Dokumentation Anhörung

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Dokumentation
Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen – vorbeugen, wahrnehmen, Opfer
schützen und begleiten
Anhörung mit Diskussion
Dienstag, 26. November 2013,
17.00 bis 19.30 Uhr Landtag von Baden-Württemberg
Landtag von Baden-Württemberg
Interims-Plenarsaal im Kunstgebäude
Schlossplatz 2
70173 Stuttgart
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Impulsreferat Dr. Julia Zinsmeister
Sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderung –
Maßnahmen zur Prävention und Umgang
2.1. Fachliche Begleitung und Unterstützung der Studie
2.2. Überblick – Anlage und Studienteile
2.3. Ergebnisse der repräsentativen Haushalts- und
Einrichtungsbefragung – Überblick
2.4. Gewalt im Leben der Frauen
2.4.1. Gewalt in Kindheit und Jugend
2.4.2. Gewalt im Erwachsenenleben
2.4.3. Gewalt im Erwachsenenleben –
Täter/-innen und Tatkontexte
2.4.4. Bedrohlichkeit, Sicherheitsgefühl
und Zusammenhang mit Behinderung
2.4.5. Gewaltbetroffenheit von Frauen mit
Behinderungen – Zusammenfassung
2.5. Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung
2.5.1. Sozialstruktur und strukturelle Benachteiligung
2.5.2. Diskriminierung und strukturelle Gewalt im Alltag
2.6. Ergebnisse der qualitativen Studie zur Unterstützung
gewaltbetroffener Frauen
2.7. Fazit
2.8. Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg:
Doppelstrategie
2.8.1. Beispiel: Heimaufsicht
2.8.2. Maßnahmen zum verbesserten
Schutz vor familiärer und häuslicher Gewalt
3. Podiumsdiskussion Was tun in Baden-Württemberg?
3.1. Britta Schade vom Zentrum Selbstbestimmtes Leben
3.2. Dr. Janke von profamilia
3.3. Frau Binder von LISA
4. Ergebnisprotokoll der Diskussionsrunde
4.1. Thema Therapeutische Hilfe:
4.2. Landesweiter Plan zur Sensibilisierung im
Umgang mit eingeschränkten Menschen/Pädagogik
4.3. Thema Kommunikationsbarrieren
4.4. Thema Videoüberwachung
4.5. Justizieller Beistand
4.6. Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen
4.7. Anerkennung eigener Sexualität und strukturelle
Gewalt in Einrichtungen
S. 1
S. 2
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S. 5
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S. 25
5. Resümee und Schlusswort
S. 26
6. Anhang:
Antrag DS 15/2494
Links zur Studie
S. 27
1. Einleitung:
Am 26. November 2013 fand im Landtag von Baden-Württemberg eine Anhörung zum
Thema Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung statt. Eingeladen haben die
Fachpolitiker_innen der Regierungsfraktionen, Frau Sabine Wölfle von der SPD und Herr
Thomas Poreski von Bündnis90/Die Grünen. Neben Mitgliedern des Landtags waren
ebenfalls Vertreter_innen aus den Ministerien, des Städtetags und vor allem Betroffene
anwesend.
Hintergrund der Anhörung bildete der Antrag von MdL Sabine Wölfle „Mehr Schutz von
Frauen mit Behinderung vor sexueller Gewalt“ Drucksachennummer 15/2494. Die Antwort
bot Anlass das Thema aktiv anzugehen, da Menschen mit Behinderung, insbesondere
Frauen, um ein Vielfaches mehr von Gewalt bedroht sind, selbst innerhalb von Einrichtungen.
Die Anhörung stellte sich nun die Frage wie sexuelle Gewalt gegen Menschen mit
Behinderung zum einen wahrgenommen und verhindert werden kann? Zum anderen die Opfer
geschützt und begleitet werden können? Vor allem die Expertise von Frau Dr. Zinsmeister
und die Impulse, Beiträge und Diskussionen zwischen weiteren Fachleuten und Gästen
ergaben viele Handlungsempfehlungen für die grün-rote Regierung, die momentan verhandelt
werden.
1
2. Impulsreferat Prof. Dr. Julia Zinsmeister FH Köln - Lebenssituation und Belastungen
von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland
Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag des BMFSFJ Anhörung im Landtag BW
25.11.20131
2.1. Fachliche Begleitung und Unterstützung der Studie durch:
Weibernetz e.V.- Hessisches Netzwerk behinderter Frauen - Forum e.V. - Deutscher
Gehörlosenbund - Weitere Verbände und Organisationen für Menschen mit Behinderungen Expertinnen im BMFSFJ / Referat 404 - Zahlreiche weitere Expertinnen und Experten aus
Wissenschaft, Praxis und Lobbyarbeit
Bei der Studie handelt es sich um die weltweit erste Studie, bei der Frauen mit Behinderungen
repräsentativ befragt und unterschiedliche Zielgruppen erreicht wurden
-
sowohl in Haushalten als auch in Einrichtungen
-
Themen: Lebenssituation, Gewalterfahrungen und Diskriminierungen in Kindheit,
Jugend und Erwachsenenleben
-
in allgemeiner Sprache und in vereinfachter Sprache
-
gehörlose Frauen (DGS-Interviews)
-
Frauen mit und ohne Behindertenausweis
-
große Anzahl von Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen und
Beeinträchtigungen
-
Gesamtzahl Befragte: über 1.500 Frauen.
1
Die Studie wurde von 2009 – 2011 im Auftrag des BMFSFJ erstellt von:
Dr. Monika Schröttle, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität
Bielefeld (Projektleitung)
Prof. Dr. Claudia Hornberg, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld (Projektleitung)
Dr. Sandra Glammeier, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität
Bielefeld (Wiss. Mitarbeiterin)
Dr. Brigitte Sellach, Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung e.V. (GSF),
Frankfurt (Kooperationspartnerin)
Prof. Dr. Barbara Kavemann, Sozialwissenschaftliches FrauenForschungsInstitut Freiburg (SOFFI.F, Büro
Berlin), Berlin (Kooperationspartnerin)
Dr. Henry Puhe/Ute Wagemann, SOKO Institut GmbH Sozialforschung und Kommunikation, Bielefeld
(Kooperationspartner)
Prof. Dr. Julia Zinsmeister Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für
Soziales Recht (Kooperationspartnerin)
Praktikanten/-innen: Kathrin Vogt, Nadine Vinke, Kristin Koch, Nadja Weirich, Katharina Plehn, Armin Wolf,
Olga Elli, Daniel Mecke (Universität Bielefeld)
Über 100 Interviewerinnen in verschiedenen Teams
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2.2. Überblick – Anlage und Studienteile
Repräsentativ
Haushalte
800 Frauen
-
-
Einrichtungen
420 Frauen
davon:
102 psychisch
erkrankte oder
schwerstkörper-mehrfach
behinderte
Frauen
(in allgemeiner
Sprache)
318 Frauen mit
Lernschwierigkeiten/sog.
geistigen
Behinderungen (in
vereinfachter
Sprache)
nicht repräsentativ
Zusatzbefragung
341 Frauen in
Haushalten
davon:
128 blinde/stark
sehbehinderte
Frauen,
130 schwerst-körperund mehrfach
behinderte Frauen
83 gehör-lose/stark
hör-behinderte
Frauen (in DGS)
Qualitative Studie
31 von Gewalt
betroffene Frauen
in Haushalten und
Einrichtungen
Befragung zum
Hilfe- und Unterstützungsbedarf
2.3. Ergebnisse der repräsentativen Haushalts- und Einrichtungsbefragung – Überblick
-
Sehr hohe Gewaltbetroffenheit aller Befragungsgruppen in Kindheit, Jugend und
Erwachsenenleben.
-
Hohes Ausmaß an (struktureller und personaler) Diskriminierung.
-
Erhebliche psychische Belastungen (und multiple gesundheitliche Beeinträchtigungen)
der Frauen.
-
Handlungsbedarf: intensivierte Gewaltprävention und Abbau von Diskriminierungen
erforderlich.
2.4. Gewalt im Leben der Frauen
2.4.1. Gewalt in Kindheit und Jugend
Frauen mit Behinderungen haben deutlich häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt
Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt
-
Wechselseitiger Zusammenhang von Gewalt und Behinderung
-
Gewalt in Kindheit und Jugend:
3
o teilweise erhöhte Betroffenheit durch elterliche körperliche,
vor allem aber psychische Gewalt * psychische Gewalt: ca. 50-60% (vs.
36% bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt) * körperliche Gewalt: 74-90%
(vs. 81%)
o 2- bis 3-fach erhöhte Betroffenheit durch sexuellen
Missbrauch in Kindheit/Jugend: jede 3. bis 4. Frau der Haushalts- und
Einrichtungsbefragung sexuelle Übergriffe durch Kinder/Jugendliche und
Erwachsene erlebt (Zusatzbefragung: jede 2. bis 3. Frau)
2.4.2. Gewalt im Erwachsenenleben
Frauen der Studie haben deutlich häufiger sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben erlebt.
-
Sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben
o 2- bis 3-fach erhöhte Betroffenheit durch sexuelle Gewalt im
Erwachsenenleben gegenüber Bevölkerungsdurchschnitt
o
mehr als jede 3. bis 5. Frau der repräsentativen Befragung hat sexuelle
Übergriffe im Erwachsenenleben erlebt (Zusatzbefragung: ca. jede 2. bis 3.
Frau)
o
höchste Betroffenheit: psychisch erkrankte Frauen in Einrichtungen
(38%) und gehörlose Frauen (43%); (Frauen mit g.B. in Einrichtungen: 21%,
häufig keine Angabe)
-
Sexuelle Gewalt im Lebensverlauf: in Kindheit und/oder Erwachsenenleben
o mehr als jede zweite bis dritte Frau der Studie hat sexuelle
Gewalt in Kindheit und/oder Erwachsenenleben (am
häufigsten: Frauen mit psychischen Erkrankungen und
gehörlose Frauen – über 50%; g.B. 34%)
Auch körperliche und psychische Gewalt im Erwachsenenleben wurde fast doppelt so häufig
erlebt wie von Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt.
-
Körperliche Gewalt im Erwachsenenleben
o
fast doppelt so häufig wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (58-75% vs.
35%) + schwerere und bedrohlichere Übergriffe
-
Psychische Gewalt im Erwachsenenleben
o
ebenfalls deutlich häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt (68-90% vs.
45%)
4
2.4.3. Gewalt im Erwachsenenleben – Täter/-innen und Tatkontexte
Täter/-innen überwiegend aus Familie und Partnerschaft, aber auch aus Einrichtungen
-
Täter/-innen überwiegend aus dem sozialen Nahraum
(vor allem Partner und Familienmitglieder); bei Frauen der Zusatzbefragung auch in
allen anderen Lebenskontexten
-
Täter/-innen in Einrichtungen: Personal bei psychischer und Bewohner/-innen,
Werkstattkollegen/-innen bei psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt
-
Gewalt in Einrichtungen: ca. 50% psych. Übergriffe, 12-20% körperliche Gewalt, 26% sexuelle Gewalt und 8-13% sexuelle Belästigung (Dunkelfeld hoch).
2.4.4. Bedrohlichkeit, Sicherheitsgefühl und Zusammenhang mit Behinderung
-
Subjektiv wahrgenommene Bedrohlichkeit und Gefühl, sich nicht wehren zu können
am höchsten ausgeprägt bei Frauen der Zusatzbefragung mit schwerstkörper/mehrfach Behinderungen; stellen deutlich häufiger Zusammenhang von
Gewalterfahrung und Behinderung her.
-
Frauen in Einrichtungen und in Pflegesituationen: mangelndes Sicherheitsgefühl in
Bezug auf Alleinsein mit Mitbewohner/-innen und mit Personal (etwa jede 4. bis 5.
Frau fühlt sich im Kontakt mit Pflegekräften/Unterstützungspersonen alleine nicht
sicher; die Hälfte bis drei Viertel bei Alleinsein mit Bewohner/-innen)
-
vermindertes Sicherheitsgefühl in Alltagssituationen im öffentlichen Raum,
insbesondere bei den körper-/mehrfachbehinderten Frauen sowie bei den Frauen mit
psychischen Erkrankungen (häufig Vermeidungsverhalten).
5
2.4.5. Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen – Zusammenfassung
-
Frauen mit Behinderungen bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und
psychischer Gewalt geschützt
-
erleben deutlich häufiger Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen (nicht nur in
Familie/ Partnerschaft)
-
erhöhte Vulnerabilität und eingeschränkte Wehrhaftigkeit aufgrund der Behinderung,
verringertes Sicherheitsgefühl, schränken Freiheit und Bewegungsspielraum ein
-
unzureichend Schutz und Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die
in Einrichtungen leben
-
hohes Ausmaß an multiplen Gewalterfahrungen im Lebensverlauf (erhöhen
psychische/psychosomatische Beeinträchtigungen und Risiko fortgesetzter Gewalt im
Lebensverlauf)
-
verstärkt Maßnahmen zur Unterstützung, Intervention und Prävention erforderlich
2.5. Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung
2.5.1. Sozialstruktur und strukturelle Benachteiligung
-
Repräsentative Befragungsteile: Benachteiligungen am stärksten bei Frauen, die in
Einrichtungen leben. Geringere Ressourcen aufgrund von:
o seltener oder fehlender qualifizierter Schul- und Berufsausbildung (ca. die
6
Hälfte bis ¾ keine abgeschlossene Berufsausbildung)
o geringem Einkommen aufgrund des Arbeitens in Werkstätten mit (und häufig
kein Wissen über eigene Mittel)
Sie sind darüber hinaus:
o häufiger nicht verheiratet / keine Paarbeziehung
o haben häufiger keine Kinder
o erleben Einschränkungen des selbstbestimmten Lebens.
-
Frauen der nicht-repräsentativen Zusatzbefragung ebenfalls von strukturellen
Diskriminierungen betroffen
o geringe Haushaltseinkommen (insbesondere bei gehörlosen Frauen, trotz
erhöhter Erwerbseinbindung)
o finanzielle Engpässe / existenzielle Ängste (bei allen drei Gruppen):
Einkommensniveau nicht ausreichend, um eigenes Leben
und erhöhte Aufwendungen zu bestreiten.
2.5.2. Diskriminierung und strukturelle Gewalt im Alltag
-
Konkrete Benachteiligungen und Diskriminierungen durch Menschen / Institutionen:
o von etwa jeder zweiten bis dritten Frau der repräsentativen
Haushalts-/Einrichtungsbefragung genannt (und von ca. 75%
der Frauen der Zusatzbefragung)
-
sich nicht ernst genommen fühlen:
o
-
von etwa 40-60% genannt (Zusatzbefragung: 70-82%)
belästigende, bevormundende oder benachteiligende Verhaltensweisen durch Personen
im Zusammenhang mit der Behinderung
o
von jeder dritten Frau genannt (Zusatzbefragung: ca. 65%)
Frauen in Einrichtungen gaben besonders häufig Einschränkungen und Diskriminierungen an
Etwa jede zweite bis dritte Frau, die in einer Einrichtung lebt:
-
fühlt sich von Bedingungen und Regeln in ihrer Freiheit eingeschränkt;
-
wurde angestarrt und ungefragt geduzt
-
wurde beschimpft
-
wurde ungefragt oder unangenehm angefasst.
-
mangelnde Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten
-
unzureichender Schutz der Privat- und Intimsphäre
-
mangelnder Schutz vor psychischer, physischer und sexueller Gewalt durch
7
Bewohner/-innen und Personal
-
fehlende Bildungs- und Ausbildungsressourcen / keine eigenen finanziellen Mittel und
keine eigenständige Verfügbarkeit darüber.
-
Fehlen von engen und vertrauensvollen Beziehungen (kaum Paar- und
Familienbeziehungen in Einrichtungen)
8
Diagramm 3: Sexualität und Reproduktion
2.6. Ergebnisse der qualitativen Studie zur Unterstützung gewaltbetroffener Frauen
-
Unterstützungsangebote für Frauen überwiegend nicht zugänglich, nicht
niederschwellig und zielgruppengerecht;
-
Suche nach Unterstützung durch Abhängigkeiten / Selbstwertprobleme und begrenzte
soziale Kontakte erschwert;
-
Einrichtungen sind keine sicheren Orte, oftmals geschlossene Systeme, Übergriffe
bleiben unentdeckt;
-
insbesondere Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen sind eingeschränkt,
selbständig außerhalb der Einrichtung Unterstützung zu suchen; sie erhalten nur
selektierte Informationen, ihnen wird oft nicht geglaubt.
-
Spezifische Barrieren der Hilfesuche bei Behinderungen/Beeinträchtigungen
o Abhängigkeit vom Personal (Ähnlichkeit mit Übergriffen im familiären
Kontext)
o
Gewöhnung an das Überschreiten der Intimitätsgrenze und an Übergriffe auf
den Körper
o Mangelnder Respekt und mangelndes Ernstnehmen, Infrage stellen der
Glaubwürdigkeit
9
o Impuls zur Hilfesuche kommt spät
-
Der Mangel an Selbstwertgefühl, Respekt und Anerkennung fördert das Verschweigen
der Gewalt und behindert die Hilfesuche
o „Es wird da ein gewisser Druck aufgebaut und auch so ein gewisser
Schuldkomplex: ich bin behindert und weil ich behindert bin, bin ich schuld,
dass jemand mir helfen muss, und das ist so ein ganz unguter Kreislauf, der
auch dazu führt dass Grenzüberschreitungen nicht gemeldet werden, der dazu
führt dass Grenzüberschreitungen nicht ans Tageslicht kommen, der dazu führt
dass Behinderte sagen: ich muss ja dankbar sein dass überhaupt jemand
irgendwas macht für mich und so. Das ist ganz schlecht, ganz schlecht.“
2.7. Fazit
-
Verstärkte Aktivitäten, um niedrigschwellige und barrierefreie
zielgruppengerechte Schutz- und Unterstützungsangebote bereitzustellen
(Frauenbeauftragte in Einrichtungen, interne und externe Unterstützungsangebote,
Barrierefreiheit bestehender Angebote + Bereitstellung zusätzlicher spezifischer
Angebote)
-
Konsequenter Schutz und Verhinderung von Gewalt gegenüber Frauen und
Mädchen, die in Einrichtungen leben (Standards im Umgang mit Gewalt/
Verdachts-fällen, Fortbildungen für Personal und Leitung; Wahrung von Intim- und
Körpergrenzen)
-
Gewaltprävention muss mit konsequentem Abbau von Diskriminierung und
struktureller Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen einhergehen
(Stärkung der Rechte auf allen Ebenen, Selbstbestimmung, gemeinsame Aktivitäten)
-
Maßnahmen, die Selbstvertrauen und Selbstbewusst-sein von Frauen mit
Behinderungen stärken.
10
2.8. Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg: Doppelstrategie
Vernetzung
•
•
•
•
•
Allgemeine Hilfen
•
(Frauenhäuser, Beratungsstellen,
Kindernotdienst, gesundheitl. Versorgung...)•
Finanzielle Sicherung und flächendeckender•
Ausbau
Abbau von Zugangsbarrieren
Angebot von Peercounseling und
•
aufsuchenden Hilfen
Berücksichtigung spezifischer
•
Abhängigkeitsverhältnisse in Betreuungs-,
Pflegeverhältnissen
•
Weiterqualifizierung psychosozialer Dienste,
Verwaltung, Polizei und Justiz
•
Häusliche/ ambulante Pflege
Sonderinstitutionen
Abbau/Öffnung von Sondereinrichtungen
Umsetzung des Rechts auf Pflegekräfte des
eigenen Geschlechts (Wahlrecht!),
§ 2 Abs.2 S.3 SGB XI, § 33 SGB I
Möglichkeit, in geschlechtshomogenen
Wohngruppen zu leben.
Beschwerdemanagement (intern/extern) und
Frauenbeauftragte in Einrichtung
Mehr Bildung und Partizipation für
Nutzer_innen in Einrichtungen
Gezielte Beratung und Kontrolle durch
Einrichtungsaufsicht
2.8.1. Beispiel: Heimaufsicht
§ 6 Landesheim Gesetz (LHeimG) Baden-Württemberg
(1) Ein Heim darf nur betrieben werden, wenn der Träger und die Leitung
-
die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor
Beeinträchtigungen schützen,
-
die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortung, die Selbstbestimmung und die
gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft der Bewohner wahren und
fördern (...), - eine angemessene Qualität der Betreuung der Bewohner, auch soweit sie
pflegebedürftig sind, in dem Heim selbst oder in angemessener anderer Weise
einschließlich der Pflege nach dem allgemein anerkannten Stand medizinischpflegerischer Erkenntnisse sowie die ärztliche und gesundheitliche Betreuung sichern,
(...)
Anregung: Konkretisierung von § 6 Abs.1 Ziff.1 und 2 LHeimG:
-
„geeignete Maßnahmen zur Prävention und Intervention bei Vernachlässigung und
Gewalt ergriffen werden“
Anregungen für die einheitlichen Prüfkriterien der Heimaufsicht des Landes BadenWürttemberg
-
Punkt 2: Prüfung des Qualitäts-/Beschwerdemanagements/Organisation erweitern um
o Fragen zu internen/externen Verfahren bei Verdacht auf (sexualisierte) Gewalt
11
o Kenntnisse des Fachpersonals in Bezug auf Gewalt(prävention)
o
Fortbildungsangebote nicht nur für ehren-und hauptamtliche Mitarbeiter,
sondern auch für Bewohner
o
Fragen nach betreuungsgerichtlicher Genehmigung vorgenommener
Sterilisationen bzw. bei einwilligungsfähigen Personen nach dem
Zustandekommen der Einwilligung in die Sterilisation.
Frage nach Schwangerschaftsabbrüchen.
Insgesamt fehlen Fragen nach der Möglichkeit, in der Einrichtung Partnerschaften und
Sexualität zu leben und eine Familie zu gründen. (Fragen nach den Besuchsmöglichkeiten
reichen hierzu nicht aus).
-
Punkt 4.10.1018: Geprüft wird bereits, ob Wunsch nach geschlechtsspezifischer
Pflege in der Sozialanamnese abgefragt wurde, nicht aber, ob dem Wunsch auch
entsprochen wird.
-
Bewohnervisite Punkt 1321 f.: „Können Sie mitbestimmen, wann und wie häufig Sie
gewaschen, geduscht, gebadet werden...“ sollte ergänzt werden, um „von wem Sie...“,
ebenso sollte gefragt werden: Können Sie mitbestimmen, wer Sie auf die Toilette
begleitet?
-
Punkt 5. Betreuung/Aktivierung Bildungs- und Informationsangebote (in leichter
Sprache) abfragen
-
usw.!
2.8.2. Maßnahmen zum verbesserten Schutz vor familiärer und häuslicher Gewalt
-
Art.16 UN-BRK verpflichtet Bund und Länder, auch ambulante Dienste und sonstige
Maßnahmen für Menschen mit Behinderung zum Schutz vor Gewalt unter staatliche
Aufsicht zu stellen. Hier fehlt es bisher an geeigneten Konzepten.
-
Nahziel: Sicherung ausreichender Zahl an wohnortnahen barrierefreien,
zielgruppengerechten niederschwelligen Beratungsstellen, Therapieplätzen (auch für
gehörlose und geistig behinderte Menschen), Frauenhäusern
-
barrierefreie Information und Kommunikation (z.B. in leichter und Gebärdensprache)
in allgemeinen Familienberatungsstellen
-
Weiterbildung der Fachkräfte in den familienentlastenden Diensten
12
3. Podiumsdiskussion Was tun in Baden-Württemberg?
Aus den folgenden Beiträgen und der Diskussion ergeben sich weitere
Handlungsempfehlungen für das Land.
3.1. Britta Schade, Diplom-Psychologin, ABS - Zentrum selbstbestimmtes Leben
Stuttgart - Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung – vorbeugen, wahrnehmen,
Opfer schützen und begleiten
Ich saß einen ganzen Tag immer wieder an diesem Text. Mir ist vieles durch den Kopf und
noch viel mehr durch mein Herz gegangen: Vor allem die Frage, was kann ich wie sagen,
damit es einen Anstoß gibt zum Handeln, dass es nicht wieder mal „nur“ eine Veranstaltung
ist, bei der Menschen gewesen sind, wieder weg gehen ohne das konkret ein Weg zur
Umsetzung angedacht und eingeschlagen wird. Das Thema ist für uns Menschen mit
Behinderung nicht neu, es gibt Handlungsempfehlungen, Leitlinien und anderes um präventiv
vor verschiedenen Formen der Gewalt zu schützen, sie müssen umgesetzt werden, hier
besonders zu empfehlen die vom Weibernetz e.V. ausgearbeitete Checkliste für
frauenspezifische Aspekte in landesweiten oder kommunalen Aktionsplänen zur Umsetzung
der BRK. Wichtig ist, bei allen diesen Prozessen, die Menschen die es betrifft von Beginn an
mit einzubeziehen, in den Heimen, den Werkstätten, in der Gesellschaft. Und es ist mir
wichtig, dass alle Formen der Gewalt beachtet werden denen die Menschen mit Behinderung
ausgesetzt sind, die sexuelle Gewalt ist für mich eine der Facetten Ich möchte, dass diese
Veranstaltung deutlich macht, dass das Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung in
seinen verschiedenen Facetten und Ausprägungen alle Menschen angeht. Es kein Thema ist,
was Fachleute für uns Menschen mit Behinderung, die sogenannten Opfer, lösen und
angehen, sondern gemeinsam angegangen werden muss. Wir Menschen, die mit Behinderung
leben, sind die Fachmenschen und müssen aus dieser uns zugedachten Opferrolle raus, indem
wir handeln und uns für die Achtung unserer Menschenwürde einsetzen. Es ist für mich auch
eine Frage des Menschenbildes, das wir in unserer Gesellschaft haben, dem Bild das wir von
Menschen mit Behinderung haben im Gegensatz zum sogenannten „Normmenschen“.
Wir Menschen mit Behinderung werden immer noch zunächst als anders, als nicht der Norm
entsprechend, mit Defiziten ausgestatten, oft noch als Neutren ohne Geschlecht und sexuellen
Bedürfnissen wahrgenommen. Was bietet es für Chancen für unsere Gesellschaft, wenn die
Würde aller Menschen gefördert und geachtet wird? Was wäre, wenn alle Menschen sich
fragen würden, wann sie sich in ihrer eigenen Individualität nicht geachtet und ausgegrenzt
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fühlen? Birgt die Abschaffung des Bildes vom Standardmenschen, vom perfekten Menschen
neue, nicht ungeahnte Möglichkeiten für alle Menschen? So möchte ich heute als Frau, die als
sogenanntes Contergan Opfer mit einem besonderen Körper geboren wurde, mit Behinderung
lebt und als Fachfrau einer Beratungsstelle, als Mutter zweier erwachsener Kinder und als
Körpertherapeutin sprechen und wahr genommen werden. Meine Lebensgeschichte ist
geprägt und beeinflusst durch meinen anderen Körper, vieles aus einem Wechselspiel von mir
mit meiner Umwelt. Ich habe die verschiedensten Formen und Ausprägungen der Gewalt am
eigenen Leib und eigener Seele erlebt, wie in der Begegnung und Begleitung anderer
Menschen mit Behinderung. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit den Themen
Körperlichkeit und Sexualität von Menschen die mit Behinderung leben, den Möglichkeiten
menschlicher Vielfalt und den verschiedenen Formen der Gewalt, denen Menschen mit
Behinderung in ihrem Lebensalltag begegnen.
Auch ich – und vermutlich viele andere Menschen mit Behinderung haben lange versucht und
versuchen es immer wieder uns den Normen anzupassen, versuchen so manches mal diese
noch perfekter zu erfüllen Ich konnte mich eigentlich an keinen Normen messen und wollte
das auch nicht wirklich, – weder als Frau, noch als Mutter, noch als Mensch….ich habe es
trotzdem versucht. Ich habe es manchmal auch als „Vorteil“ gesehen – ich konnte nie mit
Frauen um Schönheitsidealen konkurrieren oder mich an Schönheitsidealen messenIch wusste und weiß, dass unsere von Contergan geformten Körper ihre eigene Schönheit
haben. Ich für mich, – habe mich immer richtig gefühlt…! Es ist das Außen, der Kampf um
die gleichberechtigte Teilhabe, das mir immer wieder zeigt, - du bist anders –du bist behindert
….
Ich dagegen – werde behindert durch dieses Außen! Werde behindert in meiner
Lebensentfaltung, in der Möglichkeit meine Ressourcen zu entwickeln und zu entfalten.
Die Blicke von außen, die bauliche Barrieren wie die Barrieren in Köpfen und Herzen zeigten und zeigen mir immer wieder, dass ich anders bin als die Norm – und dieses außer der
Norm sein nicht hier in diese Welt hineinpasst. Ich sehen muss, wie ich mit den Barrieren
mich arrangiere und nicht viel dafür getan wird, dass die abgebaut werden.
Diese Erfahrungen teile ich mit vielen anderen Menschen die mit Behinderung leben.
Die gemeinsame Umsetzung der BRK, von Menschen mit und ohne Behinderung, kann und
muss als Chance und Möglichkeit gesehen werden, unser gesellschaftliches Leben so zu
gestalten, dass die Vielfalt sein kann und gefördert wird. Dies ist die beste Prävention gegen
alle Formen der Gewalt wie gegen Ausgrenzung. Aus meiner eigenen Lebenserfahrung und
aus vielen Beratungen und Begleitungen von Menschen mit Behinderung, weiß ich, dass
14
meist nicht die Behinderung das Leid erzeugt, sondern es vor allem die äußeren Umstände
sind, die das Leben mit Behinderung erschweren. Vor circa 30 Jahren, zu Beginn der 80iger
Jahre, wurde das Thema – meines Wissens nach – das erste Mal von der
Krüppelfrauenbewegung aufgegriffen – es waren damals Frauen, die selbstbewusst zu ihrem
besonderen Körper – der oft außer der Norm war – standen, zu ihrem eigenen Ausdruck von
Weiblichkeit fanden – und mit dem Thema Gewalt an Frauen mit Behinderung an die
Öffentlichkeit gingen. Den Frauen in der Bewegung wurde klar, dass Themen wie
Auseinandersetzung mit dem gängigen Schönheitsideal, verweigerter Mutterschaft oder gar
erzwungener Sterilisation oder Abtreibung, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt im
offiziellen Bewegungsdiskurs – aber auch in der Frauenbewegung – keinen Raum bekamen.
Beim Krüppeltribunal 1981, das seitens der Behindertenbewegung den Abschluss des UNOJahres der Behinderten bildete, machten die Frauen ihre besondere Lebenssituation ebenfalls
zum Thema und zeigten anhand der Bereiche Schönheitsideal, Gynäkologie, Paragraph 218
und Vergewaltigung auf, wie sich hier das Zusammenspiel von weiblichem Geschlecht und
Behinderung zum Nachteil für behinderte Frauen auswirkt. 1985 brachten behinderte Frauen
ein Buch mit dem Titel „Geschlecht: behindert –besonderes Merkmal: Frau“ heraus (Ewinkel
u.a.). Das Buch geht den bereits im Rahmen des Krüppeltribunals angerissenen Themen
vertieft nach und beschäftigt sich zusätzlich noch mit Mutterschaft, Sterilisation,
Sozialisation, Ausbildung und Rehabilitation. In autobiographischen Schilderungen
berichteten Frauen, die mit einem „besonderen“ Körper aufgewachsen waren, wie die
Neutralisierung ihres Geschlechts ihre Sozialisation durchzogen hatte und wie sich die
Nichtanerkennung ihrer Weiblichkeit auch im Absprechen von Sexualität niederschlug.
Ausgestattet mit Körpern, die als „unnormal“, „abweichend“ wenn nicht gar „ekelhaft“
angesehen wurden, waren sie keine potentiellen Sexualpartnerinnen, wurden nicht – wie
nichtbehinderte Frauen – als „Sexual- und Lustobjekt des Mannes“ (Ewinkel u. a. 1985, 60)
gesehen. In Kombination mit der Annahme einer biologischen „Minderwertigkeit“ führte das
Absprechen der Weiblichkeit dazu, dass es für behinderte Frauen schwierig war und oftmals
noch ist, Unterstützung für das Austragen einer Schwangerschaft zu bekommen, unterlagen
sie doch nicht dem allgemeinen „Gebärgebot“, sondern ganz im Gegenteil einem Gebärverbot
(Strahl/Waldschmidt 1983). Behinderte Frauen aus den Krüppelfrauengruppen waren es auch,
die darauf hinwiesen, dass behinderte Mädchen und Frauen in weit höherem Maße von
sexualisierter Gewalt betroffen als andere Personengruppen (Zemp 1996). Dieses „Tabu im
Tabu“ verdeutlicht, dass es oft die (angenommene) Hilflosigkeit in Verbindung mit
struktureller Abhängigkeit ist, die behinderte Frauen zu Opfern werden lässt.
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Die Interessenvertretung behinderter Frauen hat mit ihrer Hartnäckigkeit in den letzten Jahren
immer wieder durchgesetzt, dass Studien zur Lebenssituation behinderter Frauen wie z.B. die
LIVE-Studie von 1999 oder die aktuelle Bielefelder Gewaltstudie durchgeführt und daraus
Forderungen an die Politik formuliert und umgesetzt wurden. Die Ergebnisse der Studien
zeigen in vielfältiger Weise auf, dass das Zusammenspiel der an den Körper gehefteten
Kategorien Behinderung und Geschlecht zu sehr spezifischen Ausgrenzungs- und
Diskriminierungserfahrungen führen kann.
Vielen Frauen – auch mir – wurde damals erst im Austausch mit anderen Frauen bewusst,
welche verschiedenen Formen von Gewalt uns im Alltag begegnen. – von den Barrieren im
öffentlichen Raum über die Erfahrungen mit Krankenhäusern, Ärzten und Therapeuten, das
Leben in Internaten und Sonderschulen bis hin zum ausgrenzenden Umgang in der
Gesellschaft und der Frage, werde ich als Frau, als potentielle Partnerin und Mutter
wahrgenommen.
Mit meinen Kindern im Tragetuch wurde ich oft gefragt, ob das wirklich meine eigenen
Kinder seien oder gar die Frage ob ich eine Puppe spazieren fahre. Mein Partner wurde
manches Mal als mein Pfleger angesprochen. Damals – wie heute ausgelöst u.a. durch die
aktuelle Bielefelder-Studie – war bekannt, dass Menschen mit Behinderung um ein vielfaches
mehr Gewalt in den verschiedensten Facetten erleben bzw. dieser im Alltag ausgesetzt sind.
Ich bin ein so genanntes Contergankind – für mich sind diese Schwarz-Weiß-Bilder – mit
nackten Contergankindern, die Gehapparate oder Armprothesen trugen – ein Ausdruck der
Formen von Gewalt, der viele Kinder mit Behinderung damals und heute ausgesetzt waren
und sind. Dieses Bild beinhaltet für mich vieles – das Zurechtstutzen durch Hilfsmittel – es
wurde versucht, das Defizit auszugleichen, mit Prothesen, mit Operationen und mit Therapien
– der Körper sollte irgendwie an die Norm angeglichen werden. Dabei fühlte ich mich – wie
viele andere auch –perfekt – wir konnten uns wunderbar bewegen – aber, ohne diese
Hilfsmittel. Was dieses Bild auch zum Ausdruck bringt – das zur Schau gestellt werden, das
Begutachtet werden – und dieses ohne die Intimsphäre des Kindes zu achten – es zeigt die
Grenzverletzungen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind.
Später, im Erwachsenenalter, gab es eine Zeit, in der ich die frühen Erfahrungen mit
Klinikaufenthalten, Operationen, Therapien und Ausgrenzungen mit professioneller Hilfe
aufarbeiten wollte – und merkte, wie schwer es ist, eine professionelle Hilfe zu finden, da
meinen Gegenübern das Thema Behinderung fremd war, Unsicherheit auf mich zukam. Auch
dies eine Erfahrung vieler Menschen mit Behinderung – dass Beratungsstellen Barrieren
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jeglicher Art haben. Je weicher ich wurde und werde, je mehr ich meine inneren Verletzungen
wahrgenommen und geheilt habe – desto mehr spüre ich und nehme wahr, wie viele
verschiedene Formen von Gewalt mir und anderen Menschen im Alltag begegnen und es tut
immer wieder weh…
Es sind die Begegnungen mit Menschen auf den Ämtern und in Krankenkassen, die uns
häufig zu Bittstellern machen, die dem Gegenüber keine Achtung zeigen – diese verbale
Gewalt hat in den letzten Jahren zugenommen. In den Einrichtungen der Behindertenhilfe hat
durch den Zeitmangel der Mitarbeiter_innen die Gewalt zugenommen – sei es, dass Menschen
weniger zu Freizeitaktivitäten begleitet werden können wie dass Menschen nicht mehr selbst
bestimmen können, wann sie aufs Klo gehen. Durch den Druck, der auf vielen Menschen in
der heutigen Gesellschaft lastet, nehmen die verschiedenen Formen der Gewalt zu – da gilt es
hinzuschauen, wahrzunehmen und zu ändern. Damals, zu Zeiten der Krüppelfrauenbewegung,
wie heute, immer wenn ich und andere Menschen mit Behinderung spürbar nach außen gehen,
in Gesprächen mit anderen die verschiedenen Facetten der Gewalt und Gewalterfahrungen
aufzeigen, wird bei vielen anderen erst ein Bewusstsein für dieses Thema geschärft, spüren
viele Menschen, wie sehr sie selber diese Formen der Gewalt an sich erleben.
Vieles was ich und andere verdrängt haben – oder nicht als Diskriminierung oder Gewalt
wahrgenommen haben – kam und kommt dann nach außen – und wird wahrgenommen und
gespürt. Wir kommen untereinander wie mit den so genannten normalen Menschen ins
Gespräch. Dieser Prozess wird in den letzten Monaten wieder vermehrt angestoßen – aus
vielen verschiedenen Ecken – ich hoffe und wünsche mir, dass wir miteinander ins Gespräch
kommen, es durch diesen Austausch zur Wahrnehmung der Gewalt in allen seinen Facetten
kommt und wir miteinander Wege finden und gehen werden, dass die Menschenwürde eines
jeden Menschen geachtet und gelebt wird. Ich wünsche mir, dass alle Menschen in ihrer
eigenen vollkommenen Unvollkommenheit wahrgenommen und geachtet werden und sie
selbstbestimmt mit der dazu notwendigen Unterstützung leben können. Die Gebrechlichkeit
als ein Ausdruck des Seins und der Schönheit wahrgenommen wird, die Vielfalt des
menschlichen Seins anerkannt wird Ich wünsche mir, dass Politik gemacht wird, in der
Menschen mit Behinderung mitgestalten und mitbestimmen– im Sinne des „Nichts über uns
ohne uns“. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Vielfalt des menschlichen Seins
geachtet und gefördert wird und mit den dafür notwendigen Ressourcen ausgestattet ist.
Ich wünsche mir einen anderen Blick auf die besonderen Körper, auf die Zerbrechlichkeit.
Unser Leben ist zerbrechlich und ganz, das gilt es anzuerkennen und zu achten.
Ich zitiere Fredi Saal aus seinem Buch “Leben kann man nur sich selber“:
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„ Der Behinderte ist in der Tat alles andere als ein Reißbrettmensch. An ihm lässt sich am
besten ausmachen, was menschliche Individualität bedeutet – die unverwechselbare
Einmaligkeit jedes Einzelnen.“
3.2. Dr. med. Marion Janke, Ärztin und Verhaltenstherapeutin, profamilia Stuttgart
Das sehr persönliche Statement von Frau Schade macht mich wie vielleicht auch andere im
Saal erstmal betroffen und ich frage mich, wie kann ich dazu beitragen, dass aus dieser
Betroffenheit nicht Lähmung sondern Energie wird und wir heute mit guten konkreten Ideen
hier rausgehen.
Ich zähle mich zu den Fachfrauen, nicht für Behinderung, sondern für Beratung rund um die
Themen Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung für Menschen mit und ohne
Behinderung
Sexuelle und reproduktive Rechte sind Menschenrechte, die selbstverständlich allen
Menschen zustehen. Menschen mit Behinderung sind da keine Ausnahme, sie haben keine
„Sondersexualität“, aber sie können ihre Sexualität oft nur unter besonderen Bedingungen
leben.
Das Recht auf uneingeschränkte Teilhabe in allen Bereichen des Lebens ist zwar leicht
ausgesprochen oder auch aufgeschrieben, bei der konkreten Umsetzung aber vor allem wenn
es um Sexualität, Partnerschaft oder Kinderwunsch geht, kommen alle Beteiligten oft an
Grenzen, das gilt für Betreuer, Eltern aber auch für Menschen mit Behinderung selbst.
Als wir vor 15 Jahren anfingen uns mit dem Thema „Sexualität und Behinderungen“ verstärkt
zu beschäftigen, kamen Menschen mit Behinderung nur zur Krisenintervention in die
Beratungsstelle…bei ungewollter Schwangerschaft, sexuell auffälligem Verhalten oder
sexuellen Übergriffen und Gewalt. Sie kamen in der Regel nicht freiwillig sondern sie wurden
gebracht mit dem Auftrag das Problem „wegzumachen“. Damals dachten wir eine
barrierefreie Beratungsstelle – übrigens die einzige in Stuttgart – unsere Professionalität in der
Beratung und ein inklusives Selbstverständnis genügten, um auch Menschen mit Behinderung
dabei zu unterstützen ihre Wünsche und Bedürfnisse und ihre Sexualität selbstbestimmt und
sicher zu leben. Heute wissen wir dazu braucht es mehr ….vor allem Barrierefreiheit auch in
den Köpfen und Herzen und Ressourcen! zeitliche, personelle und finanzielle!
Die Studien und Zahlen zu sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung sind
schockierend und selbstverständlich muss in diesen Fällen gehandelt werden. Notruftelefone,
Frauenbeauftragte, Fachberatungsstellen und vor allem Therapieplätze für Menschen mit
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Behinderung sind zweifellos wichtig und sinnvoll, aber sich nur auf den einen Aspekt der
„sexuelle Gewalt“ zu beschränken, wird der Problematik nicht gerecht…Frau Schade sagte
dies bereits.
Wir halten einen sehr viel umfassenderen Blick auf die Lebenssituationen von Menschen mit
Behinderung im Hinblick z.B. auf Barrierefreiheit, Unabhängigkeit oder soziales Umfeld für
notwendig und versuchen so früh wie möglich im Sinne von Prävention und Sensibilisierung
zu arbeiten.
Aufklärung und Selbstbewusstsein gehören zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen Gewalt,
deshalb setzen wir uns in der Sexualpädagogik dafür ein, Kindern, Jugendlichen aber auch
Erwachsenen Wissen zu vermitteln, ihnen Sicherheit zu geben und sie für ihre Grenzen zu
sensibilisieren. Wir unterstützen sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Frau- oder Mann
sein, bei Fragen zu ihrem Körper, zu Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft sowie auf der
Suche nach ihrer Rollen- und Geschlechtsidentität.
Sexualpädagogik ist aber keine einmalige Veranstaltung, mit der man das Thema „abhaken“
kann. Es bedarf einer kontinuierlichen an den verschiedenen Entwicklungsphasen und
Bedürfnissen orientierten Begleitung.
Wir beraten deshalb auch Eltern und Betreuer, denn sie spielen eine maßgebliche Rolle, wenn
es darum geht Freiräume zu schaffen und Erfahrungen zu ermöglichen z.B. mit dem anderen
Geschlecht , auch das ist ein wichtiger Schutzfaktor. Sexualität muss gelernt werden und dazu
braucht es Unterstützung und Ermutigung.
Auch die Mitarbeiter/Innen von Einrichtungen der Behindertenhilfe, Werkstätten und
Wohneinrichtungen müssen ermutigt und unterstützt werden. Es reicht nicht institutionelle
Barrieren abzubauen oder einem Interventionsleitfaden zu verfassen, sondern es geht darum
eine Haltung zu entwickeln – als Einrichtung, als Team und vor allem als Einzelner sich mit
seinen eigenen Grenzen und den Grenzen in der Betreuung und Pflege auseinanderzusetzen.
Das erfordert sexualpädagogische Konzepte, aber auch Unterstützung und Begleitung bei
ihrer Umsetzung.
Leider verbinden viele Menschen und vor allem Menschen mit Behinderung selbst Sexualität
mit Verboten und Gefahren und haben wenig Wissen darüber.
Wir wünschen uns mehr ressourcenorientiertes Denken, das vom Möglichen ausgeht und
dieses maximal unterstützt. Leider machen wir in den Präventionsveranstaltungen immer
wieder die Erfahrungen, dass Menschen mit Behinderung Sexualität wenn überhaupt in
sexuellen Grenzverletzungen oder gar sexueller Gewalt erleben. Dies ist ihre sexuelle „
19
Normalität“! Sie würden niemals zu einem Nottelefon greifen oder bei einem Betreuer oder
gar einer Beratungsstelle Hilfe suchen.
Zusammenfassend sehen wir für unsere Arbeit folgende Schwerpunkte:
-
Sexuelle Bildung von Anfang an und kontinuierlich
-
Qualifizierung des Unterstützungssystems ( Fach-,Methoden- und Selbstkompetenz)
-
Differenzierte und zielgruppenspezifische Angebote
-
Förderung sozialraumorientierter Netzwerke
-
Partizipation von Menschen mit Behinderung
3.3. Referentin Frau Binder vom Projekt LISA-Leben in Sicherheit für alle:
Das Projekt LISA ist ein Teil des Frauen- und Therapiezentrums Stuttgart e.V. (Fetz) und
Fachberatungsstelle für behinderte und nicht behinderte Frauen, die von sexueller Gewalt
betroffen sind. Drei Jahre lang wurde dieses Projekt erprobt und von Stiftungsgeldern und
Spenden getragen. Nun läuft diese Finanzierung aus.
Eine Studie der Universität Bielefeld2, die über drei Jahre bis 2011 durchgeführt wurde,
ergab, dass Kinder und Frauen mit Behinderung doppelt so häufig Opfer sexueller Übergriffe
sind wie solche ohne Beeinträchtigungen. Hierbei wurde deutlich, dass die Betroffenen oft auf
Hilfe von anderen angewiesen sind und gelegentlich auch in anonymen Institutionen leben.
Das macht es potentiellen Tätern einfacher übergriffig zu werden, vor allem wenn sie aus dem
Umfeld der Opfer kommen.
Das Frauenberatungszentrum Fetz hat daher das Projekt LISA ins Leben gerufen. Mit
Fördergeldern wurde ein 25 % Personalstelle bezahlt, mit der eine Vernetzung und ein
Aufbau von Beratungsstrukturen im Raum Stuttgart angestrebt wurde, u.a. durch die
Gründung eines Facharbeitskreises. Seither hat sich Fetz mit mehreren anderen Beratungsund Therapiestellen in der Stadt abgestimmt und z.B. Sprechstunden für Menschen mit
Behinderung eingeführt. Lisa soll weitergeführt werden, und zwar auch bei Kobra,
Wildwasser und im Kinderschutz-Zentrum3.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Lebenssituation und Belastungen von
Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Qualitative Studie. Endbericht.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Lebenssituation und Belastungen von
Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung.
Endbericht.
3
Weitere Beratungsstellen in Stuttgart
2
20
Im zweiten Projektjahr hat sich LISA noch mehr mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt,
die Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben. Immer häufiger kamen dann auch
Anfragen von Angehörigen von Frauen mit Behinderung.
In der Realität ist die Beratungskapazität von LISA leider sehr knapp ist. Im Bereich Notruf
oder nach einer Vergewaltigung können zwar recht kurzfristig Termine angeboten werden,
sonst beträgt die Wartezeit allerdings drei Monate. In Fällen von sexuellen Übergriffen muss
allerdings schnell geholfen, weswegen die lange Wartezeit für alle Seiten sehr unbefriedigend
ist. Die Bielefelder Studie hat nun ergeben, dass es daher äußerst wichtig ist ein passendes
Beratungsangebot zu finden, was bei Menschen mit Behinderung auf allen Ebenen
barrierefrei sein muss. Nach einem Missbrauchserlebnis brauchen Frauen mit Behinderung
eine besondere Beratung und Betreuung. Vor allem die Kooperation mit
Unterstützungssystemen ist dabei ausschlaggebend: Eine Frau mit eingeschränkter Mobilität
braucht z.B. einen Fahrdienst. Die Anonymität einer Beratung kann an dieser Stelle nicht
mehr gewährleistet werden und auch die mangelnde Mobilität kann ein Problem sein, wenn
bestimmte Kreise nicht darauf eingestellt sind, die Frau aber schnell darauf angewiesen ist.
Blinde Frauen brauchen z.B. eine Begleitperson, die bei Gesprächen oder
Gerichtsverhandlungen mitgeht. Mit geistig behinderten Frauen muss das Gespräch in
einfacher Sprache geführt werden. Das Fetz hat sich darauf eingestellt.
Handlungsempfehlungen:
Grundsätzlich begrüßt das Fetz den Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen. Trotzdem
sollte beachtet werden, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Personalaufstockung
in den Beratungsstellen ist genauso notwendig, um sich den Bedürfnissen anzupassen, wie die
erhöhte Öffentlichkeitsarbeit. Die Erfahrung zeigt, dass gerade das Thema sexuelle Gewalt
über Studien oder Übergriffe in die Öffentlichkeit getragen wird, dann aber wieder in der
Versenkung verschwindet. Es ist also wichtig, konstant darauf aufmerksam zu machen und
vor allem auch Informationsmaterialien in leichter Sprache zu veröffentlichen und verbreiten.
Z.B. können dann auch Selbstbehauptungskurse angeboten werden oder Veranstaltungen zu
den eigenen Rechten, in denen deutlich gemacht werden kann wo Grenzen überschritten
werden und wie und ab wann man sich dagegen wehren kann. Präventive Maßnahmen dürfen
nicht nur in Einrichtungen angeboten werden, sondern auch außerhalb, z.B. durch
verbindliche Angebote in Schulen, die dem Alter und Entwicklungsstand angemessen sind.
Auch Fortbildungen für Fachkräfte sind notwendig, u.a. mit dem Fokus auf Themen wie
grenzwahrende Pflege und Umgang mit sexueller Gewalt. In den Bereichen Medizin und
21
Justiz muss ebenfalls eine Sensibilisierung stattfinden. Wenige Gynäkologen trauen sich zu
mit einem bestimmten Personenkreis die spezifischen Bedürfnisse durchzusprechen und die
Behandlung darauf einzurichten. Bei Psychotherapeuten ist das auch der Fall. Einrichtung
und Wohngemeinschaften sollten angelegt werden, dass sie einen dauerhaften Haushalt
garantieren. Dies ermöglicht, dass ein Täter, auch wenn es ein Bewohner ist, verwiesen
werden kann. Für betroffene Frauen muss es dabei ebenfalls die Möglichkeit und Assistenz
geben ausziehen zu können, Barrierefreiheit sollte hier also auch in Form von persönlicher
Assistenz stattfinden.
4. Ergebnisprotokoll der Diskussionsrunde:
4.1. Thema Therapeutische Hilfe:
Menschen mit eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sind einer gewissen
Hilflosigkeit ausgeliefert, wenn es darum geht rasch Hilfe bzw. eine/-n Therapeuten/-in zu
finden. Wie kann verbessert werden, dass schwer mehrfachbehinderte Menschen besser an
therapeutische Hilfe kommen?
U.a. Frau Binder äußert sich zum Thema Therapeutinnen. Da es sich hierbei um Menschen
mit fachlicher Kompetenz handeln sollte, die sich im Grenzbereich der Psychiatrie bewegen,
wurde das Thema Therapeut_innen bereits auf den Ebenen Sozialamt und kassenärztliche
Vereinigung thematisiert. Vor allem wurde auf die mangelnden Stellen und
Ausbildungsplätze aufmerksam gemacht. Auch übernähmen die Krankenkassen nur
bestimmte Formen der Ausbildung vor allem für Therapien die sowieso schon gut laufen,
wohingegen körperorientierte Therapien meist nicht vorgesehen sind.
4.2. Landesweiter Plan zur Sensibilisierung im Umgang mit eingeschränkten
Menschen/Pädagogik:
Schwierig ist natürlich ebenfalls die Opferrolle, in der man sich als Betroffene/-r befindet.
Das fängt beim Umgang mit Ärzten an und geht hinauf bis zu den Behörden. Man empfindet
eine kontinuierliche Abhängigkeit und kann froh sein, wenn man Unterstützung bekommt.
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Rechte fallen dabei unter den Tisch, daher würde ein landesweiter Plan helfen, um alle
Mitarbeiter_innen im Umgang mit eingeschränkten Menschen zu sensibilisieren und schulen.
Als Beispiel wird an dieser Stelle eine angehende Kinderpädagogin aus Gmünd genannt, die
derzeit das Seminar „Kindeswohlgefährdung“ im Rahmen eines Wahlfaches belegt. Dieses
Seminar würde demnächst nicht mehr im Lehrplan stehen. Wie können solche Inhalte auch
verpflichtend aufgenommen werden, da sich gerade Berufsanfänger schnell den Strukturen
anpassen und es durch Seminare eine Möglichkeit gäbe bereits durch die Ausbildungsgänge
zu sensibilisieren und nicht erst durch Fortbildungen?
4.3. Thema Kommunikationsbarrieren:
Leichte und einfache Sprache sind ein wichtiges Thema und sollte vor allem auf behördlicher
Ebene umgesetzt werden durch einfache Fragestellung, z.B. was ist Sexualität? Es sollte mehr
Frauenhäuser geben, die auch im Umgang mit Menschen mit Behinderungen geschult sind.
Dabei stellt sich natürlich die Frage wie die genaue Finanzierung aussehen kann.
Auch die Arbeit mit PCs sollte ermöglicht werden. In vielen Heimen gäbe es PCs mit
Internetanschluss, die aber meist für Mitarbeiter_innen zugänglich seien. Menschen mit
Behinderungen sollten daher die Möglichkeit bekommen im Umgang mit PCs geschult zu
werden und sie dann auch benutzen dürfen. Dabei sollte Schwerpunkt sein, wie man
Informationen aus dem Internet bekommt und dabei auch anonym bleiben kann.
Meist sind unterschiedlich stark eingeschränkte Personen zu betreuen, was die Pflege
verständlicherweise manchmal schwierig macht. Vor allem Frauen tun sich schwer eine
Beratungsstelle zu suchen, weswegen eine barrierefreie Aufklärung das A und O ist, um
Gewalt besser vorbeugen zu können.
Schon die Gestaltung des Informationsmaterials in leichter Sprache sollte von Anfang an, an
die Bedürfnisse angepasst werden. Da hilft es z.B. Betroffene in der Gestaltung mit
einzubeziehen, sonst kann es sein, dass das Material zwar in leichter Sprache bzw.
Bildmaterial gestaltet ist, aber dennoch nicht verstanden werden kann, weil es nicht
angemessen transportiert wird. Auch muss leichte Sprache sensibilisiert werden. Daher sind
Behindertenbeiräte und Beauftragte wichtig, um die Kommunikation mit den Ministerien zu
garantieren.
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Ein Beispiel aus der Praxis: Hilfe für Gehörlose gibt es z.B. unter www.hilfetelefon.de. Auch
hier muss die Existenz dieser Internetseite weiter in die Öffentlichkeit getragen werden und
der Zugang für alle möglich gemacht werden.
4.4. Thema Videoüberwachung:
Wäre Videoüberwachung eine Möglichkeit, um eine bessere Kontrolle vor Übergriffen zu
haben?
Die Frage der Videoüberwachung als Prävention sei die Begründung eines
Überwachungsstaats. Eine Videoüberwachung setze grundsätzlich nicht an der Wurzel an. Es
ginge darum einen fremdbestimmten Schutz zu organisieren und nicht darum noch mehr
Kontrolle zu bekommen. Die Kontrolle ist schon ziemlich hoch und das sei nicht die Lösung.
Übergriffe können auch außerhalb des Pflegeraums stattfinden, daher sei eine
Videoüberwachung eigentlich nur ein Eingriff in die Menschenrechte der nicht zu
rechtfertigen ist.
4.5. Justizieller Beistand:
Wie geht die Justiz mit Opfern sexueller Gewalt um, gibt es so etwas wie einen Katalog?
Die Frage nach justiziellem Umgang ist ganz wichtig, auch für Frauen ohne Behinderung –
wie wird mit Opfern allgemein umgegangen, das ist für die betroffenen Frauen schwierig,
weil sie dezidiert über das Geschehen sprechen müssen und es um Glaubhaftigkeit geht.
Wie vorhin bereits angesprochen wurde kann es sein, dass Frauen mit Behinderung aus einer
Einrichtungen eine Anzeige erstatten und der Täter ein Mitbewohner ist. In der Praxis heißt
dies, dass die Einrichtung den Vorfall erstmal selbst klären muss und die Anzeigen nicht
aufgenommen werden. Die Sensibilisierung darauf wie wir in der Gesellschaft mit diesem
Thema umgehen spielt also eine große Rolle. Täter werden viel zu wenig zur Rechenschaft
gezogen.
Ergänzend wird aus dem Publikum erwähnt, dass in den Richtlinien für Straf- und
Bußgeldverfahren einige diskriminierende Maßnahmen verändert wurden. Z.B. wurde
herausgenommen, dass ein psychiatrisches Gutachten angefordert werden müsse. Ebenfalls
dürfen Menschen mit Behinderung nun mit Begleitung erscheinen, die als Sprachmittler_in
fungiert. Trotzdem muss in der Praxis weiterhin auf diese Neuerungen hingewiesen werden.
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Frau Dr. Zinsmeister spricht an wie die Bereitschaft der Aufsichtsbehörden aussieht, sich der
Frage der Gewalt zu öffnen? Dr. Zinsmeister habe keinen bundesweiten Überblick, würde
aber häufig für Weiterbildungen in den Behörden, und in Einrichtungen aller Art angefragt.
Es gäbe die Bewegung, dass beide Seiten sich der Frage oder Situation der Menschen mit
Behinderungen annähmen und vor allem in der Jugendhilfe das Thema Gewalt in
Institutionen aufgrund der Präsenz durchweg angekommen sei. Das sei im Bereich der
Aufsichtsführung für Erwachsene anders. Da kämen nicht so häufig Anfragen. Das spiegelt
sich dann in den Vorgaben für die Behörden, die auch drastisch unterbesetzt sind. Es geht
dabei um Beratung und Kooperation, was viele Behörden nicht leisten können.
4.6. Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen:
Im Aktionsplan gegen Gewalt würden Frauen in Einrichtungen nicht vorkommen, was aber
dringend aufgenommen werden müsste, um auch eine entsprechende Prävention anbieten zu
können.
Derzeit wird ein Aktionsplans gegen Gewalt an Frauen erarbeitet. Es gibt 4 Arbeitsgruppen.
Gruppe eins beschäftigt sich mit Interventionen, die zweite mit Hilfesystemen, Frauenhäusern
usw. und mit der Finanzierung. Eine dritte Gruppe beschäftigt sich mit Strukturen und
Weiterentwicklung, vor allem der Zugänglichkeit von Strukturen. Die vierte Gruppe
beschäftigt sich mit Prävention und Öffentlichkeitsarbeit. In allen Gruppen sind Menschen
mit spezifischen Bedürfnissen das Querschnittsthema, also auch Frauen mit Behinderung,
aber auch andere mit spezifischen Bedürfnissen, für die das System zugänglich sein muss.
4.7. Anerkennung eigener Sexualität und strukturelle Gewalt in Einrichtungen:
Wie kann in Einrichtungen Rücksicht darauf genommen werden, dass Menschen mit
Behinderung auch die Möglichkeit haben ihre Sexualität auszuleben, ohne dass sie
unterdrückt wird, bzw. es dadurch zu gewaltsamen Übergriffen kommt, da
Medikamenteneinnahme gegen den Willen der Person ebenfalls als Gewaltakt zählt? Hierbei
zeigt sich das Problem, dass Menschen in Einrichtungen teilweise nicht in der Lage sind ihre
Grenzen und Bedürfnisse zu entdecken. Das führt dazu, dass Grenzverletzungen stattfinden,
weil sie nicht benannt wurden.
Aus dem Publikum kommt der Hinweis, dass in traditionellen Großeinrichtungen Menschen
mit herausforderndem Verhalten therapeutisch häufig mit Medikamenten behandelt werden,
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genauso mit Fixierung und Einschließen. Ebenfalls gibt es die Gewalt die nicht von der
Einrichtung ausgeht sondern von Bewohnern, teilweise nur mit leichter geistiger
Behinderung, die aber gelegentlich aggressiv sind.
Der Vorschlag wird gemacht psychotherapeutische Behandlungen präventiv aufnehmen,
dann könnte die oft sehr teure Medikation reduziert werden. Über die
Psychotherapeutenkammer in Kontakt zu treten wäre dabei eine Möglichkeit wobei auch hier
der Hinweis kommt, dass viele Therapeuten ungern ihre Komfortzone verlassen, aber das
Konzept gut ist, um auch die Krankenkassen zu entlasten.
Die Medikamenteneinnahme könnte ebenfalls reduziert werden, wenn dahinter ein Konzept
steht, z.B. Körpertherapie. Hier ergibt sich die Schwierigkeit, dass die Zuständigkeit bei den
Krankenkassen läge, wo seit Jahren verhandelt wird. Zur Qualitätssicherung gehört allerdings
eine Einrichtung.
5. Resümee:
Auslöser für diese Anhörung war die kleine Anfrage der Kollegin Sabine Wölfle von der
SPD. Wie sich durch sie nun herausgestellt hat, war sie nur ein erster Schritt, da heute noch
so viel mehr Handlungsempfehlungen benannt wurden. An dieser Stelle gilt Frau Zinsmeister
und allen anderen Referentinnen ein besonderer Dank, da sie uns viel Material und
Handlungsempfehlungen in die Hand gegeben haben. Mit den ergänzenden Impulsen aus der
Diskussionsrunde können wir nun alles auf politischer Ebene sammeln und systematisieren
und dadurch Konsequenzen für die institutionelle Ebene ziehen und u.a. die Vernetzung von
Beratungsstellen, der Peer Beratung, der Selbstbestimmung, ein besseres
Beschwerdemanagement etc. voran bringen.
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6. Links:
Wölfle, Sabine und SPD (2012): Mehr Schutz von Frauen mit Behinderung vor sexueller
Gewalt. Drucksachennummer 15/2494.
http://www2.landtag-bw.de/WP15/Drucksachen/2000/15_2494_d.pdf
BMFSFJ (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und
Behinderungen in Deutschland. Kurzfassung.
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituationund-Belastungen-von-Frauen-mit-BehinderungenKurzfassung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
BMFSFJ (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen
und Behinderungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht.
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituationund-Belastungen-von-Frauen-mit-Behinderungen-LangfassungErgebnisse_20der_20quantitativenBefragung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
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