Frame-Analysis (Rahmenanalyse) politischer Diskurse

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Die Eiserne Lady, der weiße Ritter und
die Schuldenkrise
Published in Jeder für sich oder alle gemeinsma in Europa ? Die Debatte über Identität, Wohlstand und die
institutionellen Grundlagen der Union, ed. by Frank Baasner and Stefan Seidendorf, Nomos, 2013, p. 119-141.
Einleitung
Ohne Zweifel stellt die durch den Finanzkrach 2008 ausgelöste europäische Schuldenkrise für die
Europäische Union (EU) und das deutsch-französische Tandem im Besonderen einen historischen
Testfall dar. Während die Griechenland 2010 gewährte Finanzhilfe eine erste Notreaktion war,
machten die fortwährenden Drohgebärden der Finanzmärkte gegenüber mehreren Mitgliedstaaten
die Notwendigkeit einer vertieften Koordination der Wirtschaftspolitik in der Eurozone klar. Die
wiederholten deutsch-französischen Krisengipfel und Treffen des Europäischen Rates führten zuerst
zur Annahme des „Euro-Plus-Pakts“ im März 2011, der permanente Mechanismen zum Umgang mit
der Finanzkrise etablierte: die Europäische Finanzmarkt-Stabilisierungs-Fazilität (EFSF) und den
Europäischen Stabilitäts Mechanismsu (ESM). Ein weiterer Schritt erfolgte im Dezember 2011, als
Frankreich und Deutschland eine Übereinkunft mit allen anderen EU-Staaten (außer Großbritannien)
erzielte. Diese führte zur Unterzeichnung eines Regierungsabkommens, dessen Ziel die Verankerung
strengerer Regeln zur europäischen Überwachung der nationalen Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten ist.
Während dieser turbulenten Monate richteten sich die Blicke der Beobachter, Kommentatoren und
Medien besonders auf die Reaktionen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Diese wurden
als zu langsam und zögerlich betrachtet, Deutschlands „Europadefizit“ oder „Europaskepsis“ wurden
kritisiert und vor einer „Schweizer Versuchung“ gewarnt. Angela Merkel wurde als Europas neue
„eiserne Lady“ bezeichnet. In der französischen Presse wurde der Pakt für den Euro bisweilen als
Beleg dafür gelesen, dass Deutschland sein Wirtschaftsmodell der ganzen Union aufzwänge. Obwohl
Deutschland Haushaltsdisziplin erzwungen hat (durch Schuldenbremse / Goldene Regel), konnte es
auch erfolgreich der EU Kommission Kompetenzen für die Überwachung der nationalen Haushalte
übertragen.
Die Tatsache, dass sich deutsche Präferenzen in der Neudefinition der ökonomischen Governance
der EU verwirklichen konnten, ist nicht sehr überraschend. Während es lange im Schatten der
französischen Diplomatie stand, ist Deutschland im 21. Jahrhundert zu Europas hauptsächlicher
wirtschaftlicher und politischer Macht geworden. Es sind deshalb eher die von Deutschland
gemachten Konzessionen, die eine Untersuchung rechtfertigen. So, wie Nicolas Sarkozy seinen Eifer
1
als „weißer Ritter“, der Griechenland und ganz Europa rettete, mäßigen musste, musste umgekehrt
die „Eiserne Lady“ im Laufe der Ereignisse ihre Position aufweichen. Der Pakt für den Euro enthält
eine Reihe französischer Vorstellungen zur Governance (Deubner 2001), wie beispielsweise die
Schaffung eines permanenten Krisenfonds, der finanzielle Solidarität innerhalb der Eurozone
garantiert, die Veränderung der Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) hin zu einer stärker
interventionistischen Haltung, und die Schaffung einer sogenannten „Wirtschaftsregierung“ der
Eurozone mit dem Ziel verstärkter Koordination der Wirtschaftspolitik, einschließlich erster Schritte
zur Steuerharmonisierung. Obwohl Angela Merkel die Vergemeinschaftung von Staatsschulden durch
Eurobonds nach wie vor ablehnt, ist ein solcher Schritt in der Zukunft nicht auszuschließen, vor allem
bei einem Regierungswechsel hin zu einer Rot-Grünen Koalition 2012. Obwohl Angela Merkel jeden
deutschen Beitrag zu europäischer Solidarität 2009 abgelehnt hat, hat das Land schließlich 27% des
ESM übernommen, das sind 22 Milliarden Euro, und weitere 168 Milliarden als Ausfallgarantien. Im
Januar 2012 fordern sowohl die französische Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF)
Christine Lagarde, als auch der italienische Premierminister Mario Monti, die Verdoppelung des ESM
auf 1 Billion Euro. Die Antworten auf die Schuldenkrise stehen also zusammengenommen eher für
die Kontinuität des deutsch-französischen Kompromisses in Europa, als für einen Bruch in der
deutschen Europapolitik. Einmal mehr akzeptierte Frankreich ein deutsches Politikmodell (hier
Austerität anstelle von Keynesianismus), um weitere Integrationsschritte zu erlangen. Das war
bereits der deutsch-französische „Deal“ im Maastrichter Vertrag, der die Europäische
Währungsunion ermöglichen sollte (Parsons 2003).
Es stellt sich also die Frage, warum Deutschland, wirtschaftlich und politisch der mächtigste Staat in
der EU, dennoch so viele Forderungen nach vertiefter Integration und finanzieller Unterstützung im
Laufe der Krise akzeptieren musste. In letzter Zeit haben einige Wissenschaftler einen Trend zur
„Politisierung“ deutscher und französischer EU-Politik ausgemacht, die die Europäische Integration
den oft durch Furcht und Skepsis gekennzeichneten Präferenzen der nationalen Wähler stärker
aussetzt (Harnisch 2006, Schild 2008, Schild 2009). Dieser Trend scheint sich in den Antworten auf die
Schuldenkrise der EU zu bestätigen. In Angela Merkels Reden über Deutschlands nationale Interessen
und die „europäische Realpolitik“ (s. die vorhergehenden Kapitel) zeigt sich mit Sicherheit die klare
wahltaktische Orientierung an den Präferenzen der eigenen öffentlichen Meinung. Allerdings gelang
es ihr nicht, auf europäischer Ebene genügend Handlungsautonomie zu gewinnen, um diese Position
durchzusetzen, so dass sie die Verhandlungspräferenzen der deutschen Regierung nachjustieren
musste.
Im Folgenden argumentiere ich, dass dieser deutsche Diskurs deshalb politisch wenig erfolgreich war,
weil er nicht auf den legitimen Normen der europäischen Arena basierte. Während es Nicolas
2
Sarkozy erfolgreich gelang, französische Positionen innerhalb der legitimierten europäischen
Normen, wie Solidarität und Bekenntnis zu einer „immer engeren Union“, zu verankern, war Angela
Merkels Diskurs die zu offensichtliche Verkörperung nationaler Bedenken. Dieses Argument bezieht
sich auf eine sowohl normative, als auch diskursive Konzeption der europäischen Arena. Einerseits
entsteht die Legitimität von Entscheidungen und politischen Prozessen in der EU aus der Kongruenz
mit gemeinsam geteilten Normen. Während sich die Wissenschaft in diesem Zusammenhang bisher
auf (repräsentative oder partizipative) demokratische Normen konzentriert hat (Saurugger 2009,
Schimmelfennig 2010), kann Solidarität ebenfalls als eine der normativen Grundlagen der EU
gesehen werden. Andererseits hängt die interaktive Herausbildung von Präferenzen und das
Verhandeln in der EU von diskursiven Praktiken und „rhetorischem Handeln“ ab (Schimmelfennig
2003, Schmidt 2006).
Dieses Kapitel konzentriert sich auf die erste Phase der Krise, die mit der Explosion der griechischen
Staatsschulden im Herbst 2009 begann und mit der Annahme des „Pakts für den Euro“ im März 2011
endete. Diese Sequenz steht für die Herausbildung der diskursiven Wahrnehmung (framing) der
Krise, die sich seitdem nicht besonders verändert hat. Dabei dient eine Rahmenanalyse (frameanalysis) von 34 Pressekonferenzen und Presseinterviews französischer und deutscher führender
Politiker als empirische Grundlage. Das Kapitel unterteilt sich in drei Teile. Der erste Abschnitt erklärt
die Relevanz und grundsätzliche Herangehensweise einer Diskursanalyse für die Untersuchung der
Euro-Krise. Der zweite Teil stellt eine Rekonstruktion der Dynamik der Debatten dar, die im „Pakt für
den Euro“ zu einem Kompromiss geführt haben. Der letzte Abschnitt führt aus, wie die schwache
normative Rechtfertigung des deutschen Diskurses die Wirksamkeit der Position Angela Merkels
beeinträchtigte und sie zwang, die deutschen Präferenzen anzupassen: von einer Position, die nach
mehr Autonomie in Europa suchte, zu einer Haltung, die das Management von Interdependenz in
den Vordergrund stellte.
Diskurs: Die Substanz und der Motor europäischer Politik
Die normative Dimension des Diskurses
Der Untersuchung von Diskursen kommt aus mehreren Gründen eine entscheidende Bedeutung zu,
wenn es um die Erklärung der Frage geht, ob in der Eurokrise eher Tendenzen auszumachen sind in
Richtung verstärkte politische Integration und Solidarität, oder, im Gegenteil, in Richtung Egoismus
und Minimalkompromissen. Erstens vermitteln die Reden politischer Verantwortungsträger deren
Vorstellungen über ihr Land und Europa. Sie dienen der Rechtfertigung ihrer Entscheidungen und
Handlungen, sowohl gegenüber den anderen europäischen Partnern, als auch gegenüber der
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heimischen öffentlichen Meinung. Öffentliche Äußerungen, die die EU-Politik eines Mitgliedstaates
rechtfertigen sollen, wohnt eine stark strukturierte Dimension inne, da Eliten dabei durch
traditionelle Vorstellungen von Europa eingeschränkt werden – wie bspw. der grenzenlose
Binnenmarkt, oder der Wertegemeinschaft – die dem nationalen Wahlvolk von ihren Vorgängern
vermittelt wurden (Schmidt i.E.). Vor allem in Krisenzeiten kommt Diskursen deshalb eine
bedeutende Rolle zu bei der Generierung von Entscheidungen, oder, in anderen Worten, politischen
Ergebnissen, als Resultat von Debatten, Widerspruch, Deliberation oder Verhandlung zwischen den
diversen politischen Akteuren. Wie V. Schmidt schreibt, „hängt ein ‚erfolgreicher Diskurs‘ von der
relativen Stärke seiner kognitiven Argumente, der Resonanz seiner normativen Argumente, der
Angemessenheit der Informationen, auf denen das Argument beruht, der Relevanz oder
Anwendbarkeit seiner Empfehlungen, der Konsistenz seiner Ideen, und weiteren Elemente ab“
(Schmidt 2010:62). Die in diesem Beitrag entwickelte Erklärung fokussiert spezifisch auf die
normative Dimension des Elitendiskurses. Das von F. Schimmelfennig entwickelte Konzept des
„rhetorischen Handelns“ ist besonders nützlich, um die Mechanismen hinter der EU-Politik zu
verstehen. Der analytische Ansatz des „rhetorischen Handelns“ basiert auf der Annahme, dass die EU
eine Gemeinschaftsumwelt aus Werten und Normen ist, d.h. es wird von allen Mitgliedern erwartet,
dass sie sich zu diesen gemeinsamen Werten bekennen. Auch wenn die Akteure in erster Linie ihre
eigenen Interessen verfolgen:
„die Notwendigkeit der Rechtfertigung erlaubt und zwingt die Akteure, zu argumentieren. Sie sind
verpflichtet, ihre politischen Ziele zu rechtfertigen auf Basis der in der EU institutionalisierten
Identität, Werte und Normen. In anderen Worten, der Legitimitätsstandard dient als Garantie oder
Absicherung für die Gültigkeit eines Arguments im Diskurs. Akteure, deren Eigeninteressen mit den
Gemeinschaftsnormen übereinstimmen, haben die Möglichkeit, ihre Position relativ günstig zu
rechtfertigen. Sie werden ihre egoistischen Ziele argumentativ absichern und die Position ihrer
Gegner delegitimieren. Dieser strategische Nutzen von normbasierten Argumenten zur Verfolgung
von Eigeninteressen ist rhetorisches Handeln“ (Schimmelfennig 2001: 63).
Darüber hinaus sollte präzisiert werden, dass es in der Diskursanalyse nicht darum geht, ob Akteure
wirklich „glauben“, was sie sagen, sondern vielmehr soll gezeigt werden, wie Akteure Diskurse
strategisch nutzen können, um Überzeugung zu produzieren und Politikergebnisse zu beeinflussen.
Schließlich muss noch betont werden, dass innerhalb der europäischen Arena die normative
Dimension der EU-Politik partikularistische Argumente von Vertretern der Mitgliedstaaten effektiv
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begrenzt, da sich partikularistische Diskurse innerhalb der europäischen Arena kaum legitimieren
lassen1.
Interessen und Präferenzen als Konstrukt
Die hier verwendete konstruktivistische und diskursive Perspektive ist deshalb nicht irrational.
Allerdings weicht sie stark von realistischen Analysen und Analysen rationaler Wahl ab, die davon
ausgehen, dass Machtressourcen und nationales Interessenkalkül der hauptsächliche Antrieb der
Interaktion zwischen Staaten sind. Diskurse reflektieren nicht einfach (wirtschaftliche oder geostrategische) ‚objektive‘ Interessen. Interessen und Präferenzen sind nicht gegeben, sie sind
politische und soziale Konstruktionen, die sich auf bestimmte Ideen gründen (Hay 2010). Sie
unterliegen der interaktiven Dynamik rhetorischen Handelns. Präferenzen werden durch die
Gewichtung der multiplen Interessen eines Akteurs geformt. Sie entstehen in einer politischen
Umgebung, die durch Unsicherheit gekennzeichnet ist, in der der Wahrnehmung von Interessen und
Situationen eine wichtige Rolle zukommt, und sind das Ergebnis der Reaktion der Akteure auf eine
Abfolge von Ereignissen (Hall 2005). Daraus ergibt sich, dass Interessen dynamisch sind und im Laufe
der Ereignisse neu zusammengestellt werden. Obwohl realistische und rationalistische Ansätze
wichtige Aspekte der Motivation von Akteuren verdeutlichen, sind sie schlecht gerüstet, um das
politische Resultat der Eurokrise zu erklären: Wie könnten sie erklären, dass Frankreich so erfolgreich
seine Sichtweise einem stärkeren, mächtigeren Deutschland aufgezwungen hat, dessen Präferenzen
noch dazu dem im Maastrichter Vertrag historisch etablierten institutionellen Rahmen der
Währungsunionen entsprachen?
Dieses Kapitel argumentiert, dass der deutsche Diskurs sich während der Eurokrise in der Dynamik
rhetorischen Handelns verfangen hat. Es war kein „guter Diskurs“ in dem Sinne, dass wesentliche
Elemente fehlten, um die deutsche Position und ihre politischen Optionen in den Augen der anderen
europäischen Partner zu legitimieren – besonders Frankreichs, aber man kann hier auch den Chef der
Eurogruppe und Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker anführen. Angela Merkel wurde
als „schlechte Europäerin“ bezeichnet und musste entsprechend ihre Position anpassen. Nicolas
Sarkozy dagegen formulierte sehr erfolgreich einen legitimen Diskurs. Das bedeutet jedoch
selbstverständlich nicht, dass die französische Position weniger partikularistisch war. Vielmehr war
der französische Präsident in der Lage, die französischen nationalen und materiellen Interessen
diskursiv mit der gemeinsamen Norm der Solidarität kompatibel zu machen.
1
Außer in bestimmten Zusammenhängen, wenn politische Akteure zum Beispiel in Referendumskampagnen an
demokratische Werte (Volkssouveränität, Selbstbestimmung, usw.) appellieren.
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Frame-Analysis (Rahmenanalyse) politischer Diskurse
Unter Bezug auf verschiedene Forschungsansätze, die die Rolle von Ideen und Diskursen in den
Vordergrund stellen, basiert
die folgende
Analyse
auf dem
Ansatz des
„diskursiven
Institutionalismus". Die grundsätzliche Annahme ist, dass die dialektische Beziehung zwischen
Diskurs und dem institutionellen Umfeld, in dem er geäußert wird, darüber entscheidet, wie sehr der
Diskurs den politischen Prozess beeinflussen kann. Die Äußerungen französischer und deutscher
Politiker können als „kommunikativer Diskurs“ verstanden werden, der auf Normen und Werten
basiert und sich an ein weiteres Publikum richtet, im Gegensatz zum „koordinativen Diskurs“, der
kognitive Argumente bedient und sich eher in begrenzten Politikzirkeln entfaltet (Schmidt 2008).
Dieser theoretische Ansatz wird nun über eine Rahmenanalyse von 34 Reden auf Pressekonferenzen
und Presseinterviews französischer und deutscher verantwortlicher Politiker operationalisiert. Von
den Arbeiten des Soziologen Erving Goffman inspiriert, gibt es seit vielen Jahren eine Konjunktur von
Arbeiten zu sozialen Bewegungen oder staatlicher Politik, die untersuchen, wie politische Akteure
eine Debatte „rahmen“, d.h. den Gegenstand einer Debatte definieren, konstruieren, und begrenzen,
wie ein Debattengegenstand also wahrgenommen wird. Rahmung (framing) kann definiert werden
als die Art und Weise wie Akteure „relevanten Ereignissen und Bedinungen Bedeutung zuschreiben
und diese interpretieren“ (Snow und Bendford 1988). Rahmungen sind Interpretationsschemata, die
drei Funktionen erfüllen: i) Sie setzen Grenzen, um die Aufmerksamkeit auf Ereignisse zu lenken, die
sich innerhalb des Rahmens befinden, und von anderen Ereignissen abzulenken; ii) einen bestimmten
Lauf der Dinge vorzugeben (Schön und Rein 1994); und iii) Unterstützung zu stärken und Gegner zu
schwächen (Snow und Bendford 1988). In diesem Kapitel werden drei Arten von frames identifiziert:
i) dynamische narrative frames, ii) kognitive und normative frames, iii) Identitäts-frames. Die
dynamischen frames erlauben es erstens, die verschiedenen Narrative der Krise zu rekonstruieren.
Einerseits schreiben die Politiker der Krise Sinn zu, formulieren eine Diagnose und bezeichnen
Verantwortlichkeiten, indem sie die Fragen beantworten: „was ist das Problem?“ und „was ist
passiert?“. Andererseits enthält die Prognose die Antwort auf die Frage „was soll getan werden?“:
hier stellen politische Verantwortungsträger ihre bevorzugte politische Lösung vor. Zweitens
beziehen sich die normativen und kognitiven Frames auf die Lösungsvorschläge, die von politischen
Führungspersönlichkeiten und Gestaltern unterstützt werden. In der Literatur wurden bereits
vielfach Typologien entwickelt, um jene Ideen zu konzeptualisieren, die im politischen Prozess
einflussreich werden (Hall 1993; Marks und McAdam 1996; Sabatier 1998; Metha 2010). Vivian
Schmidts Unterscheidung von drei Abstraktionsebenen, deren Argumente von den am stärksten
kognitiv geprägten (Rechtfertigung durch Expertise und Problemlösungsfähigkeit) zu den am
stärksten normativ geprägten (Rechtfertigung durch den Bezug auf Werte und Legitimität) reichen,
überzeugt besonders:
6
-
Ideen, die sich auf konkrete politische Maßnahmen und Lösungen beziehen (zum Beispiel
den permanenten Rettungsschirm)
-
Ideen, die sich auf umfassendere politische Programme und Paradigma beziehen (zum
Beispiel Stabilität oder Konvergenz)
-
Ideen, die sich auf Philosophien oder Normen beziehen (z. B. Frieden, Solidarität).
In unserem Fall ist die wirtschaftliche Umverteilungs-Dimension, zwischen partikularistischen
politischer Haltungen einerseits und den Befürwortern von Umverteilungsmechanismen in der EU
andererseits, von besonderer Bedeutung (s. das Einleitungskapitel dieses Bandes). Um der
Schuldenkrise zu begegnen, beinhalten die unterschiedlichen Lösungsansätze unterschiedliche
Umverteilungsmechanismen zwischen den Mitgliedsländern der Union.
Drittens müssen Identitäts-Frames untersucht werden, um zu verstehen, welche Vorstellung
politische Verantwortungsträger von Europa und der Rolle ihres Landes in Europa haben. Eine der
Arbeitshypothesen dieses Buches ist, dass der Erfolg einer politischen Forderung nach Rückzug auf
eine partikularistische Position (also Ablehnung von Gemeinschaftseuropa) einhergeht mit einer
erfolgreichen identitären Mobilisierung. Der geschichtliche Hintergrund erklärt im deutschen Fall,
warum Identitätspolitik in der gegenwärtigen politischen Landschaft Deutschlands nicht verfängt.
Dennoch existiert, wie in anderen europäischen Ländern, die Vorstellung, dass die Bereitschaft für
Solidarität – und Transferzahlungen – in erster Linie im Zugehörigkeitsgefühl zu einer nationalen
Gemeinschaft wurzelt. Insofern entspricht die in der heutigen EU notwendige Solidarität also
keineswegs den 1990 nach der Wiedervereinigung entwickelten Transfermechanismen innerhalb
Deutschlands. Erhoben werden Frames, die Grenzen konstruieren zwischen „uns“ (den Deutschen,
den Europäern) und „den anderen“ (die Problemländer, die Spekulanten…). Aus der Untersuchung
dieser drei Dimensionen (dynamisch, kognitiv und normativ, identitärer Zugehörigkeitsframe) wird
ein Verständnis der Europavisionen resultieren, in denen französische und deutsche Politiker ihre
politischen Vorschläge verankert haben.
Auf dem Weg zum Kompromiss
Eine Reihe empirischer Studien haben gezeigt, dass neben dem Inhalt eines Diskurses der diskursiven
Dynamik ein Schlüssel beim Verständnis politischer Debatten in der EU zukommt (Crespy 2010,
Seidendorf 2010). Der politische Kontext und die Sequenzierung der Interaktionen zwischen den
Akteuren des politischen Spiels sind entscheidend, um die Bedeutung des Diskurses zu entschlüsseln.
Dieser abstrakte Gedanke soll in diesem Abschnitt konkret vermittelt werden am Beispiel der
7
Divergenz französischer und deutscher Krisennarrative zu Beginn des Untersuchungszeitraums und
der anschließenden Entwicklung der deutschen Position nach einem Prozess diskursiver
Konfrontation, in der ein Kompromiss mit dem französischen Partner gefunden werden musste.
Dabei lassen sich grob zwei Sequenzen unterscheiden: zwischen Februar und März 2010
konzentrierte sich die Debatte auf die Notfallmaßnahmen, um Spekulationsattacken gegen die
griechischen Staatsschulden zu unterbinden. Zwischen Juni 2010 und 2011 wurden dann neue
Elemente einer weitergehenden makroökonomischen Koordination diskutiert, als (mit dem irischen
Fall) deutlich wurde, dass die Schuldenkrise nicht nur ein griechisches Problem war, sondern ein
strukturelles Problem der ganzen Eurozone. Der Weg zum Kompromiss war dabei durch einen
intensiven, konfrontativen Dialog zwischen Frankreich und Deutschland gekennzeichnet. Einerseits
hielten Nicolas Sarkozy und Angela Merkel fünf gemeinsame Pressekonferenzen in Brüssel, Berlin
oder Paris innerhalb eines Jahres, um ihre Einigkeit zu demonstrieren. Andererseits war diese Phase
auch geprägt durch intensive bilaterale Interaktion, die auf die Überzeugung der politischen Klasse
und der öffentlichen Meinung im jeweiligen Nachbarland zielte. Dazu gehörten bspw. Interviews
führender französischer Politiker, besonders Christine Lagardes, in der deutschen Presse, und
umgekehrt. Auch eine Reihe bilateraler Treffen fand statt, bspw. der Besuch Wolfgang Schäubles in
Paris im Juli 2010, ein deutsch-französischer Gipfel in Deauville im Oktober 2010, und ein
Arbeitstreffen beider Finanzminister in Straßburg im Januar 2011.
Die deutsche Rahmung der Krise gründet sich auf der Idee der Ordnungspolitik. Dieses ordoliberale
Paradigma war in den 1950er Jahren entwickelt worden und gab den Rahmen für das
Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland unter der Führung Ludwig Erhards. Dabei handelt es
sich um eine allumfassende und besondere Form des Neoliberalismus, die als Alternative zum
Keynesianismus entwickelt worden war und die, bis zu einem gewissen Grad, auch das deutsche
Konzept der sozialen Marktwirtschaft geprägt hat (Ptak 2004). In dieser Logik ist die Rolle des Staates
darauf beschränkt, die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der Marktwirtschaft zu sichern.
Europäische wirtschaftliche Integration wird entsprechend als das Resultat funktionierender,
integrierter Märkte verstanden. Im Gegensatz dazu gründet die französische Wahrnehmung der Krise
in Keynesianismus und staatlichem Interventionismus. Die beiden unterschiedlichen frames wurzeln
sehr deutlich in den respektive ordoliberalen bzw. interventionistischen nationalen Kulturen, die
fortbestehen und die jeweiligen Konzeptionen der EU-Integration rahmen: während französische
Politiker sich politischem Voluntarismus verschrieben haben (z.B. Wachstum und eine europäische
Industriepolitik zu fördern), favorisieren deutsche Entscheider Regulierung, Wettbewerb und die
Unabhängigkeit von Regulierungsbehörden wie der Zentralbank (Uterwedde 2011). Diese
unterschiedlichen Paradigmen konstituieren mächtige, pfadabhängige ideelle Strukturen, indem sie
zu völlig unterschiedlichen Analysen von Ursachen und Lösungen der Krise führen, und damit zu
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kontrastierenden Narrativen, zu unterschiedlichen politischen Präferenzen. Aus deutscher Sicht war
die Verletzung der Maastrichter Regeln und die Laxheit gegenüber den ansteigenden nationalen
Schuldenbergen und Haushaltsdefiziten die Erbsünde. Angela Merkels Krisennarrativ „rutscht“ von
der Vorstellung, dass die griechischen Schulden eine Konsequenz der Krise seien (Interview in der
FAZ, 5.02.2010) zur Vorstellung, dass die griechischen Schulden die Ursache der Krise seien (Rede im
Bundestag, 05.05.2010). In wiederholten Äußerungen stellt Merkel klar, dass Griechenland, als
Ergebnis der schlechten Gewohnheiten, nun am Vertrauensverlust sowohl der EU-Partner, allen
voran Deutschland, als auch der Finanzmärkte, zu leiden habe. Der Unterschied zur französischen
Rahmung der Krise wird sehr deutlich in Nicolas Sarkozys Narrativ, dass „es die Spekulation gegen
Griechenland ist, mit dem Ziel, den Preis für das Geld, das Griechenland benötigt, künstlich
hochzutreiben, was in vielen Ländern passieren könnte, wenn wir uns keine gemeinsame Antwort
vorstellen können“ (Pressekonferenz 07.03.2010, s. auch C. Lagarde in der FAZ, 17.05.2010).
Als Folge der divergierenden Analyse der Ursachen der Krise formulieren Frankreich und Deutschland
auch unterschiedliche Problemlösungsvorschläge. Ich werde mich dabei im Folgenden auf drei
Maßnahmen-Sets konzentrieren, in denen Deutschland eindeutig seine Präferenzen verändern
musste: Die finanzielle Hilfe für überschuldete Staaten, die möglichen Sanktionen gegen diese
Staaten, die Koordination der Wirtschaftspolitik der 27 EU-Mitgliedstaaten als Ganzes. In allen drei
Fällen zeigten sich die deutschen Ideen als unrealistisch, sie wurden in ihrer Tragweite durch den
französischen Gegen-frame entscheidend geschwächt: Als die griechische Regierung ernsthafte
Probleme bei der Refinanzierung der griechischen Staatsschuld einräumen musste, war Angela
Merkel bekanntermaßen erst nach längerem Zögern zu einer Rettung des Landes bereit. Auf der
ersten gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten im Februar 2010 insistierte
sie dass „wir zur selben Gruppe gehören, aber dass es Regeln gibt und dass es deshalb wichtig ist,
dass Griechenland heute sagt, dass es nicht um Geld bittet“, und später, dass „es extrem wichtig ist,
über Griechenlands Probleme zu reden, und Griechenland fragte nicht nach finanzieller Hilfe“, wobei
sie auch erwähnte, dass „Regeln respektiert werden müssen, dass wir uns völlig darauf verlassen
können müssen, was Griechenland tut“. Auf derselben Pressekonferenz betonte N. Sarkozy vor
allem, dass „Griechenland Teil der Eurozone ist, Griechenland ist Teil Europas, wir unterstützen
Griechenland“ (Pressekonferenz 11.02.2010).
Letztendlich, angesichts der Ereignisse und der rapiden Verschlechterung der griechischen
Kreditwürdigkeit auf den Finanzmärkten, musste Angela Merkel jedoch einen Rettungsplan
akzeptieren, wobei es jedoch drei Monate – von März bis Mai 2011 – dauern sollte, die geforderte
starke Konditionalität zu verhandeln, das heißt, die Verknüpfung finanzieller Unterstützung mit
einem drastischen Spar- und Austeritätsprogramm für Griechenland. In diesem Zeitraum erhöhte
9
Nicolas Sarkozy den Druck auf die deutsche Kanzlerin, wobei er den Appell an ihre europäischen
Überzeugungen für sich instrumentalisierte: „Ich glaube an die Solidarität Deutschlands mit Europa,
ich glaube an Frau Merkels europäische Überzeugungen“ (Pressekonferenz 07.03.2010). Dennoch
bestand Deutschland zunächst
weiter
auf seiner
zögerlichen Haltung, was
finanzielle
Unterstützungen betraf. Finanzminister Wolfgang Schäuble erläuterte in der heimischen Presse, dass
finanzielle Unterstützung vorübergehend und begrenzt sein würde (Interview in der FAZ, 24.07.2010,
Pressekonferenz 16.09.2010). Außerdem gelang es Angela Merkel, eine Übereinkunft mit dem
Internationalen Währungsfonds durchzusetzen, der einen Teil der Lasten übernehmen sollte, was
Nicolas Sarkozy gerne verhindert hätte. Als schließlich der 700 Mrd € EFSF im März 2011
angenommen wurde, rechtfertigte Angela Merkel Deutschlands Beteiligung unter Bezug auf die
„dauerhafte Stabilisierung der Eurozone“ (Pressekonferenz 23. März 2011).
Die
zweite
wichtige
Forderung
Deutschlands
in
der
Krise
war
die
Stärkung
der
Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Ländern, die die im Stabilitätspakt verankerten Regeln
missachteten (Bild am Sonntag 02.05.2010). Dazu sollten finanzielle Sanktionen wie die Blockierung
von Mitteln aus den Europäischen Kohäsionsfonds gehören, ebenso wie die Suspendierung von
Stimmrechten im Ministerrat der EU (FT Deutschland 12.03.2010). Die Idee finanzieller Sanktionen
wurde jedoch von französischer Seite als irrelevant und kontraproduktiv kritisiert (FAZ 17.05.2010).
Schließlich wurde dann letztere Möglichkeit, als erweiterte Sanktionen die Stimmrechte eines Landes
zu suspendieren, im Pakt für den Euro verankert. Da jedoch Einstimmigkeit für eine solche
Entscheidung notwendig wäre, wird der deutsche Wunsch kaum jemals verwirklicht werden können.
Drittens zögerte Angela Merkel, sich auf eine verstärkte makroökonomische Koordinierung
einzulassen. Falls unumgänglich, war ihre klare Präferenz ein Mechanismus, der alle 27
Mitgliedstaaten einbeziehen würde, also nicht nur die Eurostaaten, wie die französische Idee einer
„Wirtschaftsregierung“ es lange vorgesehen hatte. In vielerlei Hinsicht hielt sie ein Europa der
verschiedenen Geschwindigkeiten für den falschen Weg zu mehr Integration. Ihr Argument war, dass
Wirtschaftspolitik
mit
dem
gemeinsamen
Binnenmarkt,
dem
Kern
des
europäischen
Integrationsprozesses, verbunden bleiben sollte (Pressekonferenz 26.03.2010). Dieses Argument
erwies sich jedoch als schwächer als das französische, wonach Geldpolitik primär zwischen
Mitgliedern der Eurozone diskutiert werden sollte, wobei die anderen Mitgliedstaaten bei Bedarf
einbezogen werden könnten, wenn weitere Themen betroffen wären. Es stellte sich jedoch schnell
heraus, dass die Eurozone vor allem über ihre Fähigkeit, ihre eigenen Probleme zu lösen, diskutiert.
Dahinter stand die Diskussion über andere potentielle Risiken zurück. Als die beiden Staaten
schließlich im Februar 2011 sich auf den Pakt für den Euro einigten, hatte sich der deutsche Diskurs
deutlich in Richtung auf die französische Perspektive einer politischen Integration Kerneuropas
10
hinbewegt, wie Angela Merkel anlässlich der Eröffnung einer gemeinsamen Pressekonferenz
anmerkte:
„Deutschland und Frankreich werden deutlich machen, dass wir den Euro nicht nur als Währung
verteidigen – dies ist normal – sondern dass der Euro auch ein politisches Projekt ist. Das meint, dass
wir neben den Maßnahmen für Solidarität […] auch als Europäische Union zusammenwachsen
wollen, und dies vor allem mit den Ländern, die dieselbe Währung teilen.“ (Pressekonferenz
04.02.2011).
Diese drei Beispiele – finanzielle Unterstützung, Sanktionen, Wirtschaftsregierung – zeigen, wie sich
die deutsche Position im Laufe der intensiven, manchmal kontroversen Debatten und Verhandlungen
mit dem französischen Partnern wandelte, im Angesicht der heimischen Öffentlichkeit, der anderen
EU-Sstaaten und der ganzen Welt, die gebannt auf die Entscheidungen starrte, die die schlimmste
Krise seit Bestehen des Integrationsprojekts lösen sollten. Während deutlich wurde, dass das, was
Beobachter europäischer Politik als feststehende „nationale Positionen“ bezeichnen, dynamische
diskursive Konstrukte sind, wird der nächste Abschnitt erklären, wann und warum die „Eiserne Lady“
in ihrem Willen, Deutschlands Rolle in Europa neu zu definieren, eingeschränkt wurde.
Ergebnisse und Rechtfertigungen:
Altes Frankreich: 1 – Neues Deutschland: 0
Das Argument dieses Kapitels ist, dass Deutschland, trotz seiner relativ überlegenen Machtposition,
keinen Diskurs entwickeln konnte, der eine „realpolitische“ Vision der Rolle Deutschlands in Europa
hätte legitimieren können. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Normalisierung Deutschlands
beschleunigt und auch wenn es der reichste und daher größte Beitragszahler der EU bleibt, geht es
heute nicht mehr darum, übertriebene finanziellen Lasten der europäischen Integration zu
begleichen, um für die Verbrechen der Vergangenheit zu büßen. Vielmehr fehlen Bundeskanzlerin
Merkel, im Angesicht der starken wirtschaftlichen und politischen Interdependenz, die normativen
Grundlagen, um einen Paradigmenwechsel der deutschen Europapolitik zu mehr Autonomie zu
legitimieren.
Deutsche Ordnungspolitik: Stabilität, Konditionalität,
Wettbewerbsfähigkeit
Wie bereits erwähnt, war der deutsche Diskurs während der Krise vor allem durch das Konzept der
Ordnungspolitik gerahmt. Im gegenwärtigen Kontext ist die Kernaussage dieses Frames, dass Staaten
11
die Kontrolle über ihre öffentlichen Finanzen behalten müssen und dazu exzessive Schulden
verhindern müssen. In den vielen Konzepten, um diesen Gedanken in der deutschen Sprache
auszudrücken – Haushaltsdisziplin, Haushaltskonsolidierung, Defizitkontrolle, Sparkurs etc.2 – kehrt
dieses Leitmotiv des deutschen politischen Establishments regelmäßig wieder. Es ist bezeichnend,
dass dieser Diskurs ohne philosophische oder explizite normative Rechtfertigung einhergeht.
Stattdessen basiert er auf drei Ideen, die sich grob als politisch programmatische (V. Schmidt) oder
paradigmatische
Prinzipien
(P.
Hall)
verorten
lassen:
Stabilität,
Konditionalität,
Wettbewerbsfähigkeit. Stabilität ist die traditionelle Rahmung, die dem monetaristischen Geist des
Maastricht Vertrags entspricht: in diesem Vertragswerk ist die Kernaufgabe der EZB, Preisstabilität zu
sichern (niedrige Inflationsrate), während die grundsätzlichen ordnungspolitischen Leitlinien im
Stabilitäts- und Wachstumspakt etabliert wurden. Wie Jean-Claude Juncker es formuliert:
„Ordnungspolitik ist nicht Austerität, es ist eine grundsätzliche Haltung, die sich aus der historischen
Erfahrung der zweifachen totalen Zerstörung des Eigentums der Bürger entwickelte, wir sollten uns
nicht darüber lustig machen, sondern diejenigen – wie ich, die Deutschland kennen und mögen –
sollten diesen Zusammenhang immer wieder denjenigen erklären, die dieses Land nicht so gut
kennen und es vielleicht nicht so sehr mögen.“ (PK 04.03.2011).
Auch Angela Merkel erinnert häufig daran, dass Deutschland das Prinzip des ausgeglichenen
Haushalts („Schuldenbremse“) in das Grundgesetz aufgenommen hat (PK 10.05.2010, Le Monde
19.05.2010). Die Stabilität der europäischen Währung ist deshalb eng verbunden mit, oder sogar eine
Rechtfertigung für, die „Solidität“ der öffentlichen Finanzen durch Sparmaßnahmen in ganz Europa
(Le Monde, 19.05.2010).
Das zweite politisch-programmatische Element des deutschen Diskurses ist „Wettbewerbsfähigkeit“.
Das Wort Wettbewerbsfähigkeit (und damit verbundene Ideen) wird in jeder Rede der Kanzlerin
überstrapaziert:
„Es ist eine Tatsache, und das wird überall anerkannt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der
verschiedenen Euro-Länder unterschiedlich ist und dass es uns allen nützt im Hinblick auf die
wettbewerbsfähigsten Länder der Welt, wenn uns daran gelegen ist, unsere GesamtWettbewerbsfähigkeit zu pflegen und zu stärken. Wir müssen darauf achten, dass dies nicht zu
exzessiven Divergenzen im Rahmen der Eurozone führt, sondern dass wir uns stattdessen durch eine
bessere Wettbewerbsfähigkeit annähern“ (PK 04.02.2011).
2
So wie in Frankreich der Begriff „rigueur“ wegen seiner negativen politischen Konnotation vermieden wird,
wenn über Austeritätsmaßnahmen gesprochen wird, wird im deutschen Diskurs „Konsolidierung“ gegenüber
„Sparkurs“ vorgezogen.
12
Entsprechend war das deutsche Framing des neuen Vertrags, der im März 2011 angenommen wurde,
die „Wettbewerbsfähigkeit“. Auch wenn der Vertrag im Anschluss, wegen der Divergenzen mit
Frankreich, als „Pakt für den Euro“ bezeichnet wurde, wird er von deutschen Politikern doch
regelmäßig als „Wettbewerbspakt“ bezeichnet (PK 04.02.2011, PK 11.03.2011). Indem sie diese Ideen
einander annähert, vermittelt Angela Merkel implizit die Vorstellung, dass politisches Handeln in
Richtung „Null Defizit“ automatisch zu stärkerer Wettbewerbsfähigkeit führt (Le Monde 19.05.2010).
Diese Denkweise führt zurück zu den in der deutschen Kultur tief verankerten Prinzipien des
Ordoliberalismus, dem in diesem Kontext eine starke normative Dimension zukommt. Jedoch wird
diese ökonomisch-politische Kultur nicht von allen europäischen Ländern geteilt. Stabilität und
Wettbewerbsfähigkeit stellen diskursive Rechtfertigungen auf der politisch-programmatischen Ebene
dar, aber ihnen fehlt eine tiefergehende normative Begründung, die für alle Europäer
selbstverständlich wäre.
Diese Schwäche des deutschen Diskurses lässt sich besser verstehen, wenn wir genauer auf die
Identitäts-Dimension des Diskurses blicken, darauf, wie Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“
Gruppen konstruiert und verbreitet werden. Es ist dabei bezeichnend, dass der gegenwärtige
deutsche Diskurs Deutschland gegen den Rest Europas stellt. Nicht nur Griechenland, sondern auch
Portugal und Spanien und in einem geringeren Maße Irland werden als „die Anderen“ dargestellt, die
problematischen Länder, die die gemeinsamen Regeln verletzt haben und deutsches Vertrauen und
das deutsche Bekenntnis zum europäischen Projekt missbraucht haben (Die Zeit, 31.03.2010). In
diesem Zusammenhang führt Kritik an Deutschlands zögerlicher Unterstützung zu einem gewissen
Rückschlag als sich zum Beispiel Finanzminister Schäuble auf ein Recht Deutschlands zur
„Normalität“, das heißt einer Betonung seiner „nationalen Interessen“, berief (FT Deutschland
12.03.2010, Die Zeit 31.03.2010). Der Verdacht, dass es Deutschland an europäischem Engagement
fehle, wird zurückgewiesen, während auf diejenigen, die die gemeinsamen Regeln nicht respektiert
haben, mit den Fingern gezeigt wird: „ein guter Europäer ist nicht notwendigerweise jemand, der
sehr schnell hilft. Ein guter Europäer ist jemand, der den europäischen Verträgen und nationalen
Gesetzen treu bleibt, um den Euro nicht zu beschädigen.“ (Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel
im Bundestag, 05.05.2010). Darüber hinaus wurden weitere Ausgaben zur finanziellen Hilfe
Griechenlands vor der deutschen öffentlichen Meinung oft mit Bezug auf das „nationale Interesse“
gerechtfertigt (Die Zeit 31.03.2010). Daraus folgte, dass die Bundeskanzlerin nur unter dem Prinzip
der „Konditionalität“3 zu finanzieller Hilfe bereit war, das heißt einer Verpflichtung der
3
Konditionalität ist interessanterweise kein neuer Rahmen in der europäischen Politik. Dieses Prinzip ist im
Rahmen der EU-Erweiterungspolitik wohl bekannt: Präadhäsions-Hilfen der EU wurden mit der Bereitschaft zu
ökonomischen und politischen Reformen in den Beitrittsstaaten verbunden, um so die EU-Standards zu
erlangen.
13
überschuldeten Länder auf drastische Sparmaßnahmen um die öffentlichen Finanzen ins
Gleichgewicht zu bringen (Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag, 05.05.2010). Das
bedeutet praktisch, dass Unterstützung für überschuldete Länder abhängig ist von deren
Bereitschaft, sich überprüfen und kontrollieren zu lassen und sogar direkte Eingriffe der anderen
Mitgliedsländer und der EU-Institutionen in einem bisher zentralen Bereich nationaler Souveränität
zu akzeptieren, nämlich die Fiskalpolitik. Letztendlich ist die hauptsächliche Rechtfertigung, um
überschuldeten Ländern Hilfe zu gewähren, die gegenseitige Abhängigkeit (Interdependenz):
„als wir die Währungsunion in den 1990ern verhandelt haben, war dies nicht vorhersehbar. Die Welt
hat sich gewandelt, die Interdependenz ist jetzt eine völlig andere. Damals konnten wir uns nicht
vorstellen, dass eine Krise in einem Land, das nur einige wenige Prozentpunkte aller Euroländer
ausmacht, auf die Märkte anderer Länder innerhalb weniger Tage überschwappen könnte“ (FAZ
16.07.2010).
Als die Kanzlerin den Bundestag um Unterstützung für den Rettungsplan für Griechenland bittet,
beschwört sie die Geschichte, um Interdependenz und die daraus für Deutschland sich ergebende
Verantwortung greifbar zu machen. Das hier entwickelte Narrativ zeichnet sich durch einen
Übergang aus von „Deutschland ist ohne Europa nichts“ zu „Europa ist ohne Deutschland nichts“:
„Die Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg kann nicht von der sich parallel
entwickelnden Europäischen Union getrennt werden. Darum ist die Europäische Integration ohne das
deutsche Engagement nicht vorstellbar“ (Rede im Bundestag, 05.05.2010). Das framing der
deutschen Position während der Eurokrise wurde also durch die politischen Paradigmen Stabilität,
Wettbewerbsfähigkeit und Konditionalität gerechtfertigt. Dieses framing wurde mit einem
defensiven Identitätsdiskurs verbunden, der Deutschland als „aus Interdependenz zur Solidarität
verpflichtet“ und zum Bezahlen der Sünden der Anderen gezwungen sieht. Diese defensive Haltung
und die fehlende normative Rechtfertigung nährten den Verdacht, dass Deutschland selbstbezogen
handelte und es an europäischem Engagement fehle. Als Konsequenz musste die Eiserne Lady jedoch
nachgeben und den europäischen Partnern Solidarität geloben.
Der französische Diskurs: Solidarität und Konvergenz
Im Gegensatz zu Angela Merkel war Nicolas Sarkozy eifrig darauf bedacht, sich selbst als der „weiße
Ritter“ darzustellen, der Griechenland rettet. Diese Diskrepanz zwischen dem französischen und
deutschen Diskurs während der Eurokrise wurde noch durch die zwei unterschiedlichen Politikstile
im heimischen Kontext der beiden Politiker verstärkt. Während Angela Merkel dafür kritisiert wurde,
häufig zu vorsichtig und unentschieden zu agieren und zu einer Reihe von Punkten keine festen
Überzeugungen zu haben, verkörperte Nicolas Sarkozy Voluntarismus und den Kampf gegen
14
politischen Stillstand, was ihn oft zu impulsiven Handlungen brachte. Dabei waren die wichtigsten
Ideen in der französischen Rahmung der Krise, Solidarität und Konvergenz, klar auf die Einheit
Europas gerichtet. Im französischen Diskurs war die Idee der Solidarität die wesentliche
Rechtfertigung für die schnelle Annahme eines finanziellen Rettungsplans für Griechenland:
„Der Euro impliziert Solidarität. Es kann keinen Zweifel über den Ausdruck dieser Solidarität geben
(…). Die Solidarität der Währung, dieser ökonomische Binnenmarkt und die Solidarität der Währung
gründen auf Solidarität. Ein Mitgliedsland der Eurozone muss sich in erster Linie auf die anderen
Länder der Eurozone verlassen können, was sollte sonst der Sinn einer gemeinsamen Währung sein?“
(PK 08.05.2010).
Indem das Prinzip der Solidarität in den Mittelpunkt gestellt wurde, tauchten die natürlich auch
vorhandenen französischen nationalen Interessen bei der Konstruktion der französischen Position
nicht auf, was dazu führte, dass diese Position in der Debatte als legitimer als die deutsche Position
wahrgenommen wurde. In dieser Strategie findet sich auch der Hauptgrund, warum Frankreich eine
Beteiligung des IWF ablehnte und stattdessen eine rein europäische Lösung favorisierte. In der
Verhandlung über den Plan musste Frankreich schließlich Angela Merkels Willen akzeptieren, dass
der IWF einen Teil der Lasten übernehmen sollte. Dieser Punkt betrifft dabei nicht nur die
französischen und deutschen Divergenzen, was die konkreten politischen Lösungen betrifft, sondern
auch, was die identitäre Wahrnehmung angeht. Dem Trend zur Stigmatisierung der verschuldeten
Länder im deutschen Diskurs setzten Nicolas Sarkozy und Christine Lagarde regelmäßig die Rahmung
eines europäischen „Wir“ gegen „die Anderen“ entgegen, wobei die Anderen die Finanzmärkte
waren. Das Echo dieser Rahmung findet sich auch im oben erwähnten Narrativ, das die Gründe der
Krise aus französischer Sicht darstellt. Öffentliche Schulden und Haushaltsdefizit sind hier nur Teil des
Problems, sie werden erst durch die akute Bedrohung durch Spekulanten zum konkreten Problem.
Schließlich zeigt sich Präsident Sarkozy auch eher bereit, auf das große historische Narrativ Europas
zurück zu greifen, als die Kanzlerin: „Der Euro ist Europa, und Europa bedeutet Friede auf dem
Kontinent“ (PK 08.05.2010).
Neben Solidarität ist die wichtigste französische Rahmung der Krise die Idee der Konvergenz.
Neben entgegengesetzten frames gibt es allerdings auch eine Reihe diskursiver Elemente, die nicht
umstritten sind, sondern zwischen Franzosen und Deutsche geteilt werden. Dazu gehört bspw. die
Idee einer weitergehenden wirtschaftspolitischen Koordination und, zu einem geringeren Grad,
Stabilität und sogar Wettbewerbsfähigkeit. Zum Ende des Untersuchungszeitraums wird jedoch klar,
dass Sarkozy Konvergenz, nicht Wettbewerbsfähigkeit, als das wichtigste Ziel des Pakts für den Euro
sieht. Die Diskrepanz der Rahmung wird vom französischen Präsidenten zugegeben:
15
„Wir haben auch den Namen geändert, es heißt nun ‚Pakt für den Euro für Wettbewerbsfähigkeit
und Konvergenz‘. Das beendet die Debatte zwischen denen, die für Konvergenz sind, und denen, die
Wettbewerbsfähigkeit bevorzugen.“ (PK 11.03.2011).
Mittlerweile findet sich auch die Rahmung der Wettbewerbsfähigkeit zu einem beträchtlichen Teil im
französischen Diskurs (Christine Lagarde im Spiegel, 14.02.2001). Der wichtigste französische Erfolg
im Blick auf die angestrebte Konvergenz ist die Etablierung der sogenannten Wirtschaftsregierung
der EU, eine Zusammenkunft der Mitglieder der Eurozone in der französischen Vorstellung. Während
von deutscher Seite die Lohnkonvergenz (mit einem Ende des automatischen Lohnausgleichs
entsprechend der Inflationsrate) in den Vordergrund gestellt wurde, forderte Nicolas Sarkozy einen
Schritt,
den
Frankreich
schon
lange
vertreten
hatte,
nämlich
den
Einstieg
in
die
Steuerharmonisierung als Beginn der Integration der Fiskal- und Steuerpolitik. Bedeuten die
Unterschiede in der Wahrnehmung der Krise durch Frankreich und Deutschland, dass die beiden
Länder unterschiedliche Vorstellungen von Europa haben? Wie finden sich die vorgestellten
nationalen Positionen zur europäischen Solidarität in den jeweiligen institutionellen Präferenzen
wieder, was den weiteren Ausbau der EU angeht? Der folgende Abschnitt geht diesen Fragen nach.
Unterschiedliche Vorstellungen von Europa?
Historisch war Deutschland ein Vertreter eines föderalen Ansatzes in Europa. Dies fand seinen
Ausdruck in der berühmten Rede Joschka Fischers vor der Humboldt-Universität in Berlin, als er die
Verabschiedung einer Verfassung für Europa forderte. Das vorliegende Kapitel argumentiert nun,
dass ein Jahrzehnt später die deutsche Vorstellung von Europa sich dramatisch verändert hat und
sich näher auf die französische Vorstellung eines Europas souveräner Staaten zubewegt hat. Der
deutsche Diskurs zeigt immer noch eine größere Sensibilität für die supranationalen Institutionen,
besonders die EZB und die Europäische Kommission, die Angela Merkel wesentlich häufiger erwähnt,
als Nicolas Sarkozy, wenn sie die auf EU-Ebene getroffenen Entscheidungen erläutert. Sie ist sich
auch der Rolle des Europäischen Parlaments stärker bewusst, welches nicht ein einziges Mal von
Nicolas Sarkozy erwähnt wird. Dieser vertritt stattdessen eine konfrontative Haltung gegenüber JeanClaude Trichet und einigen Kommissaren. Gefragt nach der Kritik der Kommissarin Viviane Reding an
den Methoden Frankreichs und Deutschlands, ihre Entscheidungen anderen EU-Ländern
aufzuzwingen, antwortet der Präsident herablassend: „Ich kenne sie persönlich nicht und ich
betrachte es nicht als wichtig, was gesagt wurde. Im Gegenteil sehe ich jedoch die einstimmige
Entscheidung des Europäischen Rates als sehr wichtig an. Dies hat eine völlig andere Bedeutung“ (PK
29.29.2010). Nicolas Sarkozy besteht durchgehend auf der wichtigen Rolle des Europäischen Rates
(und seines Präsidenten H. van Rompuy), im Gegensatz zur untergeordneten Rolle der Kommission:
16
„Die Kommission implementiert die Wirtschaftspolitik, die vom Europäischen Rat entschieden wurde.
Das ist klar. Der Europäische Rat ist für die Koordination verantwortlich und entscheidet über die
Leitlinien der Wirtschaftspolitik, entsprechend der Entwicklung der europäischen und globalen
Situation. Die Kommission setzt dies um.“ (PK 25.03.2010).
Gefragt, ob die Annahme des Rettungspakets einen Schritt in Richtung einer föderalen Ordnung
bedeute, antwortete Christine Lagarde, dass die Schaffung des Stabilisierungsfonds keinerlei
Kompetenztransfer auf die EU-Kommission beinhalte, und dass diese den Entscheidungen der
Staaten untergeordnet bleibe. Gleichermaßen bestand Angela Merkel darauf, dass die
Mitgliedstaaten die Kontrolle behalten und keine weitere Kompetenz auf die Gemeinschaft
übertragen würden:
„Deutschland wäre zögerlich (weitere EU-Kompetenzen zu schaffen). In keiner Weise gibt es einen
neuen Kompetenztransfer auf die europäische Ebene: es handelt sich um Koordination zwischen
Regierungen. Das bedeutet, die nationalen Parlamente müssen gefragt werden. Natürlich wird das
Europäische Parlament informiert werden, aber es handelt sich, wie es bereits genannt wird, um eine
intergouvernementale
Kooperation
zwischen
Europäischen
Mitgliedsländern
(…)
ohne
Kompetenztransfer. Das ist sehr, sehr wichtig. Wir ändern die Verträge nicht und wir definieren keine
neuen Kompetenzen außerhalb der Verträge: Die Kommission wird sozusagen nur bewerten. Die
Kommission hat die ganzen statistischen Daten über die Länder…“ (04.02.2011).
Das föderale Modell scheint von einem zögerlichen Bundestag und einer skeptischen öffentlichen
Meinung abgelehnt zu werden. In Deutschland wie in Frankreich muss jeder Schritt zu mehr
Integration mit der Garantie versehen werden, dass die Staaten die Kontrolle behalten.
Zusammenfassung
Dieses Kapitel zielte darauf ab, dem Pakt für den Euro sinnhaft zu verstehen als Ergebnis
französischer und deutscher Präferenzen. Bis zu einem gewissen Grade kann der Pakt als das Resultat
von gemeinsamen Verhandlungen verstanden werden. Einerseits wurde der deutsche Versuch, die
eigene Machtposition von den finanziellen Lasten der Integration in den gegenwärtigen schwierigen
Zeiten zu befreien, durch den französischen Diskurs stark eingeschränkt. Dafür waren die
Basiselemente dieses Diskurses, die Idee der europäischen Solidarität und der notwendigerweise
verstärkten politischen Konvergenz und integrierten Governance, verantwortlich. Andererseits
bekannte sich das französische politische Establishment, voller Bewunderung für die Erfolge des
deutschen Wirtschaftsmodells, zur Wichtigkeit einer effizienten Kontrolle und Disziplin der
öffentlichen Haushalte bei der Suche nach Wettbewerbsfähigkeit und Stabilisierung des Euro.
17
Außerdem sehen wir eine klare Konvergenz im Hinblick auf ein intergouvernementales Modell der
Integration, in dem die wichtigen Entscheidungen durch die Staaten getroffen werden. Diese sollen
in der Lage bleiben, ihre nationalen Eigeninteressen zu vertreten, im Gegensatz zu einem Modell, in
dem supranationale Institutionen das Gemeinwohl vertreten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich,
dass diese (begrenzte) Konvergenz aus einem diskursiven Prozess resultierte, in dem die deutsche
Kanzlerin ihre zunächst unflexible Haltung aufgeben musste, die einseitig von einer
partikularistischen Haltung im Hinblick auf finanzielle Unterstützung inspiriert gewesen war und sich
in der öffentlichen Meinung in der Weigerung widerspiegelte, sich im Rahmen der EU finanziell zu
engagieren. Diese einseitig nationale, europäisch nicht legitime Position führte dazu, dass
Deutschland, der mächtigste Spieler in der heutigen EU, eine Reihe französischer Forderungen
akzeptieren musste, besonders die erweiterte Governance der makroökonomischen Politik der
Mitgliedstaaten.
Wir haben eingangs dafür plädiert, dass ein konstruktivistischer und diskursiver Ansatz zur Erklärung
von EU-Politik dieses (nur scheinbare) Paradox am besten erklären kann. Diskursive Interaktion
zwischen politischen Verantwortungsträgern ist das entscheidende Element, um das Resultat von
Debatten und Verhandlungen in der EU zu erklären: Um die Legitimität der eigenen Position zu
sichern (und damit den Einfluss auf die Entscheidungsfindung zu gewährleisten), müssen die
politischen Führer mit den in der EU entwickelten Normen übereinstimmen. Dabei bedienen sie sich
vor allem einer strategischen Nutzung des Diskurses, oder „rhetorischem Handeln“, was darauf
abzielt, bestimmte nationale Präferenzen als übereinstimmend mit gemeinsamen Normen
darzustellen und diejenigen zu kritisieren, denen es nicht gelingt, ihr Gemeinschaftsengagement
glaubhaft zu versichern. Während der Eurokrise scheiterte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf
spektakuläre Weise daran, die neue deutsche Real(Europa)Politik in einem europäischen
Gemeinwohl zu verankern. Dagegen rechtfertigte Nicolas Sarkozy regelmäßig seine Forderung nach
der Schaffung finanzieller „Rettungsinstrumente“ mit dem Bezug auf europäische Solidarität. Das
Ergebnis war, dass die französische Haltung auf europäischer Ebene legitimer erschien, während
Angela Merkel ihr Egoismus vorgeworfen wurde und sie letztendlich nachgeben musste. Die
Bedeutung der normativen Macht von Diskursen in der EU-Politik hat beträchtliche Bedeutung für
die weitergehenden Fragestellungen, die in diesem Buch behandelt werden. Die meisten Beiträge
finden einen Trend in Richtung verstärkt egoistischer, partikularistischer Argumente und Sichtweisen
auf allen Ebenen von Regierungshandeln im gegenwärtigen Europa. Die Analyse der deutschfranzösischen Antwort auf die Schuldenkrise in der EU findet Belege dafür, dass dieser Trend dort an
seine Grenzen stößt, wo gemeinsame Normen und Werte institutionell verankert sind und
strategisch benutzt werden können, um gefährlichen Zentrifugalkräften entgegen zu wirken. Dabei
geht es nicht darum, die materielle Realität und Bedeutung ökonomischer Interdependenz in Europa
18
zu leugnen. Da Ereignisse und die Wirkung von Entscheidungen jedoch im Hinblick auf eine unsichere
Zukunft gedeutet werden müssen, könnte der entscheidende Unterschied zwischen weiterer
Integration oder Desintegration jedoch sehr wohl in der institutionellen Festigkeit der normativen
Grundlagen der EU liegen. Außerdem haben sich seit der Wahl von François Hollande zum neuen
französischen Präsidenten die deutsch-französischen Auseinandersetzungen intensiviert. Da François
Hollande – noch mehr als Nicolas Sarkozy – ein Befürworter finanzieller Solidarität mit südlichen EULändern ist, erhöhte sich Druck auf das von der deutschen Kanzlerin geforderte Modell und dessen
normative Rechtfertigung erheblich. Nach den ersten Kontakten zwischen beiden Staatschefs bleibt
die Debatte weit offen.
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