Interpretation von epischen Texten Die Textinterpretation umfasst folgende Aspekte: 1. Einleitung 2. Hauptteil Beschreibung der im Inhaltsangabe Text dargestellten Welt Charakteristik der Hauptfiguren und Verhältnis der Figuren zueinander Textanalyse formale Analyse sprachliche Analyse Interpretation i.e.S. Deutung: Thematik/Problematik des Werkes 3. Schluss persönlicher Kommentar 1. Einleitung Die Einleitung enthält die Eckdaten zum vorliegenden Text: AutorIn (+ evtl.: biografische Angaben) Titel des Textes Erscheinungsjahr (evtl. mit kurzem Hinweis auf die Epoche) Gattungsform (Roman, Kurzgeschichte, Novelle, Märchen, Fabel, …) Thema des Textes (in wenigen Worten) Eine andere Möglichkeit wäre es, mit einem aussagekräftigen Textzitat zu beginnen und dann die Eckdaten zu liefern. 2. Charakteristik Im Rahmen der Charakteristik soll auf die Figurenkonstellation (Hauptfiguren – Nebenfiguren) sowie die Beziehung der Figuren zueinander eingegangen werden. Außerdem sollen die wichtigsten (2 – 3) Figuren ausführlicher charakterisiert werden (sofern möglich). Bei der Charakterisierung einer Figur spielen sowohl ihre äußeren Merkmale als auch ihre inneren Merkmale eine Rolle. Zu den äußeren Merkmalen gehören: Lebensdaten (z.B. Alter, Herkunft, soziale Stellung, Beruf, Familie) Aussehen, besondere Kennzeichen typische Handlungsweisen, Sprechweise Verhalten gegenüber anderen Figuren Zu den inneren Merkmalen gehören: Charakter, besondere Eigenschaften Ideale, Ziele, Wünsche, Ängste Entwicklung einer Figur im Verlauf der Handlung (eventuell) Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14 Die inneren Merkmale von Figuren, wie z.B. ihr Charakter oder ihre Ziele, werden in literarischen Werken selten direkt beschrieben und müssen aus dem Verhalten der Figuren abgeleitet werden (indirekte Charakteristik). Solche Einschätzungen über eine Figur sind stets gewissenhaft zu belegen. Daher ist es wichtig, konkrete Beispiele aus dem Text zu nennen. 3. Formale Analyse Bei der formalen Analyse wird die äußere und innere Form des Textes unter die Lupe genommen. 3.1. Gattungsform Bei den epischen Kleinformen (Kurzgeschichte, Novelle, Märchen, Fabel, …), die nicht immer auf den ersten Blick voneinander abgegrenzt werden können, ist es sinnvoll, auf die Gattungsform einzugehen und sie anhand charakteristischer Merkmale zu erläutern. Beispiel: Kennzeichen einer Kurzgeschichte: kurzer Umfang Handlung umfasst einen klar umrissenen und kurzen Zeitraum unvermittelter Anfang ohne Einführung offenes Ende Ausschnitthaftigkeit: alltägliche Begebenheiten werden erzählt, Momentaufnahme wenige, meist namenlose Figuren sachliche, knappe und nüchterne sprachliche Gestaltung häufig Alltags- und Umgangssprache 3.2. Struktur Längere epische Texte können oft in inhaltlich-thematische Abschnitte gegliedert werden. Weiters können Höhe- und Wendepunkte der Handlung identifiziert werden. Manchmal kann man in längeren epischen Texten mehrere Handlungsstränge (Haupt- und Nebenhandlungen) unterscheiden, die eventuell auch auf unterschiedlichen Zeitstufen angesiedelt sind. Eine Erzählung kann auch mehrere Erzählebenen aufweisen. Hierbei unterscheidet man: Die Rahmenerzählung/Rahmenhandlung: Sie steckt den äußeren Rahmen ab, in den eine weitere Erzählung (Binnenerzählung) eingebettet ist. Die Binnenerzählung/Binnenhandlung wird in der Regel von einer Figur der Rahmenerzählung erzählt. 3.3. Erzähltechnik In jedem epischen Text gibt es einen Erzähler. Er ist die Instanz, die die Geschichte erzählt und nicht mit dem Autor/der Autorin zu verwechseln. Man unterscheidet vier Erzählsituationen/Erzähler: Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14 Ich-Erzählung/Ich-Erzähler: Der Erzähler ist eine Figur, die Teil der Handlung ist. Er hat das Erzählte unmittelbar erlebt oder aus erster Hand davon erfahren. Er schildert die Erlebnisse aus seiner (begrenzten) Sicht. auktoriale Erzählsituation/auktorialer Erzähler: Der Erzähler ist keine handelnde Figur. Er ist allwissend und kennt die Gedanken der Handelnden. Er hat Distanz zum Geschehen und schaltet sich mit Kommentaren, Vorausdeutungen, Urteilen über die Figuren in den Erzählvorgang ein. Zum Teil spricht er die LeserInnen direkt an. personale Erzählsituation/personaler Erzähler: Der Erzähler ist keine handelnde Figur. Er schildert die Ereignisse aus der (begrenzten) Sicht (Perspektive/Blickwinkel) einer beteiligten Person. Hierbei tritt der Erzähler nicht unmittelbar auf, kommentiert nicht, sondern bleibt in der Sichtweise der Figur verhaftet. neutrale Erzählsituation/neutraler Erzähler: Fakten und Vorgänge werden sachlich beschrieben bzw. berichtet. Der Erzähler greift weder ins Geschehen ein noch wird aus der Perspektive einer der Figuren erzählt. Er bleibt möglichst im Hintergrund und ist nicht spürbar. Oft konzentriert sich der Erzähler darauf, Gespräche ohne Zwischenbemerkungen, wie protokolliert, wiederzugeben (szenisches Erzählen), vergleichbar mit einem „camera eye“). Dem Erzähler stehen verschiedene Darstellungsformen/Erzählweisen zur Verfügung: Innerer Monolog: […] Zum wievielten Mal Erzählerbericht/berichtendes Erzählen: Der Erzähler lauf‘ ich jetzt eigentlich um das Hotel „spricht“ bzw. vermittelt den Erzählgegenstand. Seine herum? Also was jetzt? Da steh‘ ich vor Redebeiträge umfassen die Handlungswiedergabe, die dem Tor. In der Halle ist noch niemand. Beschreibung von Orten und Figuren, Kommentare und […] (Arthur Schnitzler: Fräulein Else) Reflexionen. Figurenrede: Der Erzähler lässt die Figuren zu Wort kommen. Dabei hat er verschiedene Möglichkeiten: o Direkte Rede: Gespräche werden in Dialogform Erlebte Rede: (Medina musterte den wiedergegeben (szenisches Erzählen). Mann misstrauisch.) Sollte das wirklich ihr o Indirekte Rede: Gespräche werden durch Bruder sein? Hatte der nicht eine kantige redeeinleitende Sätze (Sie sagte, …) wiedergegeben. Nase und eine Narbe am Hals? o Innerer Monolog: Die Gedanken und Gefühle einer Figur werden in Form eines stummen Selbstgesprächs in der 1. Person (Ich-Form) und im Präsens wiedergegeben. o Erlebte Rede: Die Gedanken und Gefühle einer Figur werden in der 3. Person (Er/SieForm), meist im Präteritum wiedergegeben. Bei der Analyse der Darstellungsformen sollte Folgendes hinterfragt werden: Welchen Anteil haben Erzählerbericht und Figurenrede? Welche Arten von Erzählerbericht bzw. Figurenrede dominieren? Was bewirkt das? An welchen Stellen kommentiert oder bewertet der Erzähler? 3.4. Zeitgestaltung Der Erzähler hat verschiedene Möglichkeiten, die zeitliche Abfolge der erzählten Ereignisse zu gestalten. Man unterscheidet: Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14 chronologische Erzählung: Die Ereignisse werden in der Reihenfolge erzählt, in der sie passieren. Vorausdeutung: Der Erzähler nimmt Ereignisse vorweg, die erst später passieren. Rückblende: Der Erzähler berichtet von einem Ereignis, das bereits weiter zurückliegt. Zeitsprünge: Ereignisse werden ausgelassen. Sie werden nicht erzählt, sondern höchstens erwähnt. Die Zeitgestaltung betrifft auch das Verhältnis von Erzählzeit (Zeit, in der die Geschichte erzählt bzw. gelesen wird) und erzählter Zeit (Zeitraum, in dem sich das erzählte Geschehen abspielt). Hier unterscheidet man drei Möglichkeiten: Zeitdeckung/zeitdeckendes Erzählen: Erzählzeit und erzählte Zeit sind annähernd gleich. Zeitraffung/zeitraffendes Erzählen: Die Erzählzeit ist kürzer als die erzählte Zeit. Zeitdehnung/zeitdehnendes Erzählen: Die Erzählzeit ist länger als die erzählte Zeit (Erzählung in „Zeitlupe“). Zu beachten ist, dass mehrere oder alle Varianten in einem Text vorkommen können. Bei der Analyse der Zeitgestaltung sollte Folgendes hinterfragt werden: Welche Abschnitte werden zeitraffend, zeitdeckend bzw. zeitdehnend erzählt? Welche Details werden bei Zeitdeckung und -dehnung hervorgehoben? An welchen Stellen werden Vorausdeutungen bzw. Rückblenden eingesetzt? Mit der Abweichung von der Chronologie kann der Erzähler die Erwartungen der LeserInnen steuern. Auf welche Sachverhalte wird die Aufmerksamkeit durch Vorausdeutungen oder Rückblenden gelenkt? 4. Sprachliche Analyse Bei der sprachlichen Analyse geht es um die Frage, welche sprachlichen Mittel der Autor/die Autorin verwendet bzw. welche sprachlichen Besonderheiten der Text aufweist. Wichtig ist hier, dass eng am und mit dem Text gearbeitet wird. Besonders für den Nachweis von sprachlichen Besonderheiten ist es notwendig, Zitate aus dem Text als Belege anzuführen (Zeile/Seite nennen!). Hierbei können die folgenden Aspekte untersucht werden: Sprachebene/-varietät: Standardsprache, Alltagssprache, Umgangssprache, Jugendsprache, dialektale Einflüsse, Fachsprache (z.B. Technik, Medizin) usw. (siehe Handout) Wortwahl: Schlüsselbegriffe, Wortfelder, Dominanz einer bestimmten Wortart (z.B. Adjektive oder Nomen => Nominalstil), andere Auffälligkeiten (z.B. auffällige Verbformen: häufig Imperativ oder Passiv), Wortwiederholungen Satzbau: kurze/lange Sätze, einfacher Satzbau (parataktischer Stil)/komplexer Satzbau (hypotaktischer Stil), Wiederholung bestimmter Satzbaumuster rhetorische Figuren (Metapher, Parallelismus, …) => siehe Liste! Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14 Sprachstil: bildhaft/blumig, kritisch, distanziert, nüchtern, sachlich, lakonisch (kurz angebunden) gefühlvoll, ironisch, … Bei der sprachlichen Analyse ist zu beachten, dass das Erkennen von sprachlichen Mitteln und Besonderheiten keinen Selbstzweck darstellt. Eine zentrale Frage ist die, welche Wirkung der Autor/die Autorin mit der Wahl bestimmter sprachlicher Mittel erzielt bzw. welche Funktion sie erfüllen (z.B. Spannungssteigerung, Veranschaulichung einer Charaktereigenschaft einer Figur, …). Beispiel: Wenn in einem Text Figuren vorkommen, die sich in Bezug auf die Sprachverwendung unterscheiden (Standardsprache vs. Umgangssprache/Dialekt), könnte dies etwas über ihre soziale Stellung aussagen. Das übergeordnete Ziel bei der Textinterpretation sollte es sein, das WAS und das WIE aufeinander zu beziehen, d.h. die inhaltlich-thematische und die sprachliche Ebene. Dieser Zusammenhang ist maßgeblich für die Deutung. 5. Deutung: Thematik/Problematik Aufbauend auf den inhaltlichen Betrachtungen und den Ergebnissen der Textanalyse wird versucht zu einer Gesamtdeutung des Textes zu gelangen. Um die Thematik oder Problematik eines literarischen Werkes zu erfassen, ist es notwendig, den Inhalt bzw. die Handlung des Textes auf einer allgemeineren Ebene zu betrachten. Dabei kann man sich folgende Frage stellen: Was zeigt der Text, was auch auf andere Situationen, Menschen oder Gruppen von Menschen, Epochen, Orte, usw. zutreffen kann? 5.1. Kontextualisierung Im Zuge der Deutung kann auch ein Bezug zum Entstehungszeitraum/zur literarischen Epoche (Welche historischen Ereignisse/Kennzeichen der Epoche spiegeln sich in dem Text?) bzw. zu Leben und Werk des Autors/der Autorin hergestellt werden, soweit sich daraus Anhaltspunkte für die Interpretation ergeben. 5.2. Motive und Symbole Bei der Deutung kann es hilfreich oder zielführend sein, die Motive und Symbole, die in einem Text vorkommen, einzubeziehen. Nominalstil: häufige Nominalisierungen (z.B. „Die Zustimmung der Beteiligten vorausgesetzt …“ statt: „Wenn die Beteiligten zustimmen …“), mehrteilige Komposita/Wortzusammensetzungen („Schlichtungsdurchführungsverordnung“) – Gegenteil: Verbalstil Mag. Verena Unger parataktischer (reihender) Stil: überwiegend und meist kurze Hauptsätze Parataxe = Satzreihe Deutsch hypotaktischer Stil: überwiegend komplexe Satzstrukturen mit vielen Nebensätzen, Einschüben, Nachstellungen Hypotaxe = Satzgefüge Schuljahr 2013/14 Ein Motiv ist ein erzählerischer bzw. stofflicher Baustein. Er ist ein Element der Handlung unter mehreren. Ein Motiv kann in mehreren literarischen Werken wiederkehren. So findet sich beispielsweise das Motiv der feindlichen Brüder schon in der Bibel (Kain und Abel), in der Sage von Romulus und Remus, in Schillers „Die Räuber“, usw. Ein Motiv unterscheidet sich vom Thema eines Werkes darin, dass das Thema umfassender formuliert ist, während das Motiv nur einen kleinen Bestandteil der Gesamthandlung ausmacht. Ein Motiv, das innerhalb eines Textes immer wieder vorkommt und daher eine besondere Rolle bei der Textdeutung einnimmt, nennt man Leitmotiv. Ein Symbol ist ein Sinnbild, das über sich hinaus auf etwas Allgemeines verweist. Meist handelt es sich um einen konkreten Gegenstand, der für etwas Abstraktes steht. Beispielsweise ist die Taube das Symbol des Friedens, der Ring steht für Treue und Ewigkeit. Tipps für die Deutung: Entwicklung einer Interpretationshypothese: siehe Dokument „Vorgehensweise beim Verfassen einer Textinterpretation“ Ein wesentliches Gütekriterium für die Interpretationshypothese ist, dass sie am Text belegt wird. Interpretationen müssen nicht Eindeutigkeit herstellen. Gegebenenfalls können abweichende Interpretationsmöglichkeiten oder offene Fragen angesprochen werden. Man muss nicht aus jedem Text eine „Lehre“ ziehen („was der Text eigentlich sagen will“). 6. Schluss Zum Schluss gibt man einen persönlichen Kommentar zum Text ab. Er kann sich an den folgenden Leitfragen orientieren: begründete Kritik und Wertung: Hat mir der Text gefallen? Warum (nicht)? Gedanken zur Bedeutung des Themas: Welche Erkenntnisse oder Einsichten nehme ich aus der Lektüre des Textes mit? weiterführende Gedanken zur Thematik des Textes: Welche Verbindung hat der Text zu meiner Lebensrealität bzw. zu meinen eigenen Erfahrungen, Empfindungen etc.? (Was kann ich damit anfangen?) gesellschaftliche Relevanz: Welchen Bezug hat das Werk zu der Gesellschaft, der Zeit und den Umständen, in denen ich lebe? Gegenwartswert (bei älteren Texten): Welchen Bezug hat der Text zur heutigen Zeit und Gesellschaft? Ist das Thema noch aktuell? Trifft der Text auch für heute noch gültige Aussagen? Ist er ein wichtiges historisches Zeugnis? Diese Überlegungen stehen in Zusammenhang mit der Frage, warum das Werk heute überhaupt noch gelesen wird. Hinweise auf andere Werke mit ähnlicher Thematik Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14 Mag. Verena Unger Deutsch Schuljahr 2013/14