reichen (etc.) –
Charakterzüge, die der aristokratischen Gesellschaftsschicht eigen waren – die
„Schlechten“ dagegen diejenigen, die weder mit den Attributen politischer, noch
militärischer Macht ausgezeichnet waren – also die Angehörigen der niedrigeren
Bevölkerungsschichten. Der Umstand, dass die Mächtigen auch die ‚Definitionsmacht’
über die grundlegenden ethischen Kategorien innegehabt hätten und darin die Züge
ihrer eigenen Lebensform abgebildet seien, ändert sich mit der neuen christlichen
Werteordnung. „Gut“ sind jetzt nämlich gerade nicht mehr die Mächtigen, sondern die
„Elenden“, „Armen“, „Ohnmächtigen“, „Niedrigen“, „Leidenden“ etc. (vgl. GdM, S.
267) Nietzsche beschreibt diese Umdeutung allerdings ebenfalls in der Perspektive
gesellschaftlicher Machtverhältnisse und spricht in diesem Zusammenhang von einem
„Sklavenaufstand in der Moral“ (GdM, S. 268). Durch die neue Wertordnung erlange
nämlich eine andere gesellschaftliche Gruppe die Definitionsmacht über die ethische
Organisation des menschlichen Zusammenseins, nämlich die der „Schwachen“ und
5
Unterlegenen. Über die Bedingungen der Erlangung der Definitionsmacht durch die
„Schwachen“ gibt Nietzsche keine weitere Auskunft. Er macht allerdings klar, dass in
dem Maße, wie sich hier der „Überwältigungsprozess“ nicht über eine offene, physische
Konfrontation vollziehen kann, das Ethos selbst zum Kampfplatz wird. Die christliche
Moral als solche sei die „geistigste[...] Rache“ (vgl. GdM, S. 267) der Schwachen gegen
die ehemals Überlegenen. Das zeige sich deutlich an der Aggressivität, mit der durch
die Kategorie des „Bösen“ die ‚bekämpften’ Formen des menschlichen Lebens (nämlich
jene der ehemals „Guten“) abqualifiziert würden; eine Aggressivität, welche der alten
Ordnung fremd gewesen sei. Die eigentliche Quelle der christlichen Moral sei daher im
Ressentiment5 der ehemals Schwächeren zu suchen und nicht in den positiv gewerteten
Haltungen der Nächstenliebe und der Friedfertigkeit. Diese fungierten vielmehr als eine
Art Köder, der über die eigentliche Herkunft der neuen Werteordnung hinwegtäuschen
soll. Sie seien selbst durch Hass und Ressentiment generiert und daher heuchlerisch,
weil sie im Rahmen der christlichen Werteordnung nur dazu dienten, das ‚ohnmächtige’
Bedürfnis nach Vermeidung von Konflikten zu erfüllen.6
b. Kritik des Universalismus: In der Gegenüberstellung von Sklaven- und Herrenmoral
konfrontiert Nietzsche nicht nur die zu seiner Zeit dominante christlich-abendländische
Moral mit einer anderen möglichen ethischen Perspektive, wodurch er auf eine
Pluralität ethischer Orientierungen verweist; die Rede von einem „Sklavenaufstand in
der Moral“ sollte darüber hinaus zeigen, dass auch die universalistische Moral eine
partikulare Herkunft in einer bestimmten Lebensform besitze und sich wie alle anderen
Moraltypen in einem Machtkampf behauptet habe. Anders als andere Moralsysteme
leugne sie mit ihrem universellen Anspruch aber ihren partikularen Ursprung und ihre
eigenen aggressiven Züge. Gerade diese Verschleierung mache die universalistische
Moral so durchsetzungsfähig und verdecke die Tatsache, dass Gleichheit weniger eine
5
Für eine detaillierte Analyse des Ressentiments vgl. Hinrich Fink-Eitels Aufsatz „Nietzsches
Moralistik“.
6
Damit will Nietzsche nicht sagen, dass Liebe und Achtung des Anderen grundsätzlich
heuchlerische Haltungen seien. Diese Bestimmung kommt ihnen nur im Kontext der christlichen
Moral zu, sofern diese ihren Ursprung im Ressentiment hat. Auch die von Nietzsche
hochgehaltene vornehme Moral kennt Liebe und den achtungsvollen Umgang mit
Seinesgleichen, gründet diese Haltungen aber eben auf Selbstachtung und „Pathos der Distanz“
(GdM, S. 259).
6
Voraussetzung als vielmehr eine Folge der neuen Wertordnung und ihrer
Sanktionierung individueller Differenzen und Machtansprüche sei.7
c. Kritik von „gut“ und „böse“: Indem Nietzsche die christliche Moral in die Dynamik
sozialer Machtkämpfe einschreibt, suggeriert er, dass die Werte der Nächstenliebe, des
Mitleids und der Gleichheit, welche die neue Moral hochhält, aus dem Ressentiment der
unterdrückten Schichten entstanden und nichts anderes als ein subtiles Mittel seien, um
die stärkeren Naturen in Schach zu halten. Darin entfaltet sich auch die diskreditierende
Absicht der Genealogie: Nietzsches Geschichte der christlich-abendländischen Moral
will gegen deren eigenes Selbstverständnis zeigen, dass ihre Wurzeln gerade in
bestimmten affektiven Haltungen (Hass und Ressentiment) liegen, die ihre zentralen
Werte, Liebe und Mitleid, als heuchlerisch erscheinen lassen. Dieser entlarvende Zug ist
allerdings zu einseitig und offenkundig simplifizierend, um Nietzsches These einen
tatsächlichen historischen Rückhalt geben zu können. Denn schon allein die
Auffassung, dass die Erfahrung von Ohnmacht mit Notwendigkeit Ressentiment
generiere, ist alles andere als selbstverständlich. Ebenfalls tragen alle weiteren
Bausteine von Nietzsches Genealogie – etwa die These einer „geistigen Rache“ der
Unterdrückten – stark konstruierte Züge. In dem Maße, wie die Genealogie ihre fiktiven
und übertreibenden Elemente mit solchen unplausiblen Thesen verbindet, vermindert
sich ihr diskreditierendes Potenzial. Und so erweist sich eine schlichte Gleichung, nach
der die universalistische Moral im Ressentiment, während die vornehme Moral in einer
autonomen Form der Selbstbejahung gründet, als zu einseitig und unhaltbar.
Wenngleich eine solche einseitige Einschätzung der beiden Ethiken zurückzuweisen ist,
so kann man Nietzsches Ausführungen in der ersten Abhandlung gleichwohl einige
interessante Pointen abgewinnen. Dies betrifft zum einen seine Problematisierung der
Kategorie des „Bösen“ und ihrer aggressiven Matrix, und zum anderen seine
Gegenüberstellung einer wesentlich auf intersubjektive Verhältnisse („christlich“) und
einer stärker an der individuellen Lebensentfaltung („vornehm“) ausgerichteten Moral.
7
Nietzsches Kritik richtet sich gegen einen dogmatischen Universalismus, wie er den religiös
begründeten Moralsystemen zugrunde liegt. Sie trifft in dieser Form nicht auch einen prozessual
verstandenen Universalismus, der weniger von der Unterstellung einer für allen gültigen
Ordnung, als vielmehr vom Anspruch ausgeht, eine solche durch gemeinsame Praxis erst
herzustellen.
7
Der letzte Aspekt ist insofern interessant, als die Klärung des Verhältnisses von
Gemeinwohl- und Individualethik eines der zentralen Probleme der philosophischen
Ethik darstellt. Antike Ethiken (etwa diejenige Aristoteles’) gehören in der Regel zum
zweiten Typus. Für sie bedeutet Ethik primär eine Lehre zur Entfaltung eines guten
Charakters und Lebens, zu dem freilich auch gemeinwohlorientierte Tugenden wie die
Gerechtigkeit gehören. Moderne Ethiken (etwa diejenige Kants) dagegen verleihen der
Gemeinwohlorientierung das Primat. Für sie bedeutet Ethik primär eine Lehre über die
Bedingungen einer guten zwischenmenschlichen Praxis, zu der wiederum bestimmte
individuelle Charaktereigenschaften nötig sind. Nietzsche reklamiert offensichtlich eine
stärkere Ausrichtung am individualethischen Aspekt. Dabei hebt er (anders als die
antiken Ethiken) insbesondere das Werte schaffende Potenzial einer individuellen
Lebensführung
hervor.
Dabei
geht
er
von
einem
Widerstreit
zwischen
gemeinwohlorientierter und Individualethik aus, den er zugunsten der letzteren
entscheidet. In seiner Charakterisierung der „Sklavenmoral“ beschreibt er die
gemeinwohlorientierte Ethik als etwas, das seinen Ursprung in reaktiven Haltungen hat,
also in der Erfahrung von Ohnmacht und erlittenem Unrecht. Daher seien die Werte
dieser Ethik primär auf eine Vermeidung von Leidenssituationen ausgerichtet. Dagegen
seien Individualethiken eher durch aktive Haltungen gekennzeichnet, in denen Werte
aus kreativen individuellen Setzungen resultieren. Aber gerade seine Rede von aktiven
und reaktiven Haltungen legt nahe (im Gegensatz zu Nietzsches eigenem Verständnis),
dass hier jeweils Aspekte im Spiel sind, die gleichermaßen zur conditio humana
gehören. Geht man über Nietzsches eigener Sicht hinaus und sieht in beiden Aspekten
berechtigte ethische Forderungen, so gelangt man zu einer komplexeren Perspektive auf
die Moral, nach der sich in ihr verschiedene und zugleich widerstreitende ‚Imperative’
verbinden.
d. Kritik der moralischen Eindeutigkeit: Vor diesem Hintergrund lässt sich ein weiterer
Punkt verdeutlichen: Wenn die ‚komplexere Perspektive’ auf die Moral stimmt, dann
hat dies Konsequenzen für die Praxis der ethischen Beurteilung. In dem Maße, wie die
gemeinwohlorientierte und die individualethische Perspektive miteinander (der
Möglichkeit nach) kollidieren und beide gleichwohl eine ethisch relevante Dimension
artikulieren, können dieselben Situationen oder Handlungen als moralisch ambivalent
erscheinen: Sie erweisen sich unter der einen Perspektive als schlecht, obgleich sie unter
8
der anderen zu bejahen sind. In anderen Worten, eine individuelle Handlung kann zwar
gegen Gebote der Gemeinwohlorientierung verstoßen, sich aber in ihren Folgen als
produktiv für die Fortentwicklung der ethischen Praxis erweisen. Obwohl diese
Perspektive nicht mit Nietzsches eigener Position übereinstimmt, so ist die
Zurückweisung der Eindeutigkeit moralischer Bewertungen (so wie sie die christlichabendländische Moral unterstellt) sicherlich ein Aspekt, den Nietzsche (wenn auch mit
einer anderen Begründung8) stark zu machen versucht.
Zweite Abhandlung
a. Die Entstehung des Versprechens: Nietzsche stellt zu Beginn der zweiten
Abhandlung die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Mensch zu versprechen
beginnt und das zum Verspechen notwendige Gedächtnis entwickelt, wo er doch
zunächst ein wie alle anderen Tiere vergessliches Wesen sei. Das Versprechen ist für
Nietzsche deswegen von Bedeutung, weil es eine basale moralische und soziale Praxis
darstellt. Beim Versprechen verpflichtet sich das Individuum gegenüber anderen, sich
auf eine ganz bestimmte Weise zu verhalten. Wie aus Nietzsches weiteren
Ausführungen deutlich wird, ist das Versprechen für eine Genealogie der Moral aber
auch deswegen von Interesse, weil es jene Grundzüge vernunftgeleiteten Handelns
besonders deutlich zeigt, die für moralisches Verhalten überhaupt konstitutiv sind: die
Bindung des eigenen Willens über die Zeit hinweg und das Absehen von unmittelbaren
Regungen (vgl. GdM, S. 297). Daher verbindet sich mit der spezifischen Frage nach der
Entstehung der Praxis des Versprechens die allgemeine Frage nach der Entstehung von
verantwortlichem moralischem Handeln und einer vernunftgeleiteten Natur.9 Die
8
Nietzsches Kritik der moralischen Eindeutigkeit hängt wiederum mit seinem Fokus auf das
Leben zusammen. Mit Bezug auf dieses könne nicht grundsätzlich festgelegt werden, was „gut“
und was „schlecht“ sei. Als ein Prozess der permanenten Selbstüberwindung können sich für das
Leben nämlich auch grausame Handlungen letzten Endes als „gut“ erweisen.
9
Die zweite Abhandlung bildet daher auch systematisch das Kernstück von Nietzsches
Genealogie der Moral, weil er dort nicht nur bestimmte Werte, sondern die Grundlagen der
moralischen Praxis untersucht. Geht es somit in der ersten Abhandlung um eine Rekonstruktion
der Durchsetzung der christlichen Moral, so zeigt erst die zweite Abhandlung wie sie aus dem
Prozess der Zivilisation überhaupt entstehen konnte.
9
Fähigkeit, den eigenen Willen an Normen zu binden und nicht von unmittelbaren
Instinkten leiten zu lassen („Macht über sich“ zu haben), nennt Nietzsche „Gewissen“
(GdM, S. 294).
Der „leibhaften Vergesslichkeit“ (GdM, S. 295) des Menschen könne, so Nietzsche, nur
dadurch ein Gedächtnis und somit ein Gewissen erwachsen, dass Schmerz zugefügt
bzw. gestraft wird. Erst durch eine solche Form der äußeren Einwirkung wird
Erinnerung geschaffen, bzw. die Bereitschaft, sich an Normen zu halten: „Es ging
niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein
Gedächtnis zu machen“ (GdM, S. 295). Vernunftgeleitetes Handeln etabliert sich erst
(man könnte fast sagen: paradoxerweise) durch ein Erleiden von Sanktionen. Die
Etablierung einer vernunftgeleiteten Praxis ist daher an die Institution einer Strafpraxis
gebunden, welche sie ermöglicht und auch sichert. Nietzsche beschreibt somit den
Prozess der Menschwerdung und der Etablierung einer durch Vernunft und Gewissen
gekennzeichneten Lebensform als ein grausamer, leidvoller Austritt aus einer rein
instinktgeleiteten, animalischen Existenz. Mit einer solchen Geschichte will Nietzsche
deutlich machen, dass die Entwicklung der für die menschliche Lebensform so
konstitutiven Größen wie Gedächtnis, Normativität, Verantwortlichkeit nicht ohne
‚Kosten’ erfolgt sei; sie gehe vielmehr mit der Hemmung der animalischen Instinkte
und infolgedessen mit einem „Elends-Gefühl“ und einem „bleierne[n] Missbehagen“
(GdM, S. 322) einher, denn deren verhaltensleitende Funktion sei zugunsten des
„ärmlichste[n] und fehlgreifendste[n] Organ[s]“ (ebd.), nämlich des Bewusstseins,
aufgegeben worden. Zugleich würden aber die Instinkte nicht aufhören, „ihre
Forderungen zu stellen“ (ebd.). Die menschliche Lebensform sei daher in dem Maße auf
eine ‚ärmliche und fehlgreifende’ Grundlage gestellt, wie sie durch eine innere
Spannung
zwischen
ihrer
weiterhin
bestehenden
instinkthaften
und
ihrer
vernunftgeleiteten Natur gekennzeichnet ist. Weit davon entfernt, diesen inneren
Zwiespalt als beklagenswert zu finden, sieht Nietzsche darin auch gerade die
Potentialität der menschlichen Lebensform begründet: „Fügen wir sofort hinzu, dass
andererseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst
Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes,
Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der Aspekt der
Erde sich damit wesentlich veränderte.“ (GdM, S. 323)
10
b. Geschichte der Strafe und der Schuld: Nietzsche weist darauf hin, dass das Strafen,
so unhintergehbar es für die menschliche Praxis auch sein mag, dennoch eine
Geschichte hat, in deren Zusammenhang es unterschiedlich gedeutet worden ist. Mit
den unterschiedlichen Bedeutungen der Strafe gehen unterschiedliche Auffassungen
von Schuld, Verantwortung und Handeln einher. Nach Nietzsches Rekonstruktion liegt
die ursprüngliche Bedeutung von Schuld „im sehr materiellen Begriff »Schulden«“
(GdM, S. 297), im Sinne von ‚jemandem etwas schuldig sein’. Die Rede von Schuld
habe ursprünglich nicht die tiefer gehende moralische Bedeutung gehabt, etwas über die
Integrität der Person auszudrücken, sondern sei ein Begriff aus dem „ObligationenRechte“ (GdM, S. 300). ‚Schuldig’ war derjenige, der bestimmte vertragliche
Vereinbarungen nicht eingehalten hatte. Die Bestrafung einer solchen Schuld habe
daher auch nicht die Funktion einer moralischen Besserung gehabt, sondern sie habe
einerseits zur Entschädigung des Gläubigers gedient, „insofern Leiden-Machen im
höchsten Grade wohl that“ (GdM, S. 300), sowie andererseits die Funktion der
Wiederherstellung der vertraglichen Ordnung erfüllt. Dieses Verständnis lag, so
Nietzsche, sowohl den privatrechtlichen Verhältnissen zwischen Personen, als auch der
vom Gemeinwesen ausgehenden Strafpraxis zugrunde.
Das Strafen sollte freilich auch eine Wirkung auf den Bestraften und auf sein künftiges
Verhalten haben: „[…] ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor
Allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des
Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, misstrauischer, heimlicher zu
Werke zu gehen, in der Einsicht, dass man für Vieles ein-für-alle-Mal zu schwach sei,
in einer Art der Verbesserung der Selbstbeurtheilung..“ (GdM, S. 321) Ihre Wirkung ist
zwar Zähmung, ohne allerdings dabei die Konnotation einer Besserung (der
Schlechtigkeit des Bestraften) zu haben; diese erlangt sie vielmehr erst in einem
späteren Stadium ihrer Entwicklung. Dadurch verschiebt sich der Zweck der Strafe
allmählich vom Erhalt der Ordnung und dem Ausgleich von Schädigungen auf die
Verbesserung des Individuums. Die Strafe soll nunmehr im Bestraften ein Bewusstsein
der eigenen Schuld (jetzt aber im Sinne von ‚Unzulänglichkeit’) erwecken. Nietzsche ist
dabei weniger an einer umfassenden Geschichte der Strafe interessiert als vielmehr an
diesem
spezifischen
Umdeutungsvorgang,
weil
sich
darin
ein
ähnlicher
Moralisierungsprozess offenbart wie im Fall der Umwertung von „gut“ und „schlecht“.
11
Dieser Prozess der Moralisierung der Strafpraxis führt schließlich zur Entstehung einer
für Nietzsche höchst problematischen Instanz im Menschen, des „schlechten
Gewissens“.
c. Genealogie des „schlechten Gewissens“: Das schlechte Gewissen ist für Nietzsche
ein
historisches
Produkt
des
menschlichen
Zivilisationsprozesses
und
eine
„Erkrankung“ (GdM, S. 321) des Menschen. Vollzieht sich die Menschwerdung über
eine Hemmung der Instinkte und durch die Praxis der Bestrafung, so entsteht das
schlechte Gewissen dann, wenn der durch ‚Züchtigung’ „latent gemachte Instinkt der
Freiheit“ (GdM, S. 325) anfängt, sich gegen sich selbst zu wenden: „Jene furchtbaren
Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der
Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu
Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich
rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit,
die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das
gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten
Gewissens«.“ (GdM, S. 323) Das schlechte Gewissen hat somit seinen Ursprung in der
für die Entfaltung der menschlichen Lebensform notwendigen Unterdrückung der
Instinkte durch die gesellschaftlich etablierten Normen. Seine Entstehung verdankt sich
dennoch einer besonderen Wendung innerhalb dieser für den Menschen konstitutiven
Konstellation von Instinkt und normierender Einwirkung: Es wird nämlich dann
etabliert, wenn die gehemmten Instinkte sich gegen das Individuum selbst richten und
wenn dieses damit beginnt, die Grausamkeit, mit der sich die gesellschaftliche
Normierung notwendig durchsetzen muss, in seinem Innern gegen sich selbst zu
reproduzieren (hier erkennt man die Züge des ohnmächtigen Ressentimentmenschen
wieder, nur dass sie nun nicht mehr nur auf eine klar definierte Gruppe zutreffen). Diese
zerstörerische Form der Verinnerlichung von Normen wird umso wahrscheinlicher, je
fester die gesellschaftliche Ordnung ist und je mächtiger daher die Einwirkung ihrer
Normen ausfällt. Sie hat zur Folge, dass die „formbildende und vergewaltigende Natur“
(GdM, S. 326) der Instinkte sich nur noch gegen das Individuum selbst und nicht mehr
auch nach Außen in einer produktiven, Werte schaffenden Tätigkeit entladen kann, in
der für Nietzsche die Grundbestimmung lebendiger Prozesse liegt. Weil somit das
kreative Potential der lebendigen Impulse nur noch auf die Befolgung der Normen,
12
nicht aber auch auf deren Bestimmung gerichtet ist, verfällt das Individuum in eine
heteronome, fremdbestimmte Existenzweise. Das Gewissen wird so zum schlechten
Gewissen, also zum bloßen Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit in der Befolgung
der Normen.
Die christliche Moral erhebt nun den „Willen zur Selbstmisshandlung“ (GdM, S. 326),
der nach Nietzsche dem schlechten Gewissen innewohnt, gewissermaßen zum positiven
Wert. Ihr Weltbild festigt die Heteronomie des schlechten Gewissens, indem sie die
moralischen Gebote zu einer unantastbaren, weil gottgewollten Ordnung erhebt und all
die widerstrebenden Instinkte zum Ausdruck der schuldhaften Natur des Menschen
erklärt. Die sittlichen Gebote predigen den Verzicht auf Grausamkeit zum Erhalt der
ethischen Gemeinschaft, verlagern sie damit allerdings nur ins Innere des Individuums,
das sich in einem nie endenden Prozess der Schuldabtragung gegenüber dem göttlichen
Gesetz verstrickt. Das Problematische an der christlichen Moral besteht in anderen
Worten genau darin, dass sie die „Selbst-Vergewaltigung“ (GdM, S. 326) des Menschen
perpetuiert, dass sie diese zum Kern ihres eigenen Menschenbildes macht und in dem
Maße verstärkt, wie die „Selbst-Vergewaltigung“ für eine notwendige Bedingung zur
Erlangung einer jenseitigen Erlösung erklärt wird. Daher liege der Moral mit ihrer „Lust
am Leidenmachen“ eine „lebensfeindliche“ Haltung zugrunde: „Der Gedanke, um den
hier gekämpft wird, ist die Werthung unseres Lebens seitens der asketischen Priester:
dasselbe wird (sammt dem, wozu es gehört, »Natur«, »Welt«, die gesammte Sphäre des
Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz
andersartigen Dasein, zu dem es sich gegensätzlich und ausschließend verhält, es sei
denn, das es sich etwas gegen sich selber wende, sich selbst verneine: in diesem Falle,
dem Falle des asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre
Dasein. Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rückwärts
gehn müsste, bis dorthin, wo er anfängt“ (GdM, S. 362).
d. Das „souveraine Individuum“: Gegen den Menschen des schlechten Gewissens setzt
Nietzsche in der zweiten Abhandlung das eigene Ideal des souveränen Individuums
(vgl. dazu auch § 14 der dritten Abhandlung). Darin verdichtet sich seine Auffassung
einer autonomen Existenzweise, die „Macht über sich “ (GdM, S. 294) erlangt hat. Das
souveräne Individuum Nietzsches ist keinesfalls jemand, der sich jenseits der
Verinnerlichung von Normen und der Instinktzügelung begeben hätte. Seine
13
Souveränität besteht darin, beides nicht mehr aus schlechtem Gewissen, sondern in
Einklang mit sich selbst und aus eigenem Wollen zu vollziehen: Das souveräne
Individuum ist das „nur sich selbst gleiche“ (GdM, S. 293). Daraus bezieht es eine Form
der Achtung für sich selbst und Seinesgleichen, die sich in umso größerer Verachtung
gegenüber jenen, die eine solche Souveränität nicht erlangt haben, auswirkt (man
erkennt hier die Züge der vornehmen Moral aus der ersten Abhandlung wieder).
Obgleich man Nietzsches Kritik des schlechten Gewissens – zumindest was seine
heteronomen Züge angeht – nachvollziehen kann, so ist doch seine Vorstellung eines
souveränen Individuums nicht unproblematisch. Abgesehen von den gewollt elitären
Zügen dieses Ideals erweist sich Nietzsches Vorstellung eines souveränen Individuums
aus zwei Gründen als problematisch: Einerseits bleibt unklar, was „nur sich selbst
gleich“ bedeuten soll, und andererseits muss eine solche Redeweise gerade vor dem
Hintergrund von Nietzsches Verweis auf einen konstitutiven inneren Zwiespalt im
Menschen noch rätselhafter erscheinen.
Dritte Abhandlung
a. Kritik der „asketischen Ideale“: Unter den asketischen Idealen versteht Nietzsche all
jene Vorstellungen aus der christlich-abendländischen Moral – ausdrücklich genannt
werden „Armut, Demuth, Keuschheit“ (GdM, S. 352) –, die gerade aus der
Selbstverneinung ein Lebensideal machen. Aus Nietzsches Perspektive handelt es sich
hierbei um „lebensfeindliche Ideale“ (GdM, S. 335), weil sie sich mit dem schlechten
Gewissen „verschwistern“ (ebd.). Jene Ideale halten dieses nämlich gerade dadurch
aufrecht, dass sie wie „Narkosen“ (GdM, S. 389) „nur das Leiden selbst, die Unlust des
Leidenden […] bekämpf[en], nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein“
(GdM, S. 377). Die asketischen Ideale unterstützen sogar das schlechte Gewissen, weil
sie den „Willen zur Selbstmisshandlung“ zu einer geradezu lustvollen Selbstpraxis
machen. „In der That, mit diesem System von Prozeduren war die alte Depression,
Schwere und Müdigkeit gründlich überwunden, das Leben wurde wieder sehr
interessant: wach, ewig wach, übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft und doch nicht
müde – so nahm sich der Mensch aus, »der Sünder«“ (GdM, S. 390). Daher erklärt sich
Nietzsches These hinsichtlich des Werts der Moral für das Leben: „das asketische Ideal
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entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkt eines degenerierenden Lebens, welches sich
mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft“ (GdM, S. 366).
Nachdem er gewissermaßen den Grund für die „Erkrankung“ des Menschen im
Zivilisationsprozess diagnostiziert und in den asketischen Idealen das probate Mittel
ausgemacht hat, um diesen Zustand der Menschheit zu perpetuieren, fragt Nietzsche
danach, ob eine Überwindung der „Krankheit“ bereits in Sicht sei. Doch weder die
wissenschaftliche
Denkweise,
noch
der
Atheismus
scheinen
das
christlich-
abendländische Weltbild gänzlich hinter sich gelassen zu haben. Bei aller Kritik, die sie
dem christlichen Weltbild gegenüber artikulieren, halten sie nämlich noch an einem
unhinterfragten „Willen zur Wahrheit“ fest, in dem sich noch genau jene
Unterwürfigkeit artikuliert, die das christliche Weltbild so stark gemacht hat. Sie bilden
somit Übergangsphänomene, aber noch keine neue Lebensform. Auch die eigene
Position sieht Nietzsche noch in der „Morgenröte“ eines neuen Zeitalters. Ihre Funktion
liegt daher vornehmlich in der Artikulation eines Problembewusstseins, das auf den
Anbruch des Neuen nur hinweisen kann: „Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn
nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum
Bewusstsein gekommen wäre?… An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur
Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde: jenes große
Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart
bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller
Schauspiele…“ (GdM, S. 410)
Nietzsches Selbsteinschätzung trifft insofern auf die Genealogie der Moral zu, als er
dort ein vordergründig kritisches, die Moral diskreditierendes Programm verfolgt. Mit
seinem genealogischen Verfahren bricht er das Selbstverständnis der christlichabendländischen Moral auf, ohne mit seinem souveränen Individuum mehr als einen
bloß umrisshaften Gegenentwurf zu skizzieren. Gleichwohl vollzieht Nietzsche mit
seiner Schrift auch mehr als eine bloße Propädeutik zum Neuen: „Seien wir zuletzt,
gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der
gewohnten Perspektiven und Werthungen, mit denen der Geist allzu lange scheinbar
freventlich und nutzlos gegen sich selbst gewüthet hat: dergestalt einmal anders sehn,
anders sehn-wollen ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner
einstmaligen „Objektivität“, – letztere nicht als »interesselose Anschauung« verstanden
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(als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und
Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die
Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis
nutzbar zu machen weiss.“ (GdM, S. 364 f.) Nietzsches genealogisches Verfahren, das
zu einem „anders sehn“ führen soll, ist allerdings als solches bereits verstrickt mit einer
Pluralisierung der Perspektiven. In seinen zum Teil verwirrenden Durchgängen durch
eine nicht mehr lineare Geschichte und mit seinen überspitzten Polemiken mutet es
seinem Leser eine eigentümliche Betrachtungsweise zu. Von diesem wird nicht nur
gefordert, „das Lesen als Kunst zu üben“ (GdM, S. 256), sondern er wird dabei auch
noch einem regelrechten Vexierspiel ausgesetzt, in dem sich die Ausführungen
Nietzsches immer wieder anders lesen lassen. Der Text reflektiert somit in gewisser
Weise, was in Nietzsches Perspektive die menschliche Praxis, ihre Geschichte und
Entwicklung wesentlich auszeichnet: Er ist nämlich nichts, was sich bewertend
bewältigen ließe.
Fragt man sich daher, worauf schließlich eine Kritik der Moral aus der Perspektive des
Lebens hinauslaufen soll, so bietet sich neben der Figur des souveränen Individuums,
das den Zustand des schlechten Gewissens hinter sich gelassen und die Versöhnung
zwischen Instinkten und Vernunft gefunden hat, auch eine andere Antwort an. Hierbei
geht es weniger um die Etablierung eines neuen ethischen Ideals, als vielmehr gerade
um die Verabschiedung eines solchen Idealdenkens und der dazugehörigen
Theorieform. Einen Anhaltspunkt für diese Lesart kann in der Abschlusspassage der
Genealogie gesehen werden, in der Nietzsche weniger einem neuen machtvollen
Individuum und Idealmenschen das Wort redet, als vielmehr eine Bejahung gerade jener
Dimensionen des Lebens („Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen“, GdM,
S. 412) fordert, die sich den Idealisierungen der Selbstbestimmung und der ethischen
Eindeutigkeit gegenüber sperren.
Verwendete Literatur
Hinrich Fink-Eitel, „Nietzsches Moralistik“, DZPhil 41 (1993) 5, S. 865-879.
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Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Schriften II, Frankfurt/M.
2002, S. 166-190.
Friedrich Nietzsche, Morgenröte, KSA 3, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin-New York
1999. [M]
ders., Zur Genealogie der Moral, KSA 5, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin-New York
1999. [GdM]
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