FB Gk BGB I (Haberl/Schmid/Dr. Suyr), WS 15/16 FB 8 – Das Missverständnis – Lösung Fall 1: Das Missverständnis AT: WILLENSERKLÄRUNG, ABGESCHWÄCHTE VERNEHMUNGSTHEORIE, INHALTSIRRTUM, OBJEKTIVE KAUSALITÄT DES IRRTUMS, ANFECHTUNGSERKLÄRUNG LÖSUNG: Anspruch aus § 433 I S. 1 BGB B könnte gegen M einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung der 100 kg Weizenmehl zu einem Preis von 50,- € aus § 433 I S. 1 BGB haben. Voraussetzung des Anspruchs von B ist, dass zwischen ihm und M ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen ist. Ein Kaufvertrag wird durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, nämlich Angebot (§ 145 BGB) und Annahme (§ 147 I S. 1 BGB) geschlossen. 1. a) Vorliegend hat B durch den Anruf bei M ein Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrags abgegeben. Fraglich ist aber, ob dieses Angebot dem M auch zugegangen ist, da M die Erklärung des B hinsichtlich der gewünschten Menge falsch verstanden hat. Es kommt damit darauf an, welche Anforderungen man im vorliegenden Fall an den Zugang der Willenserklärung stellt. Da B bei M angerufen hat, gelten in Analogie zu § 147 I S. 2 BGB1 die Regeln über den Zugang unter Anwesenden. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung existiert im Gegensatz zum Zugang unter Abwesenden (§ 130 BGB) nicht. Vertreten werden zwei Ansichten: aa) Nach der strengen Vernehmungstheorie geht eine Willenserklärung unter Anwesenden zu, wenn der Erklärungsempfänger diese richtig wahrnimmt. Demnach trägt der Erklärende das volle Erklärungsrisiko. Das Angebot des B wäre nach dieser Ansicht dem M nicht zugegangen, da es dieser falsch verstanden hat. bb) Nach der sog. abgeschwächten Vernehmungstheorie gilt die Erklärung dagegen auch dann als zugegangen, wenn sie der Empfänger nicht richtig verstanden hat, der Erklärende aber damit rechnen konnte, dass der Empfänger seine Erklärung richtig verstanden hat. Da M vorliegend auf den Antrag des B so reagiert hat, als habe er den Wortlaut des Antrags verstanden und B auch ansonsten keine Anhaltspunkte hatte, dass dem nicht so sei, durfte B davon ausgehen, dass M den Wortlaut seines Angebots richtig vernommen hatte. 1 So RGZ 90, 160. Um eine Analogie handelt es sich deshalb, weil § 147 I S. 2 nur die Annahmefrist regelt, nicht aber den Zugang. Der Gedanke ist also folgender: Wenn das Gesetz die Annahmefrist wie unter Anwesenden regelt, dann entspricht es der gesetzlichen Wertung, auch die diesem Problem vorgelagerte Frage des Zugangs wie unter Anwesenden zu behandeln. Statt auf eine Analogie kann man aber auch auf Sachkriterien abstellen: Sowohl unter Anwesenden als auch bei Telefonkontakt besteht ein direkter, beiderseitiger Übermittlungskontakt; gleichzeitig fehlt eine Speicherung (Schriftform, Anrufbeantworter, Email, Fax). In beiden Fällen erlaubt die Art des Kontakts also eine direkte Rückfrage des Adressaten (so John, AcP 184, 385, 390 ff). Entscheidend ist mithin der direkte, beiderseitige Kontakt. Da dies auch der Grund für die Existenz des § 147 I S. 2 ist, handelt es sich im Grunde nicht um zwei unterschiedliche Begründungswege: Auch bei der Analogie liegt die materielle Rechtfertigung in diesem Kriterium. Seite 1 von 2 Demnach läge ein Antrag auf Lieferung von 200 kg Mehl vor. cc) Da die beiden Ansichten vorliegend zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist eine Entscheidung erforderlich. Zunächst ist festzustellen, dass der Ausgangspunkt der strengen Vernehmungstheorie richtig ist: Im Unterschied zu schriftlichen Erklärungen bekommt der Empfänger einer mündlichen Erklärung nichts in die Hand, um sich des Inhalts der Erklärung zu versichern. Das gesprochene Wort ist flüchtig: was nicht sofort verstanden wird, kann auch später nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Deshalb kann es grundsätzlich nicht ausreichen, dass überhaupt etwas so gesprochen wurde, dass es unter normalen Umständen vom Empfänger zur Kenntnis genommen werden hätte können. Wenn Zweifel daran möglich sind, dass die Erklärung richtig vernommen wurde, hat der Erklärende vielmehr nachzufragen; unterlässt er dies, ist das sein Risiko. Die strenge Vernehmungstheorie geht aber zu weit, wenn sie sämtliche Empfangsrisiken dem Erklärenden aufbürden will. Stattdessen sind im Interesse einer angemessenen Verteilung der Risiken auch hier der Gedanke des Verkehrsschutzes sowie allgemeine Zurechnungskriterien2 zu berücksichtigen. Dies ermöglicht die abgeschwächte Vernehmungstheorie. Nach ihr ist bereits dann Zugang anzunehmen, wenn für den Erklärenden vernünftigerweise keine Zweifel daran bestehen konnten, dass seine Erklärung richtig und vollständig vernommen wurde. So liegt der Fall vorliegend, denn die Antwort des M hat dem B keinen Anhaltspunkt geliefert, dass M ihn falsch verstanden hat. Das Angebot des B ist dem M demnach mit dem tatsächlichen Inhalt zugegangen. b) Weiter müsste M dieses Angebot angenommen haben. Vorliegend wollte M nur einem Verkauf von 100 kg Weizenmehl zustimmen. B hat die Erklärung des M aber dahingehend verstanden, dass dieser der Lieferung von 200 kg Mehl zugestimmt hat. M hat seinen Willen nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, da er nur erklärte, „die Angelegenheit gehe in Ordnung“. Die Erklärung des M bedarf insoweit der Auslegung. Die Auslegung erfolgt gem. §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont, d.h., es kommt darauf an, wie der Empfänger (B) nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte die Erklärung (des M) zu verstehen hatte. Da nach dem oben Gesagten B davon ausgehen durfte, dass M seine Erklärung richtig verstanden hat, konnte er die Erklärung des M nur dahin deuten, dass dieser sich 2 Ist der Empfänger etwa unerkennbar schwerhörig, so ist ihm eine gewisse Mitverantwortung für den Verständigungsvorgang zuzumuten. Im Zweifel muss er also nachfragen. Gleiches gilt beispielsweise, wenn sein Telefon einen Wackelkontakt hat. © Sandmann/Leisch 99 / Maack 02 FB Gk BGB I (Haberl/Schmid/Dr. Suyr), WS 15/16 FB 8 – Das Missverständnis – Lösung mit der Lieferung der 200 kg Mehl einverstanden erklärt hat. M hat folglich das Angebot des B angenommen. Damit liegen die Voraussetzungen für einen gültigen Kaufvertrag vor. 2. Der Kaufvertrag könnte aber gem. § 142 I BGB nichtig sein, wenn M den Kaufvertrag wirksam angefochten hat.3 Erforderlich ist hierfür ein Anfechtungsgrund, §§ 119 ff BGB, und eine fristgerechte Anfechtungserklärung, § 143 BGB. a) M muss gem. § 143 I, II BGB die Anfechtung gegenüber B erklärt haben. aa) Vorliegend hat M zwar das Wort „Anfechtung“ nicht gebraucht. Dies zu fordern, wäre aber lebensfremder Formalismus. Erforderlich ist vielmehr, dass die Erklärung des M unzweideutig zum Ausdruck bringt, dass das Rechtsgeschäft nicht gelten soll (Gebot der Unzweideutigkeit). Eine Auslegung der Erklärung des M, weitere 100 kg nur zu einem Preis von 0,60 € liefern zu wollen, beinhaltet das Bestreiten einer weiteren Verpflichtung und kann als Anfechtungserklärung verstanden werden (a.A. vertretbar: für B ist nicht erkennbar, ob es sich um eine Anfechtung oder um ein Angebot auf Vertragsänderung oder um eine bloße Erfüllungsverweigerung handelt.). bb) Umstritten ist allerdings, ob die Anfechtungserklärung auch den Anfechtungsgrund nennen muss. Gegen eine entsprechende Begründungspflicht spricht, dass eine solche gesetzlich nicht angeordnet ist, sowie die Härte der Wirkungslosigkeit einer nicht näher begründeten Anfechtung (Anfechtungsfrist!). Für eine Begründungspflicht spricht das legitime Interesse des Anfechtungsgegners, zu wissen, woran er ist, denn nur so kann er beurteilen, ob die Anfechtung verspätet ist (unterschiedliche Fristen bei § 121 BGB und § 124 BGB) und ob er seinen Vertrauensschaden geltend machen kann (bei § 119 BGB (+), bei § 123 BGB (-)). Ebenso spricht dafür, dass es anderenfalls zum bedenklichen Nachschieben von Anfechtungsgründen kommen kann (Gefahr der Umgehung der Anfechtungsfrist). Da sowohl die Gründe für als auch diejenigen gegen eine Begründungspflicht gewichtig sind, ist in Abwägung der berechtigten beiderseitigen Interessen eine Mittellösung vorzugswürdig: Soweit die Anfechtungsgründe bekannt oder erkennbar sind, ist ihre Nennung verzichtbar. Ist das nicht der Fall, ist die Anfechtung entweder wirkungslos oder aber sie gilt zumindest nur als Irrtumsanfechtung; ein schärfer wirkender Anfechtungsgrund (§ 123 BGB) kann dann jedenfalls nicht nachgeschoben werden (alles sehr strittig). Vorliegend erfolgte die Erklärung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Reklamation der Zu-wenigLieferung, so dass für B erkennbar war, dass M einem Inhaltsirrtum bezüglich der Menge unterlegen war. Die 3 Das Gesetz spricht in § 142 von der Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts, während §§ 119 ff. lediglich von der Anfechtbarkeit der Willenserklärung sprechen. Hiermit ist kein sachlicher Unterschied verbunden. § 142 bringt lediglich den Zusammenhang zwischen Willenserklärung und Rechtsgeschäft verkürzt zum Ausdruck: die Anfechtung der Willenserklärung erfasst zwangsläufig das gesamte Rechtsgeschäft. Seite 2 von 2 Begründung der Anfechtung war daher nicht erforderlich (a.A. vertretbar). b) Die Erklärung erfolgte auch unverzüglich, § 121 I S. 1 BGB. c) aa) Als Anfechtungsgrund kommt ein Inhaltsirrtum nach § 119 I Alt. 1 BGB in Betracht. M hat sich mit seiner Äußerung, dass die Angelegenheit in Ordnung gehe, nicht wie er dachte, zur Lieferung von 100 kg, sondern zur Lieferung von 200 kg Mehl verpflichtet. M wusste also was er sagte, er wusste aber nicht, was das Gesagte bedeutet hat. Damit lag ein beachtlicher Irrtum des M über den Bedeutungsgehalt seiner Erklärung vor. Dieser stellt einen Inhaltsirrtum nach § 119 I Alt. 1 BGB dar. bb) Zusätzlich muss der Irrtum des M aber auch kausal gewesen sein. Es muss also angenommen werden können, dass M bei Kenntnis der wahren Sachlage und verständiger Würdigung des Falles den Vertrag nicht abgeschlossen hätte (vgl. § 119 I, letzter Hs. BGB). Nach dem Gesetzeswortlaut genügt es nicht, dass der Irrtum des M nur subjektiv kausal war. Vielmehr muss der Irrtum des M auch unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabes („verständige Würdigung des Falles“) kausal für dessen Erklärung gewesen sein. Dies wäre vorliegend etwa dann der Fall, wenn M den für die zusätzlichen 100 kg Mehl erforderlichen Weizen selbst nur zu einem höheren Preis hätte besorgen können. Dafür gibt der Sachverhalt jedoch keinen Anhaltspunkt. Entscheidend ist daher die Erwägung, dass M als Geschäftsmann normalerweise daran interessiert ist, möglichst viel Ware zu veräußern und dass er vorliegend auch zur Lieferung von weiteren 100 kg in der Lage ist. Das Motiv für die Anfechtung des M liegt dagegen allein darin, nachträglich einen höheren Preis durchzusetzen und damit seinen Gewinn zu steigern. M will durch die Geltendmachung des Irrtums also nicht einen hierdurch erlittenen wirtschaftlichen Nachteil rückgängig machen. Er benutzt den Irrtum vielmehr dazu, nachträglich einen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht erreichbaren Vorteil durchzusetzen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Preis und Leistung setzt er sich damit in Widerspruch zu seinem eigenen Vertragswillen (0,50 €), was einen Verstoß gegen Treu und Glauben, § 242 BGB, darstellt (Fallgruppe: Verbot des „venire contra factum proprium“ = Verbot, sein eigenes Vorverhalten zu konterkarieren). Ein gegen § 242 BGB verstoßendes Verhalten hält aber einer „verständigen Würdigung“ niemals stand. Es ist daher anzunehmen, dass M bei Kenntnis der Sachlage auch für die weiteren 100 kg einen Preis von 0,50 € zugrunde gelegt hätte, zumal dies der Preis ist, den er inseriert hatte. Da somit anzunehmen ist, dass M bei Kenntnis der wahren Sachlage und verständiger Würdigung des Falles dieselbe Erklärung abgegeben hätte, fehlt es an der erforderlichen Kausalität zwischen Irrtum und Erklärung. Trotz Irrtums liegt daher kein Anfechtungsgrund iSd § 119 I BGB vor. Die Anfechtungserklärung des M hat daher keine Rechtswirkungen. Ergebnis: B kann von M die Lieferung weiterer 100 kg Weizenmehl zum ursprünglichen Preis verlangen, § 433 I BGB. © Sandmann/Leisch 99 / Maack 02