Dokumentation Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen – vorbeugen, wahrnehmen, Opfer schützen und begleiten Anhörung mit Diskussion Dienstag, 26. November 2013, 17.00 bis 19.30 Uhr Landtag von Baden-Württemberg Landtag von Baden-Württemberg Interims-Plenarsaal im Kunstgebäude Schlossplatz 2 70173 Stuttgart Inhaltsverzeichnis: 1. Einleitung 2. Impulsreferat Dr. Julia Zinsmeister Sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderung – Maßnahmen zur Prävention und Umgang 2.1. Fachliche Begleitung und Unterstützung der Studie 2.2. Überblick – Anlage und Studienteile 2.3. Ergebnisse der repräsentativen Haushalts- und Einrichtungsbefragung – Überblick 2.4. Gewalt im Leben der Frauen 2.4.1. Gewalt in Kindheit und Jugend 2.4.2. Gewalt im Erwachsenenleben 2.4.3. Gewalt im Erwachsenenleben – Täter/-innen und Tatkontexte 2.4.4. Bedrohlichkeit, Sicherheitsgefühl und Zusammenhang mit Behinderung 2.4.5. Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen – Zusammenfassung 2.5. Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung 2.5.1. Sozialstruktur und strukturelle Benachteiligung 2.5.2. Diskriminierung und strukturelle Gewalt im Alltag 2.6. Ergebnisse der qualitativen Studie zur Unterstützung gewaltbetroffener Frauen 2.7. Fazit 2.8. Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg: Doppelstrategie 2.8.1. Beispiel: Heimaufsicht 2.8.2. Maßnahmen zum verbesserten Schutz vor familiärer und häuslicher Gewalt 3. Podiumsdiskussion Was tun in Baden-Württemberg? 3.1. Britta Schade vom Zentrum Selbstbestimmtes Leben 3.2. Dr. Janke von profamilia 3.3. Frau Binder von LISA 4. Ergebnisprotokoll der Diskussionsrunde 4.1. Thema Therapeutische Hilfe: 4.2. Landesweiter Plan zur Sensibilisierung im Umgang mit eingeschränkten Menschen/Pädagogik 4.3. Thema Kommunikationsbarrieren 4.4. Thema Videoüberwachung 4.5. Justizieller Beistand 4.6. Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen 4.7. Anerkennung eigener Sexualität und strukturelle Gewalt in Einrichtungen S. 1 S. 2 S. 2 S. 3 S. 3 S. 3 S. 4 S. 5 S. 5 S. 6 S. S. S. S. 6 6 7 9 S. 10 S. 11 S. 11 S. 12 S. 13 S. 18 S. 20 S. 22 S. 22 S. 23 S. 24 S. 24 S. 25 S. 25 5. Resümee und Schlusswort S. 26 6. Anhang: Antrag DS 15/2494 Links zur Studie S. 27 1. Einleitung: Am 26. November 2013 fand im Landtag von Baden-Württemberg eine Anhörung zum Thema Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung statt. Eingeladen haben die Fachpolitiker_innen der Regierungsfraktionen, Frau Sabine Wölfle von der SPD und Herr Thomas Poreski von Bündnis90/Die Grünen. Neben Mitgliedern des Landtags waren ebenfalls Vertreter_innen aus den Ministerien, des Städtetags und vor allem Betroffene anwesend. Hintergrund der Anhörung bildete der Antrag von MdL Sabine Wölfle „Mehr Schutz von Frauen mit Behinderung vor sexueller Gewalt“ Drucksachennummer 15/2494. Die Antwort bot Anlass das Thema aktiv anzugehen, da Menschen mit Behinderung, insbesondere Frauen, um ein Vielfaches mehr von Gewalt bedroht sind, selbst innerhalb von Einrichtungen. Die Anhörung stellte sich nun die Frage wie sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung zum einen wahrgenommen und verhindert werden kann? Zum anderen die Opfer geschützt und begleitet werden können? Vor allem die Expertise von Frau Dr. Zinsmeister und die Impulse, Beiträge und Diskussionen zwischen weiteren Fachleuten und Gästen ergaben viele Handlungsempfehlungen für die grün-rote Regierung, die momentan verhandelt werden. 1 2. Impulsreferat Prof. Dr. Julia Zinsmeister FH Köln - Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag des BMFSFJ Anhörung im Landtag BW 25.11.20131 2.1. Fachliche Begleitung und Unterstützung der Studie durch: Weibernetz e.V.- Hessisches Netzwerk behinderter Frauen - Forum e.V. - Deutscher Gehörlosenbund - Weitere Verbände und Organisationen für Menschen mit Behinderungen Expertinnen im BMFSFJ / Referat 404 - Zahlreiche weitere Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Praxis und Lobbyarbeit Bei der Studie handelt es sich um die weltweit erste Studie, bei der Frauen mit Behinderungen repräsentativ befragt und unterschiedliche Zielgruppen erreicht wurden - sowohl in Haushalten als auch in Einrichtungen - Themen: Lebenssituation, Gewalterfahrungen und Diskriminierungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben - in allgemeiner Sprache und in vereinfachter Sprache - gehörlose Frauen (DGS-Interviews) - Frauen mit und ohne Behindertenausweis - große Anzahl von Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen und Beeinträchtigungen - Gesamtzahl Befragte: über 1.500 Frauen. 1 Die Studie wurde von 2009 – 2011 im Auftrag des BMFSFJ erstellt von: Dr. Monika Schröttle, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld (Projektleitung) Prof. Dr. Claudia Hornberg, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld (Projektleitung) Dr. Sandra Glammeier, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld (Wiss. Mitarbeiterin) Dr. Brigitte Sellach, Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung e.V. (GSF), Frankfurt (Kooperationspartnerin) Prof. Dr. Barbara Kavemann, Sozialwissenschaftliches FrauenForschungsInstitut Freiburg (SOFFI.F, Büro Berlin), Berlin (Kooperationspartnerin) Dr. Henry Puhe/Ute Wagemann, SOKO Institut GmbH Sozialforschung und Kommunikation, Bielefeld (Kooperationspartner) Prof. Dr. Julia Zinsmeister Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Soziales Recht (Kooperationspartnerin) Praktikanten/-innen: Kathrin Vogt, Nadine Vinke, Kristin Koch, Nadja Weirich, Katharina Plehn, Armin Wolf, Olga Elli, Daniel Mecke (Universität Bielefeld) Über 100 Interviewerinnen in verschiedenen Teams 2 2.2. Überblick – Anlage und Studienteile Repräsentativ Haushalte 800 Frauen - - Einrichtungen 420 Frauen davon: 102 psychisch erkrankte oder schwerstkörper-mehrfach behinderte Frauen (in allgemeiner Sprache) 318 Frauen mit Lernschwierigkeiten/sog. geistigen Behinderungen (in vereinfachter Sprache) nicht repräsentativ Zusatzbefragung 341 Frauen in Haushalten davon: 128 blinde/stark sehbehinderte Frauen, 130 schwerst-körperund mehrfach behinderte Frauen 83 gehör-lose/stark hör-behinderte Frauen (in DGS) Qualitative Studie 31 von Gewalt betroffene Frauen in Haushalten und Einrichtungen Befragung zum Hilfe- und Unterstützungsbedarf 2.3. Ergebnisse der repräsentativen Haushalts- und Einrichtungsbefragung – Überblick - Sehr hohe Gewaltbetroffenheit aller Befragungsgruppen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben. - Hohes Ausmaß an (struktureller und personaler) Diskriminierung. - Erhebliche psychische Belastungen (und multiple gesundheitliche Beeinträchtigungen) der Frauen. - Handlungsbedarf: intensivierte Gewaltprävention und Abbau von Diskriminierungen erforderlich. 2.4. Gewalt im Leben der Frauen 2.4.1. Gewalt in Kindheit und Jugend Frauen mit Behinderungen haben deutlich häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt - Wechselseitiger Zusammenhang von Gewalt und Behinderung - Gewalt in Kindheit und Jugend: 3 o teilweise erhöhte Betroffenheit durch elterliche körperliche, vor allem aber psychische Gewalt * psychische Gewalt: ca. 50-60% (vs. 36% bei Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt) * körperliche Gewalt: 74-90% (vs. 81%) o 2- bis 3-fach erhöhte Betroffenheit durch sexuellen Missbrauch in Kindheit/Jugend: jede 3. bis 4. Frau der Haushalts- und Einrichtungsbefragung sexuelle Übergriffe durch Kinder/Jugendliche und Erwachsene erlebt (Zusatzbefragung: jede 2. bis 3. Frau) 2.4.2. Gewalt im Erwachsenenleben Frauen der Studie haben deutlich häufiger sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben erlebt. - Sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben o 2- bis 3-fach erhöhte Betroffenheit durch sexuelle Gewalt im Erwachsenenleben gegenüber Bevölkerungsdurchschnitt o mehr als jede 3. bis 5. Frau der repräsentativen Befragung hat sexuelle Übergriffe im Erwachsenenleben erlebt (Zusatzbefragung: ca. jede 2. bis 3. Frau) o höchste Betroffenheit: psychisch erkrankte Frauen in Einrichtungen (38%) und gehörlose Frauen (43%); (Frauen mit g.B. in Einrichtungen: 21%, häufig keine Angabe) - Sexuelle Gewalt im Lebensverlauf: in Kindheit und/oder Erwachsenenleben o mehr als jede zweite bis dritte Frau der Studie hat sexuelle Gewalt in Kindheit und/oder Erwachsenenleben (am häufigsten: Frauen mit psychischen Erkrankungen und gehörlose Frauen – über 50%; g.B. 34%) Auch körperliche und psychische Gewalt im Erwachsenenleben wurde fast doppelt so häufig erlebt wie von Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. - Körperliche Gewalt im Erwachsenenleben o fast doppelt so häufig wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (58-75% vs. 35%) + schwerere und bedrohlichere Übergriffe - Psychische Gewalt im Erwachsenenleben o ebenfalls deutlich häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt (68-90% vs. 45%) 4 2.4.3. Gewalt im Erwachsenenleben – Täter/-innen und Tatkontexte Täter/-innen überwiegend aus Familie und Partnerschaft, aber auch aus Einrichtungen - Täter/-innen überwiegend aus dem sozialen Nahraum (vor allem Partner und Familienmitglieder); bei Frauen der Zusatzbefragung auch in allen anderen Lebenskontexten - Täter/-innen in Einrichtungen: Personal bei psychischer und Bewohner/-innen, Werkstattkollegen/-innen bei psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt - Gewalt in Einrichtungen: ca. 50% psych. Übergriffe, 12-20% körperliche Gewalt, 26% sexuelle Gewalt und 8-13% sexuelle Belästigung (Dunkelfeld hoch). 2.4.4. Bedrohlichkeit, Sicherheitsgefühl und Zusammenhang mit Behinderung - Subjektiv wahrgenommene Bedrohlichkeit und Gefühl, sich nicht wehren zu können am höchsten ausgeprägt bei Frauen der Zusatzbefragung mit schwerstkörper/mehrfach Behinderungen; stellen deutlich häufiger Zusammenhang von Gewalterfahrung und Behinderung her. - Frauen in Einrichtungen und in Pflegesituationen: mangelndes Sicherheitsgefühl in Bezug auf Alleinsein mit Mitbewohner/-innen und mit Personal (etwa jede 4. bis 5. Frau fühlt sich im Kontakt mit Pflegekräften/Unterstützungspersonen alleine nicht sicher; die Hälfte bis drei Viertel bei Alleinsein mit Bewohner/-innen) - vermindertes Sicherheitsgefühl in Alltagssituationen im öffentlichen Raum, insbesondere bei den körper-/mehrfachbehinderten Frauen sowie bei den Frauen mit psychischen Erkrankungen (häufig Vermeidungsverhalten). 5 2.4.5. Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen – Zusammenfassung - Frauen mit Behinderungen bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt - erleben deutlich häufiger Gewalt in unterschiedlichen Lebensbereichen (nicht nur in Familie/ Partnerschaft) - erhöhte Vulnerabilität und eingeschränkte Wehrhaftigkeit aufgrund der Behinderung, verringertes Sicherheitsgefühl, schränken Freiheit und Bewegungsspielraum ein - unzureichend Schutz und Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die in Einrichtungen leben - hohes Ausmaß an multiplen Gewalterfahrungen im Lebensverlauf (erhöhen psychische/psychosomatische Beeinträchtigungen und Risiko fortgesetzter Gewalt im Lebensverlauf) - verstärkt Maßnahmen zur Unterstützung, Intervention und Prävention erforderlich 2.5. Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung 2.5.1. Sozialstruktur und strukturelle Benachteiligung - Repräsentative Befragungsteile: Benachteiligungen am stärksten bei Frauen, die in Einrichtungen leben. Geringere Ressourcen aufgrund von: o seltener oder fehlender qualifizierter Schul- und Berufsausbildung (ca. die 6 Hälfte bis ¾ keine abgeschlossene Berufsausbildung) o geringem Einkommen aufgrund des Arbeitens in Werkstätten mit (und häufig kein Wissen über eigene Mittel) Sie sind darüber hinaus: o häufiger nicht verheiratet / keine Paarbeziehung o haben häufiger keine Kinder o erleben Einschränkungen des selbstbestimmten Lebens. - Frauen der nicht-repräsentativen Zusatzbefragung ebenfalls von strukturellen Diskriminierungen betroffen o geringe Haushaltseinkommen (insbesondere bei gehörlosen Frauen, trotz erhöhter Erwerbseinbindung) o finanzielle Engpässe / existenzielle Ängste (bei allen drei Gruppen): Einkommensniveau nicht ausreichend, um eigenes Leben und erhöhte Aufwendungen zu bestreiten. 2.5.2. Diskriminierung und strukturelle Gewalt im Alltag - Konkrete Benachteiligungen und Diskriminierungen durch Menschen / Institutionen: o von etwa jeder zweiten bis dritten Frau der repräsentativen Haushalts-/Einrichtungsbefragung genannt (und von ca. 75% der Frauen der Zusatzbefragung) - sich nicht ernst genommen fühlen: o - von etwa 40-60% genannt (Zusatzbefragung: 70-82%) belästigende, bevormundende oder benachteiligende Verhaltensweisen durch Personen im Zusammenhang mit der Behinderung o von jeder dritten Frau genannt (Zusatzbefragung: ca. 65%) Frauen in Einrichtungen gaben besonders häufig Einschränkungen und Diskriminierungen an Etwa jede zweite bis dritte Frau, die in einer Einrichtung lebt: - fühlt sich von Bedingungen und Regeln in ihrer Freiheit eingeschränkt; - wurde angestarrt und ungefragt geduzt - wurde beschimpft - wurde ungefragt oder unangenehm angefasst. - mangelnde Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten - unzureichender Schutz der Privat- und Intimsphäre - mangelnder Schutz vor psychischer, physischer und sexueller Gewalt durch 7 Bewohner/-innen und Personal - fehlende Bildungs- und Ausbildungsressourcen / keine eigenen finanziellen Mittel und keine eigenständige Verfügbarkeit darüber. - Fehlen von engen und vertrauensvollen Beziehungen (kaum Paar- und Familienbeziehungen in Einrichtungen) 8 Diagramm 3: Sexualität und Reproduktion 2.6. Ergebnisse der qualitativen Studie zur Unterstützung gewaltbetroffener Frauen - Unterstützungsangebote für Frauen überwiegend nicht zugänglich, nicht niederschwellig und zielgruppengerecht; - Suche nach Unterstützung durch Abhängigkeiten / Selbstwertprobleme und begrenzte soziale Kontakte erschwert; - Einrichtungen sind keine sicheren Orte, oftmals geschlossene Systeme, Übergriffe bleiben unentdeckt; - insbesondere Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen sind eingeschränkt, selbständig außerhalb der Einrichtung Unterstützung zu suchen; sie erhalten nur selektierte Informationen, ihnen wird oft nicht geglaubt. - Spezifische Barrieren der Hilfesuche bei Behinderungen/Beeinträchtigungen o Abhängigkeit vom Personal (Ähnlichkeit mit Übergriffen im familiären Kontext) o Gewöhnung an das Überschreiten der Intimitätsgrenze und an Übergriffe auf den Körper o Mangelnder Respekt und mangelndes Ernstnehmen, Infrage stellen der Glaubwürdigkeit 9 o Impuls zur Hilfesuche kommt spät - Der Mangel an Selbstwertgefühl, Respekt und Anerkennung fördert das Verschweigen der Gewalt und behindert die Hilfesuche o „Es wird da ein gewisser Druck aufgebaut und auch so ein gewisser Schuldkomplex: ich bin behindert und weil ich behindert bin, bin ich schuld, dass jemand mir helfen muss, und das ist so ein ganz unguter Kreislauf, der auch dazu führt dass Grenzüberschreitungen nicht gemeldet werden, der dazu führt dass Grenzüberschreitungen nicht ans Tageslicht kommen, der dazu führt dass Behinderte sagen: ich muss ja dankbar sein dass überhaupt jemand irgendwas macht für mich und so. Das ist ganz schlecht, ganz schlecht.“ 2.7. Fazit - Verstärkte Aktivitäten, um niedrigschwellige und barrierefreie zielgruppengerechte Schutz- und Unterstützungsangebote bereitzustellen (Frauenbeauftragte in Einrichtungen, interne und externe Unterstützungsangebote, Barrierefreiheit bestehender Angebote + Bereitstellung zusätzlicher spezifischer Angebote) - Konsequenter Schutz und Verhinderung von Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, die in Einrichtungen leben (Standards im Umgang mit Gewalt/ Verdachts-fällen, Fortbildungen für Personal und Leitung; Wahrung von Intim- und Körpergrenzen) - Gewaltprävention muss mit konsequentem Abbau von Diskriminierung und struktureller Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen einhergehen (Stärkung der Rechte auf allen Ebenen, Selbstbestimmung, gemeinsame Aktivitäten) - Maßnahmen, die Selbstvertrauen und Selbstbewusst-sein von Frauen mit Behinderungen stärken. 10 2.8. Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg: Doppelstrategie Vernetzung • • • • • Allgemeine Hilfen • (Frauenhäuser, Beratungsstellen, Kindernotdienst, gesundheitl. Versorgung...)• Finanzielle Sicherung und flächendeckender• Ausbau Abbau von Zugangsbarrieren Angebot von Peercounseling und • aufsuchenden Hilfen Berücksichtigung spezifischer • Abhängigkeitsverhältnisse in Betreuungs-, Pflegeverhältnissen • Weiterqualifizierung psychosozialer Dienste, Verwaltung, Polizei und Justiz • Häusliche/ ambulante Pflege Sonderinstitutionen Abbau/Öffnung von Sondereinrichtungen Umsetzung des Rechts auf Pflegekräfte des eigenen Geschlechts (Wahlrecht!), § 2 Abs.2 S.3 SGB XI, § 33 SGB I Möglichkeit, in geschlechtshomogenen Wohngruppen zu leben. Beschwerdemanagement (intern/extern) und Frauenbeauftragte in Einrichtung Mehr Bildung und Partizipation für Nutzer_innen in Einrichtungen Gezielte Beratung und Kontrolle durch Einrichtungsaufsicht 2.8.1. Beispiel: Heimaufsicht § 6 Landesheim Gesetz (LHeimG) Baden-Württemberg (1) Ein Heim darf nur betrieben werden, wenn der Träger und die Leitung - die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen schützen, - die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortung, die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft der Bewohner wahren und fördern (...), - eine angemessene Qualität der Betreuung der Bewohner, auch soweit sie pflegebedürftig sind, in dem Heim selbst oder in angemessener anderer Weise einschließlich der Pflege nach dem allgemein anerkannten Stand medizinischpflegerischer Erkenntnisse sowie die ärztliche und gesundheitliche Betreuung sichern, (...) Anregung: Konkretisierung von § 6 Abs.1 Ziff.1 und 2 LHeimG: - „geeignete Maßnahmen zur Prävention und Intervention bei Vernachlässigung und Gewalt ergriffen werden“ Anregungen für die einheitlichen Prüfkriterien der Heimaufsicht des Landes BadenWürttemberg - Punkt 2: Prüfung des Qualitäts-/Beschwerdemanagements/Organisation erweitern um o Fragen zu internen/externen Verfahren bei Verdacht auf (sexualisierte) Gewalt 11 o Kenntnisse des Fachpersonals in Bezug auf Gewalt(prävention) o Fortbildungsangebote nicht nur für ehren-und hauptamtliche Mitarbeiter, sondern auch für Bewohner o Fragen nach betreuungsgerichtlicher Genehmigung vorgenommener Sterilisationen bzw. bei einwilligungsfähigen Personen nach dem Zustandekommen der Einwilligung in die Sterilisation. Frage nach Schwangerschaftsabbrüchen. Insgesamt fehlen Fragen nach der Möglichkeit, in der Einrichtung Partnerschaften und Sexualität zu leben und eine Familie zu gründen. (Fragen nach den Besuchsmöglichkeiten reichen hierzu nicht aus). - Punkt 4.10.1018: Geprüft wird bereits, ob Wunsch nach geschlechtsspezifischer Pflege in der Sozialanamnese abgefragt wurde, nicht aber, ob dem Wunsch auch entsprochen wird. - Bewohnervisite Punkt 1321 f.: „Können Sie mitbestimmen, wann und wie häufig Sie gewaschen, geduscht, gebadet werden...“ sollte ergänzt werden, um „von wem Sie...“, ebenso sollte gefragt werden: Können Sie mitbestimmen, wer Sie auf die Toilette begleitet? - Punkt 5. Betreuung/Aktivierung Bildungs- und Informationsangebote (in leichter Sprache) abfragen - usw.! 2.8.2. Maßnahmen zum verbesserten Schutz vor familiärer und häuslicher Gewalt - Art.16 UN-BRK verpflichtet Bund und Länder, auch ambulante Dienste und sonstige Maßnahmen für Menschen mit Behinderung zum Schutz vor Gewalt unter staatliche Aufsicht zu stellen. Hier fehlt es bisher an geeigneten Konzepten. - Nahziel: Sicherung ausreichender Zahl an wohnortnahen barrierefreien, zielgruppengerechten niederschwelligen Beratungsstellen, Therapieplätzen (auch für gehörlose und geistig behinderte Menschen), Frauenhäusern - barrierefreie Information und Kommunikation (z.B. in leichter und Gebärdensprache) in allgemeinen Familienberatungsstellen - Weiterbildung der Fachkräfte in den familienentlastenden Diensten 12 3. Podiumsdiskussion Was tun in Baden-Württemberg? Aus den folgenden Beiträgen und der Diskussion ergeben sich weitere Handlungsempfehlungen für das Land. 3.1. Britta Schade, Diplom-Psychologin, ABS - Zentrum selbstbestimmtes Leben Stuttgart - Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung – vorbeugen, wahrnehmen, Opfer schützen und begleiten Ich saß einen ganzen Tag immer wieder an diesem Text. Mir ist vieles durch den Kopf und noch viel mehr durch mein Herz gegangen: Vor allem die Frage, was kann ich wie sagen, damit es einen Anstoß gibt zum Handeln, dass es nicht wieder mal „nur“ eine Veranstaltung ist, bei der Menschen gewesen sind, wieder weg gehen ohne das konkret ein Weg zur Umsetzung angedacht und eingeschlagen wird. Das Thema ist für uns Menschen mit Behinderung nicht neu, es gibt Handlungsempfehlungen, Leitlinien und anderes um präventiv vor verschiedenen Formen der Gewalt zu schützen, sie müssen umgesetzt werden, hier besonders zu empfehlen die vom Weibernetz e.V. ausgearbeitete Checkliste für frauenspezifische Aspekte in landesweiten oder kommunalen Aktionsplänen zur Umsetzung der BRK. Wichtig ist, bei allen diesen Prozessen, die Menschen die es betrifft von Beginn an mit einzubeziehen, in den Heimen, den Werkstätten, in der Gesellschaft. Und es ist mir wichtig, dass alle Formen der Gewalt beachtet werden denen die Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, die sexuelle Gewalt ist für mich eine der Facetten Ich möchte, dass diese Veranstaltung deutlich macht, dass das Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung in seinen verschiedenen Facetten und Ausprägungen alle Menschen angeht. Es kein Thema ist, was Fachleute für uns Menschen mit Behinderung, die sogenannten Opfer, lösen und angehen, sondern gemeinsam angegangen werden muss. Wir Menschen, die mit Behinderung leben, sind die Fachmenschen und müssen aus dieser uns zugedachten Opferrolle raus, indem wir handeln und uns für die Achtung unserer Menschenwürde einsetzen. Es ist für mich auch eine Frage des Menschenbildes, das wir in unserer Gesellschaft haben, dem Bild das wir von Menschen mit Behinderung haben im Gegensatz zum sogenannten „Normmenschen“. Wir Menschen mit Behinderung werden immer noch zunächst als anders, als nicht der Norm entsprechend, mit Defiziten ausgestatten, oft noch als Neutren ohne Geschlecht und sexuellen Bedürfnissen wahrgenommen. Was bietet es für Chancen für unsere Gesellschaft, wenn die Würde aller Menschen gefördert und geachtet wird? Was wäre, wenn alle Menschen sich fragen würden, wann sie sich in ihrer eigenen Individualität nicht geachtet und ausgegrenzt 13 fühlen? Birgt die Abschaffung des Bildes vom Standardmenschen, vom perfekten Menschen neue, nicht ungeahnte Möglichkeiten für alle Menschen? So möchte ich heute als Frau, die als sogenanntes Contergan Opfer mit einem besonderen Körper geboren wurde, mit Behinderung lebt und als Fachfrau einer Beratungsstelle, als Mutter zweier erwachsener Kinder und als Körpertherapeutin sprechen und wahr genommen werden. Meine Lebensgeschichte ist geprägt und beeinflusst durch meinen anderen Körper, vieles aus einem Wechselspiel von mir mit meiner Umwelt. Ich habe die verschiedensten Formen und Ausprägungen der Gewalt am eigenen Leib und eigener Seele erlebt, wie in der Begegnung und Begleitung anderer Menschen mit Behinderung. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit den Themen Körperlichkeit und Sexualität von Menschen die mit Behinderung leben, den Möglichkeiten menschlicher Vielfalt und den verschiedenen Formen der Gewalt, denen Menschen mit Behinderung in ihrem Lebensalltag begegnen. Auch ich – und vermutlich viele andere Menschen mit Behinderung haben lange versucht und versuchen es immer wieder uns den Normen anzupassen, versuchen so manches mal diese noch perfekter zu erfüllen Ich konnte mich eigentlich an keinen Normen messen und wollte das auch nicht wirklich, – weder als Frau, noch als Mutter, noch als Mensch….ich habe es trotzdem versucht. Ich habe es manchmal auch als „Vorteil“ gesehen – ich konnte nie mit Frauen um Schönheitsidealen konkurrieren oder mich an Schönheitsidealen messenIch wusste und weiß, dass unsere von Contergan geformten Körper ihre eigene Schönheit haben. Ich für mich, – habe mich immer richtig gefühlt…! Es ist das Außen, der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe, das mir immer wieder zeigt, - du bist anders –du bist behindert …. Ich dagegen – werde behindert durch dieses Außen! Werde behindert in meiner Lebensentfaltung, in der Möglichkeit meine Ressourcen zu entwickeln und zu entfalten. Die Blicke von außen, die bauliche Barrieren wie die Barrieren in Köpfen und Herzen zeigten und zeigen mir immer wieder, dass ich anders bin als die Norm – und dieses außer der Norm sein nicht hier in diese Welt hineinpasst. Ich sehen muss, wie ich mit den Barrieren mich arrangiere und nicht viel dafür getan wird, dass die abgebaut werden. Diese Erfahrungen teile ich mit vielen anderen Menschen die mit Behinderung leben. Die gemeinsame Umsetzung der BRK, von Menschen mit und ohne Behinderung, kann und muss als Chance und Möglichkeit gesehen werden, unser gesellschaftliches Leben so zu gestalten, dass die Vielfalt sein kann und gefördert wird. Dies ist die beste Prävention gegen alle Formen der Gewalt wie gegen Ausgrenzung. Aus meiner eigenen Lebenserfahrung und aus vielen Beratungen und Begleitungen von Menschen mit Behinderung, weiß ich, dass 14 meist nicht die Behinderung das Leid erzeugt, sondern es vor allem die äußeren Umstände sind, die das Leben mit Behinderung erschweren. Vor circa 30 Jahren, zu Beginn der 80iger Jahre, wurde das Thema – meines Wissens nach – das erste Mal von der Krüppelfrauenbewegung aufgegriffen – es waren damals Frauen, die selbstbewusst zu ihrem besonderen Körper – der oft außer der Norm war – standen, zu ihrem eigenen Ausdruck von Weiblichkeit fanden – und mit dem Thema Gewalt an Frauen mit Behinderung an die Öffentlichkeit gingen. Den Frauen in der Bewegung wurde klar, dass Themen wie Auseinandersetzung mit dem gängigen Schönheitsideal, verweigerter Mutterschaft oder gar erzwungener Sterilisation oder Abtreibung, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt im offiziellen Bewegungsdiskurs – aber auch in der Frauenbewegung – keinen Raum bekamen. Beim Krüppeltribunal 1981, das seitens der Behindertenbewegung den Abschluss des UNOJahres der Behinderten bildete, machten die Frauen ihre besondere Lebenssituation ebenfalls zum Thema und zeigten anhand der Bereiche Schönheitsideal, Gynäkologie, Paragraph 218 und Vergewaltigung auf, wie sich hier das Zusammenspiel von weiblichem Geschlecht und Behinderung zum Nachteil für behinderte Frauen auswirkt. 1985 brachten behinderte Frauen ein Buch mit dem Titel „Geschlecht: behindert –besonderes Merkmal: Frau“ heraus (Ewinkel u.a.). Das Buch geht den bereits im Rahmen des Krüppeltribunals angerissenen Themen vertieft nach und beschäftigt sich zusätzlich noch mit Mutterschaft, Sterilisation, Sozialisation, Ausbildung und Rehabilitation. In autobiographischen Schilderungen berichteten Frauen, die mit einem „besonderen“ Körper aufgewachsen waren, wie die Neutralisierung ihres Geschlechts ihre Sozialisation durchzogen hatte und wie sich die Nichtanerkennung ihrer Weiblichkeit auch im Absprechen von Sexualität niederschlug. Ausgestattet mit Körpern, die als „unnormal“, „abweichend“ wenn nicht gar „ekelhaft“ angesehen wurden, waren sie keine potentiellen Sexualpartnerinnen, wurden nicht – wie nichtbehinderte Frauen – als „Sexual- und Lustobjekt des Mannes“ (Ewinkel u. a. 1985, 60) gesehen. In Kombination mit der Annahme einer biologischen „Minderwertigkeit“ führte das Absprechen der Weiblichkeit dazu, dass es für behinderte Frauen schwierig war und oftmals noch ist, Unterstützung für das Austragen einer Schwangerschaft zu bekommen, unterlagen sie doch nicht dem allgemeinen „Gebärgebot“, sondern ganz im Gegenteil einem Gebärverbot (Strahl/Waldschmidt 1983). Behinderte Frauen aus den Krüppelfrauengruppen waren es auch, die darauf hinwiesen, dass behinderte Mädchen und Frauen in weit höherem Maße von sexualisierter Gewalt betroffen als andere Personengruppen (Zemp 1996). Dieses „Tabu im Tabu“ verdeutlicht, dass es oft die (angenommene) Hilflosigkeit in Verbindung mit struktureller Abhängigkeit ist, die behinderte Frauen zu Opfern werden lässt. 15 Die Interessenvertretung behinderter Frauen hat mit ihrer Hartnäckigkeit in den letzten Jahren immer wieder durchgesetzt, dass Studien zur Lebenssituation behinderter Frauen wie z.B. die LIVE-Studie von 1999 oder die aktuelle Bielefelder Gewaltstudie durchgeführt und daraus Forderungen an die Politik formuliert und umgesetzt wurden. Die Ergebnisse der Studien zeigen in vielfältiger Weise auf, dass das Zusammenspiel der an den Körper gehefteten Kategorien Behinderung und Geschlecht zu sehr spezifischen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führen kann. Vielen Frauen – auch mir – wurde damals erst im Austausch mit anderen Frauen bewusst, welche verschiedenen Formen von Gewalt uns im Alltag begegnen. – von den Barrieren im öffentlichen Raum über die Erfahrungen mit Krankenhäusern, Ärzten und Therapeuten, das Leben in Internaten und Sonderschulen bis hin zum ausgrenzenden Umgang in der Gesellschaft und der Frage, werde ich als Frau, als potentielle Partnerin und Mutter wahrgenommen. Mit meinen Kindern im Tragetuch wurde ich oft gefragt, ob das wirklich meine eigenen Kinder seien oder gar die Frage ob ich eine Puppe spazieren fahre. Mein Partner wurde manches Mal als mein Pfleger angesprochen. Damals – wie heute ausgelöst u.a. durch die aktuelle Bielefelder-Studie – war bekannt, dass Menschen mit Behinderung um ein vielfaches mehr Gewalt in den verschiedensten Facetten erleben bzw. dieser im Alltag ausgesetzt sind. Ich bin ein so genanntes Contergankind – für mich sind diese Schwarz-Weiß-Bilder – mit nackten Contergankindern, die Gehapparate oder Armprothesen trugen – ein Ausdruck der Formen von Gewalt, der viele Kinder mit Behinderung damals und heute ausgesetzt waren und sind. Dieses Bild beinhaltet für mich vieles – das Zurechtstutzen durch Hilfsmittel – es wurde versucht, das Defizit auszugleichen, mit Prothesen, mit Operationen und mit Therapien – der Körper sollte irgendwie an die Norm angeglichen werden. Dabei fühlte ich mich – wie viele andere auch –perfekt – wir konnten uns wunderbar bewegen – aber, ohne diese Hilfsmittel. Was dieses Bild auch zum Ausdruck bringt – das zur Schau gestellt werden, das Begutachtet werden – und dieses ohne die Intimsphäre des Kindes zu achten – es zeigt die Grenzverletzungen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind. Später, im Erwachsenenalter, gab es eine Zeit, in der ich die frühen Erfahrungen mit Klinikaufenthalten, Operationen, Therapien und Ausgrenzungen mit professioneller Hilfe aufarbeiten wollte – und merkte, wie schwer es ist, eine professionelle Hilfe zu finden, da meinen Gegenübern das Thema Behinderung fremd war, Unsicherheit auf mich zukam. Auch dies eine Erfahrung vieler Menschen mit Behinderung – dass Beratungsstellen Barrieren 16 jeglicher Art haben. Je weicher ich wurde und werde, je mehr ich meine inneren Verletzungen wahrgenommen und geheilt habe – desto mehr spüre ich und nehme wahr, wie viele verschiedene Formen von Gewalt mir und anderen Menschen im Alltag begegnen und es tut immer wieder weh… Es sind die Begegnungen mit Menschen auf den Ämtern und in Krankenkassen, die uns häufig zu Bittstellern machen, die dem Gegenüber keine Achtung zeigen – diese verbale Gewalt hat in den letzten Jahren zugenommen. In den Einrichtungen der Behindertenhilfe hat durch den Zeitmangel der Mitarbeiter_innen die Gewalt zugenommen – sei es, dass Menschen weniger zu Freizeitaktivitäten begleitet werden können wie dass Menschen nicht mehr selbst bestimmen können, wann sie aufs Klo gehen. Durch den Druck, der auf vielen Menschen in der heutigen Gesellschaft lastet, nehmen die verschiedenen Formen der Gewalt zu – da gilt es hinzuschauen, wahrzunehmen und zu ändern. Damals, zu Zeiten der Krüppelfrauenbewegung, wie heute, immer wenn ich und andere Menschen mit Behinderung spürbar nach außen gehen, in Gesprächen mit anderen die verschiedenen Facetten der Gewalt und Gewalterfahrungen aufzeigen, wird bei vielen anderen erst ein Bewusstsein für dieses Thema geschärft, spüren viele Menschen, wie sehr sie selber diese Formen der Gewalt an sich erleben. Vieles was ich und andere verdrängt haben – oder nicht als Diskriminierung oder Gewalt wahrgenommen haben – kam und kommt dann nach außen – und wird wahrgenommen und gespürt. Wir kommen untereinander wie mit den so genannten normalen Menschen ins Gespräch. Dieser Prozess wird in den letzten Monaten wieder vermehrt angestoßen – aus vielen verschiedenen Ecken – ich hoffe und wünsche mir, dass wir miteinander ins Gespräch kommen, es durch diesen Austausch zur Wahrnehmung der Gewalt in allen seinen Facetten kommt und wir miteinander Wege finden und gehen werden, dass die Menschenwürde eines jeden Menschen geachtet und gelebt wird. Ich wünsche mir, dass alle Menschen in ihrer eigenen vollkommenen Unvollkommenheit wahrgenommen und geachtet werden und sie selbstbestimmt mit der dazu notwendigen Unterstützung leben können. Die Gebrechlichkeit als ein Ausdruck des Seins und der Schönheit wahrgenommen wird, die Vielfalt des menschlichen Seins anerkannt wird Ich wünsche mir, dass Politik gemacht wird, in der Menschen mit Behinderung mitgestalten und mitbestimmen– im Sinne des „Nichts über uns ohne uns“. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Vielfalt des menschlichen Seins geachtet und gefördert wird und mit den dafür notwendigen Ressourcen ausgestattet ist. Ich wünsche mir einen anderen Blick auf die besonderen Körper, auf die Zerbrechlichkeit. Unser Leben ist zerbrechlich und ganz, das gilt es anzuerkennen und zu achten. Ich zitiere Fredi Saal aus seinem Buch “Leben kann man nur sich selber“: 17 „ Der Behinderte ist in der Tat alles andere als ein Reißbrettmensch. An ihm lässt sich am besten ausmachen, was menschliche Individualität bedeutet – die unverwechselbare Einmaligkeit jedes Einzelnen.“ 3.2. Dr. med. Marion Janke, Ärztin und Verhaltenstherapeutin, profamilia Stuttgart Das sehr persönliche Statement von Frau Schade macht mich wie vielleicht auch andere im Saal erstmal betroffen und ich frage mich, wie kann ich dazu beitragen, dass aus dieser Betroffenheit nicht Lähmung sondern Energie wird und wir heute mit guten konkreten Ideen hier rausgehen. Ich zähle mich zu den Fachfrauen, nicht für Behinderung, sondern für Beratung rund um die Themen Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung für Menschen mit und ohne Behinderung Sexuelle und reproduktive Rechte sind Menschenrechte, die selbstverständlich allen Menschen zustehen. Menschen mit Behinderung sind da keine Ausnahme, sie haben keine „Sondersexualität“, aber sie können ihre Sexualität oft nur unter besonderen Bedingungen leben. Das Recht auf uneingeschränkte Teilhabe in allen Bereichen des Lebens ist zwar leicht ausgesprochen oder auch aufgeschrieben, bei der konkreten Umsetzung aber vor allem wenn es um Sexualität, Partnerschaft oder Kinderwunsch geht, kommen alle Beteiligten oft an Grenzen, das gilt für Betreuer, Eltern aber auch für Menschen mit Behinderung selbst. Als wir vor 15 Jahren anfingen uns mit dem Thema „Sexualität und Behinderungen“ verstärkt zu beschäftigen, kamen Menschen mit Behinderung nur zur Krisenintervention in die Beratungsstelle…bei ungewollter Schwangerschaft, sexuell auffälligem Verhalten oder sexuellen Übergriffen und Gewalt. Sie kamen in der Regel nicht freiwillig sondern sie wurden gebracht mit dem Auftrag das Problem „wegzumachen“. Damals dachten wir eine barrierefreie Beratungsstelle – übrigens die einzige in Stuttgart – unsere Professionalität in der Beratung und ein inklusives Selbstverständnis genügten, um auch Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen ihre Wünsche und Bedürfnisse und ihre Sexualität selbstbestimmt und sicher zu leben. Heute wissen wir dazu braucht es mehr ….vor allem Barrierefreiheit auch in den Köpfen und Herzen und Ressourcen! zeitliche, personelle und finanzielle! Die Studien und Zahlen zu sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung sind schockierend und selbstverständlich muss in diesen Fällen gehandelt werden. Notruftelefone, Frauenbeauftragte, Fachberatungsstellen und vor allem Therapieplätze für Menschen mit 18 Behinderung sind zweifellos wichtig und sinnvoll, aber sich nur auf den einen Aspekt der „sexuelle Gewalt“ zu beschränken, wird der Problematik nicht gerecht…Frau Schade sagte dies bereits. Wir halten einen sehr viel umfassenderen Blick auf die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung im Hinblick z.B. auf Barrierefreiheit, Unabhängigkeit oder soziales Umfeld für notwendig und versuchen so früh wie möglich im Sinne von Prävention und Sensibilisierung zu arbeiten. Aufklärung und Selbstbewusstsein gehören zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen Gewalt, deshalb setzen wir uns in der Sexualpädagogik dafür ein, Kindern, Jugendlichen aber auch Erwachsenen Wissen zu vermitteln, ihnen Sicherheit zu geben und sie für ihre Grenzen zu sensibilisieren. Wir unterstützen sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Frau- oder Mann sein, bei Fragen zu ihrem Körper, zu Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft sowie auf der Suche nach ihrer Rollen- und Geschlechtsidentität. Sexualpädagogik ist aber keine einmalige Veranstaltung, mit der man das Thema „abhaken“ kann. Es bedarf einer kontinuierlichen an den verschiedenen Entwicklungsphasen und Bedürfnissen orientierten Begleitung. Wir beraten deshalb auch Eltern und Betreuer, denn sie spielen eine maßgebliche Rolle, wenn es darum geht Freiräume zu schaffen und Erfahrungen zu ermöglichen z.B. mit dem anderen Geschlecht , auch das ist ein wichtiger Schutzfaktor. Sexualität muss gelernt werden und dazu braucht es Unterstützung und Ermutigung. Auch die Mitarbeiter/Innen von Einrichtungen der Behindertenhilfe, Werkstätten und Wohneinrichtungen müssen ermutigt und unterstützt werden. Es reicht nicht institutionelle Barrieren abzubauen oder einem Interventionsleitfaden zu verfassen, sondern es geht darum eine Haltung zu entwickeln – als Einrichtung, als Team und vor allem als Einzelner sich mit seinen eigenen Grenzen und den Grenzen in der Betreuung und Pflege auseinanderzusetzen. Das erfordert sexualpädagogische Konzepte, aber auch Unterstützung und Begleitung bei ihrer Umsetzung. Leider verbinden viele Menschen und vor allem Menschen mit Behinderung selbst Sexualität mit Verboten und Gefahren und haben wenig Wissen darüber. Wir wünschen uns mehr ressourcenorientiertes Denken, das vom Möglichen ausgeht und dieses maximal unterstützt. Leider machen wir in den Präventionsveranstaltungen immer wieder die Erfahrungen, dass Menschen mit Behinderung Sexualität wenn überhaupt in sexuellen Grenzverletzungen oder gar sexueller Gewalt erleben. Dies ist ihre sexuelle „ 19 Normalität“! Sie würden niemals zu einem Nottelefon greifen oder bei einem Betreuer oder gar einer Beratungsstelle Hilfe suchen. Zusammenfassend sehen wir für unsere Arbeit folgende Schwerpunkte: - Sexuelle Bildung von Anfang an und kontinuierlich - Qualifizierung des Unterstützungssystems ( Fach-,Methoden- und Selbstkompetenz) - Differenzierte und zielgruppenspezifische Angebote - Förderung sozialraumorientierter Netzwerke - Partizipation von Menschen mit Behinderung 3.3. Referentin Frau Binder vom Projekt LISA-Leben in Sicherheit für alle: Das Projekt LISA ist ein Teil des Frauen- und Therapiezentrums Stuttgart e.V. (Fetz) und Fachberatungsstelle für behinderte und nicht behinderte Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Drei Jahre lang wurde dieses Projekt erprobt und von Stiftungsgeldern und Spenden getragen. Nun läuft diese Finanzierung aus. Eine Studie der Universität Bielefeld2, die über drei Jahre bis 2011 durchgeführt wurde, ergab, dass Kinder und Frauen mit Behinderung doppelt so häufig Opfer sexueller Übergriffe sind wie solche ohne Beeinträchtigungen. Hierbei wurde deutlich, dass die Betroffenen oft auf Hilfe von anderen angewiesen sind und gelegentlich auch in anonymen Institutionen leben. Das macht es potentiellen Tätern einfacher übergriffig zu werden, vor allem wenn sie aus dem Umfeld der Opfer kommen. Das Frauenberatungszentrum Fetz hat daher das Projekt LISA ins Leben gerufen. Mit Fördergeldern wurde ein 25 % Personalstelle bezahlt, mit der eine Vernetzung und ein Aufbau von Beratungsstrukturen im Raum Stuttgart angestrebt wurde, u.a. durch die Gründung eines Facharbeitskreises. Seither hat sich Fetz mit mehreren anderen Beratungsund Therapiestellen in der Stadt abgestimmt und z.B. Sprechstunden für Menschen mit Behinderung eingeführt. Lisa soll weitergeführt werden, und zwar auch bei Kobra, Wildwasser und im Kinderschutz-Zentrum3. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Qualitative Studie. Endbericht. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht. 3 Weitere Beratungsstellen in Stuttgart 2 20 Im zweiten Projektjahr hat sich LISA noch mehr mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, die Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben. Immer häufiger kamen dann auch Anfragen von Angehörigen von Frauen mit Behinderung. In der Realität ist die Beratungskapazität von LISA leider sehr knapp ist. Im Bereich Notruf oder nach einer Vergewaltigung können zwar recht kurzfristig Termine angeboten werden, sonst beträgt die Wartezeit allerdings drei Monate. In Fällen von sexuellen Übergriffen muss allerdings schnell geholfen, weswegen die lange Wartezeit für alle Seiten sehr unbefriedigend ist. Die Bielefelder Studie hat nun ergeben, dass es daher äußerst wichtig ist ein passendes Beratungsangebot zu finden, was bei Menschen mit Behinderung auf allen Ebenen barrierefrei sein muss. Nach einem Missbrauchserlebnis brauchen Frauen mit Behinderung eine besondere Beratung und Betreuung. Vor allem die Kooperation mit Unterstützungssystemen ist dabei ausschlaggebend: Eine Frau mit eingeschränkter Mobilität braucht z.B. einen Fahrdienst. Die Anonymität einer Beratung kann an dieser Stelle nicht mehr gewährleistet werden und auch die mangelnde Mobilität kann ein Problem sein, wenn bestimmte Kreise nicht darauf eingestellt sind, die Frau aber schnell darauf angewiesen ist. Blinde Frauen brauchen z.B. eine Begleitperson, die bei Gesprächen oder Gerichtsverhandlungen mitgeht. Mit geistig behinderten Frauen muss das Gespräch in einfacher Sprache geführt werden. Das Fetz hat sich darauf eingestellt. Handlungsempfehlungen: Grundsätzlich begrüßt das Fetz den Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen. Trotzdem sollte beachtet werden, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben ist. Personalaufstockung in den Beratungsstellen ist genauso notwendig, um sich den Bedürfnissen anzupassen, wie die erhöhte Öffentlichkeitsarbeit. Die Erfahrung zeigt, dass gerade das Thema sexuelle Gewalt über Studien oder Übergriffe in die Öffentlichkeit getragen wird, dann aber wieder in der Versenkung verschwindet. Es ist also wichtig, konstant darauf aufmerksam zu machen und vor allem auch Informationsmaterialien in leichter Sprache zu veröffentlichen und verbreiten. Z.B. können dann auch Selbstbehauptungskurse angeboten werden oder Veranstaltungen zu den eigenen Rechten, in denen deutlich gemacht werden kann wo Grenzen überschritten werden und wie und ab wann man sich dagegen wehren kann. Präventive Maßnahmen dürfen nicht nur in Einrichtungen angeboten werden, sondern auch außerhalb, z.B. durch verbindliche Angebote in Schulen, die dem Alter und Entwicklungsstand angemessen sind. Auch Fortbildungen für Fachkräfte sind notwendig, u.a. mit dem Fokus auf Themen wie grenzwahrende Pflege und Umgang mit sexueller Gewalt. In den Bereichen Medizin und 21 Justiz muss ebenfalls eine Sensibilisierung stattfinden. Wenige Gynäkologen trauen sich zu mit einem bestimmten Personenkreis die spezifischen Bedürfnisse durchzusprechen und die Behandlung darauf einzurichten. Bei Psychotherapeuten ist das auch der Fall. Einrichtung und Wohngemeinschaften sollten angelegt werden, dass sie einen dauerhaften Haushalt garantieren. Dies ermöglicht, dass ein Täter, auch wenn es ein Bewohner ist, verwiesen werden kann. Für betroffene Frauen muss es dabei ebenfalls die Möglichkeit und Assistenz geben ausziehen zu können, Barrierefreiheit sollte hier also auch in Form von persönlicher Assistenz stattfinden. 4. Ergebnisprotokoll der Diskussionsrunde: 4.1. Thema Therapeutische Hilfe: Menschen mit eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sind einer gewissen Hilflosigkeit ausgeliefert, wenn es darum geht rasch Hilfe bzw. eine/-n Therapeuten/-in zu finden. Wie kann verbessert werden, dass schwer mehrfachbehinderte Menschen besser an therapeutische Hilfe kommen? U.a. Frau Binder äußert sich zum Thema Therapeutinnen. Da es sich hierbei um Menschen mit fachlicher Kompetenz handeln sollte, die sich im Grenzbereich der Psychiatrie bewegen, wurde das Thema Therapeut_innen bereits auf den Ebenen Sozialamt und kassenärztliche Vereinigung thematisiert. Vor allem wurde auf die mangelnden Stellen und Ausbildungsplätze aufmerksam gemacht. Auch übernähmen die Krankenkassen nur bestimmte Formen der Ausbildung vor allem für Therapien die sowieso schon gut laufen, wohingegen körperorientierte Therapien meist nicht vorgesehen sind. 4.2. Landesweiter Plan zur Sensibilisierung im Umgang mit eingeschränkten Menschen/Pädagogik: Schwierig ist natürlich ebenfalls die Opferrolle, in der man sich als Betroffene/-r befindet. Das fängt beim Umgang mit Ärzten an und geht hinauf bis zu den Behörden. Man empfindet eine kontinuierliche Abhängigkeit und kann froh sein, wenn man Unterstützung bekommt. 22 Rechte fallen dabei unter den Tisch, daher würde ein landesweiter Plan helfen, um alle Mitarbeiter_innen im Umgang mit eingeschränkten Menschen zu sensibilisieren und schulen. Als Beispiel wird an dieser Stelle eine angehende Kinderpädagogin aus Gmünd genannt, die derzeit das Seminar „Kindeswohlgefährdung“ im Rahmen eines Wahlfaches belegt. Dieses Seminar würde demnächst nicht mehr im Lehrplan stehen. Wie können solche Inhalte auch verpflichtend aufgenommen werden, da sich gerade Berufsanfänger schnell den Strukturen anpassen und es durch Seminare eine Möglichkeit gäbe bereits durch die Ausbildungsgänge zu sensibilisieren und nicht erst durch Fortbildungen? 4.3. Thema Kommunikationsbarrieren: Leichte und einfache Sprache sind ein wichtiges Thema und sollte vor allem auf behördlicher Ebene umgesetzt werden durch einfache Fragestellung, z.B. was ist Sexualität? Es sollte mehr Frauenhäuser geben, die auch im Umgang mit Menschen mit Behinderungen geschult sind. Dabei stellt sich natürlich die Frage wie die genaue Finanzierung aussehen kann. Auch die Arbeit mit PCs sollte ermöglicht werden. In vielen Heimen gäbe es PCs mit Internetanschluss, die aber meist für Mitarbeiter_innen zugänglich seien. Menschen mit Behinderungen sollten daher die Möglichkeit bekommen im Umgang mit PCs geschult zu werden und sie dann auch benutzen dürfen. Dabei sollte Schwerpunkt sein, wie man Informationen aus dem Internet bekommt und dabei auch anonym bleiben kann. Meist sind unterschiedlich stark eingeschränkte Personen zu betreuen, was die Pflege verständlicherweise manchmal schwierig macht. Vor allem Frauen tun sich schwer eine Beratungsstelle zu suchen, weswegen eine barrierefreie Aufklärung das A und O ist, um Gewalt besser vorbeugen zu können. Schon die Gestaltung des Informationsmaterials in leichter Sprache sollte von Anfang an, an die Bedürfnisse angepasst werden. Da hilft es z.B. Betroffene in der Gestaltung mit einzubeziehen, sonst kann es sein, dass das Material zwar in leichter Sprache bzw. Bildmaterial gestaltet ist, aber dennoch nicht verstanden werden kann, weil es nicht angemessen transportiert wird. Auch muss leichte Sprache sensibilisiert werden. Daher sind Behindertenbeiräte und Beauftragte wichtig, um die Kommunikation mit den Ministerien zu garantieren. 23 Ein Beispiel aus der Praxis: Hilfe für Gehörlose gibt es z.B. unter www.hilfetelefon.de. Auch hier muss die Existenz dieser Internetseite weiter in die Öffentlichkeit getragen werden und der Zugang für alle möglich gemacht werden. 4.4. Thema Videoüberwachung: Wäre Videoüberwachung eine Möglichkeit, um eine bessere Kontrolle vor Übergriffen zu haben? Die Frage der Videoüberwachung als Prävention sei die Begründung eines Überwachungsstaats. Eine Videoüberwachung setze grundsätzlich nicht an der Wurzel an. Es ginge darum einen fremdbestimmten Schutz zu organisieren und nicht darum noch mehr Kontrolle zu bekommen. Die Kontrolle ist schon ziemlich hoch und das sei nicht die Lösung. Übergriffe können auch außerhalb des Pflegeraums stattfinden, daher sei eine Videoüberwachung eigentlich nur ein Eingriff in die Menschenrechte der nicht zu rechtfertigen ist. 4.5. Justizieller Beistand: Wie geht die Justiz mit Opfern sexueller Gewalt um, gibt es so etwas wie einen Katalog? Die Frage nach justiziellem Umgang ist ganz wichtig, auch für Frauen ohne Behinderung – wie wird mit Opfern allgemein umgegangen, das ist für die betroffenen Frauen schwierig, weil sie dezidiert über das Geschehen sprechen müssen und es um Glaubhaftigkeit geht. Wie vorhin bereits angesprochen wurde kann es sein, dass Frauen mit Behinderung aus einer Einrichtungen eine Anzeige erstatten und der Täter ein Mitbewohner ist. In der Praxis heißt dies, dass die Einrichtung den Vorfall erstmal selbst klären muss und die Anzeigen nicht aufgenommen werden. Die Sensibilisierung darauf wie wir in der Gesellschaft mit diesem Thema umgehen spielt also eine große Rolle. Täter werden viel zu wenig zur Rechenschaft gezogen. Ergänzend wird aus dem Publikum erwähnt, dass in den Richtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren einige diskriminierende Maßnahmen verändert wurden. Z.B. wurde herausgenommen, dass ein psychiatrisches Gutachten angefordert werden müsse. Ebenfalls dürfen Menschen mit Behinderung nun mit Begleitung erscheinen, die als Sprachmittler_in fungiert. Trotzdem muss in der Praxis weiterhin auf diese Neuerungen hingewiesen werden. 24 Frau Dr. Zinsmeister spricht an wie die Bereitschaft der Aufsichtsbehörden aussieht, sich der Frage der Gewalt zu öffnen? Dr. Zinsmeister habe keinen bundesweiten Überblick, würde aber häufig für Weiterbildungen in den Behörden, und in Einrichtungen aller Art angefragt. Es gäbe die Bewegung, dass beide Seiten sich der Frage oder Situation der Menschen mit Behinderungen annähmen und vor allem in der Jugendhilfe das Thema Gewalt in Institutionen aufgrund der Präsenz durchweg angekommen sei. Das sei im Bereich der Aufsichtsführung für Erwachsene anders. Da kämen nicht so häufig Anfragen. Das spiegelt sich dann in den Vorgaben für die Behörden, die auch drastisch unterbesetzt sind. Es geht dabei um Beratung und Kooperation, was viele Behörden nicht leisten können. 4.6. Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen: Im Aktionsplan gegen Gewalt würden Frauen in Einrichtungen nicht vorkommen, was aber dringend aufgenommen werden müsste, um auch eine entsprechende Prävention anbieten zu können. Derzeit wird ein Aktionsplans gegen Gewalt an Frauen erarbeitet. Es gibt 4 Arbeitsgruppen. Gruppe eins beschäftigt sich mit Interventionen, die zweite mit Hilfesystemen, Frauenhäusern usw. und mit der Finanzierung. Eine dritte Gruppe beschäftigt sich mit Strukturen und Weiterentwicklung, vor allem der Zugänglichkeit von Strukturen. Die vierte Gruppe beschäftigt sich mit Prävention und Öffentlichkeitsarbeit. In allen Gruppen sind Menschen mit spezifischen Bedürfnissen das Querschnittsthema, also auch Frauen mit Behinderung, aber auch andere mit spezifischen Bedürfnissen, für die das System zugänglich sein muss. 4.7. Anerkennung eigener Sexualität und strukturelle Gewalt in Einrichtungen: Wie kann in Einrichtungen Rücksicht darauf genommen werden, dass Menschen mit Behinderung auch die Möglichkeit haben ihre Sexualität auszuleben, ohne dass sie unterdrückt wird, bzw. es dadurch zu gewaltsamen Übergriffen kommt, da Medikamenteneinnahme gegen den Willen der Person ebenfalls als Gewaltakt zählt? Hierbei zeigt sich das Problem, dass Menschen in Einrichtungen teilweise nicht in der Lage sind ihre Grenzen und Bedürfnisse zu entdecken. Das führt dazu, dass Grenzverletzungen stattfinden, weil sie nicht benannt wurden. Aus dem Publikum kommt der Hinweis, dass in traditionellen Großeinrichtungen Menschen mit herausforderndem Verhalten therapeutisch häufig mit Medikamenten behandelt werden, 25 genauso mit Fixierung und Einschließen. Ebenfalls gibt es die Gewalt die nicht von der Einrichtung ausgeht sondern von Bewohnern, teilweise nur mit leichter geistiger Behinderung, die aber gelegentlich aggressiv sind. Der Vorschlag wird gemacht psychotherapeutische Behandlungen präventiv aufnehmen, dann könnte die oft sehr teure Medikation reduziert werden. Über die Psychotherapeutenkammer in Kontakt zu treten wäre dabei eine Möglichkeit wobei auch hier der Hinweis kommt, dass viele Therapeuten ungern ihre Komfortzone verlassen, aber das Konzept gut ist, um auch die Krankenkassen zu entlasten. Die Medikamenteneinnahme könnte ebenfalls reduziert werden, wenn dahinter ein Konzept steht, z.B. Körpertherapie. Hier ergibt sich die Schwierigkeit, dass die Zuständigkeit bei den Krankenkassen läge, wo seit Jahren verhandelt wird. Zur Qualitätssicherung gehört allerdings eine Einrichtung. 5. Resümee: Auslöser für diese Anhörung war die kleine Anfrage der Kollegin Sabine Wölfle von der SPD. Wie sich durch sie nun herausgestellt hat, war sie nur ein erster Schritt, da heute noch so viel mehr Handlungsempfehlungen benannt wurden. An dieser Stelle gilt Frau Zinsmeister und allen anderen Referentinnen ein besonderer Dank, da sie uns viel Material und Handlungsempfehlungen in die Hand gegeben haben. Mit den ergänzenden Impulsen aus der Diskussionsrunde können wir nun alles auf politischer Ebene sammeln und systematisieren und dadurch Konsequenzen für die institutionelle Ebene ziehen und u.a. die Vernetzung von Beratungsstellen, der Peer Beratung, der Selbstbestimmung, ein besseres Beschwerdemanagement etc. voran bringen. 26 6. Links: Wölfle, Sabine und SPD (2012): Mehr Schutz von Frauen mit Behinderung vor sexueller Gewalt. Drucksachennummer 15/2494. http://www2.landtag-bw.de/WP15/Drucksachen/2000/15_2494_d.pdf BMFSFJ (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Kurzfassung. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituationund-Belastungen-von-Frauen-mit-BehinderungenKurzfassung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf BMFSFJ (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituationund-Belastungen-von-Frauen-mit-Behinderungen-LangfassungErgebnisse_20der_20quantitativenBefragung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf 27