Freie Seminararbeit an der Universität Basel, im BA, Soziologie Frühlingssemester 2013 Eingereicht bei Frau lic. phil. Claudia Heinzmann Nachhaltiger Konsum – gemeinsam statt einsam Eine qualitative Untersuchung der Vergemeinschaftungsprozesse in der Lebensmittel Gemeinschaft Basel. Zoé Beutler Matr. -Nr. 07-060-31 Elsässerstr. 3, 4056 Basel, Tel-Nr. 079 590 68 90 [email protected] Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung S. 2 2. Thematischer und theoretischer Kontext S. 2.1. Das Konzept „Nachhaltiger Konsum“ & die Individualisierungskritik S. 2.2. Die Praxis des Nachhaltigen Konsums in Lebensmittelkooperativen S. 2.3. Individualisierung und Vergemeinschaftung S. 3. Methodisches Vorgehen S. 3.1. Ausgangssituation des Forschungsprozesses S. 3.2. Methodischer Zugang I: Teilnehmende Beobachtung S. 3.2.1. Beobachtungsmomente S. 3.2.2. Teilnahmemomente S. 3.3. Methodischer Zugang II: Fokussiertes Interview S. 3.4. Datenaufbereitung und Methode der Analyse S. 4. Analyse S. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 5. Fazit 6. Literatur 7. Anhang S. 1. Einleitung Nachhaltiger Konsum - die seit einigen Jahren immer beliebter werdende Strategie gegen die Umweltkrise – wird von einigen Sozialwissenschaftler und Analysten der Umweltpolitik unter anderem aufgrund seines individualisierenden Charakters kritisch diskutiert. Unter den Stichworten „Privatisierung der Nachhaltigkeit“ oder „Individualisierung der Verantwortung“ problematisieren sie1, dass im Kontext der Leitidee des nachhaltigen Konsums der einzelne Konsument zum alleinstehenden Schlüsselakteur gemacht wird und damit das Individuum davon abgehalten bzw. darin eingeschränkt werden würde, die Umweltprobleme kollektiv zu betrachten und anzugehen. Der Politik und Umweltwissenschaftler Michael F. Maniates bringt diese Sorge in folgender Aussage auf den Punkt: „Individualization, by implying that any action beyond the private and the consumptive is irrelevant, insulates people from the empowering experiences and political lessons of collective struggle for social change.“2 Während Maniates sowie andere Beobachter der Privatisierung oder Individualisierung der Nachhaltigkeit in erster Linie darum bemüht sind anhand diverser Argumente aufzuzeigen, wieso der einzelne Konsument alleine nicht effektiv gegen die eigentlich kollektiven Umweltprobleme vorgehen kann, möchte ich in vorliegender Arbeit, die dahinter steckende Annahme, dass eine konsumorientierte Herangehensweise an die Umweltprobleme, die Individuen daran hindern würde sich zusammen zu schliessen und die Umweltprobleme kollektiv zu bearbeiten, näher unter die Lupe nehmen. Dabei werde ich den Fokus auf die praktische Umsetzung des Nachhaltigen Konsums setzen, da dieser Aspekt in der Argumentation der kritischen Umweltanalysten eher vernachlässigt wird. In ihren Artikeln und Arbeiten analysieren die gemeinten Umweltanalysten in erster Linie Beispiele des öffentlichen Diskurses über Nachhaltigen Konsum oder politische Nachhaltigkeitsinstrumente und erfassen somit nur eine abstrakte von aussen ausgeübte Verantwortungszuschreibung auf das Individuum. Meine Beobachtung ist, dass auf der Ebene der konkreten Handlung der Individuen seit einiger Zeit verschiedenste Formen und Praxen des nachhaltigen Konsums am Gedeihen sind, welche in ihrer Konzeption besonderes Gewicht auf die kollektive, gemeinschaftliche Dimension legen. Gemeint sind Projekte wie community supported agriculture, Ökodörfer, Foodcoops, und/oder Gemeinschaftsgärten, die betreffend der Frage nach Nachhaltiger Entwicklung eine bottom-up Strategie verfolgen und sich im Alltag auf privater, aber – und das entgegen der Sorge der Kritiker - auf gemeinschaftlicher Basis für einen nachhaltigen Konsum stark machen. Mein Ziel ist es, heraus zu finden, wie in 1 2 z.B. Armin Grundwald , Michael F. Maniates oder Gill Seyfang Maniates 2002, S. 27 der Praxis des Nachhaltigen Konsums soziale Verbundenheit zwischen den umweltengagierten Individuen hergestellt wird. Als konkretes Untersuchungsfeld für diese Frage wähle ich die Lebensmittel Gemeinschaft Basel (LGB), eine im März 2012 gegründete Food-cooperative in der Stadt Basel. Die LGB definiert sich selbst als ein Zusammenschluss von qualitätsbewussten Menschen, die gemeinsam und aktiv ihrem Wunsch nach gesunden und regional hergestellten Lebensmitteln nachgehen.3 Konkret kaufen die Mitglieder der LGB in Selbstorganisation ökologisch und regional hergestellte Lebensmittel direkt beim Produzenten ein und teilen diese einmal wöchentlich unter sich auf. Zusätzlich treffen die Mitglieder sich für Kochworkshops, Einmachaktionen, oder Vorträge zu Themen wie biologisch (-dynamische) Landwirtschaft, Fleischkonsum und seine Effekte auf das Klima und ähnliches in ihrem „Lager und Treffraum“. Die LGB ist also ein Ort, wo regelmässig Menschen zusammen kommen, die aktiv dem Ruf nachgehen ihr privates Konsumhandeln nachhaltig zu gestalten und damit folglich ein idealer Ort, wo die Herstellung von sozialer Verbundenheit zwischen den umweltengagierten Individuen in der Praxis des Nachhaltigen Konsums direkt untersucht werden kann. Die Datenerhebung erfolgt durch teilnehmende Beobachtung an verschiedenen LGBVereinstreffen über drei Monate hinweg und durch zwei qualitative Experteninterviews mit ausgewählten Vereinsmitgliedern. Inspiriert von der Grounded Theory, dessen Spezialität es ist, den empirischen Daten gegenüber einer vorgeschriebenen Theorie Priorität zu gewähren, versuche ich bei der Datenanalyse möglichst induktiv vorzugehen4. Dennoch dienen mir zur soziologischen Konkretisierung und Begriffsklärung meiner Fragestellung bezüglich der sozialen Verbundenheit einige soziologisch-theoretische Vorüberlegungen zu dem Themenfeld Individualisierung und Vergemeinschaftung. Dabei spielt insbesondere der Kerngedanke des Ansatzes der posttraditionalen Vergemeinschaftung eine wichtige Rolle, welcher beschreibt, dass Individualisierungsprozesse heute mit neuen Formen von Vergemeinschaftungsprozesse einhergehen, welche den Individuen dazu dienen (wieder) soziale Sicherheit und Verbundenheit zu gewinnen.5 Meine forschungsleitende Frage nach der Herstellung von sozialer Verbundenheit präzisiere ich basierend auf diesen theoretischen Grundgedanken mit folgenden Unterfragen: Wie gehen die Mitglieder der Lebensmittel Gemeinschaft Basel mit der Individualisierung der Verantwortung 3 Vgl. Konzept der LGB im Anhang. Oder auf der Website: http://expressinfo.ch/List_cmpns.aspx?fr_def=c&any_word=lebensmittel%20gemeinschaft%20basel#selected=c ompanies&radius= 4 5 Vgl. Hitzler, Honer, Pfadenhauer, 2008. Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und Ethnographische Erkenntnisse. des Nachhaltigen Konsums um? Versuchen bzw. wie versuchen sie der Individualisierung der Verantwortung entgegen zu wirken? Und schliesslich welche Formen der Vergemeinschaftung werden dadurch in Gang gesetzt? Nach diesem einleitenden Kapitel ist meine Arbeit in vier Hauptteile unterteilt. Im ersten Hauptteil beleuchte ich die thematische und theoretische Kontextualisierung meiner Fragestellung. Dazu gehe ich erst auf das Konzept des Nachhaltigen Konsums und die Individualisierungskritik daran ein, dann beschreibe ich die mir dienenden theoretischen Überlegungen aus dem Ansatz der posttraditionalen Vergemeinschaftung und schliesslich erläutere ich was unter einer Foodcooperative im Allgemeinen und unter der Lebensmittel Gemeinschaft Basel im Speziellen zu verstehen ist. Im zweiten Hauptteil präsentiere und diskutiere ich mein methodisches Vorgehen, welches sich einerseits aus dem methodischen Zugang der teilnehmenden Beobachtung und andererseits aus zwei fokussierten Interviews zusammensetzt. Der dritte Teil widmet sich dann der Analyse meiner erhobenen Daten und präsentiert die entwickelten Kategorien, welche gemäss den forschungsleitenden Unterfragen in drei Oberkapitel untergliedert sindErsteres nimmt eine Typisierung der Mitglieder anhand ihrer Aktivitäts- und Integrationsform in der LGB vor. Hier zeigen sich im Umgang mit dem mit der Individualisierung der Verantwortung unterschiedlich starke Grade und Formen der sozialen Verbundenheit zwischen den Mitgliedern: Es gibt die aktive, sich freiwillig verpflichtende Kerngruppe, die gegenseitig unterstützenden, gelegentlich partizipatorisch beteiligten Mitglieder und die eher passiven, aber im Geiste voll dahinter stehenden Kunden. Das zweite Oberkapitel nimmt dann die Prozesse der Herstellung der sozialen Verbundenheit in den Blick, wobei einerseits bewusst eingesetzte und andererseits beiläufig entstandene Gegenprozesse der Individualisierung der Verantwortung beschrieben werden. Während in diesem zweiten Oberkapitel Ereignisse und Handlungen exemplarisch dargestellt werden, und die Frage Im letzten Oberkapitel werden dann die im zweiten Oberkapitel exemplarisch illustrierten Ereignisse und Handlungen einer Analyse der Individualisierung widerlaufende Prozessewird diese Prozesse auf der Ebene der verschiedenen Mitgliedertypen zu charakterisieren und . Im Dritten Oberkapitel ………………………………………………………………….. Zu guter Letzt schliesse ich die Arbeit mit einem Fazit ab, in welchem ich die gefundenen Resultate bezüglich meiner Fragestellung zusammenbringe und meine Erkenntnisse reflektiere. 2. Thematischer und theoretischer Kontext In diesem Kapitel werde ich den thematischen Kontext sowie den theoretischen Hintergrund meiner Fragestellung erläutern. Dabei gehe ich zunächst auf das Konzept des nachhaltigen Konsums im Allgemeinen und die Individualisierungskritik der Umweltpolitikanalysten Gill Seyfang,……………………… daran ein. Dann führe ihre stelle ich meine Fragestellung in den Kontext der soziologischen Debatte zu den Begriffen Individualisierung und Vergemeinschaftung. 2.1. Nachhaltiger Konsum und die Individualisierungsthese Das Konzept des nachhaltigen Konsums ist schon seit einigen Jahrzehnten auf der internationalen politischen Agenda. Schon der Report Limits of Growth des Club of Rome s von 1972 weist auf den Einfluss des steigenden Wohlstandes auf wichtige ökologische Probleme wie Ressourcenknappheit und Umweltdegradierung hin. Der steigende Ölpreis zu dieser Zeit schien zu bestätigen, dass „business-as-usual consumption level“ nicht mehr weitergeführt werden kann. Die konkrete Verbindung von Konsumgewohnheiten und Umweltproblemen wie Klimaerwärmung, Ozonschicht Abbau, und das Management von übermässiger Verschwendung und Abfall, wurde ab den 1990er Jahren vermehrt untersucht und thematisiert.6 Der Begriff „Nachhaltiger Konsum“ setzte sich dann wohl mit der Agenda 21, das aus der RioKonferenz 1992 resultierende Leitpapier zur nachhaltigen Entwicklung, durch. Darin wird unter dem Kapitel 4 „Changing Consumption Patterns“ im internationalen Diskurs über Umweltschäden erstmals nicht nachhaltige Verbrauchergewohnheiten und übermässiger Konsum als direkter Anlass zur Ressourcenverknappung und Umweltbelastung postuliert. Im Kapitel 4 werden deshalb „new concepts of wealth and prosperity which allow higher standards of living through changed lifestyles and are less dependent on Earth’s finite resources“ gefordert.7 Auf das Leitpapier der Rio Konferenz folgten auf internationaler sowie nationaler Ebene etliche Initiativen zur Konkretisierung und Umsetzung des Ziels des nachhaltigen Konsums. Dabei macht die Umwelt-Sozialwissenschaftlerin Gill Seyfang eine generelle Orientierung an einem liberalen Marktsystem aus und problematisiert unter anderem die damit verbundene Verantwortungsprojektion auf das einzelne Individuum. Sie beschreibt ein „mainstream 6 7 Jackson, Michaelis, 2003, S. 13. Agenda 21, zit. nach Jackson, Michaelis, 2003, S. 13. sustainable consumption“-Modell, das hauptsächlich „politically and socially acceptable and economically rational, tools for changing consumption patterns (…)“ fokussiert.8 Das bedeute nach Seyfang, dass statt eine Neukonzeption des herkömmlichen Verständnisses von Wohlstand und Prosperität anzustreben – wie unter anderem in der Agenda 21 empfohlen wird, vielmehr an den derzeitigen Wachstumskonzepten der liberalen Marktwirtschaft festgehalten würde. Am Beispiel der Politik Grossbritanniens illustriert Seyfang, dass unter diesen Konzepten vornehmlich marktbasierte Werkzeuge, wie die Einführung von Verursacherkosten, Öko-Steuern, Konsumenten-Aufklärungskampagnen, oder das Aufgleisen von freiwilligen Öko-Labelsystemen, eingesetzt werden. Alles Werkzeuge die, wie Seyfang feststellt, nachhaltiger Konsum als die Konsumption von effizienter hergestellten Produkten definieren und der „grüne“ oder „ethische“ Konsument zur treibenden Kraft für die nötige Markttransformation erklären.9 Im Essay „Shopping for Sustainability: Can Sustainable Consumption Promote Ecological Citizenship?“ problematisiert die Umweltwissenschaftlerin dann diese Verantwortungszuschreibung auf den einzelnen Konsumenten, unter anderem weil sie eine kollektive Herangehensweise an die Umweltprobleme vernachlässigt: „Sustainable consumption as defined in mainstream policy relies upon the summation of many small acts of atomised consumer sovereignty to shift the market. However, the environmental problems which this strategy seeks to address (such as climate change) are global in nature and require negotiated, collective efforts to resolve.“10 Ähnlich sorgt sich auch der Politik- und Umweltwissenschaftler Michael F. Maniates in seinem Aufsatz „Individualization. Plant a tree, ride a bike, save the planet“ um die Eindämmung des kollektiven Zusammenschlusses betreffend Nachhaltigkeitsbestrebungen durch die zunehmendeIndividualisierung der Verantwortung. Er erklärt, dass mit der Projektion der Verantwortung auf den einzelnen Konsumenten, der Raum zur Bildung einer „collective imagination“ in „a dangerous way“ eingeengt würde.11 Die collective imagination sieht Maniates als wesentliches Werkzeug, mit welchem die Menschen sich verschiedene produktive Antworten auf die komplexen ökologischen Probleme vorstellen und damit erst entwickeln und umsetzen können. Er schreibt dazu: Confronting the consumption problem demands, after all, the sort of institutional thinking that the individualization of responsibility patently undermines. (…)Grappling with the consumption problem, moreover, means engaging in conversation both broad and deep about consumerism and frugality and ways of fostering the capacity for 8 Seyfang, 2009, S. 293. Vgl. Ebd. S.295. 10 Ebd. S.297. 11 Maniates, 2002, S. 48. 9 restraint. But when responsibility for environmental ills is individualized, space for such conversation disappears: the individually responsible consumer is encouraged to purchase a vast array of “green” or “eco-friendly” products on the promise that the more such products are purchased and consumed, the healthier the planet’s ecological processes will become. »12 An einer anderen Stelle in seinem Essay formuliert Maniates die Sorge, dass die Individualisierung der Verantwortung in einen individualisierten Lebensstil mündet, welcher die Menschen daran hindert die kollektiven Kräfte zu bündeln, noch weiter. Er erklärt, dass während dem Bemühen die Brücke zwischen ihrer Moral und Praxis zu schlagen die Menschen „busy“ bleiben. „But busy doing that with which we’re most familiar and comfortable: consuming our way (we hope) to a better (…) world.“13 Er interpretiert folglich, dass die Individualisierung der Verantwortung dazu führe, dass das umweltbesorgte Individuum sich primär als alleinstehender Konsument versteht, der umweltfreundliche Produkte kaufen soll, statt sich als Bürger einer gemeinsamen Demokratie zu sehen, der mit den anderen zusammenkommt und gemeinsam institutionelle Rahmenbedingungen hinterfragt.14 Ebenso problematisiert der Physiker und Philosoph Armin Grundwald in seiner Arbeit „Ökologie der Individuen“, dass die Bemühungen des einzelnen Konsumenten ohne zusammenkommende kollektive Ausrichtung nicht effektiv gegen die Umweltkrise wirken könnten. Er erklärt wie Maniates, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert werden müssen und dazu kollektive Verbindlichkeiten durch politisches Umwelthandeln erarbeitet werden müssen.15 Grunwald sieht folglich gleichartig wie Maniates das Problem, dass sich die Individuen primär als einzelne Konsumenten für die Umwelt engagieren, statt sich als Bürger zusammenzutun, um durch das politische System eine Veränderung Richtung Nachhaltiger Entwicklung zu erreichen. gehen in ihrer kritischen Argumentation davon aus, dass Individuen, die sich im Privaten darum bemühen nachhaltig zu leben, getrennt voneinander bleiben und wie ein „Hamster im Laufrad“16 jeder für sich und für sein Gewissen individuellen Lösungen nacheifert. In den Texten der Kritiker werden zur Herleitung dieser These lediglich der öffentliche Diskurs über die Umweltkrise oder die Ausgestaltung von politischen Nachhaltigkeitsinstrumente analysiert.Damit werden nur die abstrakten, von aussen an das Individuum herangetragenen, 12 Maniates 2002, S.34 Ebd. S.37 14 Vgl. Ebd., S. 37 15 Vgl. Grunwald, S.238 (Ökologie der Individuen 13 16 Erwartungen herausgearbeitet.17 Wie die Individualisierung ger Verantwortung in der Praxis des Nachhaltigen Konsums spiegelt Auskunft über empirische Hinweise über Auswirkungen des Nachhaltigen Konsums auf die soziale Verbundenheit wird damit kaum gegeben. Dazu müsste die praktische Umsetzung des Nachhaltigen Konsums auf der Ebene der konkreten Handlung der Individuen analysiert werden und dabei die Frage gestellt werden, inwiefern die Praxis des Nachhaltigen Konsums auf die soziale Verbindung zwischen den umweltbesorgten Individuen wirkt. Meine Annahme ist, dass gerade in der Praxis des Nachhaltigen Konsums, der Raum geöffnet wird, in dem die Individuen in Kontakt treten und sich miteinander verbinden können und dabei ein Bewusstsein für die von allen drei Autoren als bedroht betrachteten Kollektivität entstehen kann. 2.2. Individualisierung und Vergemeinschaftung Die drei oben vorgestellten Autoren sprechen mit ihren Sorgen über die Individualisierung der Verantwortung in der Behandlung der aktuellen Nachhaltigkeitsbestrebungen eine in der Soziologie seit ihren Anfängen - wenn auch in anderen Zusammenhängen - geführte Diskussion über die gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu einer individualisierten Gesellschaft, an. Unter dem Leitwort der Individualisierung beschreiben viele renommierte Soziologen, wie in der Moderne das gemeinschaftliche Handeln durch individuelles Handeln abgelöst und das Individuum immer mehr zum zentralen Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft wird. Ulrich Beck erfasst diese Entwicklung der Individualisierung mit den Worten: „Der oder die Einzelne wird selbst zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“18 Er versteht unter der Individualisierung, dass einerseits eine Freisetzung von den historisch vorgegebenen Sozialformen und -Bindungen innerhalb traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen, und andererseits auch eine Entzauberung, welche den Verlust von kollektiven Sicherheiten und Orientierungsrahmen wie Handlungswissen, Glauben und leitende Normen, geschieht. Beck schliesst daraus: „Durch den säkularen Trend der Individualisierung (…) wird der Sozialkitt porös, verliert die Gesellschaft ihr kollektives Selbstbewusstsein und damit ihre politische Handlungsfähigkeit.“19 In seinem prominenten Werk „Risikogesellschaft“ beschreibt er dann, wie im Zuge der Individualisierung soziale Risiken auf das einzelne Individuum heruntergebrochen werden oder 17 Seyfang analysiert die politischen Implementierung des Nachhaltigen Konsums in der UK. Maniates veranschaulicht die Individualisierung der Verantwortung an verschiedenen Beispielen aus dem politischen Diskurs in Amerika. Grunwald analysiert den deutschen mainstream Mediendiskurs sowie die Konzeptualisierungen von Nachhaltigem Konsum in den wissenschaftlichen Disziplinen der Sozial-ökologischen Forschung und Sustainability Science. 18 Beck, 1986, S.209. 19 Beck 1997, 24. in seinen Worten: „Aussenursachen in Eigenschuld“ und „Systemprobleme in persönliches Versagen“ verwandelt werden. Dies entspricht gewissermassen dem, was die oben genannten Autoren beklagen, dass die eigentlich kollektiven Umweltprobleme so auf die individuelle Ebene heruntergebrochen werden, dass der Einzelne zum Verantwortlichen gemacht wird, der die sozialen Probleme alleine tragen bzw. lösen muss. Nach den Darstellungen der erwähnten Umweltanalysten, lässt die Individualisierung der Verantwortung im Kontext des Nachhaltigen Konsums, die Menschen tendenziell auseinander driften - jeder meint auf sich allein gestellt die kollektiven Umweltprobleme lösen zu müssen- man könnte in Becks Begriffen sagen, sie beklagen, dass der Sozialkitt porös wird.20 Die soziologische Auseinandersetzung mit der Individualisierung behandelt allerdings nicht nur die Erosion der traditionellen gemeinschafsbasierten Integrationsmechanismen, sondern verweist auch auf Solidaritäts- und reintegrierende Dimensionen der Individualisierung, welche die Menschen auf neue Weise miteinander verbinden. Georg Simmel fasst dies pointiert folgendermassen zusammen: „Die Individualisierung lockert das Band mit dem Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen.“21 Dieser Aspekt – die neu gesponnen sozialen Bände - scheint mir in der oben aufgeführten kritischen Sorge über die aktuelle Ausgestaltung der Apellen und Erwartungen an den einzelnen Konsumenten im Kontext des Nachhaltigen Konsums etwas vernachlässigt, aber eigentlich wertvoll einer analytischen Betrachtung. Denn wie in der Einleitung erwähnt sind seit einiger Zeit im Kontext des Nachhaltigen Konsums Initiativen und Entwicklungen zu beobachten, in welchen, wenn man so will „Entferntere“ (das will heissen nicht familiär verbundene, sondern zum Beispiel Interessensgesinnte) sich ausdrücklich zusammentun, um sich auf gemeinschaftlicher Basis den Umweltproblemen anzunehmen. Der Ausgestaltung dieser (neuen) sozialen Bände gilt das Interesse meiner Erforschung der sozialen Verbundenheit zwischen den Individuen, die Nachhaltigen Konsum praktizieren. Ein theoretischer Ansatz, der sich mit dem „neuen Band“ zwischen eben den Entfernteren auseinandersetzt, ist die Theorie der posttraditionalen Vergemeinschaftung. Diese entdeckt bei der Analyse der Konsequenzen der Individualisierung für das soziale Zusammenleben, dass die Individuen aufgrund der Verunsicherung in einer individualisierten Gesellschaft neue Wege und Prozesse der sozialen Vergemeinschaftung einschlagen, mit der sie (wieder) soziale 20 21 Zumindest in Angelegenheiten der Nachhaltigkeitsbestrebungen. Sicherheit und Verbundenheit herzustellen versuchen.22 Nach Ronald Hitzler sei das soziale Band in diesen „neuen“ Gemeinschaften nicht auf Vergangenheit und Tradition Posttraditionale Vergemeinschaftung : über neue Formen der Sozialbindung - Post-traditional communization : new forms of social attachmentdie jederzeit kündbare Mitgliedschaft auf der Basis eines freien Entschlusses. Hinzu kommt, daß man für die Mitgliedschaft in der Regel bezahlt, da posttraditionale Gemeinschaften vorzugsweise von einer Organisationselite im Zusammenhang mit Profitinteressen stabilisiert und perpetuiert werden. Hierzu befassen sich Soziologen zum einen mit neuen soziale Bänden, welche über industrielle Arbeitsteilung, interstaatliche Verträge und marktbasierter Handel reguliert werden, und zum anderen auch mit neuen gemeinschaftsbildenden Identifizierungsprozessen Es werden einerseits neue globalisierte, mediale Vergesellschaftungs- und verbindende Identifikationssformen beschrieben oder andererseits wiederbelebende Wirft man einen Blick in die Zeitungen oder ins Web scheint die Gegenwärtigkeit der Erwartungen an den Konsumenten bezüglich seiner Verantwortungsübernahme gegenüber der Umwelt grösser denn je.23 Aus der Perspektive der Soziologie stellt die dieArgumentation der oben präsentierten Autoren eine interessante Entwicklung/ Tendenz in der Behandlung der aktuellen Nachhaltigkeitsbestrebungen dar: die Individualisierung der Verantwortung bezüglich des Nachhaltigen Konsums korrespondiert mit der von vielen renommierten Soziologen beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklung der Individualisierung. Unter dem Leitwort der Individualisierung wird seit den Anfängen der Soziologie beschrieben wie in der Moderne das Individuum immer mehr zum zentralen Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft wird. Ulrich Beck erfasst diese Entwicklung der Individualiserung mit den Worten: „Der oder die Einzelne wird selbst zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“24 Er erklärt, dass einerseits eine Freisetzung von den historisch vorgegebenen Sozialformen und -Bindungen innerhalb traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen, und andererseits auch eine Entzauberung welche den Verlust von kollektiven Sicherheiten und Orientierungsrahmen wie Handlungswissen, Glauben und leitende Normen, geschieht. Beck schliesst daraus: „Durch den säkularen Trend der Individualisierung (…) wird der Sozialkitt porös, verliert die 22 23 24 Beck, 1986, S.209. Gesellschaft ihr kollektives Selbstbewusstsein und damit ihre politische Handlungsfähigkeit.“25 unserer Gesellschaft. Eine beschriebene Sorge der Kritiker des Nachhaltigen Konsums, dass dieser zu einer Eindämmung des sozialen Zusammenhalts führe, korrespondiert auf den ersten Blick bestens mit der von vielen renommierten Soziologen beobachteten Entwicklung der gesellschaftlichen Individualisierung. - Individualisierung meint nach Ulrich Beck, dass das Individuum immer mehr zum zentralen Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft wird. Oder in seinen eigenen Worten: „Der oder die Einzelne wird selbst zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“26 Dies bedeute nach Beck einerseits eine Freisetzung von den historisch vorgegebenen Sozialformen und -Bindungen innerhalb traditionaler Herrschaftsund Versorgungszusammenhängen, andererseits aber auch eine Entzauberung welche den Verlust von kollektiven Sicherheiten und Orientierungsrahmen wie Handlungswissen, Glauben und leitende Normen meint. Beck schliesst daraus: „Durch den säkularen Trend der Individualisierung (…) wird der Sozialkitt porös, verliert die Gesellschaft ihr kollektives Selbstbewusstsein und damit ihre politische Handlungsfähigkeit.“27 …………….. die, oder in seinen Worten; dass verwandelt werden, ähnliches wie die Kritiker des Nachhaltigen Konsums mit der Individualisierung der Verantwortung als zentralen Mechanismus der Entwicklung,28 Vor dem Hintergrund der wie bisher vorgestellten soziologischen Individualisierungstheorie könnte die oben herausgearbeitete Sorge der Kritiker des Nachhaltigen Konsums zur These verleiten, dass die konsumorientierte Herangehensweise an die Umweltprobleme als ein (weiterer) Antrieb der sozialen Individualisierung unserer Gesellschaft wirkt. Nach den Darstellungen der erwähnten Umweltanalysten scheint es, dass Nachhaltiger Konsum die Menschen auseinander driften lässt – eben der Sozialkitt porös wird - das heisst jeder meint auf sich allein gestellt die kollektiven Umweltprobleme lösen zu müssen. Die soziologische Auseinandersetzung mit der Individualisierung behandelt aber nicht nur die Erosion der traditionellen gemeinschafsbasierten Solidaritäts- und Integrationsmechanismen, sondern verweist auch auf reintegrierende Dimensionen der Individualisierung, welche die Menschen auf neue Weise miteinander verbinden. Georg Simmel fasst dies pointiert folgendermassen zusammen: „Die Individualisierung lockert das Band mit dem Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen.“29 25 Beck 1997, 24. Beck, 1986, S.209. 27 Beck 1997, 24. 28 Beck 1986, S. 146, S. 150. 26 29 Ein theoretischer Ansatz der sich bei meiner Untersuchung der Auswirkung der Praxis des Nachhaltigen Konsums in der LGB auf die soziale Verbundenheit als fruchtbar erwies, ist die Gemeinschaftskonzeption des Soziologen Matthias Grundmann, welcher das klassische Verständnis der Gemeinschaft, das diese vor allem mit den traditionellen (oftmals familiären oder religiösen) Sozialformen in Verbindung bringt, zu einem ahistorischen Gemeinschaftsbegriff weiterentwickelt. Grundmann beobachtet, dass „Gemeinschaft mit der Etablierung staatlicher Verfassungen ihre Rolle als zentrale Instanz öffentlichen Lebens [zwar verlor], dennoch sich in der Moderne durchgängig gemeinschaftliche Beziehungen und Lebensformen [finden].“ Zur Untersuchung dieser gemeinschaftlichen Beziehungen muss die sich gegenseitig ausschliessende Dichotomie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft aufgelöst werden und Gemeinschaft als Teil der von Ronald Hitzler. Dieser schliesst an Becks Individualisierungsthese an, entwickelt aber aus empirischen Beobachtungen heraus die These, dass die Menschen, in einer individualisierten Gesellschaft neue Formen der Vergemeinschaftung suchen, welche ihnen . Dabei Dabei nehme ich Bezug auf Grundmann erklärt, dass Meine Frage nach Vergemeinschaftungsprozesse fusst auf dem Grundgedanken des Ansatzes der posttraditionalen Vergemeinschaftung, Der Aus der Medienforschung sowie JugendszenDas kennzeichnende dieser neuen Gemeinschaftsformen seien vor allem die frei gewählten Das Konzept der posttraditionalen Gemeinschaft wirft Licht auf die eigentlich schon von Ulrich Beck angesprochene reintegrierende Dimensionen der Individualisierung, welche im Individualisierungsdiskurs oftmals hinter der Klage der Gefährdung der gemeinschaftsbasierter Solidaritäts- und Integrationsmechanismen vergessen geht. Der Soziologe Ronald Hitzler erklärt dazu, dass die Individuen Individualisierung nicht die posttraditionale Vergemeinschaftung als Antwort auf 3. Die Praxis des Nachhaltigen Konsums in Lebensmittelkooperativen Um die praktische Umsetzung des Nachhaltigen Konsums zu untersuchen, wurde in hiesiger Arbeit ein spezielles Handlungsumfeld – eine Lebensmittelkooperative – ausgewählt. In diesem Kapitel soll erklärt werden, was unter einer Lebensmittelkooperative im Allgemeinen zu verstehen ist, und die Lebensmittel Gemeinschaft Basel im speziellen kurz vorgestellt werden. Lebensmittelkooperativen, kurz Foodcoops, sind grob zusammengefasst „ehrenamtlich organisierte Gemeinschaften, die kostengünstig ökologisch hergestellte Produkte aus der Region und fair gehandelte Waren aus Übersee beziehen.“30 Die grundlegende Motivation für die Mitgliedschaft in einer Foodcoop ist die Unzufriedenheit mit der vorherrschenden Lebensmittelproduktions- und -handelsweise. Auf der Website der Karlsruher Foodcoop heisst es, dass es darum ginge, gegen die Zerstörung der Umwelt und die Belastung der Lebensmittel mit Schadstoffen und Gentechnologie Menschen selbst etwas zu unternehmen. dazu bewegte in einer Foodcoop Mitglied zu werden, denn da ginge es darum „selbst etwas gegen die herrschende Verhältnisse zu unternehmen.“ und dass mit der In der Foodcoop Mitgliedschaft wiürde eine Möglichkeit gesehen selbstbestimmt und eigenverantwortlich für einen nachhaltigen Lebensmittelbezug einzu organisieren.31 Die ersten Foodcoops entstanden in den 1970er Jahren als die Möglichkeiten an biologisch erzeugte Produkte zu gelangen sehr begrenzt war. Mit dem Boom der Naturkostläden und der Etablierung des Bioladenmarktes in den 80er Jahren, verschwanden diese gemeinnützigen Organisationen in Europa grösstenteils wieder von der Oberfläche.32 Nur wenige haben sich mit „Einsatz und Phantasie eine Nische gebastelt“ und überlebten von den Anfangszeiten bis heute.33 Seit ein paar Jahren aber werden in den urbanen Zentren in Deutschland und in der Schweiz wieder vermehrt Vereinigungen, die dem Leitgedanken der ersten Foodcoops entsprechen, gegründet.3435 Es gibt vielfältige (Misch)Formen der Foodcoop; von der Bestell-Foodcoop oder LagerFoodcoop, über ganze Mitglieder-Ladenketten bis zu Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften. Allen gemeinsam ist die selbstbestimmte, gemeinnützige Struktur. Alle Mitglieder haben dasselbe Mitbestimmungsrecht, die allfallenden Arbeiten werden auf die Beteiligten aufgeteilt und es wird nur eine kleine Marge auf die Produkte gesetzt, welche für allfällige 30 31 http://www.foodcoop-karlsruhe.de/coopselbstv.html In Amerika haben sich die Foodcoops etwas „erfolgreicher“ etabliert und wuchsen in den letzten 10 Jahren bis zu grossen Einkaufsketten. Als Beispiel: food coop slope park. 33 http://www.foodcoop-karlsruhe.de/coopselbstv.html 32 34 35 Es gibt noch keine statistische Erhebung der Anzahl und Verbreitung von Foodcoops. Als Indiz für die Wiederverbreitung von Foodcoops dient mir die Website Foodcoopedia, auf welcher sich seit 2004 über 100 in den Städten Deutschlands situierte Foodcoops registriert haben. Auch ist die Bildung einer nationalen Dachorganisation wie die Bundesarbeitsgemeinschaft für Lebensmittelkooperativen ein Zeichen dafür, dass es eine grosse Anzahl von Foodcoops gibt, welche es lohnt zu vernetzen und koordinieren. In der Schweiz ist die älteste grössere Foodcoop in Zürich zu finden. Das Tor 14 entstand in , nun eine neue Betriebskosten eingesetzt werden oder für die Förderung von Initiativen für die ökologische Landwirtschaft eingesetzt werden.36 Die Lebensmittel Gemeinschaft Basel (kurz LGB) funktioniert als Bestell- und Lagerfoodcoop. Sie ist rechtlich als Verein konzipiert, bei dem man als Mitglied Sfr. 10.- im Monat bezahlt und dafür jede Woche frische Produkte wie Gemüse, diverse Früchte, Milchprodukte, Getreide und Brot bestellen sowie aus dem Lagersortiment (im Moment der Untersuchung: Apfelsaft, diverses Öl, vegane Milchersatzprodukte u.Ä.) spontan einkaufen kann. Die LGB sieht sich selbst neben der Zugangsermöglichung zu nachhaltigen Lebensmitteln Posttraditionale Vergemeinschaftung : eine 'Antwort' auf die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung 36 3. Methodisches Vorgehen Ich habe mich bei der Datenerhebung und dem Analyseverfahren für qualitative Forschungsmethoden entschieden. Qualitative Forschung zeichnet sich besonders durch ihre Offenheit und Flexibilität aus, welche gerade bei der Erforschung von noch wenig untersuchten sozialen Phänomenen – wie es die hier interessierten Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsprozesse im Kontext des Nachhaltigen Konsums bzw. konkret in einer Food-co-operative sind – von besonderem Vorteil sein können. Sie ermöglichen dem Forscher auf die noch unbekannten und individuellen Umstände des Untersuchungsfeldes flexibel einzugehen und die relevanten Zusammenhänge aus ihrem natürlichen Kontext heraus zu „entdecken“. 37 Da die Gestaltung der qualitativen Forschung sich prozessartig entwickelt und zumeist nur wenig standardisiert ist, gilt die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Entscheidungsschritte im Forschungsprozess als wichtiges Prinzip in der qualitativen Forschung.38 Um dieses abzudecken, werden in folgenden Unterkapiteln die gewählten methodischen Zugänge und die relevanten Merkmale meines Forschungsverlaufs transparent dargelegt und kritisch reflektiert. 3.1.Ausgangssituation des Forschungsprozesses Mit der „Lebensmittel Gemeinschaft Basel“ wählte ich ein Untersuchungsfeld, dem ich schon vor dem Forschungsbeginn persönlich vertraut war. Aus eigenem Interesse an gesunden und fair gehandelten Lebensmitteln bin ich seit der Gründung der LGB im März 2012 aktives Mitglied des Vereins. Dies bedeutet konkret, dass ich über ein halbes Jahr wöchentlich Lebensmittel über die LGB bestellte und immer wieder bei den monatlichen Sitzungen dabei war. Dieser persönliche Bezug zum Untersuchungsgegenstand brachte mir für meine Untersuchung einige Vorteile: Er vereinfachte mir den Zugang zum Forschungsfeld, die Bewahrung der natürlichen Situation durch nicht zu starkes Auffallen als Forscher und der Prozess des Vertrauensgewinns bei den erforschten Individuen. Zudem half das Vorwissen über die Funktionsweise der LGB mir bei der Auswahl von sinnvollen Datenerhebungsmomenten und Interviewpartnern. So angenehm diese Vorteile auch sein mochten, war ich mir (speziell bei der Handhabung des letzteren Vorteils) auch im Klaren darüber, dass der persönliche Bezug nur mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen war. Als gewöhnliches Mitglied hatte ich bis zum Zeitpunkt meiner Forschung nämlich nicht mit dem Blick eines Forschers auf die LGB geschaut und somit womöglich wichtige Details nicht bewusst wahrgenommen. Der Ethnograf 37 38 Vgl. Flick, 2009, S. 26-S. 28. Vgl. Lamnek 2005. Qualitative Sozialforschung. James Spradley beschreibt zu diesem Thema in einer Gegenüberstellung des gewöhnlichen und dem forschenden Individuums, dass während das Erstere in seinem Alltag viele Dinge ausblenden muss, um nicht von der Komplexität des sozialen Lebens überrollt zu werden, muss Zweiteres seine Wahrnehmung besonders auch für diese Dinge schärfen. Der Forschende habe deshalb die Aufgabe „to increase his or her awareness, to raise the level of attention, to tune in things usually tuned out.“39 Es galt folglich in meiner Untersuchung darauf zu achten nicht nur diejenigen Aspekte (Orte, Mitglieder, Handlungen) der LGB unter die Lupe zu nehmen, die ich selbst schon kannte bzw. stark in Erinnerung hatte, sondern den Blick auch auf die mir noch unbekannten Aspekte in der LGB zu werfen. Ich musste mich folglich zunächst von meinem Untersuchungsgegenstand persönlich etwas distanzieren, den Blick auf die gewohnte soziale Wirklichkeit verfremden, um mich ihr dann wieder bewusst und systematisch anzunähern. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, entschied ich mich ziemlich zu Beginn meiner Forschung das Kernteam (6 aktive Mitglieder der LGB) über mein Forschungsvorhaben zu informieren. Damit konnte ich mich von den Erwartungen an meine gewöhnliche Rolle in der LGB etwas befreien und ich mich besser auf meine Forschung konzentrieren. Zudem konnte ich in diesem Gespräch mit dem Kernteam zusammen einen Überblick über die verschiedenen Aktivitäten und Handlungsorte der LGB für die Forschungsmonate Dezember 2012 und Januar 2013 erarbeiten, der nicht nur auf meinen subjektiven Blick basierte. 3.2.Methodischer Zugang I: Teilnehmende Beobachtung Aus dem methodologischen Spektrum der qualitativen Sozialforschung wählte ich als primäre Erhebungsmethode die Teilnehmende Beobachtung. Diese Erhebungsmethode eignet sich für meine Untersuchung besonders gut, da sie vorsieht, dass die Daten zur Beantwortung der Forschungsfrage über einen längeren Zeitrahmen hinweg (in meinem Fall knapp zwei Monate) gesammelt werden. Somit wird ermöglicht, dass die Prozesshaftigkeit und Dynamik, die den in meiner Forschung untersuchten Phänomenen der Individualisierung bzw. Vergemeinschaftung zu Grunde liegen, zumindest ansatzweise erfasst werden können. Zudem hat die teilnehmende Beobachtung gegenüber reiner Beobachtung oder Interviews den Vorteil, dass der Forscher die zu untersuchenden Handlungen aus nächster Nähe beobachten und anhand der direkten Eigenerfahrung auch möglichst von innen her verstehen kann. „Mit 39 ¨Spradley 1980, S.56. teilnehmender Beobachtung will der Forscher eine grösstmögliche Nähe zu seinem Gegenstand erreichen, er/sie will die Innenperspektive der Alltagssituation erschliessen.“ 40 Vor dem Hintergrund des im vorherigen Unterkapitel dargelegten persönlichen Bezugs zum Untersuchungsfeld stellte die teilnehmende Beobachtung ausserdem eine wertvolle Erhebungsmethode für meine Forschung dar, weil sie eine von wenigen wissenschaftlichen Methoden ist, die es erlaubt bzw. sogar fordert die persönlichen Erfahrungen des Forschers im Untersuchungsfeld (seine Handlungen, Gedanken und Gefühle) in den Datenkorpus mit aufzunehmen. Der Ethnograph James Spradley erklärt dazu, dass die teilnehmende Beobachtung nicht zum Ziel hat Menschen zu studieren, sondern von ihnen zu lernen.41 Das heisst der Forschungsprozess wird in der Methode der Teilnehmenden Beobachtung als Lernprozess verstanden, in den der Forschende sich begibt, wenn er versucht die untersuchte Situation zu verstehen. Dieser Lernprozess wird dann sozusagen Teil des Untersuchungsgegenstandes, es geht darum „den eigenen Prozess des Vertrautwerdens zu reflektieren und darüber Einsichten in das zu untersuchte Feld zu gewinnen, die bei aufrechterhaltener Distanz nicht zugänglich wären“. 42 Die Methode der Teilnehmenden Beobachtung setzt sich folglich – wie der Name schon impliziert – einerseits aus Beobachtungsmomenten der äusseren Situation des Forschers und andererseits aus der introspektiven Beobachtung der Teilnahmemomente - Handlungen, Wahrnehmungen und Gefühle des Forschers während er die untersuchten Handlungen selbst vollzieht - zusammen. Im Folgenden werden die Auswahl und Vorgehensweisen bei diesen beiden Forschungsmomenten in meiner Untersuchung erläutert. 3.2.1. Beobachtungsmomente Eine grosse Herausforderung für die wissenschaftliche Beobachtung ist es, sich nicht in der Vielfalt und Komplexität eines sozialen Phänomens zu verlieren. James Spradley erstellt dafür einen dreiphasigen Beobachtungsleitfaden, der auf der Idee aufbaut, dass jeder Beobachtung eine Frage vorausgeht und bei der wissenschaftlichen Beobachtung deshalb der Clue darin liegt, diese Frage bewusst und systematisch zu stellen. In der ersten Phase der Descriptive Observation empfiehlt Spradley dem Forscher, sich mit der generellen Frage „What’s going on here?“ der sozialen Situation langsam anzunähern. Es geht darum einen ersten unvoreingenommenen Überblick über die Situation zu erhalten, um darauf aufbauend konkretere Untersuchungsfragen zu entwickeln. In der zweiten Phase die Focused Observation 40 Mayring 2002, S. 81 Vgl. Spradley 1980, S.3 42 Flick, 2009, S.291. 41 soll der Forscher dann im Feld nach verschiedenen Antworten auf diese Fragen suchen. Die letzte Phase, der Selektive Observation soll nach einer eingehenden Analyse der fokussierten Beobachtungen folgen und dazu dienen, die ersten herausgearbeiteten Kategorien mit weiteren detaillierten Beobachtungen sowie mithilfe von kontrastierenden Fragen ausdifferenziert darstellen zu können.43 Während den zwei Forschungsmonaten fanden vier dreistündige Lebensmittel-Abholtreffen im Raum der LGB statt. Da diese Art des Treffens die Kernaktivitäten der LGB darstellt, an welcher ein grosser Teil der Mitglieder regelmässig teilnimmt, wählte ich sie als Hauptbeobachtungsmomente. Die Treffen verteilten sich über den Zeitrahmen der Erhebungsphase in regelmässigen Abständen und von daher war eine zunehmende Konkretisierung der Beobachtung wie Spradley sie vorschlägt gut möglich. Ich begann mit der generellen Frage, was machen die Mitglieder beim Zusammenkommen für das Abholen ihrer Lebensmittel? Um Hinweise für die Art und Entstehung der sozialen Verbundenheit zu erhalten, nahm ich vornehmlich die Handlungen in den Blick, bei denen die Mitglieder in Kontakt zueinander traten. Dabei stellten sich zwei relevante Beobachtungsaspekte für die soziale Verbindung im Kontext von Nachhaltigen Konsum heraus: erstens die Verteilung der Organisations- und Entscheidungsaufgaben des gemeinsamen Lebensmittelbezugs auf die Mitglieder der LGB und andererseits die direkte Lebensmittelkonsumption (der LGB Raum hat eine Küche in der während des Abholens häufig eine kleine Gruppe für die anderen Mitglieder kocht). In der fokussierten Beobachtungsphase nahm ich diese beiden Aspekte genauer in den Blick und beobachtete wie die Mitglieder sich zusammen organisierten, damit sie zu ihren gesunden Lebensmitteln gelangen und andererseits was beim zusammen Kochen und Essen mit den Beziehungen zwischen den Mitgliedern geschah. Für diese fokussierten Beobachtungen nahm ich zusätzlich zu den Abholtreffen an einem Produktegruppe-Treffen, einer grossen Sitzung sowie am Neujahrsessen im LGB-Raum als teilnehmender Beobachter teil. Das Einbeziehen dieser zusätzlichen Beobachtungsmomente verschaffte mir die Möglichkeit in einem kleineren Rahmen (jeweils 8-15 Personen, statt 30-40 wie beim Abholtreffen) einen tieferen Einblick in die genannten Aspekte zu erhalten, sowie die Möglichkeit die „Variationsbreite des tatsächlich Beobachtbaren zu vergrössern“.44 Die selektive Beobachtungsphase führte ich dann wieder bei den Abholtreffen durch und ergänzte diese mit zwei fokussierten Interviews mit LGB Mitgliedern. Dazu mehr im Kapitel 3.3. 43 44 Vgl. Spradley 1980. Flick, 2009, S.290. 3.2.2. Teilnahmemomente Nach James Spradley kann sich das Ausmass des teilnehmenden Charakters bei der Forschung über ein Kontinuum von keiner, über passive, moderate, aktive bis zur kompletten Teilnahme erstrecken.45 Auch wenn Spradley jene Forscher, die ein Feld untersuchen, in welchem sie bereits vor Forschungsbeginn gewöhnlicher Teilnehmer waren, dem letzten Teilnahmetyp zuordnet, würde ich meine Teilnahme während meiner Forschung auf seinem Kontinuum näher beim moderaten Teilnahmetyp einordnen. Der moderate Teilnehmer ist nach Spradley nämlich jener, der versucht eine Balance zwischen Beobachtung und Teilnahme zu halten, was genau mein Bemühen in meiner Forschung widerspiegelt.46 Da ich schon gleich beim ersten Aufsuchen des LGB Raums mit Forschungsabsicht merkte, dass es schwierig sein wird bei gewohntem Teilnahmegrad genügend Zeit und Raum zu finden für die Beobachtung und deren schriftliches Festhalten, befreite ich mich gleich zu Beginn von allen bisherigen Aufgaben in der LGB und informierte das LGB Kernteam über meine Forschungstätigkeit. Teilnehmend erforschte ich die LGB dann vor allem insofern, dass ich während den Forschungseinsätzen in Dialog47 mit den anderen Teilnehmern der untersuchten Situationen trat und Informationen nicht nur von einem passiven Beobachtungsplatz aus, sondern auch im direkten Gespräch mit den anderen Teilnehmern aufnahm. Dabei war es nötig, dass ich mich auch unter die Leute mischte und ebenso wie sie Lebensmittel abpackte, kochte und ass. Meine Erfahrungen vor dem Forschungsbeginn in der LGB, die mir für meine Forschungsfrage relevant schienen, arbeitete ich in einem Gedächtnisprotokoll ziemlich am Anfang der Datenerhebung auf. Dieses Gedächtnisprotokoll diente mir dazu, eine möglichst klare Linie zwischen den selbst erlebten Ereignissen aus der Vergangenheit und denen, die ich als Forscherin durch die anderen Mitglieder der LGB erhob, zu ziehen. Dabei ging es mir nicht darum einen Schnitt zu machen und die eigenen Vorerfahrungen bei der späteren Analyse meiner Daten auszublenden, sondern diese bewusst in die Interpretation meiner Daten miteinzubeziehen und sie in ein Verhältnis zu den Erfahrungen der anderen Mitgliedern bzw. der während der Forschung direkt beobachteten Ereignisse zu stellen. 3.3.Methodischer Zugang II: Fokussiertes Interview 45 Vgl. Spradley, 1980, S. 58- S.62. Vgl. Ebd. S.60. 47 Die Dimension des Dialogs spielt bei der teilnehmenden Beobachtung eine wichtige Rolle. Bei der teilnehmenden Beobachtung wird das Agieren des Forschers nicht als Störung der natürlichen Situation angesehen, sondern die Reaktionen im Feld als zusätzliche Erkenntnisquelle verstanden. (Vgl. Flick, S.293) Koepping erklärt dazu: Der Teilnehmende Beobachter „macht das Forschungssubjekt, den anderen nicht zum Gegenstand, sondern zum dialogischen Partner“. (Koepping in Flick 2008, S.290) 46 Wie bereits weiter oben angesprochen, führte ich gegen Ende des Forschungsprozesses ergänzend zu der selektiven Beobachtungsphase zwei Interviews mit zwei LGB Mitgliedern durch. Dabei ging es mir darum, mit konkreten Fragen, die Reflektion der Mitglieder über die von mir beobachteten Handlungen einzufangen, um meine Erkenntnisse aus der Teilnehmenden Beobachtung mit den subjektiven Wahrnehmungen der Mitglieder zu überprüfen, erweitern und vertiefen. Die Interviews wurden in Anlehnung am Entwurf des fokussierten Interviews von Robert K. Merton und Patricia L. Kendall konzipiert. Dieses sieht vor mit einem lockeren Leitfaden von Fragen, die subjektive Wahrnehmung einer bestimmten Stimulussitution, der der Interviewte im Vorfeld des Interviews ausgesetzt war, zu erfassen.48 Auch wenn mit dieser Interviewform die Idee im Zentrum steht Hypothesen zu prüfen, sollte darauf geachtet werden, dass der Interviewte nicht zu sehr vom Interviewenden beeinflusst wird. Wie Merton und Kendall zu diesem Zweck vorschlagen, formulierte ich meine Anfangsfragen eher offen und stellte gegen Ende zunehmend konkretere bzw. geschlossenere Fragen.49 Meine Fragen wurden aus der Analyse der mit der teilnehmenden Beobachtung erhobenen Daten abgeleitet und erfragten vor allem, welche Bedeutung die Befragten den gefundenen Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsprozesse gaben und stellten Warum Fragen, welche mit Beobachtung schlecht zu beantworten sind, ins Zentrum. Aus den Daten der teilnehmenden Beobachtung kristallisierte sich beispielsweise heraus, dass Vergemeinschaftung in der LGB bewusst gefördert wird und neben dem Zugang zu qualitativen Lebensmitteln ein klares Ziel des Vereins darstellt. Aus den Interviews wollte ich erfahren, wieso sich die Befragten sich bemühten Vergemeinschaftung herzustellen und was für sie Gemeinschaft bedeutet. Als Interviewpartner wählte ich ein weibliches aktives Mitglied im Alter von 25 Jahren, das schon von Anfang an mit dabei war und ein eher passives männliches Mitglied um die 50 Jahre, der erst seit 2 Monaten Mitglied bei der LGB ist. Ich entschied mich bewusst für diese zwei sehr unterschiedliche Mitglieder, um in den Differenzen die relevanten Gemeinsamkeiten zu entdecken, welche die interessierten Prozesse in der LGB repräsentieren können. Das erste Interview dauerte eine 45 Minuten und das zweite eine knappe halbe Stunde. 3.4.Datenaufbereitung und Datenanalyse 48 49 Vgl. Flick, 2009, S.195 – S.202 Vgl. Ebd. S.196. Als Grundlage für die Analyse dienten mir neben dem weiter oben erwähnten Gedächtnisprotokoll ein Feldnotizheft und ein Forschungstagebuch, in welchen ich meine Beobachtungs- und Teilnahmemomente schriftlich dokumentiert hatte. Ersteres beinhaltet die Deskription von dem was ich im Feld direkt gesehen, gehört und gemacht habe. Und Zweiteres die Reflektion darüber, wie ich mich bei diesen Ereignissen sowie im Forschungsprozess allgemein gefühlt habe und was für Probleme, Ideen, Fragen aufkamen. Zur Entstehung dieses schriftlichen Datenkorpus ist zu erklären, dass ich während meiner Feldaufenthalte jeweils ein Notizblock dabei hatte, in welches ich stichwortartig die Geschehnisse notierte, um diese dann gleich nach dem Verlassen des Felds detaillierter zu verschriftlichen bzw. wie Spradley es nennt zu einem expanded account zu erweitern.50 Nach der Verschriftlichung folgten jeweils die ersten Analyseschritte, bei denen ich die genannten Daten-Texte thematisch codierte und vergleichend sortierte. Ich orientierte mich dabei an dem Analyseverfahren der Grounded Theory, welches drei Typen des Kodierens: offenes, axiales und selektives Kodieren unterscheidet. Die drei Typen des Kodierens sind weder klar voneinander trennbare Vorgehensweisen, noch zeitlich eindeutig getrennte Phasen. Vielmehr stellen sie verschiedene Umgangsweisen mit textbasiertem Material dar, zwischen denen hin und her gesprungen und die miteinander kombiniert werden können.51 Zu Beginn des Auswertungsprozesses beziehen sich die Kodes unmittelbar auf die Daten, werden im Laufe des Prozesses differenzierter und abstrakter und können schlussendlich zu einer Kategorie zusammengefasst werden. Zentral bei diesem Verfahren ist, dass die Interpretation induktiv geschieht, das heisst die ersten Kodes werden aus den Daten heraus entwickelt und werden in einem ständigen Vergleich zwischen ähnlichen und differenten Daten geprüft und weiterentwickelt. Beim offenen Kodieren werden die Daten zunächst zerlegt und Aussagen in einzelne thematische Sinneinheiten zergliedert, um diese mit Anmerkungen und Begriffe (Kodes) zu betiteln. Dabei können x-beliebige Codes entstehen, die Idee ist, diejenigen für die jeweilige Fragestellung relevanten entdeckten Codes nach Ähnlichkeiten zu gruppieren und wieder mit abstrakteren Codes zusammenzufassen. Ziel des offenen Kodierens ist ein fundiertes inhaltliches Verständnis für die Daten-Texte zu erarbeiten und Konzepte in Bezug auf Eigenschaften und Dimensionen der Daten zu identifizieren. Beim axialen Kodieren geht es darum, die entwickelten Kodes zu verfeinern und zu differenzieren. Es werden Kategorien und Unterkategorien entwickelt, deren Beziehungen zueinander herausgearbeitet werden. Das 50 51 Spradley, 1980, S.70. Flick 2009, S.387- S.388. selektive Kodieren hat dann zum Ziel eine Kernkategorie herauszuarbeiten, um welchen sich die anderen Kategorien gruppieren lassen. Dazu ist ein ständiger Vergleich von ähnlichen und vor allem auch sehr unterschiedlichen Datenmaterial wichtig,52 52