Johannes Hoff Orthodoxie nach dem Ende totaler Immanenzsimulation Email: Matthias, Christian, Simon, Britta Orthodoxie in einer post-digitalen Welt1 Das moderne ‚Zeitalter des Weltbildes‘ entsprang zwei kontraintuitiven Unterstellungen. (1.) Der Unterstellung, dass sich die ‚wirkliche Welt‘ als eine wertneutrale Ansammlung objektiver Fakten beschreiben lasse. (2) Der Unterstellung, dass sich diese Welt durch die methodisch kontrollierte Projektion einer ‚möglichen Welt‘ repräsentieren lasse.2 Von daher die moderne Wertschätzung abgeschirmter Projektionsräume – vom einsam denkenden Subjekt, über das klinisch abgedichtete Labor bis hin zum digitalen Computerbildschirm. Selbst romantische oder post-moderne Gegenbewegungen gegen das Zeitalter des Weltbildes blieben ihm ex negativo verhaftet. Von bedeutenden Ausnahmen abgesehen,3 endete die Dekonstruktion der Fiktion methodisch kontrollierten Wissens stets in einer Verbeugung vor einer 1 Der erste Teil des nachfolgenden Essays stützt sich auf einen nahezu zeitgleich entstandenen Text, der unter dem nachfolgenden Titel erscheinen wird: Johannes Hoff: Liturgical Turn. Gottesrede in einer post-digitalen Welt.## Ich danke meinem Tübinger Nachfolger Christian Ströbele für einen inspirierenden Emailaustausch über die an Luhmann orientierte Problematik des zweiten teils. 2 Die nachfolgenden, skizzenhaften Thesen werden ausführlicher diskutierte in: Johannes Hoff, The Analogical Turn. Re-thinking Modernity with Nicholas of Cusa (Grand Rapids: Eerdmans 2013). Der Abschnitt “Die mystischen Fundamente Christlicher Gelehrsamkeit” basiert auf ibid. 18-24. 3 Wie Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Søren Kierkegaard, Félix Ravaisson und Charles Péguy. Cf. Catherine Pickstock, Repetition and Identity. The Literary Agenda (Oxford: Oxford UP 2013). 1 Variante des kantischen Erhabenen:4 dem ‚absoluten Geheimnis‘, dem ‚ganz Anderen‘, oder (wie bei Luhmann) dem ‚grenzenlos Unbestimmten‘ eines ‚unmarkierten Weltzstands‘. So oszillierte das modern ‚Subjekt‘ zwischen der Monotonie identisch wiederholbaren Wissens und pathetischer Skepsis angesichts des Unbegreiflichen – gefangen zwischen den digitalen Polen, Ja und Nein, Bestimmt und Unbestimmt, Sein und Nichts, I und 0. Genau hier liegt das Problem. Bewegen wir uns doch seit jeher in unscharfen, analogen Zwischenräumen, die der rückhaltlosen Digitalisierung widerstehen. Anschauungen ohne Begriffe sind eben nicht leer. Es mag keine wissenschaftlichen oder soziologischen Fakten ohne Begriffe geben. Aber es gibt z.B. Katzen und Menschen ohne Begriffe. Unsere Gabe, auch das zu verstehen, was sich nicht begrifflich formalisieren, oder auf kontrollierte Weise repräsentieren lässt, wurde bereits von Thomas von Aquin (1225-1274) als wissenschaftlich fundamental ausgewiesen. Vernunftbegabte Tiere sind in der Lage die Welt zu erkennen, weil sie diese bewohnen. Wir haben uns mit der begrifflich niemals vollständig pentrierbaren, Präsenz mehr oder weniger schöner, vollkommener und begehrenswerter Dinge immer schon vertraut gemacht. Folglich beginnt alles Erkennen mit der Treue zu dem, was Thomas durch den lakonischen Begriff ens (‚Seiend‘) bezeichnete. Die Bedeutung des lateinischen Wortes Ens klingt nach in dem, was die englische Sprache als End bezeichnet, und damit ist bereits klar, dass es mehr bezeichnet als ein neutrales Faktum: Es 4 Hierzu: Christiane Pries, Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Gröbenwahn (Weinheim: VCH 1989). 2 bezeichnet das Ende, den Zweck, das Telos, an dem unser Denken zur Ruhe kommt, z.B. in der Betrachtung einer Katze, eines Menschen oder einer Rose.5 ‚Die Ros‘ ist ohn warum‘, sagt Angelus Silesius. Sie ist ein ‚end‘, eine saturierte Realität, die sich ohne Verwertungs- oder Erklärungsinteresse allein um ihrer selbst willen betrachten und erkennen lässt. Im Prinzip war uns dieses ‚erkenntnistheoretische‘ Fundamentalprinzip bereits bekannt als Adam Eva ‚erkannte‘ (Gen 4.1); und es hat niemals eine realistische Alternative zum Alltagsverstand dieses archetypischen Liebespaars gegeben. Um mit dem Wissensschaftssoziologen Bruno Latour zu sprechen: „Wir sind nie modern gewesen“.6 Weisheit und Wissenschaft: Zur Genealogie der Krise spätmodernen Wissens Der Moderne Professor erwartet von seinen Studenten, dass sie das unscharfe Wissen alltäglichen Glaubens und Meinens Formen evidenzbasierten Wissens nachordnen. Im Prinzip scheint sich diese Forderung bereits bei Platon abzuzeichnen. Die platonische Entgegensetzung von Meinen und Wissen (doxa und episteme) scheint den modernen Mythos zu bestätigen, dass die Geschichte sich unausweichlich in Richtung einer fortschreitenden Rationalisierung unseres ‚vorwissenschaftlichen‘ Alltagsverstandes bewege. Doch diese Erzählung ist eine Wunschprojektion. Das platonische ‚Wissen‘ fokussierte auf Formen kontemplativen Betrachtens: Die Rose, deren Präsenz mir einen Sinn für das Gute, Vollkommene und Schöne erschließt. 5 6 Cf. G. K. Chesterton, St. Thomas Aquinas / St. Francis of Assisi (San Francisco: Ignatius Press 2002), 133ff. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie (Berlin: Akademie Verl 1998). 3 Im Zentrum platonischen Wissens stand genau das, was moderne Menschen als unwissenschaftliche Glaubensangelegenheiten betrachten würden, und umgekehrt: Was wir heute als science bezeichnen (das empirisch fundierte Wissen über wertneutrale Fakten) fiel bei Platon unter die Kategorie bloßen ‚Glaubens und Meinens‘.7 Aus diesem Grund sind Platon, „Aristotles und andere Platoniker“8 ungeeignet, den modernen Säkularisierungsmythos auf ein historisch ausweisbares Fundament zu stellen. Selbst materialistische Strömungen antiken Denkens verstanden sich primär als Repräsentanten einer asketisch-spirituellen Praxis, und erst in zweiter Linie als Vertreter konkurrierender philosophischer Doktrinen.9 Die biblisch-patristische Tradition fügte sich bruchlos in diesen Kontext. Von daher war es nur ein kleiner Schritt, die klassisch-platonische Hierarchie von Glaube (doxa) und Wissen (episteme) umzukehren. Lassen sich mich das etwas genauer erläutern, denn dieser Schritt ist für das orthodoxe Verständnis von Gottesbeobachtung entscheidend. Im Gefolge des jüdischen Hellenismus fokussierte die kontemplative Praxis des frühen Christentums auf das ‚Scheinen‘, den ‚Glanz‘ der ‚Herrlichkeit‘ Gottes – mithin auf das was die griechische Übersetzung des Alten Testaments als doxa bezeichnete. Wie das griechische 7 Verb doxazein anzeigt, ist der HIerzu: Lloyd P. Gerson, Ancient Epistemology (Cambridge: Cambridge University Press 2009). Zum Folgenden auch: Paul Tyson, Rerturning to Reality. Christian Platonism for our Time (Eugene: Wipf and Stock 2014). 8 Lloyd P. Gerson, Aristotle and other Platonists (Ithaca: Cornell University Press 2005). 9 Cf. Pierre Hadot, Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? (Frankfurt/M.: 1999). 4 Offenbarungsmodus dieser doxa performativ: die Herrlichkeit Gottes offenbart sich, indem sie im kontemplativen Betrachter das Lobpreis Gottes aktiviert.10 So trat nun an die Stelle des (bei Platon noch sekundären) ‚bloßen Scheins‘ (doxa) der ‚wahre Schein‘ der Herrlichkeit Gottes. Der Wahre Schein, das ist die orthe doxa, die sich im Modus des aufrichten Lobpreises offenbart. Der biblisch-patristische Sprachgebrauch machte damit auf einen liturgischen Grundzug unseres Wirklichkeitsverstehens aufmerksam. Praktiken des Schenkens und des wertschätzenden Lobens sind kein Beiwerk, das unsere Vertrautheit mit dem Sein (ens) der Welt ästhetisch überhöht. Wie jüngere phänomenologische Debatten im Gefolge von Marcel Mauss, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion gezeigt haben, ist die Logik des Schenkens, Dankens und Lobens vielmehr philosophisch, ökonomisch und politisch fundamental.11 Die theologische Diskussion des angelsächsischen Sprachraums bewegte sich rasch über diese Debatten hinaus. Die Logik des Schenkens und Lobens erwies sich als Schlüssel zum Verständnis jener orthodoxen Traditionen christlichen Denkens, die Begegnung mit dem fleischgewordenen Schöpfungswort Gottes als examplarischen Schlüssel zu einer philosophischen Ontologie interpretierten. Bereits bei Platon schloss die kontemplative Betrachtung Praktiken des Lobpreises ein.12 Das orthodoxe Christentum fügte dem streng genommen 10 Zum hellenistischen Bedeutungsspektrum der Begriffe doxa und doxazein: Johannes Schneider, Doxa: eine bedeutungsgeschichtliche Studie (Gütersloh: 1932); sowie Hans-Ulrich Weidemann, Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und Osterbericht (Berlin - New York: Walter de Gruyter 2004), 222-228. 11 Cf. etwa John D. Caputo and Michael J. Scanlon (Ed.), God, the Gift, and Postmodernism, The Indiana series in the philosophy of religion (Bloomington, IN : Indiana University Press 1999); und Jacques Derrida, Politik der Freundschaft. Übers. von Stefan Lorenzer (Frankfurt/M.: 2000). Zur Marcel Mauss cf. auch: John Milbank, Being reconciled. Ontology and pardon (London: Routledge 2003), 138-186 12 Hierzu: Catherine Pickstock, After Writing. On the Liturgical Consummation of Philosophy (Oxford: Blackwell 1998), 3746. 5 nichts hinzu. Es leitete lediglich dazu an, die doxologischen Züge unseres Alltagsverstandes als Schlüssel zu einer philosophischen Kosmologie zu begreifen. Die Schöpfung ist zunächst und vor allem das, wovon in den Psalmen die Rede ist: ein Gegenstand des Lobpreises. Es spricht einiges für die philosophiegeschichtliche These, dass diese biblisch fundierte Transformation griechischer Metaphysik im 13. Jahrhundert, bei Thomas von Aquin, ihren Höhepunkt erreichte. Das ist umso bemerkenswerter als nahezu zeitgleich erste rationalistische Versuche auftauchen, die doxologischen Züge unseres Wirklichkeitsversterstehens zu neutralisieren. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine franziskanische Bewegung, deren Erkenntnisinteresse nicht einem philosophischen, sondern einem theologischen Motiv entsprang: dem in nuce häretischen Motiv, streng zwischen Natur und Gnade zu unterscheiden – draw a distinction, dieser Satz könnte von einem franziskanischen Scholastiker des Spätmittelalters stammen.13 Die philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Tragweite dieses theologisch motivierten Bruchs wird erst im Zuge der wissenschaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts manifest. Paradigmatisch hierfür sind die Denksysteme von Galileo Galilei und René Descartes. Descartes schriebe immerhin noch „Meditationen“. Doch das 13 Grundlegend hierzu: John Milbank, Theology and Social Theory: Beyond Secular Reason (Cambridge Mass.: 1991). Dieses Buch hatte den Charakter einer Initialzündung, deren Spuren sich bis hin zu Charles Taylors Kritik der ‘Substraktionserzählung’ moderner Säkularisierungstheorien weiterverfolgen lässt. Cf. (auch mit Blick auf die Rolle reformeifriger Kleriker): Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter (Frankfurt: Suhrkamp 2012). Taylors im Epilog zu diesem monumentalen Werk explizierte Kritik der nahezu ausschließlich auf ‚Theoretische Abwege‘ (TA) fokussierenden Methodologie Milbanks trifft einen wunden Punkt, auf die letzterer zu reagieren versucht hat. Hierzu auch Milbanks konstruktive Antwort auf meine eigene, ähnlich gelagerte Kritik des ‚Radical Orthodoxy Movement‘, in: John Milbank, "The Grandeur of Reason and the Perversity of Rationalism: Radical Orthodoxy's First Decade". In: Simon Oliver; John Milbank (Ed.), The Radical Orthodoxy Reader (London: Routledge 2009), 367-404.. 6 kontemplative Fundament wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens wird jetzt Zug um Zug durch die Fiktion eines neutralen Projektionsraums ersetzt, dessen Design dazu dient neutrale Fakten zu repräsentieren. Das Nachdenken über die Welt beginnt jetzt nicht mehr mit Adam und Eva, oder der Betrachtung von Rosen und Katzen. Anstelle des Betrachtens von cats tritt die Beobachtung von facts. Um diese facts zu isolieren, braucht man eine Kaste von Bildungsklerikern, die mithilfe von artifiziellen Technologien, Laborexperimenten, oder logischmathematischen Kalkülen verifizierbare Fakten von den Mythen des Alltags isolieren. Aus der Perspektive des vormodernen common sense Realismus kam dieser klerikal motivierte Paradigmenwechsel einer Revolution gleich: Das Ideal theoretisch-betrachtender Naturerkenntnis wird durch eine Schwundstufe der mittelalterlichen ‚Kunst‘ (ars) verdrängt.14 Doch spätestens im Gefolge der Postmoderne, der ökologischen Krise und dem Siegeszug der Drittelmittelforschung, lässt sich die Fragwürdigkeit dieser Revolution kaum noch verheimlichen. Die spätmoderne Nivellierung der einstmals funktional differenzierten Rationalitätsstandards wissenschaftlicher, politischer, artistischer oder 14 Hierzu: Charles Lohr, Ars, Scientia und "Chaos" nach Ramon Lull und Nikolaus von Kues. Nikolaus von Kues - Vordenker moderner Naturwissenschaft? (Regensburg: 2003), pp.55-70. Zum technokratisch ausgedünnten, statischen Charakter der moderner ars, cf. John Milbank, Beyond Secular Order. The Representation of Being and the Representation of the People (Hoboken: Wiley-Blackwell 2014), 81ff, 208ff. Zum Folgenden auch: Johannes Hoff, "Bürger, Künstler, Exorzisten. Wissenschaft, Kunst und Kult in den Spuren Hugo Balls." In: Kultur & Gespenster 13 (2012), 33-61. 7 ökonomischer Bildungskleriker konfrontiert uns heute mehr denn je mit einer Merkantilisierung des Wissenschafts- und Bildungsmarktes.15 Selbst medizinische Laborexperimente scheinen nunmehr stärker durch die interessengeleitete Selektivität von Novartis, Böhringer-Ingelheim oder der Margarineindustrie, als von einem ‚neutralen Forschungsinteresse’ bestimmt so sein. Der nüchterne Sachverstand des aufgeklärten Professors wird durch die um Aufmerksamkeit buhlende Rhetorik mathematisch-naturwissenschaftlich geschulter Sophisten ersetzt. Phänomenone wie diese sind der Eigenlogik des ‚Systems Wissenschaft‘ jedoch keineswegs äußerlich. In pervertierter Form lassen sie einen Grundzug wissenschaftlicher Sprachspiele offenkundig werden. Was vordem unserer Aufmerksamkeit entglitt, weil es als unproblematisch vorausgesetzt werden konnte, wird jetzt unübersehbar: Jede Wissenschaft ruht auf einem doxologischen Fundament. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hebt in einer seiner jüngsten, noch unveröffentlichten Publikationen auf rhetorische Sprachfiguren ab, an denen sich dieser Grundzug wissenschaftlicher Forschungsdebatten ablesen lässt. Selbst in den Naturwissenschaften rahmen wir unsere Forschungsdebatten durch Phrasen wie „das entscheidende Problem ist doch …“ oder „jeder sieht doch ein, dass …“, etc.16 15 Hierzu: Richard Münch, Akademischer Kapitalismus: Über die politische Ökonomie der Hochschulreform (Frankfurt: Suhrkamp 2011). Dieses Phänomen wurde von ‚post-modernen‘ Zeitdiagnostikern bereits in den späten 70er Jahren vorhergesagt, cf. Jean François Lyotard, Das Postmoderne Wissen (Graz - Wien: Passagen-Verlag 1986). 16 Charles Taylor, "Language Not Mysterious?". In: Dilemmas and Connections. Selected Essays (Cambridge, Mass. & London: Belknap Press 2011), 39-55, 52. 8 Phasen wie diese Steuern unsere Aufmerksamkeit und erlauben uns zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden, indem sie an ein wissenschaftliches Ethos appellieren, das auf doxologischen Fundamenten ruht. Was wären Aussagen, die auf das ‚Entscheidende‘ und ‚Wesentliche‘ abheben, ohne Heiligenlitaneien auf Galilei, Newton, Darwin und Einstein?17 Die vormoderne Tradition hatte demnach gute Gründe, das Streben nach interessenloser, kontemplativer Naturbetrachtung mit dem Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen in eins zu setzten, und in der Konsequenz artifizielle Strategien der Naturbeherrschung als zweitrangig einzustufen. Das Schöne und Gute, das unser Lob verdient, lehrt uns zu verstehen was es heißt, etwas um seiner selbst willen zu betrachten oder zu tun. Und genau in diesem Sinne hat selbst das Ethos wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens ein doxologisches Fundament. Das Zeitalter von Google und Facebook hat uns diesen Grundzug alltäglichen Wirklichkeitsverstehens erneut in Erinnerung gerufen. Der Überfluss an Information zwingt uns zur Selektivität. Der Wahrheitssuchende hat von Fall zu Fall zu entscheiden, welche ‚wahren Sätze‘ wert sind wieder erinnert zu werden: Wahr ist was unsere öffentliche Wertschätzung verdient - im Facebook-Jargon heißt das Like. Der Like button ist im Prinzip eine informationstechnologische Variante doxologischer Sprachpraktiken. Wird doch auch der post-moderne ‚Klick‘ auf 17 Selbst die Anerkennung mathematischer Evidenzen an bleibt einen doxologischen Rest ‚glaubenden‘ Verstehens gebunden. Hierzu: Michel de Certeau, "L'Institution de croire." In: Recherches de science religieuse 71 (1983), 61-80; sowie Johannes Hoff, Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues (Freiburg/Br.: Alber 2007), 84-195, 283-300, 463-474. 9 den ‚like bottom‘ durch das motiviert, was Thomas von Aquin appetitus nannte: ein erotisches Verlangen, das sich aus rationalen Erwägungen nicht rückstandslos ableiten lässt. Es gibt keine ‚natura pura’.18 Die Welt, in der wir leben, ist nicht ein Sammelbecken neutraler Fakten. Theologisch gesprochen, unsere Erkenntnis des ‚Natürlichen‘ lässt sich nicht von der Erkenntnis des ‚Übernatürlichen‘ abkoppeln: Dem Lobpreis dessen, was unser Begreifen übersteigt. Die Scheidelinie zwischen Säkularem und Religiösen verläuft demnach nicht zwischen ‚Glaube‘ und ‚Wissen‘. Sie verläuft vielmehr zwischen zwei doxologisch unvereinbaren Lebensformen: Religiöse Lebensformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Praktiken des Dankens und Lobens rational kultivieren. Sie tun das, indem sie dazu anleiten, zwischen der Fixierung auf flüchtige Fetischpraktiken (‚Götzen‘), und der Ausrichtung auf die unwandelbaren Fülle des Lebens (‚Gott‘) zu unterscheiden. Das hebt sie ab von säkularen Lebensformen, die die Praxis des Lobes den ephemeren Litaneien und Rankings des Marktes überlassen. Man kann nicht zwei Göttern dienen, dem unbegreiflichen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und der allzu begreiflich-unbegreiflichen ‚invisible hand‘ Adam Smiths. Wahrheit und Orthodoxie Wir sind damit wieder am ‚square one‘ angekommen: Dem Marktplatz von Athen. Verstand doch bereits Platon 18 sein philosophisch-spirituelles Cf. John Milbank, The Suspended Middle. Henri de Lubac and the Debate Concerning the Supernatural (London: SCM Press 2005). 10 Aufklärungsprogramm als Antwort auf eine Form sophistischer Merkantilisierung des Wissens. Das kontemplative Denken der platonisch-hellenistischen Tradition war, ebenso wie das liturgisch fundierte Aufklärungsprogramm der biblisch-abrahamitischen Tradition, seit jeher darauf ausgerichtet, abergläubigen Fetischpraktiken zuvor zu kommen. Der Häretiker galt nicht als Anhänger verdrehter Ideologien. Der Häretiker galt als Heuchler, weil er den aufrechten Lobpreis in Idolatrie verkehrt.19 Wer symbolische Platzhalter der Herrlichkeit Gottes mit Gott selbst verwechselt, oder (wie klassisch moderne Theologen) den unbegreiflichen Namen Gottes mit den allzu begreiflichen Kreationen dogmatischer Gelehrsamkeit verwechselt, ist ein Götzendiener. Er „gibt dem Bilde, was nur der Wahrheit (selbst) gebührt.“20 Die orthodoxe Christin betet nur an, was ihr Begreifen übersteigt. Quia ignoro adoro, sagt der Christ zum erstaunten Heiden zu Beginn von Nikolaus von Kues‘ Dialog De deo abscondito: ich bete meinen Gott an nicht obwohl, sondern gerade weil ich ihn oder sie nicht begreife. Genau aus diesem Grund hat der gelebte Glaube religiöser und weisheitlicher Traditionen den Charakter eines philosophischen Erkenntnisprinzips. Das liegt in der Linie zeitgenössischer Realismus-Debatten. Um den Buchtitel eines australischen Kollegen zu zitieren: „Wir sind wieder in der Wirklichkeit 19 Cf. Jaroslav Pelikan, Christianity and Classical Culture. The Metamorphosis of Natural Theology in the Christian Encounter with Hellenism (New Haven: Yale University Press 1993), 40–56, 184–214, 300-305. 20 De docta ignoranita, I c. 10 n. 29. Die Werke des Cusaners werden im Folgenden, sofern nicht anders angezeigt, nach der kritischen Ausgabe zitiert, und zwar unter Angabe des Kapitels (c.) und der jeweiligen Sektion (n.) (http://www.cusanus-portal.de/). Die Übersetzung orientiert sich an der Majuskelausgabe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 11 angekommen“21 – an philosophischen Maßstäben gemessen hat der common sense Realismus der Vormoderne seinen modernen Tod überlebt. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass wir das klerikal-szientistische Umerziehungsprogramm der Moderne bereits hinter uns gelassen haben. Wie tief sich die Mythen dieses Umerziehungsprogramms in den Alltagsverstand des Durschnitts-Europäers eingegraben haben, zeigt unser Umgang mit dem Problem der Gottesbeobachtung. Um die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong zu zitieren: „Heute meinen (…) viele, sie könnten, bevor sie sich nicht von der Existenz Gottes überzeugt hätten, kein authentisches religiöses Leben führen. Das ist solides wissenschaftliches Denken: Bevor man ein Prinzip anwendet, muss man es zunächst beweisen. Für Buddha und Konfuzius was es genau umgekehrt“.22 Wie Armstrong am Beispiel des vermeintlichen ‚Rationalisten‘ Anselm von Canterbury aufzeigt, gilt diese Umkehrung auch für das vormoderne Christentum. Nicht ohne Grund beginnt Anselms Proslogion mit einer doxologischen Anrede:23 Der betende Lobpreis ist die elementarste Form sich im Denken zu orientieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir als geboten, zwei Grundzüge der östlichen und westlichen Traditionen orthodoxer Theologie in Erinnerung zu rufen, die heute entscheidender sind denn je: 21 Return to Reality # 22 Karen Armstrong, "Die Goldene Regel. Das religöse Ideal des Mitgefühls und die Überwindung des Egoismus." In: Lettre International 84 (2009), 71-75, 71. 23 Cf. Martin Kirschner, Gott - größer als gedacht: Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury (Freiburg - Basel - Wien: Herder 2013). 12 (1) Bis Hochmittelalter verstand sich jeder ernstzunehmende Theologe als mystischer Theologie.24 (2) ‚Mystisch-apophatische‘ Strategien, die Unbegreiflichkeit Gottes in Erinnerung zu rufen, endeten aber keineswegs im agnostischen Dunkel erhabener Mysterien. Hatte das Gebet doch den Charakter eines kontemplativen Erkenntnismodus, der von Verneinungen und Paradoxien unberührt blieb.25 Um die Terminologie Niklas Luhmanns zu gebrauchen: die orthodoxe Tradition des Christentums hatte ein ‚Medium‘ – das Medium Kontemplation, das sich im Gefolge des Christusereignisses zu einem doxologischen Medium ausprägte. Luhmann hatte keineswegs Unrecht, als er im Christentum das Fehlen eines Mediums diagnostizierte, und darauf hinwies, dass dieser Mangel seine Überlebensfähigkeit als fragwürdig erscheinen lasse.26 Luhmanns Diagnose fehlte nur der Zeitindex: Genealogisch betrachtet markiert der Verlust des kontemplativen Mediums den Punkt, an dem der Niedergang orthodoxer Gelehrsamkeit einsetzte, und der Aufstieg des SchreibtischTheologen begann, der heute wieder von der Bühne abtritt. Luhmann verglich den theologischen Gottesbeoachter zuweilen ironisch mit dem Teufel: Nur der Teufel kann Gott aus der unterscheidenden Distanz beobachten. Im vormodernen Christentum gab es weder den Luhmannschen Teufel, noch den modernen Schreibtisch-Theologen.27 24 Zur östlichen Tradition: cf. Andrew Louth, The Origins of the Christian Mystical Tradition from Plato to Denys (Oxford: Oxford UP 22007). 25 Grundlegend hierzu mit Blick auf zeitgenössische Debatten: Sarah Coakley, God, Sexuality and the Self. An Essay on the Trinity (Cambridge UP: Cambridge 2013). 26 Luhmann: Medium Religion.## 27 ## 13 Die mystischen Fundamente christlicher Gelehrsamkeit Polemisch zugespitzt könnte man sagen, der moderne Theologe ist entweder ein Götzendiener, oder ein pathetischer Agnostiker. Wenn dies die einzige Alternative ist, dann haben die Agnostiker die besseren Karten. Sie sind die wahren Erben des christlichen Mystikers, und nur der Mystiker, so scheint es, ist unter spätmodernen Bedingungen überlebensfähig. Bemerkenswert ist nur, dass es diesen Mystiker im Mittelter nicht gab.28 Worin liegt die Differenz? Moderne Versuche, die mystischen Fundamente christlicher Gottesrede zu rekonstruieren, erliegen regelmäßig der Versuchung, die Erkenntnis der Verborgenheit Gottes mit einer Entzugserfahrung zu verwechseln.29 Man redet so, als entspränge die Unbegreiflichkeit Gottes aus der mystischen Erfahrung seiner Abwesenheit. Dabei wird verkannt, dass der Gebrauch von Bejahungen (kataphasis) und Verneinungen (apophasis) nur den Charakter einer ‚second order language‘ hat. Die reflexive Sprache mystagogischer Bejahungen und Verneinungen ist nicht ablösbar von ihrem präreflexiven Fundament: Der orthodoxen Überzeugung, dass unser Sprechen von Gott aus der Teilhabe an dem erwächst, was Hans-Urs von Balthasar als „kosmische Liturgie“30 bezeichnete.31 28 Certeau: Fable. 29 Kritisch hierzu: Denys Turner, The darkness of God. Negativity in Christian mysticism (Cambridge: Cambridge University Press 1995), 264ff. 30 Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus' des Bekenners (Einsiedeln: Johannes-Verlag 21961). Hierzu mit Blick auf Cusanus: Nancy J. Hudson, Becoming God. The Doctrine of Theosis in Nicholas of Cusa (Washington, D.C: Catholic University of America Press 2007), 26-35. 31 Das theologische Sprechen entfaltet sich in Sprechakten des Sagens (kataphase) und Ent-sagens (apophase), um sich schließlich in der höchsten und zugleich ursprünglichsten Form kreatürliche Gottesrede zu vollenden. Um 14 In den Spuren des Dionysius Areopagita,32 hatte bereits Thomas von Aquinas diesen doxologischen Modus der Gottesrede als die höchste Form von Wissenschaft bezeichnet (scientia dei and beatorum).33 Nikolaus von Kues folgte dieser Spur, als er im 15. Jahrhundert einen der letzten bedeutenden Versuche unternahm, den doxologischen Realismus der Vormoderne über die Schwelle der Neuzeit zu retten. Zitat: „Die Höchste Wissenschaft besteht im Lobpreis Gottes, der alles aus seinen Lobpreisungen und zu seinem Lobpreis gebildet hat.“34. Der Stellenwert dieser erkenntnistheoretischen Verortung des Lobpreises wird erst begreiflich, wenn man sich mit Cusanus klarmacht, dass wir etwas nicht deshalb preisen, weil wir es als wahr, gut oder schön beurteilen. Es ist vielmehr umgekehrt: Wenn unser Lobpreis genuin ist, und nicht bloß aus einem Herdeninstinkt entspringt, dann beurteilen wir etwas als wahr, gut oder schön, weil es uns in Staunen versetzt und unseren Lobpreis hervorruft, ohne dass wir auch nur einen Gedanken darauf verschwenden müssen, warum wir das tun.35 mit Nikolaus von Kues zu sprechen: Es vollendet sich indem sprachlosen Lob Gottes, „wo die Stille des Schweigens eine Weise des Sprechen ist“ (ubi silere est loqui). De dato patris lumini c. 3 n. 107,9. 32 Zu Dionysius Areopagita mit Blick auf den (in Deutschland immer noch verbreiteten) modernen Mythos, ‚PseudoDionysius‘ sei ein Falschmünzer gewesen, der das biblische Christentum hellenistisch entstellte: Andrew Louth, Denys, the Areopagite (London: G. Chapman 1989); sowie Sarah Coakley and Charles M. Stang (Ed.), Re-thinking Dionysius the Areopagite (Malden, MA : Wiley-Blackwell 2009). Dieser neuen Lesart folgend, verzichte ich bewusst darauf, das genuin paulinischen Motiven entspringende Pseudonym des spätantiken Apostelschülers durch den Präfix ‚Pseudo‘ zu entstellen. 33 Cf. S. Thomae Aquinatis "In librum beati Dionysii de divinis nominibus expositio" (Taurini: Marietti 1995), Caput I Lectio III; sowie Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes. Eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von B. R. Suchla (Stuttgart: Anton Hiersemann 1988), 1.5 (593 B-C). Hierzu: David B. Burrell and Isabelle Moulin, "Albert, Aquinas and Dionysius". In: Sarah Coakley; Charles M. Stang (Ed.), Re-thinking Dionysius the Areopagite (Malden, MA: Wiley-Blackwell 2009), 103-119, 107f., 111f. Zu den areopagitischen Wurzeln des Aquinaten: Fran O'Rourke, Pseudo-Dionysius and the metaphysics of Aquinas (Leiden: Brill 1992). 34 De venatione sapientiae c. 18 n. 53,8-3 (eigene Übersetzung); cf. ibid c. 18-20, c. 25, sowie Epistula ad Nicolaum Bononiensem n. 10. 35 Cf. De venatione sapientiae c. 20 und c. 35. 15 Ich erkläre das meinen Londoner Jesuiten immer am Beispiel der englischen Interjektion ‚Wow!‘. Wir sagen ‚Wow!‘ beim Anblick einer schönen Menschen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, warum wir das tun. Erst nachträglich denken wir darüber nach, wie wir rechtfertigen können, was wir da gerade gesagt haben. Die Injektion ‚Wow‘ ist dem Like-Botten in Facebook verwandt – sie ist ein Überbleibsel doxologischer Praktiken. Die Wissenschaft des Lobes hat demzufolge ein prä-reflexiv-responsives Fundament. Wir beurteilen etwas als wahrhaftig, vollkommen oder schön, weil es unseren Lobpreis motiviert – und jeder Versuch dies nachträglich, basierend auf wahren oder falschen Urteile zu rechtfertigen, ist zumindest in letzter Instanz zu verneinen. Aber was hat das mit Wissenschaft zu tun? Die Sprache des Lobes hat in der Tat nicht die Form begrifflich differenzierenden Wissens. Sie ist aber auch nicht ohne Bezug auf die propositionale Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem.36 Sie antwortet nämlich auf ein elementares Problem wissenschaftlichen Erkennens: Sie steuert unsere Aufmerksamkeit, und entscheidet darüber, wie wir die Fragen interpretieren, auf die wahre oder falsche Sätze antworten. Im Anschluss an Ernst Tugendhat kann man an diesem Punkt zwischen zwei Modi des Wahrheitsverstehens unterscheiden.37 36 Cf. Jean-Luc Marion, "In the Name. How to Avoid Speaking of 'Negative Theology' / Response By Jacques Derrida". In: John D. Caputo; Michael J. Scanlon (Ed.), God, the gift, and postmodernism (Bloomington, IN: Indiana University Press 1999), 20-53; sowie Jacques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen. Übers. von H. D. Gondek (Wien: Passagen 1989), 123-127. 37 Cf. Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989), 7-24; Ernst Tugendhat, "Heideggers Idee von Wahrheit". In: Gunnar Skirbekk (Ed.), Wahrheitstheorien (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977), 431-448. 16 Wahrheitsfunktionale Proposition, die Eindeutig zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ unterscheiden, haben den Charakter einer second order language, entsprechen also Wahrheit2. Im Unterschied dazu grenzt Wahrheit1 das Sinnfeld ein, innerhalb dessen Antworten auf Fragen im Sinne von Wahrheit2 als relevant erscheinen können. Nehmen wir als Beispiel den Satz: „Mama, warum brennt da eine Kerze in der Kapelle?“ Die folgenden Antworten sind beide wahr im Sinne von Wahrheit2: (A) “Sie brennt, weil dort gerade eine Beerdigung stattgefunden hat” (B) „Sie brennt, weil Sauerstoff in der Kapelle ist“. Satz (B) ist unter normalen Umständen Unsinn; und das verdanken wir Wahrheit1. Wahrheit1 steuert unser Vermögen, zwischen Sätzen zu unterscheiden, die unsere Beachtung verdienen, und unsinnigen wahren Sätzen, die vernachlässigt werden können. Und mit dieser Steuerungsfunktion kommt das wertschätzende Lob ins Spiel. Um Paul Klees berühmtes Kreatives Credo von 1920 zu paraphrasieren:38 Das Gebet gibt nichts wieder (Wahrheit2), es lässt sichtbar werden (Wahrheit1). Ohne der Betrachterin zu sagen, was ‚wahr oder falsch’ ist, erschließt es ihr einen Zugang zu dem, was als möglicher Gegenstand denkenden Fragens unsere Beachtung verdient. 38 „Kunst gibt nicht das sichtbare wider, sondern macht sichtbar.“ Paul Klee, Kunst-Lehre (Leipzig: Reclam 1991), 60 17 Zur Dekonstruktion abendländischen METAPHYSIK: Beobachtungen zu Niklas Luhmann Ich habe bisher in das vormoderne Konzept orthodoxer Gottesbeobachtung eingeführt. Im letzten Teil meines Vortrags möchte ich etwas ausführlicher auf jene heterodoxe Tradition eingehen, die im Hintergrund von Luhmanns alternativem Konzept der Gottesbeobachtung steht. Die Differenz zwischen Orthodoxen und Häretikern lässt sich anhand der begrifflichen Unterscheidung zwischen Wahrheit1 und Wahrheit2 verdeutlichen. Wir können nämlich zwischen zwei Formen von Metaphysik unterscheiden, je nachdem ob man Wahrheit1 oder Wahrheit2 als fundamental erarchtet. Die Gretchenfrage heißt demnach: Was kommt zuerst? – die analoge Sprache unseres Alltagsverstandes, oder die digitale, zwischen wahr und falsch unterscheidende Logik kritischer Reflexion? Zwei Antworten auf diese Frage sind denkbar. Antwort 1: Analogische Sprachformen sind ein Oberflächenphänomen, die fundamentalere logische Operationen verdecken. Ich werde diese rationalistische Position im Folgenden als ‚METAPHYSIK‘ (Großgedruckt) bezeichnen (in Anlehnung an den analytischen Philosophen Hilary Putnam). 39 Antwort 2: Digitale Logiken sind lediglich Hilfsmittel, die den Umgang mit der analogischen Welt, in der wir leben, erleichtern. Ich werde diese Position im Folgenden (ebenfalls in Anlehnung an Putnam) als ‚Metaphysik‘ (Kleingedruckt) bezeichnen. 39 Cf. Putnam (interveiw) + Taylor (forthcoming) 18 Der jüngeren philosophiegeschichtlichen Forschung folgend, lassen sich diese differenten Metaphysik-Konzepte denjenigen Ordenstradition des Mittelalters zuordnen, die die bedeutendsten philosophischen Vertreter dieser Alternative hervorgebracht haben:40 ‚Metaphysik‘ (kleingedruckt) entspricht der durch Thomas von Aquin repräsentierten Tradition der Dominikaner; ‚METAPHYSIK‘ (Großgedruckt) entspricht der durch Duns Skotus representierten Tradition der Franzikaner. Es gibt demnach eine franziskanische Ahnengalerie, die bei Duns Scotus anfängt, und eine Reihe von Denkern einschließt, die trotz aller Gegensätzlichkeit zumindest eines gemeinsam haben: Sie betreiben METAPHYSIK (Großgedruckt). Bedeutende Repräsentanten dieser franziskanischen Ahnengalerie sind Descartes, Leibniz, Kant, Hegel, Frege, Deleuze; aber auch Denker, bei denen man das nicht sofort erwarten würde, wie Heidegger und Derrida.41 Kein Zweifel kann m.E. daran bestehen, dass Niklas Luhmann zu dieser Galerie gehört, wiewohl ich mir bewusst bin, dass er sich als ein ‚nachmetaphysischer‘ Denker verstand. Wie alle nach-metaphysischen Denker verstand er unter Metaphysik allerdings im Wesentlichen das, was Leibniz darunter verstand. Aus diesem Grund entging diesen Denkern, dass die Dekonstruktion abendländischer Metaphysik bereits im 3. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichte - wenngleich man zugestehen muss, dass Denker wie Derrida dies in ihrem Spätwerk zu erahnen begannen. 40 Milbank. 41 Pickstorck / Honnefelder (vgl. An.Turn) 19 Bemerkenswert ist nun eine Parallele zwischen paradoxieverliebten, postmetaphysischen ‚Franzikanern‘ und fälschlich als Mystiker interpretierten orthodoxen ‚Dominkanern‘ wie Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Während die Dominikaner die paradoxen Züge der Metaphysik (Kleingedruckt) explizit machten, machen Post-modernisten wie Luhmann und Derrida, die die paradoxen Züge der modernen METAPHYSIK (Großgedruckt) explizit. Die Differenz zwischen diesen Traditionen liegt in einem unterschiedlichen Verständnis von Realität. Das Grundprinzip der METAPHYSIK (Großgedruckt) wurde bereits erläutert: Es beruht auf der Annahme, dass es einen neutralen Raum experimentellen Denkens gibt, in dem sich ‚mögliche Welten‘ erfinden und experimentell erproben lassen. Bei Descartes ist dieser Raum in der Denkenden Seele zu verorten, bei Galileo und Newton im Labor. Das philosophische Grundproblem dieser metaphysischen Tradition fällt mit der Frage zusammenfassen: Wie lässt sich sicherstellen, dass der simulierten, virtuellen Realität eine wirkliche Realität entspricht? Post-metaphysische Repräsentation dieser Tradition scheren sich nicht um dieses Problem, halten der METAPHYSIK (Großgedruckt) aber zumindest ex negativo die Treue: Die Frage wird offen gehalten, oder sogar verneint. Man braucht sozusagen einen Professor, der uns unter großen Theorieaufwand darüber aufklärt, wie sich simulierte Welten zur wirklichen Welt verhalten. Und das bleibt so, selbst dann wenn man dieses Problem für unlösbar erklären, oder die Differenz zwischen Simulation und Wirklichkeit vollständig einebnen. Nur der Professor weiß das. 20 Davon zu unterscheiden ist die dominikanische Tradition. Auch diese Tradition stützt sich auf eine Form von ‚metaphysischen Realismus‘, doch in diesem Fall handelt es sich um Metaphysik (kleingedruckt). Man braucht hier keinen Kleriker, um die Welt zu verstehen. Der metaphysische Realismus (kleingedruckt) stützt sich vielmehr auf die schlichte Annahme, dass wir immer schon in Kontakt mit der Wirklichkeit stehen. Konstruierte, simulierte oder virtuelle Realitäten sind ein wichtiger Teil dieser Wirklichkeit. Aber sie können die wirkliche Welt nicht durchgehend repräsentieren oder ersetzen, oder gar unseren Wirklichkeitsbezug als gefährdet erscheinen lassen. Eher sind konstruierte Realitäten mit dem vergleichbar, was man in der Computerwelt als Augmented Reality Applications bezeichnet: Vorrichtungen, die uns erlauben bestimmte Aspekte der Welt, die wir bewohnen, deutlicher zu erfassen oder besser zu kontrollieren. Zuerst muss Eva Adam erkennen. Wenn Eva dann plötzlich den Eindruck bekommt, dass Adam auf einem anderen Planeten lebt, kann sie einen Beobachter zweiter Ordnung zu Rate ziehen oder eine soziologische Studie über Liebe als Passion lesen. Doch der Gebrauch dieser Applications ist unserem unvermittelten Wirklichkeitsverstehen nachgehordnet. Das klingt jetzt wie eine Neuauflage der phänomenologischen Tradition: das ‚in der Welt sein‘ (die Husserlsche ‚Lebenswelt‘) ist unserem reflexiven Erkennen vorgeordnet. 21 Doch das Denken von Husserl, Heidegger und Derrida bleibt an entscheidenden Punkten der METAPHSIK (Großgedruckt) verhaftet – und damit komme ich zurück zum doxological turn spätmoderner Theologie. Only Theology overcomes Metaphysik, sagt mein Nottingham College John Milbank. Ich werde im Folgenden dieser Wegweisung folgen, wenngleich ich entschiedener als Milbank die doxologisch-spirituellen Fundamente dieser theologischen Wende hervorheben werde. Doxological turn Um den historischen Stellenwert dieser Wende zu verstehen, ist es hilfreich ihr philosophisches Gegenstück in Erinnerung rufen, die phänomenologische Spiritualität Husserls und Heideggers. Dazu empfiehlt es sich auf Luhmann’s „Reality Augmenting Devices“ zurückgreifen – handelt es sich im Falle der phänomenologischen Spiritualität doch sozusagen um eine unvorhergesehene Nebenwirkung der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften. In einer funktional differenzierten, pluralistischen Gesellschaft, haben wir nach Luhmann mit dem Phänomen zurecht zu kommen, das unsere eigene Perspektive stets als limitiert und korrekturbedürftig erscheint. Was auch immer ich tue, meine Perspektive erscheint als kontingent. Von Partnerschaften bis hin zu religiösen und politischen Verpflichtungen, postmoderne Lebensformen sind durch eine erhöhte Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit charakterisiert. Ich mag heute auf dem Trafalgar Square das Evangelium verkünden, und morgen zum New Atheism konvertieren, nachdem ich mich in die Tochter von Richard Dawkins verliebt habe. 22 Der Papst mag heute als ein heiliger erscheinen, und morgen stellt sich heraus, dass er ein Kinderschänder ist. Wer weiß? Unter den Bedingungen funktional differenzierter Gesellschaften ist jede Stellungnahme gefährlich – zumindest solange wir der Versuchung widerstehen, fundamentalistische Lösungstrategien zu propagieren, oder uns als ‚suicide bomber‘ zu engagieren. Aus diesem Grund widerstehen die meisten Menschen der Versuchung, auf dem Trafalger Square zu predigen. Man hält sich zurück. Soziologen wie Luhmann sprechen an diesem Punkt von der Emergenz des Beobachters zweiter Ordnung: Der Beobachter kann nicht sehen, was er nicht sehen kann. Aber er kann sehen, dass ein anderer Beobachter seinen blinden Fleck sieht, so wie er auch umgekehrt den blinden Fleck seines Beobachters sehen kann. „Es gibt keinen privilegierten Standpunkt mehr“42 – und das führt zu einer allgemeinen Verunsicherung. Folglich vermeiden post-moderne Individuen, für ihre Positionen Verbindlichkeit zu reklamieren. Um mit Luhmann zu sprechen: „Die fixierte Identität der Person franst aus, verschwimmt, wird bestimmungsbedürftig“ und taucht ab in Formen „unbestimmbare Ungleichheit, Individualität, Einzigartigkeit.“43 Nach Luhmann ist diese Situation mit der Situation vormoderner Mystiker verwandt.44 Und das hat einen einfachen Grund: Der Versuch Unbestimmtheit mit Einzigartigkeit zu kombinieren ist paradox. Das post-moderne Individuum vermeidet, den Anspruch auf Einzigartigkeit durch Urteile abzustützen, die seine Position in kulturell sedimentierten 42 Cf. Luhmann / Fuchs: Reden und Schweigen, 11f. 43 Luhmann, Fuchs, 144. 44 Die Erfahrungen und Paradoxien des Mystikers, „haben es mit der Beobachtung von Selbstreferenz zu tun (…) Im Zuge nun der Umstellung des Gesellschaftssystems auf die funktional differenzierte Typik werden solche Erfahrungen allgemein.“ Reden und Schweigen, 98. 23 Deutungsmustern zu verorten erlauben. Wer sich allzu deutlich festlegt, wird angreifbar. Aber Einzigartigkeit ist auf Mitteilung angelegt! Wie teilt man den anderen einen einzigartigen Standpunkt mit, wenn man zugleich unter allen Umständen vermeiden muss darüber zu sprechen? Wie nicht Sprechen? heißt bekanntlich auch der Titel einer kleine Schrift von Derrida über die Tradition mystischer Theologie, das in den ersten Kapiteln das Paradox spätmoderner Identitätspolitik auf den Punkt bringt: Wie nicht sprechen? Das heißt einerseits: Wie vermeiden über meine wahre Identität zu sprechen? aber auch: Wie um alles in der Welt könnte ich das vermeiden? Derridas Auseinandersetzung mit dieser Identitätspolitik und der damit einhergehenden ‚Krisis‘ traditioneller Muster die Welt zu deuten, steht Luhmanns Gegenwartsdiagnose nahe, stützt sich aber deutlicher auf die Phänomenologie Edmund Husserls. Das ist bemerkenswert, denn das Prinzip der Urteilsvermeidung wird bereits in der sogenannten Phänomenologischen Reduktion des frühen Husserl zu einem zugleich spirituellen und wissenschaftlichen Programm. In der Tradition antiker Skepsis nannte Husserl die für eine rigorose Erforschung von Phänomenen unabdingbare Suspendierung von Urteilen über die Welt epoché – auf Deutsch, ‘man hält sich zurück’.45 Bei Husserl zielt diese Operation darauf, den universalen Sinn von Phänonenomen und Zeichen zu ergründen. Aus diesem Grund wird Husserl von 45 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, The Hague 1950 (1907), pp. 5-10, 43ff.; also: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. I. Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana III, The Hague 1950 (1913), pp. 64-74. 24 Luhmann zurecht als eine Übergangsfigur behandelt – alles Universale ist in der Post-moderne suspekt.46 Aus ähnlichen Gründen radikalisieren Denker wie Foucault und Derrida Husserls phänomenologische Reduktion zu eine epoché des Sinns. Wir können demzufolge nicht mehr davon ausgehen, dass Zeichen einen eindeutig definierbaren Sinn haben. Eine rigorose Wissenschaft hat sich vielmehr darauf zu beschränken, die kontextspezifischen Bedingungen zu rekonstruieren, unter denen Zeichen Sinn generieren. Durch diese Operation entsprechen Denker wie Derrida und Foucault den veränderten Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft im Sinne Luhmanns. Das spirituelle Grundprinzip bleibt aber das gleiche. Man muss sich zurückhalten: Urteile nicht, damit auch Du nicht beurteilt wirst! Die Praxis der Urteilsenthaltung war bereits in Antike Teil einer spirituellen Lebensform. Husserl war sich dessen bewusst, als er an die Tradition antiker Skepsis anknüpft.47 Die spätmoderne Tendenz, nicht zu Urteilen über das, wovon man nicht vermeiden kann zu sprechen, hat demnach zugleich den Charakter einer spirituellen und einer wissenschaftlichen Grundhaltung. Ich habe mich in meinen älteren Publikationen selbst an dieser Tradition orientiert.48 Erst in meinen jüngeren, englischsprachigen Publikationen habe ich 46 Cf. etwa Die Religion der Gesellschaft (2000), 122f. 47 Hans P. Sturm, Urteilsenthaltung oder Weisheitsliebe zwischen Welterklärung und Lebenskunst (München: 2002). 48 Vgl. etwa Johannes Hoff, "Dekonstruktive Metaphysik. Der Beitrag der Dekonstruktion zur Erschließung des Archivs negativer Theologie". In: Peter Zeillinger; Matthias Flatscher (Ed.), Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie (Wien: Turia & Kant 2004), pp. 138-168, sowie Johannes Hoff, Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida (Paderborn et al.: Schöningh 1999). 25 die ‚phänomenologische Reduktion‘ durch eine doxologische Reduktion ersetzt. Worin liegt der entscheidende Schritt? In beiden Fällen haben wir es mit einer apophatischen oder skeptischen Suspendierung von Urteilen zu tun. Die Suspendierung von Urteilen zwingt dazu, den Zeit-Raum für das Ungedachte offen zu halten – ob wir das Ungedachte Gott nennen, Alterität, Kontingenz oder was auch immer. Im Unterschied zur phänomenologischen Reduktion ist die doxologische Reduktion allerdings nicht indifferent gegenüber der Differenz von Gut und Böse, und das führt mich zu einem Kernproblem zeitgenössischer philosophischer Debatten. Wie das Beispiel Martin Heideggers zeigt, ist die phänomenologische Reduktion gleichermaßen offen für die Möglichkeit von Gut und Böse, philia und polemos, Liebe und Kampf.49 Die Beunruhigenden Züge dieser indifferenten Offenheit wurden bereits von Derrida aufgezeigt. Doch selbst wenn man Heideggers Schwarzen Hefte im Giftschrank aufbewahrt: Die Hyperreflexivität post-moderner Gesellschaft scheint wenig Spielraum zu bieten, die Ambivalenz dieser indifferenten philosophischen Grundhaltung zu überkommen. Was uns heute als heilig erscheint, kann sich im nächsten Augenblick ins Gegenteil verkehren. Die Schriften des Pop-Philosophen Slavoj Zizek bringen diese Ambivalenz treffend auf den Punkt. In seinem Buch „The Monstrosity of Christ“ erscheint sogar das Menschgewordene Wort selbst als Prototyp für diese Ambivalenz: Jesus 49 Hierzu und zum Folgenden: Hoff: Mystagogy. 26 Christus markiert die ultimative Ausnahme von der moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Und genau aus diesem Grund war Christus (ich zitiere) „Gott selbst, der als die Ultimative Koinzidenz der Gegensätze mit dem Satan identisch ist.“ (265). Der Begriff der Koinzidenz der Gegensätze wurde im 15. Jahrhundert durch Nikolaus von Kues geprägt. Aber Cusanus hätte dieses Zitat nicht unterschreiben. Meiner jüngeren Forschungsarbeiten stützen sich deshalb auf diesen, vermutlich letzten bedeutenden Vertreter des Platonischen Eroskonzepts. Nach der erotischen Tradition des Platonismus markiert der Name für das Ungedachte stets das Ziel (Telos) einer Strebensbewegung. Die Möglichkeit einer Koinzidenz von Gut und Böse macht deshalb keinen Sinn. Wie könnte das Böse, also das was nicht erstrebenwert ist, das Ziel einer Strebensbewegung darstellen? Trotz seines Ringens mit der finsteren Indifferenz seines Meisters Martin Heideggers, hätte Derrida dieser Position nicht folgen können. Warum? Jede Art von Teleologie scheint eine dogmatische Vorentscheidung über den Sinn von Zeichensystem zu implizieren, und das ist mit dem Prinzip radikaler Urteilsenthaltung unvereinbar. Eine Teleologie wäre Gleichbedeutend mit einem Rückfall in den Dogmatismus vorkantischen Stils – das ist unter allen Umständen zu vermeiden.50 50 Gewalt und Metaphysik. ## In meinen ersten Forschungsarbeiten über Cusanus habe ich diese Position selbst noch vertreten. Kritisch hierzu: Bocken.## 27 Die Dekonstruktion dieser Position lässt sich in zwei Schritten vollziehen, die ich hier nur skizzieren kann: (1) Die abendländliche Metaphysik privilegiert seit Duns Scotus das Mögliche gegenüber dem wirklichen Sein. Selbst Heidegger, der bekanntlich über Duns Scotus (resp. Thomas von Erfurt) promovierte, tastete dieses Prinzip nicht an: Seine Ontologie beginnt mit der Frage nach der Möglichkeit, und nicht mit einer Verortung in der Wirklichkeit von Sein.51 Cusanus folgt demgegenüber unbeirrte dem Vorbild des heiligen Augustinus, und – anders als Heidegger – hat er dessen Confessiones ganz gelesen. Letzteres ist entscheidend. Augustinus‘ Bekenntnisse beginnen bekanntlich nicht mit einer Meditation über die Bedingungen der Möglichkeit von Zeitlichkeit. Sie beginnen nicht mit Buch X, sondern mit Buch I: Der autobiographischen Erinnerung an ein infans, ein sprachloses Kind, das sich mit der Welt bereits vertraut gemacht hatte, bevor es über den Unterschied zwischen Möglichem und Wirklichem nachzudenken begann. Unsere Versuche, die Welt zu verstehen, beginnen demnach nicht dort, wo man mit den Franziskanern des Spätmittelalters über mögliche Welten spekuliert. Sie beginnen dort wo Adam Eva erkennt, und Kinder zur Welt kommen. Es war übrigens eine Frau, die das als eine der ersten gesehen hat: Hanna Ahrendt, die jüdische geliebte des Antisemiten Heidegger. 51 “Higher than actuality stands possibility.” Heidegger, Being and time (Fn. Error! Bookmark not defined.) §7, p. 38 (German pagination). 28 Es ist von daher kein Zufall, das Ahrendt über Augustinus und nicht über Duns Scotus promovierte. Aber zurück zu doxologischen Reduktion. Wenn, anders als bei Heidegger und Derrida, das philosophische Denken mit der Welt beginnt, in der Eva Adam (oder Hanna Martin) erkennt, und nicht mit der Spekulation über mögliche Welten, dann ist das noch lange kein Verstoß gegen das Prinzip der Urteilsenthaltung. Das hat nichts mit Dogmatismus zu tun! Das ist schlicht und einfacher eine realistischere spirituelle Grundhaltung. 2) Der zweite entscheidende Schritt zur Überweindung der phänomenologischen Spiritualität der Post-moderne wurde bereits ausführlich erläutert: Wir müssen die doxologischen Grundzüge unseres Wirklichkeitsverstehens ernst nehmen – und das heißt ontologisch gewendet: Das Schöne und Gute hat nicht den Charakter einer prädikativen Bestimmung in Bezug auf neutrale facts. Es ist vielmehr das, was das Kind in Staunen versetzt, wenn es den ersten cats begegnet. Kurz, das philosophische Denken muss mit dem beginnen, was uns als Staunens und Liebenswert erscheint, schon bevor wir den Versuch unternommen haben, es anhand von Unterscheidungskriterien als gut oder schön zu beurteilen. Das schließt das nachträglich kritisch reflektierende Urteil ebenso wenig aus wie das erste Buch der Confessiones die Niederschrift des zehnten Buchs ausschließt. Entscheidend ist allein, dass die nachträgliche Reflexion den Charakter einer ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ hat, die dem doxologischen Erkenntnismodus ontologisch nachgeordnet bleibt. 29 Gottesbeobachtung Im letzten Abschnitt meines Vortrags möchte ich kurz skizzieren, worin sich diese Konzeption der Gottesbeobachtung von Luhmanns Konzept der Gottesbeobachtung unterscheidet. Wie Sie bereits der Einladung zu dieser Tagung entnehmen konnten, geht es nach Luhmann in allen Religionen um eine Art von Realitätsverdopplung. Ich zitiere Luhmann: „Irgendwelchen Dingen oder Ereignissen wird eine besondere Bedeutung verliehen, die sie aus der gewöhnlichen Welt … herausnimmt und mit einer besonderen ‚Aura‘, mit besonderen Referenzkreisen ausstattet.“52 Nach dieser Beschreibung muss Adam zuerst einmal „über irgendwelche Dinge oder Ereignisse nachdenken“, bevor er sich dazu entschließt Eva zu erkennen. Das ist irgendwie eine trostlose Welt. Doch sie ist nicht ohne Präzedenz. Im Gegenteil, sie ist konsistent mit der nicht minder trostlosen, neoscholastischen Unterscheidung zwischen einer rational erkennbaren Natur und einer gnadenhaft geoffenbarten Übernatur – und natürlich auch mit ihn liberalen Ablegern. Der moderne Dualismus von Natur und Übernatur ist aber nicht konsistent mit dem Denken des vermeintlichen Begründers der scholastischen Tradition: Thomas von Aquin.53 Bei Thomas wir das Übernatürliche vielmehr direkt auf der ontologisch grundlegenden Ebene alltäglichen Wirklichkeitsverstehens verortet. 52 Luhmann (2000), 58. 53 Milbank: Suspended Middle, ch. x 30 Aus dieser Tatsache erklärt sich warum Thomas (in Übereinstimmung mit Dionysius Areopagita) noch fest davon überzeugt war, dass Gott nicht beobachtet werden kann. Der Schöpfer kann nur indirekt erkannt werden: Im Spiegel der Schönheit und Vollkommenheit seiner Geschöpfe. Das Übernatürliche übersteigt zwar alles natürliche, doch es ist meiner Welt zugleich (wie bei Augustinus) zuinnerst eingeschrieben. Jedes seinde (ens) hat den Charakter eines ‚end‘, das den Betrachtenden dazu anleitet inne zu halten, und sich im Lobpreis Gottes zu verlieren. Aus diesem Grund kann nach Thomas nicht einmal der Teufel der Versuchung widerstehen Gott zu Loben. Alle Kreaturen, „Im Himmel, auf der Erde und unter der Erde“ (Phil. 2:9) beugen die Knie zum Lobpreis, und genau das befähigt sie dazu, die doxa Gottes zu erkennen. Natürlich entging Thomas nicht, dass das Lob des Teufels defizient ist: Der Teufel bekennt Gott nur mit den Lippen und nicht mit dem Herzen.54 Doch selbst er hat einen natürlichen Instinkt, das Sein der Schöpfung in Dankbarkeit (gratitudo)55 zu loben. Wir verstehen jetzt warum der Teufel nicht ein neutraler Beobachter Gottes ist.56 Der Versuch, Gott aus der distanzierten Perspektive des Beobachters zweiter Ordnung zu beobachten, fällt zusammen mit dem Versuch sich von der Quelle geschöpflichen Seins loszureißen. Und das kann schon aus ontologischen 54 ‘Then when he says, “[at the Name of Jesus let] every tongue confess [and every knee bow]”, he touches on the reverence shown by confessing with the mouth: Every tongue, namely, in heaven and on earth and under the earth. This does not refer to a confession of praise from those in hell, but to a confession compelled by recognising God: … “Let them praise thy great and terrible name! Holy is he!” (Ps. 99:3). And this confession will recognise that Jesus Christ is Lord [in] the glory (doxa) of God the Father.’ (Aquinas: Commentary on Philippians) 55 “Aquinas repeatedly associates the act of praise with acts of thanksgiving; they are essentially the same. For this reason, every praiseworthy act is deserving of gratitude (ST II-II, q.106, a.5, ad.1)” 56 “It is not part of human nature to have the faith, says Aquinas, but it is part of human nature to have the instinct of, or impetus towards, faith (ST II-II, q.10, a.1, ad.1).” (Steven) 31 Gründen nicht funktionieren: Das Sein der Schöpfung offenbart die Herrlichkeit Gottes ja nur deshalb, weil es am Sein Gottes teilhat. Zu Gott auf Distanz zu gehen wäre demnach gleichbedeutend mit dem vergeblichen Versuch zur eigenen Existenz auf Distanz zu gehen – das kann nur zu höllischen Selbstwidersprüchen führen. Das führt mich zurück zur Differenz zwischen einer phänomenologischen und einer doxologischen Reduktion: Wir können zwar mit dem Teufel versuchen, uns von den Spuren des Übernatürlichen im Natürlichen abzuwenden, und damit ungläubig gegen die ‚Beobachtung‘ es Übernatürlichen im Natürlichen optieren. Aber es besteht keinerlei Notwendigkeit, angesichts einer fundamentalen Indifferenz in Bezug auf die beobachtete Wirklichkeit für das Lob des Guten und Schönen zu optieren. Wir haben die Wirklichkeit immer schon gelobt – selbst wenn wir uns anschließen entscheiden, für Luhmann oder den Teufel Partei zu ergreifen. Um die Sprache Niklas Luhmanns abzuwandeln: Es besteht keinerlei Notwendigkeit, ein ambivalentes Kräftegleichgewicht von Gut und Böse durch einen Entscheidungsvorgang zu ‚entparadoxieren‘. Genau darin liegt die Differenz zwischen einer phänomenologischen und einer doxologischen Reduktion. Selbst wenn wie alle propositionalen Urteile suspendieren, ist unsere Grundhaltung zur Welt nicht (wie bei Luhmann, Heidegger, oder Carl Schmitt) ontologisch neutral. 32 Bei Luhmann ist der Gottesbegriff ein Supplement, das eine ursprünglichere, vollkommen indifferente Paradoxie verdeckt.57 Es ist aber umgekehrt: Die Komplexitätsreduktion zugunsten Gottes hat immer schon stattgefunden. Die Schöpfung ist einfach - wenngleich wir im Gefolge des Sündenfalls den Hang haben, nachträglich alles unnötig kompliziert zu machen. Aus dem gleichen Grund sind die Unterscheidungen und Paradoxien sogenannter Mystiker, wie Meister Eckhart oder Cusanus, nicht fundamental. Unterscheidungen sind ein zweischneidiges Schwert: Sie können zu einer Wirklichkeitsentfremdung führen; können aber auch dazu dienen, den Bezug zur Wirklichkeit mittels paradoxaler Verneinungsoperationen zu bewahren.58 Doch In keinem Fall erlauben sie uns mehr zu beobachten, als das, was wir schon erkannt haben. Aus diesem Grund kann Gott das Hantieren mit beobachtungstheoretischen Verfahren der Realitätsverdopplung den Systemtheoretikern und apophatischen Theologen überlassen. Gott hat mit Unterscheidungs- und Verdopplungsverfahren nichts zu schaffen. Der dreifaltige Gott christlicher Orthodoxie ist einfach, und wird nur dort erkannt, wo man den Willen zwischen Ja und Nein zu unterscheiden aufgibt. Um mit Angelus Silesius zu sprechen: GOtt spricht nur immer Ja; der Teufel saget nein: Drumb kann er auch mit Gott nicht Ja und eines seyn.“59 „ 57 Religion in der Gesellschaft 152f. 58 Anders als bei Kant, ist der Sündenfall bei Augustinus und Thomas nicht vorprogrammiert. Milbank: Darkness and Silence. 59 Angelus Silesius (Johannes Schäffler): Cherubinischer Wandersmann II 4 33