Leitung von Verfahren mit einer grossen Anzahl von geschädigten

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Leitung von Verfahren mit einer grossen Anzahl von geschädigten Personen
I.
Vorbemerkungen
1. Einleitung
2. Fiktive Strafanzeige als Musterfall
3. Polizeiliche Geschädigteneinvernahme ohne Teilnahmerechte des
Beschuldigten/Verteidigers?
4. Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft
5. Zustellungen ins Ausland
6. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Beweiserhebungen
II.
Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Einvernahmen
1. Vorladungen
2. Mögliche Einschränkungen der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft an
Einvernahmen
3. Vorgehensweise in der Praxis
4. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Hafteinvernahmen
III.
Einvernahme von Privatklägern bei Massendelikten
1. Befragungsformulare an Privatkläger (Art. 145 StPO)
2. Gruppenbildung bei Befragung von geschädigten Personen
3. Befragung per Telefon und Videobefragung
IV.
Zeitpunkt und Umfang des Akteneinsichtsrechts der Privatkläger
V.
Abgekürztes Verfahren
1.
Nicht-Zustimmung eines oder mehrerer Privatkläger(s)
2.
Teilnahmerechte der Privatkläger bei Vergleichsverhandlungen im abgekürzten
Verfahren
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Sehr geehrte Damen und Herren
I. Vorbemerkung
1. Einleitung
Ich freue mich sehr, dass Sie nach den beiden informativen Referaten von heute Morgen
bereit sind, den Ausführungen eines Praktikers zum Thema „Leitung von Verfahren mit einer
grossen Anzahl von geschädigten Personen“ zu folgen. In den Untersuchungen der von mir
geleiteten Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich, die auf die Durchführung von
umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren spezialisiert ist, sind häufig viele Geschädigte
involviert, so dass meine Amtsstelle mit diesen Problemfeldern konfrontiert wird.
Im Zuge der gründlichen Befassung mit dem Thema wurde mir klar, dass viele in diesem
Zusammenhang interessierende Fragen trotz oder gerade wegen der in der
Strafprozessordnung vorzufindenden Regelungsdichte heute noch unklar sind.
In der kommenden halben Stunde werde ich versuchen, Ihnen diesbezüglich einige
Praktikerlösungen im Umgang mit dieser nicht einfachen Materie zu präsentieren.
Als Vertreter der Strafverfolger halte ich mich hierbei an die Prämisse, dass als oberstes
Gebot die effiziente Förderung der Untersuchung sowie Ermittlung des Sachverhaltes im
Vordergrund stehen sollte. Bis zum Vorliegen einer anderslautenden Rechtsprechung bin ich
hierbei als Praktiker bereit, rechtlich vertretbare Wege in pragmatischer und kreativer Weise
zu beschreiten, ohne mich ständig als eigenes Kassationsgericht zu verstehen.
2. Fiktive Strafanzeige als Musterfall
Um möglichst rasch in medias res zu kommen, präsentiere ich Ihnen zunächst eine fiktive
Strafanzeige (Beilage), aus der die Probleme für die Strafverfolger mit Blick auf die
Geschädigten bzw. Privatklägerschaft leicht erkennbar sind.
Der Sachverhalt interessiert hier eigentlich nicht näher. Aber Sie sehen die Problematik: wohl
mehrere Beschuldigte, über 500 potentielle Geschädigte, 300 sich konstituierende
Privatkläger, wovon 150 mit Wohnsitz im Ausland, Geltendmachung von
Akteneinsichtsbegehren und Teilnahmerechten an Beweiserhebungen, teilweise
Verweigerung der Privatklägerschaft zur Zustimmung zum abgekürzten Verfahren gemäss
Art. 358 StPO. Wie gehen wir in der Praxis mit solchen Situationen um?
Diese Konstellation - nennen wir es Massendelikt - ist nicht etwa fiktiv, wie die kürzlich
ergangene Berichterstattung über den grössten je untersuchten Schwyzer Betrugsfall zeigt,
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nämlich der Devisenhandel der Firma Ipco Investment AG1 mit 650 geschädigten Anlegern
mit einem Deliktsbetrag von CHF 125 Mio. Typische Fälle in der Praxis, in denen eine
Vielzahl von Geschädigten anzutreffen ist, sind somit Anlagebetrugsfälle, aber z.B. auch
Churningverfahren (Kommissionsreiterei) sowie Veruntreuungskonstellationen, in denen
Gelder für Anlagen gepoolt werden. Weiter zu denken ist auch an gewerbsmässigen
Diebstahl und - bezogen auf die Pfändungsgläubiger - an Konkursdelikte.
In derartigen Verfahren mit einer grossen Anzahl geschädigter Personen liessen sich viele
Fragen aufwerfen und diskutieren. Die mir zur Verfügung stehende Zeit ist aber nicht
ausreichend, um sich sämtlicher Problemstellungen anzunehmen, weshalb ich mich auf
folgende Kernthemen beschränken möchte: (1) Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen, (2)
Akteneinsichtsrechte und (3) abgekürztes Verfahren.
3. Polizeiliche Geschädigteneinvernahme ohne Teilnahmerechte des Beschuldigten/
Verteidigers?
Liegt aufgrund einer Strafanzeige oder gestützt auf die Erkenntnisse aus einem polizeilichen
Ermittlungsverfahren ein hinreichender Tatverdacht vor, erlässt die Staatsanwaltschaft zur
Eröffnung des Vorverfahrens eine Eröffnungsverfügung (Art. 309 StPO). Diese
Eröffnungsverfügung definiert die beschuldigte Person und die Straftat, die ihr zur Last
gelegt wird.
Zurückkommend auf unsere fiktive Strafanzeige sind somit im Zeitpunkt der
Anzeigeerstattung zunächst zwei Geschädigte bekannt. Im Zuge der Ermittlungen ist die
Staatsanwaltschaft aufgrund der Auswertung der sichergestellten Akten indessen auf weitere
500 Geschädigte gestossen, bei welchen ein ähnliches Täterverhalten vermutet wird.
Bekanntlich sind für die Staatsanwaltschaft nach eröffneter Untersuchung lediglich
parteiöffentlich durchgeführte Einvernahmen zulässig (Art. 147 Abs. 1 StPO), was im Sinne
von Art. 312 Abs. 2 StPO auch auf delegierte Einvernahmen zutrifft, welche die Polizei im
Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt. Mit Blick auf unseren Musterfall stellt sich in der
Startphase bereits eine erste heikle Frage, nämlich ob angesichts dieser gesetzlichen
Modalitäten strafprozessual überhaupt noch die Möglichkeit besteht, die (potentiell)
geschädigten Anleger vorerst nicht parteiöffentlich - d.h. ohne Anwesenheit der
Beschuldigten und deren Verteidiger - einzuvernehmen, was unter Effizienzaspekten
natürlich wünschenswert wäre. In Bezug auf unser Massendelikt würde dies organisatorisch
zu einer starken Vereinfachung des Untersuchungsverfahrens und als Nebeneffekt wohl
auch zu einer Reduktion der Verteidigeraufwendungen führen. Viel wichtiger ist jedoch, dass
1
Der Landbote, 24.04.2013, Seite 36
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dieses Vorgehen einen wichtigen Erkenntnisgewinn der Staatsanwaltschaft vor
Durchführung der später stattfindenden parteiöffentlichen Beweiseinvernahmen von Zeugen
bzw. Auskunftspersonen für den Fall der sich konstituierten Privatklägerschaft (Art. 178 lit. a
StPO) zur Folge hätte. Aufgrund einer vorausgehenden polizeilichen Befragung liesse sich
hierdurch nämlich die Qualität einer späteren beweistauglichen Einvernahme abschätzen,
wobei aufgrund dieser Einvernahmen überdies die parteiöffentlich einzuvernehmenden
Zeugen bzw. Auskunftspersonen gezielt triagiert werden könnten.
Gestützt auf Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO befragt die Polizei geschädigte Personen. Erfolgt eine
Strafanzeige direkt bei der Polizei, wird diese nach wie vor standardmässig den
Anzeigeerstatter bzw. eben den Geschädigten als polizeiliche Auskunftsperson i.S. von Art.
179 StPO einvernehmen und hernach den Rapport mit dieser nicht parteiöffentlich erfolgten
Geschädigtenbefragung an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, die hernach mit diesen
Grundlagen die Verdachtsprüfung vornehmen kann.
Ausgerechnet bei komplexen Geschädigtenfällen, die häufig durch direkt an die
Staatsanwaltschaft gerichtete Strafanzeigen von Anwaltskanzleien ausgelöst werden,
müsste jedoch bei der Prüfung des hinreichenden Anfangstatverdachts bei enger Auslegung
von Art. 309 Abs. 1 StPO auf die wichtige Grundlage einer vorausgehenden polizeilichen
Geschädigtenbefragung paradoxerweise verzichtet werden.
Unter Schutzaspekten würde dies durchaus auch den Interessen des Beschuldigten
widersprechen, da sich Anwaltsanzeigen in Bezug auf den Beschuldigten naturgemäss auf
belastende Momente konzentrieren und entlastende Gesichtspunkte ausblenden. Kann dies
der Absicht des Gesetzgebers entsprechen?
Vor diesem Hintergrund ist es unseres Erachtens opportun den Standpunkt einzunehmen,
dass eine eingehende Geschädigtenbefragung eine unabdingbare Grundlage für die
Verdachtsprüfung darstellen muss, die nicht durch eine von Anwälten verfasste Strafanzeige
ersetzt werden kann. Die Anwaltschaft ist nämlich bei der Formulierung der Strafanzeige den
Interessen der Mandantschaft verpflichtet, wogegen die polizeiliche Einvernahme auf
Wahrheitsfindung ausgerichtet ist. Durch eine der Untersuchungseröffnung vorausgehende
Einvernahme werden zudem die Erinnerungen des Geschädigten zeitnah fixiert, wobei
zudem im Falle einer Inhaftierung des Beschuldigten die Geschädigtenbefragung zur
Quantifizierung des dringenden Tatverdachts herangezogen werden kann. Wenn immer
nachvollziehbar begründbar ist, weshalb eine solche Befragung erforderlich ist, sollte
unseres Erachtens daher auch bei direkt bei der Staatsanwaltschaft eingehenden
Strafanzeigen der Spielraum von Art. 309 Abs. 2 StPO genutzt werden, indem die Polizei vor Untersuchungseröffnung - zur genauen Prüfung des Tatverdachtes durch einen
Vorermittlungsauftrag zur Durchführung einer nicht parteiöffentlichen Einvernahme des
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Geschädigten als polizeiliche Auskunftsperson beauftragt wird. Somit ist auch im Musterfall
in Bezug auf die beiden Anzeigeerstatter vorerst zu prüfen, ob die Polizei eine nicht
parteiöffentliche Befragung vorzunehmen hat (Art. 309 Abs. 2 StPO), die unseres Erachtens
jedoch ohne Anwesenheit des Rechtsvertreters des Geschädigten stattfinden sollte.
Unseres Erachtens sind nicht parteiöffentliche Geschädigteneinvernahmen auch im Ausland
in Form des polizeilichen Amtshilfeweges möglich d.h. ohne Rechtshilfeersuchen, sofern mit
dem betroffenen Staat ein Staatsvertrag besteht, welcher polizeiliche Amtshilfemassnahmen
vorsieht.
Nach Vornahme dieser Ermittlungshandlung folgen im Musterfall Bankeditionen,
Hausdurchsuchungen und wohl auch Festnahmen, was bezogen auf den die beiden
Anzeigeerstatter betreffenden Sachverhalt dann zur Eröffnung der Untersuchung führt (Art.
309 Abs. 1 lit. b StPO). Im Zuge dieser Abklärungen stossen wir im Musterfall auf weitere
Kundendossiers, die zur Vermutung führen, dass eine weitere grosse Zahl von Kunden
geschädigt worden sein könnte. Bei einer Triagierung dieser Dossiers stellen wir fest, dass
von sämtlichen Kunden 500 Anleger in der bereits beanzeigten Weise ihre Mittel verloren
haben könnten, so dass diese als potentielle Geschädigte in Frage kommen.
Bei dieser Konstellation ist es unseres Erachtens wiederum vertretbar, mit Bezug auf den
Tatverdacht zur Erlangung der erforderlichen Informationen auch diese Kunden zunächst
durch die Polizei nicht parteiöffentlich befragen zu lassen2 oder von diesen alternativ einen
schriftlichen Bericht einzufordern (Art. 145 StPO) bzw. mittels Rundbrief mit der Einräumung
zur Abgabe einer Stellungnahme zu orientieren.3 Nachdem schliesslich feststeht, welche
Kunden effektiv geschädigt wurden, sind hernach die Beschuldigten darüber zu informieren,
dies z.B. in einer Einvernahme.
4. Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft (Mutation von der geschädigten
Person zum Privatkläger)
Als geschädigte Person gilt nach Art. 115 StPO diejenige Person, die durch die Straftat in
ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist. Vor der Konstituierung als Privatklägerschaft
kommt der geschädigten Person die Stellung einer „anderen Verfahrensbeteiligten“ zu (Art.
105 Abs. 1 StPO). Als Privatklägerschaft gilt die Person, welche durch die Straftat in ihren
Rechten unmittelbar verletzt worden ist und ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als
Straf- oder Zivilkläger zu beteiligen (Art. 118 Abs. 1 StPO, Art. 119 Abs. 2 StPO). Mit der
Abgabe der Willenserklärung wird sie gemäss Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO zur Partei im
Gleiche Richtung: Ulrich Weder „Die Teilnahmerechte in der delegierten Einvernahme einer
Auskunftsperson“, Aufsatz im forumpoenale 4/2012, v.a. S. 233
3 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 108 Abs. 1 StPO, N 4, Zürich/St. Gallen 2009
2
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Strafverfahren. Damit ändert sich die prozessuale Stellung der geschädigten Person, und sie
wird vom passiven zum aktiven Teilnehmer im Vorverfahren. Der Privatklägerschaft stehen
grundsätzliche alle Parteirechte offen.
Im Falle der Konstituierung als Privatkläger werden der geschädigten Person diverse Rechte
eingeräumt, die z.B. in Art. 107 StPO (Rechtliches Gehör) festgehalten sind. Um im
Musterfall den Geschädigten die Ausübung ihrer prozessualen Rechte gewährleisten zu
können, sind diese vorerst über die eröffnete Untersuchung in Kenntnis zu setzen.
Die Teilnahmeerklärung der Privatklägerschaft muss gegenüber der
Strafverfolgungsbehörde spätestens bis zum Abschluss des Vorverfahrens abgegeben
werden (Art. 118 Abs. 3 StPO). Hat die geschädigte Person von sich aus keine Erklärung
abgegeben, so weist sie die Staatsanwaltschaft nach Eröffnung des Vorverfahrens auf diese
Möglichkeit hin (Art. 118 Abs. 4 StPO). In der Praxis stellt die Staatsanwaltschaft den
geschädigten Personen das Formularset „Ihre Rechte im Strafverfahren/Geltendmachung
von Rechten als Privatklägerschaft“ zu.
Mit diesem Formular können die geschädigten Personen erklären, ob sie sich am Verfahren
als Privatkläger beteiligen und Parteirechte ausüben möchten, ob sie im Verfahren als
Strafkläger mitwirken wollen, und ob sie an Einvernahmen teilzunehmen wünschen.
Gleichzeitig bietet sich den Privatklägern mittels dieses Formulars die Möglichkeit, ihre
finanziellen Ansprüche zu beziffern und im Falle eines ausländischen Wohnsitzes ein
Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen.
Nach dem Versand dieses Formularsets verfügen wir über die folgenden
Reaktionsmöglichkeiten der Geschädigten:
-
Konstituierung als Privatklägerschaft: Strafkläger und/oder Zivilkläger
-
Verzicht auf Privatklägerschaft (Art. 120 StPO)
-
Ausbleiben einer Antwort oder Retournierung eines unvollständig ausgefüllten
Formulars.
Mit Blick auf den Musterfall ist festzuhalten, dass diejenigen geschädigten Personen, die auf
eine Beteiligung als Privatklägerschaft verzichten, die Staatsanwaltschaft in Bezug auf die
Einräumung von Teilnahmerechten und Akteneinsichtsrechten grundsätzlich vor keine
praktischen Probleme stellen. Diesfalls wäre unseres Erachtens sogar eine
Opportunitätseinstellung möglich. Allerdings kann die geschädigte Person ihre Erklärung
bezüglich Konstitution als Privatkläger bis zum Abschluss des Vorverfahrens abgeben (Art.
118 Abs. 3 StPO). In Ergänzung der Formulierung von Art. 318 Abs. 1 StPO wird daher in
der Praxis das Formular „Bevorstehender Abschluss der Untersuchung“ auch der
geschädigten Person, die nicht auf Konstituierung verzichtet hat, zugestellt (Art. 105 Abs. 2
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StPO). Dies bedeutet, dass nicht verzichtenden Geschädigten ihre Parteirechte auf ihr
Begehren hin einzuräumen sind;4 weitere Mitteilungspflichten wie z.B. die Bekanntgabe von
Vorladungsterminen, bestehen für die Staatsanwaltschaft indessen nicht.
Mögliche Besonderheit beim Massendelikt:
Das vorgenannte Formular eröffnet eine weitere Möglichkeit, bei der Bearbeitung unseres
fiktiven Falls Erleichterung zu erlangen, indem

die geschädigten Personen auf ein Anwesenheitsrecht bei Einvernahmen verzichten
können

dieses hinsichtlich sich im Ausland aufhaltenden Personen angepasst wird:

Bezeichnung von Zustelldomizil in der Schweiz (Art. 87 Abs. 2 StPO)

Hinweis auf möglicherweise rechtshilfeweise zu erfolgende Beweiserhebungen

Hinweis auf mögliche Zustellungen im kantonalen Amtsblatt unter Nennung der
Website, sofern keine direkten Zustellungen ans Ausland gemacht werden müssen
und kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet wurde

Verzicht des Hinweises auf Einreichen von Beweismitteln, um sich nicht dem
Vorwurf von verbotenen Auslandermittlungen auszusetzen.5
5. Zustellungen ins Ausland
Grosse Wirtschaftsstrafverfahren haben in der Praxis regelmässig einen internationalen
Bezug. Damit geht einher, dass - wie im Musterfall - eine grosse Anzahl geschädigter
Personen ihren Wohnsitz im Ausland hat. Aus diesem Grund sind die geschädigten
Personen mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthalt oder Sitz im Ausland gestützt auf Art. 87
Abs. 2, 1. Halbsatz StPO i.V.m. Art. 115 StPO, aufzufordern, ein Zustellungsdomizil in der
Schweiz zu bezeichnen. Im Falle, dass die geschädigte Person kein Zustellungsdomizil in
der Schweiz bezeichnet hat und ein Staatsvertrag besteht, welcher die direkte Zustellung
erlaubt, erfolgt die Zustellung an das ausländische Domizil (Art. 87 Abs. 2 StPO). Andernfalls
erfolgt die Mitteilung durch öffentliche Bekanntmachung (Art. 88 Abs. 1 Bst. c StPO). Im Falle
von direkten Zustellungen ins Ausland darf z. B. jedoch bei Vorladungen keine Androhung
von Zwangsmassnahmen erfolgen.
Die Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustellungsdomizils erfolgt regelmässig zusammen
mit dem bereits erwähnten Formular an die geschädigten Personen, mit welchem auch die
Zivilansprüche etc. anzumelden sind. Das Schadenersatzformular kann unseres Erachtens
direkt an den Geschädigten im Ausland zugestellt werden.
4
5
Niklaus Schmid, Handbuch StPO, N 692, Zürich/St. Gallen 2009
Ev. modifizierte Formulierung: freiwillige Einreichung von Beweismitteln
Seite 7
Ob hingegen die Mitteilung des Verfahrensabschlusses gemäss Art. 318 StPO auf direktem
Weg an die geschädigten Personen ins Ausland zugestellt werden kann, hängt davon ab, ob
man hierbei das Element des Entscheids des bevorstehenden Verfahrensabschlusses in den
Vordergrund stellt, oder ob man diese als Beweiserhebung betrachtet, da die geschädigten
Personen gleichzeitig aufgefordert werden, innert angesetzter Frist allfällige Beweisanträge
einzureichen. Unseres Erachtens ist die Mitteilung gemäss Art. 318 StPO als Einladung zur
Stellung möglicher Beweisanträge zu erachten und nicht als Beweiserhebung im Ausland.
Sollte man hingegen bei der Mitteilung des Verfahrensabschlusses im Sinne von Art. 318
StPO) der Ansicht sein, es handle sich um eine Beweiserhebung und eine direkte Zustellung
sei folglich nicht zulässig, ergibt sich aus der Auslegung von Art. 87 Abs. 2 StPO6 die
Möglichkeit einer öffentlichen Bekanntmachung, sofern ein Schweizer Zustellungsdomizil
nicht genannt wurde.
6. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Beweiserhebungen
Art. 147 StPO räumt den Parteien, damit auch der Privatklägerschaft, ein Recht auf
Anwesenheit bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft ein. Die Privatklägerschaft
hat grundsätzlich Anspruch auf unmittelbare Anwesenheit. Sie darf sich in dem Raum
befinden, in dem die Beweiserhebung stattfindet. Dieses Anwesenheitsrecht ist nicht auf
Einvernahmen beschränkt, sondern auch bei anderen Beweiserhebungen zu
berücksichtigen. Allerdings beschränken sich die Rechte der Privatklägerschaft auf die
Beweiserhebungen, die diejenige Straftat betreffen, durch die die Privatklägerschaft in ihren
Rechten unmittelbar verletzt worden ist.
Konstituiert sich die Privatklägerschaft erst im Verlaufe des Vorverfahrens nach bereits
erfolgten Beweiserhebungen, findet keine Rückwirkung der Teilnahmerechte statt.7
Verpasste Beweiserhebungen sind grundsätzlich nicht zu wiederholen. Jedoch verleiht der
Anspruch auf rechtliches Gehör der Privatklägerschaft das Recht, sich zu den erhobenen
Beweisen zu äussern und ergänzende Anträge zu stellen.
In der Praxis geht das Anwesenheits- und Fragerecht der Privatklägerschaft im Sinne von
Art. 147 StPO in Verfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten selbstredend mit diversen
organisatorischen Schwierigkeiten einher.
Wie hat die Staatsanwaltschaft im Musterfall mit den 300 Privatklägern umzugehen? Dies
vor der Prämisse, dass die Strafprozessordnung keine Möglichkeit vorsieht, die
Teilnahmerechte in einem solchen Fall einzuschränken. Die Privatkläger müssten schriftlich
6
Art. 87 Abs. 2 StPO lautet: Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem
Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen
7 Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen
Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 468)
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auf ihre Rechte verzichten, ansonsten sind deren Teilnahmerechte grundsätzlich zu wahren.
Eine Verletzung der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft kann komplexe Fragen
hinsichtlich des Verwertungsverbotes mit sich bringen, worauf ich später noch näher
eingehen möchte.
Müssen Sie alle Privatkläger befragen? Wie lösen Sie es, wenn Sie all diesen Privatklägern
ein Teilnahmerecht z. B. an der Einvernahme der Beschuldigten einräumen müssen? Findet
diese im Hallenstadion statt, was dann etwa so aussähe?
Ich möchte Ihnen nun einige dieser Problemstellungen aus Sicht eines Praktikers schildern
und gangbare Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.
II. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Einvernahmen
1. Vorladungen
Damit die Privatklägerschaft das ihr zustehende Teilnahmerecht an Einvernahmen von
beschuldigten Personen, Auskunftspersonen und Zeugen wirksam ausüben kann, bedingt
dies eine rechtzeitige Bekanntgabe der Vorladung. Aus der Geltendmachung des
Anwesenheitsrechts lässt sich für die Privatklägerschaft jedoch keinen Anspruch auf
Verschiebung der Einvernahme ableiten (Art. 147 Abs. 2 StPO). Jedoch hat die
Verfahrensleitung auf die Abkömmlichkeiten der Parteien und ihrer Rechtsbeistände
Rücksicht zu nehmen.
Da es in der Praxis in Verfahren mit einer Vielzahl von Parteien kaum möglich sein wird, mit
jeder einzelnen Partei Terminabsprachen vorzunehmen und schliesslich einen Termin zu
finden, der allen Parteien passt, bietet sich als einzige Möglichkeit an, die Termine frühzeitig
bekannt zu geben, so dass sich die Parteien und deren Vertreter diese rechtzeitig vormerken
und sich gegebenenfalls im Falle von Unabkömmlichkeit substituieren lassen können. Eine
andere Lösung bestünde darin, dass verhinderten Parteien nahegelegt wird, auf die
Teilnahme schriftlich zu verzichten und diesen gleichzeitig angeboten wird, allfällige Fragen
schriftlich bei der Staatsanwaltschaft einzureichen.
Nebst terminlichen Schwierigkeiten kommen Sie nicht umhin, für Einvernahmen mit einer
Vielzahl teilnehmender Parteien geeignete Räumlichkeiten zu organisieren. Um ungefähr die
Teilnehmeranzahl sowie den damit verbundenen Raumbedarf abschätzen zu können,
besteht die Möglichkeit, auf der an die Parteien ergehenden Vorladung den Hinweis
anzubringen, aus organisatorischen Gründen werde bei einer Teilnahme eine telefonische
Rückmeldung gewünscht. In einem gewerbsmässigen Betrugsfall mit ca. 170 Geschädigten
hat ein zürcherisches Landgericht auf diese simple Rückmeldung verzichtet und in
Seite 9
Erwartung eines Geschädigtenansturms extra den Gemeindesaal für die Durchführung der
Hauptverhandlung gemietet – erschienen sind letztlich nicht einmal 10 Geschädigte!
2. Mögliche Einschränkungen der Teilnahmerechte der Privatklägerschaft an
Einvernahmen
Da Privatkläger als Auskunftspersonen einzuvernehmen sind (Art. 178 lit. a StPO), können
diese im Sinne von Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO vorübergehend von Verhandlungen
ausgeschlossen werden, dies vornehmlich in Bezug auf zeitlich vorausgehende
Beschuldigteneinvernahmen. Bei einem derartigen Ausschluss des Privatklägers stellt sich
die Frage, ob auch der Rechtsvertreter des Privatklägers von der Teilnahme an einer
Einvernahme z.B. eines Beschuldigten ausgeschlossen werden kann. Aus dem
Mandatsverhältnis ist der Vertreter des Privatklägers verpflichtet, seinem Mandanten
Rechenschaft abzulegen resp. ihn über die Erkenntnisse aus der Befragung zu informieren.
Ist der Privatkläger vor seiner Erstbefragung bereits über Inhalte anderer Einvernahmen
durch seinen Rechtsvertreter informiert worden, könnte dies jedoch sein Aussageverhalten
beeinflussen, was nicht im Sinne der Wahrheitsfindung sein kann. Ein Ausschluss des
Privatklägervertreters bei Einvernahmen vor der Erstbefragung seines Mandanten muss
unseres Erachtens daher möglich sein. In der Praxis hat es sich als bewährte Lösung
erwiesen, den Privatklägervertreter vor der Erstbefragung seines Mandanten bei
anstehenden Einvernahmen anderer Personen zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob er im
Sinne der Wahrheitsfindung, unbeeinflussten Beweisführung und damit zur Steigerung des
Beweiswertes der später erfolgenden Einvernahme seines Klienten einverstanden sei,
vorerst von Einvernahmen ausgeschlossen zu werden. Im Musterfall verschafft dies Raum,
die Beschuldigten bis zur Durchführung der eigentlichen Beweiseinvernahmen mit den
Privatklägern als Auskunftspersonen vorerst ohne die Anwesenheit der Privatkläger und
deren Vertreter einzuvernehmen.
Das Obergericht des Kantons Zürich hatte sich in einem Beschluss vom 10. Mai 20128 mit
einem Fall zu beschäftigen, in welchem die Staatsanwaltschaft einer Privatklägerin und
deren Rechtsvertreterin die Teilnahme an Einvernahmen der beschuldigten Personen
vorübergehend verweigerte. Dieses Gesuch um Teilnahme an sämtlichen
Beweiserhebungen stellte die Privatklägerin, nachdem sie selbst bereits einmal als
Auskunftsperson befragt worden war.
8
Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 10. Mai 2012 (Geschäfts-Nr.: UH110244O/U/gk), Seite 11 ff.
Seite 10
Zur Begründung der vorübergehenden Verweigerung des Teilnahmerechts führte die
Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass bei Gutheissung des Gesuches um
Gewährung der Teilnahmerechte an sämtlichen Beweisabnahmen die konkrete Gefahr
bestünde, dass das Aussageverhalten der Privatklägerin beeinflusst werden könnte. Das
Interesse an der unbeeinflussten Beweisabnahme sei höher zu gewichten als das Interesse
der Privatklägerin, bereits vorgängig ihrer Zweitbefragung an den Einvernahmen der
beschuldigten Personen teilzunehmen. Dieses Recht werde der Privatklägerin nach
Durchführung deren Zweitbefragung gewährt.
Das Obergericht des Kantons Zürich führte unter Hinweis auf Art. 146 Abs. 4 StPO aus, dass
die Verfahrensleitung eine Person vorübergehend von der Verhandlung ausschliessen
könne, wenn eine Interessenkollision bestehe, oder wenn diese Person im Verfahren noch
als Zeuge, Auskunftsperson oder sachverständige Person einzuvernehmen sei. Bei der
Privatklägerschaft sei die Ausschlussmöglichkeit nach Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO aber sehr
restriktiv zu handhaben. Die Privatklägerschaft verfüge als Partei über das Recht, bei
Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft anwesend zu sein und einvernommenen
Personen Fragen zu stellen. Der Entscheid, allenfalls auf eine Teilnahme an den
Einvernahmen anderer Personen zu verzichten, um den Beweiswert der eigenen Aussagen
nicht zu beeinträchtigten, müsse der Privatklägerschaft - nachdem sie ein erstes Mal
einvernommen worden sei - selbst überlassen werden. Nachdem die Privatklägerin bereits
einmal befragt worden sei, lasse sich der Ausschluss von den Einvernahmen der
beschuldigten Personen nicht auf Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO stützen. Andere Gründe für
einen Ausschluss im Sinne von Art. 108 StPO würden ebenfalls nicht vorliegen, weshalb die
Privatklägerin zu Unrecht von den Einvernahmen der Beschuldigten ausgeschlossen worden
sei.
Dieser Entscheid verdeutlicht, dass nach einer Erstbefragung eines Privatklägers als
Auskunftsperson kaum Raum mehr besteht, diesem die Teilnahme an Einvernahmen der
beschuldigten Personen zu verweigern, dies vorbehältlich von Ausschlussgründen, welche
sich aus Art. 108 StPO ableiten lassen.
Eine weitere Frage, welche sich in der Praxis bei einer Vielzahl von zu befragenden
Privatklägern stellt, ist folgende: Privatkläger 1 hat die staatsanwaltschaftliche Erstbefragung
bereits hinter sich. Sind ihm nun bei den zeitlich später anberaumten Einvernahmen der
Privatkläger Teilnahmerechte einzuräumen? Unseres Erachtens verfügt die
Privatklägerschaft lediglich über Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen, soweit sie selber
in der Sache unmittelbar betroffen ist. Insofern dürften bei der Befragung von anderen
Privatklägern grundsätzlich keine Teilnahmerechte bestehen. In diese Richtung weisen denn
auch die Kommentare betreffend „Zustellung der Anklage“ im Sinne von Art. 327 StPO,
indem der Privatklägerschaft grundsätzlich nur jene Punkte der Anklageschrift zu übermitteln
Seite 11
sind, in welchen diese Person betroffen ist. Bei weiter Gesetzesauslegung sollen den
Privatklägern somit diejenigen Anklagestellen zuzustellen sein, die den Sachverhaltskomplex
betreffen, hinsichtlich dessen Ansprüche geltend gemacht werden.9 Von diesem Grundsatz
kann abgewichen werden, wenn es sich nach der Art der Delikte gebietet (z.B.
gewerbsmässiges Vermögensdelikt) oder eine bloss teilweise Mitteilung der Anklage aus
praktischen Gründen kaum zu bewerkstelligen wäre.10 In Berücksichtigung dieser
Überlegungen kann unseres Erachtens hinsichtlich von nicht deliktsrelevanten
Sachverhalten auch kein parteiöffentliches Teilnahmerecht bestehen. Insofern ist daher ein
Teilnahmerecht der bereits einvernommenen Privatklägerschaft an den Einvernahmen von
weiteren Privatklägern zu verneinen.
3. Vorgehensweise in der Praxis
Wenn Sie sich nun aufgrund der Gesetzgebung und der dazu zitierten Rechtsprechung vor
Augen halten, dass Sie die Teilnahmerechte der Privatklägerschaft nur in wenigen Fällen
einschränken können, dann ist rasch ersichtlich, dass der Praktiker zur Wahrung aller
Parteirechte in Grossverfahren unweigerlich an seine Grenzen stossen muss. Denken Sie an
den Musterfall mit der Durchführung einer Beschuldigteneinvernahme, anlässlich welcher Sie
zumindest in der Spätphase der Beschuldigteneinvernahmen über 300 Privatklägern von
Gesetzes wegen ein Teilnahme- und Fragerecht einräumen müssen. Wollen Sie dieses
Prozedere lege artis vollziehen, stehen Sie regelmässig in einem Spannungsfeld zwischen
einerseits rascher Wahrheitsfindung, Verhinderung von Beweisverlust und
Beschleunigungsgebot und andererseits Gewährung von Parteirechten an sämtliche
Parteien.
Hier müssen in der Praxis und der Rechtsprechung Lösungen gefunden werden.
Wie kann das Verfahren beschleunigt und vereinfacht werden? Zunächst ist an den Fall zu
denken, dass der Privatkläger ausdrücklich auf seine Teilnahmerechte verzichtet. Weiter
bestehen unseres Erachtens Teilnahmerechte - wie erwähnt - ohnehin nur bei
Beweiserhebungen, soweit der Privatkläger selber in der Sache unmittelbar betroffen ist.
Sodann können Teilnahmerechte gestützt auf Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO eingeschränkt
werden, dies für den Fall, dass der Privatkläger noch als Auskunftsperson parteiöffentlich
einvernommen werden muss.
Es stellt sich ausserdem die Frage, ob bei Massendelikten aus praktischen Gründen und
gestützt auf Art. 5 StPO (Beschleunigungsgebot) weitere Einschränkungen von gewissen
Rechten (z.B. Anwesenheitsrecht) der Privatkläger zulässig sind, was jedoch die
9
BSK, Stefan Heimgartner/Marcel Alexander Niggli, Art. 327 StPO, N 6, Basel 2011
10
Kommentar zur Schweizerischen StPO, Nathan Landshut, Art. 327 StPO, N 3, Zürich 2010
Seite 12
Rechtsprechung erst noch wird entscheiden müssen. So schreibt Niklaus Schmid im StPO
Praxiskommentar: „Über 108 StPO und z.B. 149 ff. StPO hinausgehend sind weitere Gründe
denkbar, bei deren Vorliegen aus zwingenden, aber eher praktischen Gründen die
Gewährung des rechtlichen Gehörs an Grenzen stösst, so z.B. in Fällen mit zahlreichen
Parteien (Anlagebetrug mit Tausenden von Geschädigten). Hier sind alternative Formen des
rechtlichen Gehörs zu entwickeln, z.B. schriftliche Orientierung mit Rundbrief; bei 147 StPO
nachträgliche Öffnung der Akten mit Möglichkeit von Ergänzungsfragen.“11 Immerhin enthielt
der Vorentwurf ausdrücklich eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs aus
organisatorischen Gründen (VE Art. 159).
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft wird zugegebenermassen im Falle unüberwindbarer
praktischer Schwierigkeiten bei Durchführung von Einvernahmen meistens den Aspekten der
raschen Wahrheitsfindung, der Verhinderung von Beweisverlust und dem beschleunigten
Fortgang des Verfahrens der Vorrang gewährt. Auf diese Weise wird zweifelsohne die
mögliche Verletzung von Teilnahmerechten einzelner Privatkläger in Kauf genommen.
Ganz generell ist mit Bezug auf die Verwertung von Beweisen, welche in Verletzung der
Parteirechte der Privatklägerschaft erhoben wurden, festzuhalten, dass ein Beweis dann als
zulasten der Privatklägerschaft verwertet gilt, wenn sich die aus dem Beweis gezogenen
Schlussfolgerungen nachteilig für die Privatklägerschaft auswirken und sie deshalb mit ihrer
Straf- oder Zivilklage unterliegt. Voraussetzung ist, dass sich der Entscheid auf den
mangelhaften Beweis stützt.12 So könnte z. B. ein Privatkläger, welchem die Teilnahme und
das Recht auf Stellen von Ergänzungsfragen an der Einvernahme der beschuldigten Person
verweigert wurde, geltend machen, er hätte die entscheidenden Ergänzungsfragen der
beschuldigten Person gestellt, welche notwendig gewesen wären, um diejenige Straftat
nachzuweisen, durch welche er unmittelbar in seinen Rechten verletzt worden sei.
Die vorgängig im Falle unüberwindbarer, praktischer Schwierigkeiten erwähnte Inkaufnahme
der Verletzung von Teilnahmerechten einzelner Privatkläger ist unseres Erachtens
vertretbar, weil dem in seinen Parteirechten verletzten Privatkläger bei Abschluss des
Verfahrens einerseits ein Beweisantragsrecht zusteht, und der Privatkläger andererseits im
Falle der Einstellung des Verfahrens zur Ergreifung eines Rechtsmittels legitimiert ist, das
zur Wiederaufnahme der Untersuchung führen kann. Im Falle einer Anklage entstehen dem
in seinem Teilnahmerecht verletzten Privatkläger vorerst keine Rechtsnachteile. Erfolgt eine
Verurteilung der beschuldigten Person, kann sich die Privatklägerschaft nicht auf die
Verletzung ihrer Teilnahmerechte berufen, um eine Erhöhung des Strafmasses zu
beantragen. Als Strafklägerin kann sie nur die Verfolgung und Bestrafung verlangen (Art. 119
11
Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 108 Abs. 1 StPO, N 4, Zürich/St. Gallen 2009
Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen
Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 473)
12
Seite 13
Abs. 2 lit. a StPO). Ein Rechtsnachteil für den betroffenen Privatkläger im Falle einer
Anklage resultierte erst, wenn in einem Sachverhaltskomplex ein Freispruch erfolgen würde,
welcher das Unterliegen mit seiner Straf- oder Zivilklage nach sich ziehen würde. Doch auch
in dieser Konstellation stünde dem Privatkläger der Rechtsmittelweg offen und eine
Einvernahme desselben im Berufungsprozess ist möglich. Kreative Kreise bezeichnen daher
das Teilnahmerecht der Privatklägerschaft an Beweisabnahmen - vor allem an
Beschuldigteneinvernahmen - lediglich als Ordnungsvorschrift.
4. Teilnahmerechte der Privatklägerschaft bei Hafteinvernahmen
Im Haftverfahren hat die Staatsanwaltschaft die festgenommene beschuldigte Person
unverzüglich zu befragen. Den Parteien wird regelmässig kein Teilnahmerecht eingeräumt,
geht es im Haftverfahren doch um eine haftspezifische Beweiserhebung, die nicht primär auf
die Klärung des zu untersuchenden Delikts ausgelegt ist. Von daher lässt sich die Meinung
vertreten, der Privatklägerschaft stehe kein Teilnahmerecht zu, weil die Hafteinvernahme
keine Beweiserhebung im Sinne von Art. 147 Abs. 1 StPO darstelle.13 Möchte man diese
Meinung nicht teilen, lässt sich der Ausschluss der Privatkläger jedoch mit der Begründung
rechtfertigen, diese sei zuerst im Sinne von Art. 146 Abs. 4 lit. b StPO als Auskunftsperson
zu befragen. Im Verfahren vor Zwangsmassnahmengericht ist die Privatklägerschaft nicht
teilnahmeberechtigt, was sich aus Art. 225 Abs. 1 StPO ableiten lässt.14
III. Einvernahme von Privatklägern bei Massendelikten
1. Befragungsformulare an Privatkläger
Nach Art. 145 StPO kann die Strafbehörde eine einzuvernehmende Person einladen,
anstelle einer Einvernahme einen schriftlichen Bericht abzugeben. Dieses Vorgehen drängt
sich insbesondere bei Massendelikten auf, z. B. bei Vermögensdelikten mit zahlreichen
Geschädigten und soweit unbestrittenem Tatvorgehen.15
Das Bezirksgericht Bülach hatte sich mit Urteil vom 22. November 2012 mit einem Fall
unserer Amtsstelle zu befassen, in welchem der Staatsanwalt mittels eines Schreibens bei
verschiedenen Privatklägern einen schriftlichen Bericht anforderte. Im vom Staatsanwalt
vorgelegten Formular wurde auf der letzten Seite der Wortlaut der Art. 303 ff. StGB, Falsche
Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege sowie Begünstigung, aufgeführt. Die
Beschuldigten und ihre Verteidiger wurden mittels eines Schreibens eingeladen, der
13
Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen
Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011, S. 474/475)
14 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 225 StPO N 2, Zürich/St. Gallen 2009
15 Niklaus Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 145 N 4 u. 6, Zürich/St. Gallen 2009
Seite 14
Staatsanwaltschaft allfällige Ergänzungsfragen für den Fragebogen mitzuteilen, wovon der
Beschuldigte Gebrauch machte. Das Bezirksgericht Bülach kam in seinem Urteil vom 22.
November 2012 zum Schluss, dass der Verwertbarkeit der Auskünfte der Privatkläger nichts
entgegenstehe.16
Zu bedenken ist, dass bei einer im Ausland wohnhaften geschädigten Person die Einladung
zur Einholung eines schriftlichen Berichts auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen hat, da diese
Massnahme eine Beweiserhebung darstellt, wenngleich keine Zwangsmassnahme im
weiteren Sinne.
2. Gruppenbildung bei Befragung von geschädigten Personen
In der Praxis handelt es sich bei Grossverfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten oft um
Seriendelikte, bei denen ein einheitliches Verhaltensmuster des Beschuldigten massgeblich
ist. In solchen Fällen kann es Sinn machen, Gruppen von zu befragenden Geschädigten
oder Zeugen zu einzelnen Sachverhalten zu bilden.
Diese Praxis hat das Bundesgericht in einem Fall von Anlagebetrug für rechtmässig erachtet.
In den Erwägungen des entsprechenden Entscheids hat das Bundesgericht ausgeführt, dass
bei Seriendelikten mit einer unübersehbaren Zahl von Geschädigten, die durch gleichartige,
öffentlich erhobene falsche Angaben getäuscht worden seien, Tatbestandsmerkmale des
Betruges, namentlich das Element der arglistigen Täuschung, zunächst in allgemeiner Weise
für alle Einzelhandlungen gemeinsam geprüft werden, soweit die Einzelfälle in tatsächlicher
Hinsicht gleichgelagert seien und sich bezüglich Opfergesichtspunkten nicht wesentlich
unterscheiden würden. Eine ausführliche fallbezogene Erörterung der einzelnen Merkmale
müsse nur in denjenigen Fällen erfolgen, die in deutlicher Weise vom Handlungsmuster
abweichen würden.17 In der Praxis der Staatsanwaltschaft III hat sich gezeigt, dass durch die
urteilenden Gerichte akzeptiert wurde, sofern 10-15% der Geschädigten/Privatkläger
dergestalt einvernommen wurden.
Möchte man verhindern, dass seitens der Verteidigung für eine solchermassen
vorzunehmende Beweisführung vor Gericht opponiert wird, kann man dieser bereits während
dem Vorverfahren die Gruppenbildung mit Bezug auf die zu einzelnen Sachverhalten zu
befragenden Personen unterbreiten und die Möglichkeit einräumen, eine Stellungnahme
abzugeben. Ist die Verteidigung nicht einverstanden, kann sie beantragen, es seien z.B.
weitere Geschädigte oder Zeugen zu befragen resp. in die gebildeten Gruppen
aufzunehmen.
16
17
Urteil des Bezirksgerichts Bülach vom 22. November 2012 (Geschäfts-Nr.: DG120017-C/U)
BGE 119 IV 284, E. 5.a; BGer 6B_466/208, Urteil v. 15. Dezember 2008, E. 3.3, m.w.H.
Seite 15
3. Befragung per Telefon und Videobefragung
In einem Fall unserer Amtsstelle gelangte - dies allerdings noch nach alter (kantonaler)
Strafprozessordnung - der zuständige Staatsanwalt mit Rechtshilfeersuchen an die am
Wohnort der Auskunftspersonen zuständigen deutschen und österreichischen
Staatsanwaltschaften und beantragte, die Auskunftspersonen seien auf dem örtlich
zuständigen Polizeiposten zu empfangen, zu identifizieren und bei einer telefonischen
Befragung durch die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich zu begleiten. Mit einer
Ausnahme gingen die ausländischen Behörden auf dieses Ansinnen ein.
Der Beschuldigte und sein Verteidiger nahmen an all diesen telefonischen Befragungen in
Gegenwart des Staatsanwaltes in Zürich teil, konnten das Telefongespräch wie der
Staatsanwalt und die Protokollführerin über den Lautsprecher mitverfolgen und die
Protokollführung in Echtzeit an einem Monitor kontrollieren. Die Verteidigung hat aber
ausdrücklich den Vorbehalt angebracht, nicht mit dieser Form der Befragung einverstanden
zu sein.
Die vom Staatsanwalt gewählte, spezielle Lösung war vor dem Hintergrund zu verstehen,
dass es sich im Rechtshilfeverfahren erfahrungsgemäss als schwierig erwiesen hat, der
Verteidigung hinreichende Mitwirkungsrechte zu verschaffen. In Deutschland und Österreich
ist das Unmittelbarkeitsprinzip im Gerichtsverfahren viel ausgeprägter als nach der
zürcherischen Praxis; im Gegenzug haben in diesen Ländern die Teilnahmerechte im
Vorverfahren eine geringere Bedeutung. Deshalb bekunden die deutschen und
österreichischen Behörden oft Mühe, die aus schweizerischer Sicht bestehende
Notwendigkeit der Gewährung von Teilnahmerechten zu verstehen. Hinzu kommen die
organisatorischen Schwierigkeiten, die zusätzlichen Kosten und der Zeitverlust: Die
Verteidigung und der Beschuldigte hätten fünf Reisen nach Deutschland bzw. Österreich
unternehmen müssen. Hinzu kommt die Qualitätseinbusse: Die Befragungen wären von
Personen mit ungenügender Aktenkenntnis durchgeführt worden, die zudem aufgrund des in
Deutschland und Österreich fehlenden Arglistkriteriums beim Betrug die Bedeutung eines
Teils der Fragen und Antworten nicht ohne weiteres erfasst hätten. Solche Probleme hätten
sich zwar mindern lassen, wenn eine Vertretung der zürcherischen
Strafverfolgungsbehörden sich vor Ort begeben hätte. Doch für solche Dienstreisen war die
Bedeutung dieser Befragungen zu gering. Es waren somit durchaus schützenswerte
Interessen, die die Staatsanwaltschaft III zu dieser speziellen Lösung veranlassten.
Es ist in diesem speziellen Fall zu beachten, dass auf die praktizierte Weise die
Verteidigungsrechte nach Auffassung der Staatsanwaltschaft gewahrt wurden. Der
Beschuldigte und die Verteidigung hatten sowohl den Fragesteller wie die Protokollführung
Seite 16
optisch und akustisch unter Kontrolle, so dass keine Gefahr der nonverbalen Beeinflussung
der Befragten bestand. Zudem konnten sie die Aussagen der Auskunftspersonen akustisch
mitverfolgen und unmittelbar Fragen stellen. All das geht erheblich über die Mitwirkung auf
dem Korrespondenzweg hinaus.
Sowohl das Bezirksgericht Meilen wie auch das Obergericht haben in ihren Urteilen
festgehalten, dass diese per Telefon durchgeführten Befragungen nicht zulasten des
Beschuldigten verwertbar seien. Zur Begründung führte das Obergericht aus, die
zürcherische Strafprozessordnung kenne diese Art der Einvernahme nicht. Den §§ 133, 136
und 137 der zürcherischen Strafprozessordnung sei zu entnehmen, so das Obergericht
weiter, dass Zeugen grundsätzlich vor der einvernehmenden Behörde zu erscheinen hätten.
Zeugeneinvernahmen seien deshalb nur in der direkten Begegnung von Behörde und Zeuge
möglich. Das Recht des Beschuldigten auf Befragung des Belastungszeugen diene der
Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen. Der Beschuldigte müsse in der
Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert auf die Probe
und in Frage zu stellen. Das Konfrontationsrecht solle es dem Beschuldigten nicht nur
ermöglichen, den Aussageinhalt unmittelbar zu kontrollieren, sondern auch das nonverbale
Aussageverhalten des Belastungszeugen, also dessen Mimik, Gestik und dessen
Sprechverhalten, wahrzunehmen. Auch diese Umstände könnten Anlass zu
Ergänzungsfragen bieten. Die im Rahmen der telefonischen Befragung faktisch erfolgte
optische Abschirmung der Befragten sei unverhältnismässig und verletze das
Konfrontationsrecht und damit die Verteidigungsrechte des Beschuldigten.18
Lediglich als obiter dictum wies das Obergericht in diesem Entscheid darauf hin, dass Lehre
und Praxis auch nach neuer Strafprozessordnung die Verwertbarkeit telefonisch eingeholter
Belastungen ausschliessen würden (ZR 110 (2011) Nr. 39 mit Verweisen).19
Im Rechtshilfeverfahren genügt gemäss StPO 148 die Parteirechte auf dem
Korrespondenzweg wahrzunehmen, wobei jedoch eine telefonische Teilnahme für die
Teilnahmeberechtigten weit besser erscheint. Es ist eigentlich nicht einzusehen, weshalb
das prozessuale Legalitätsprinzip eine solche Verbesserung verhindern soll.
Jedenfalls sieht die geltende Strafprozessordnung in Art. 144 die Videobefragung explizit
vor. Somit müssten auch Einvernahmen z.B. via Skype zulässig sein, da es den Parteien
hierdurch möglich ist, die Mimik, Gestik und das Sprechverhalten des Zeugen oder der
Auskunftsperson wahrzunehmen.
18
Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. August 2012 (Geschäfts-Nr. SB110305), S. 1823
19 Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. August 2012 (Geschäfts-Nr. SB110305), S. 1823
Seite 17
IV. Akteneinsichtsrecht der Privatkläger
1. Zeitpunkt und Umfang der Akteneinsicht
Die Privatklägerschaft hat als Partei grundsätzlich das Recht, die Akten einzusehen. In der
Praxis stellt sich allerdings oft die Frage, ab wann der Privatklägerschaft die Akteneinsicht
einzuräumen ist, und ob es sich um ein umfassendes oder nur teilweises Einsichtsrecht in
die Akten handelt.
Gemäss Art. 101 StPO können die Parteien vorbehältlich Art. 108 StPO spätestens nach der
ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten
Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten des Strafverfahrens einsehen. Das Recht
auf Akteneinsicht gilt somit nicht unbeschränkt zu jedem Zeitpunkt. Laut einem
unveröffentlichten Entscheid des Bundesgerichts ist Art. 101 StPO so auszulegen, dass eine
Auskunftsperson kein Recht auf Akteneinsicht hat, bevor sie selbst ein erstes Mal
einvernommen wurde.20
Fraglich ist in der Praxis regelmässig, in welchem Umfang dem Privatkläger Akteneinsicht
gewährt werden soll. Eher unbestritten dürfte sein, dass in einem Vorverfahren, in welchem
dem Beschuldigten nebst den Straftaten, von welchen der Privatkläger betroffen ist, weitere
Delikte vorgeworfen werden, dem Privatkläger nur Einsicht in die diejenigen Akten zu
gewähren ist, welche die Straftat beschlagen, durch welche er unmittelbar in seinen Rechten
verletzt wurde. Dies analog dazu, dass sich im Fall von Beweiserhebungen die
Teilnahmerechte des Privatklägers auf diejenigen Straftaten beschränken, durch welche er
unmittelbar in seinen Rechten verletzt wurde.21
Unklarer ist, ob der Privatkläger z. B. auch Einsicht in die Personalakten des Beschuldigten
erhalten soll. Die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich für das
Vorverfahren halten dazu in Ziffer 8.2.7.2.4 fest, dass das Akteneinsichtsrecht der
Privatklägerschaft beschränkt sei. Und zwar stehe es der Privatklägerschaft nur insoweit zu,
als dies zur Durchsetzung ihrer Verfahrensrechte notwendig sei. Üblicherweise beschränke
sich das Einsichtsrecht auf die eigentlichen Untersuchungsakten. Damit seien primär die
Akten gemeint, die zum deliktsrelevanten Sachverhalt gehören würden, bei welchem sich die
geschädigte Person als Privatklägerschaft konstituiert habe. In die Akten zur beschuldigten
Person und deren allfällige Vorakten sei daher regelmässig keine Einsicht zu gewähren.
Entgegen der in den Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren
festgehaltenen Grundsatzes, wonach die Akteneinsichtsrechte der Privatklägerschaft - wie
erwähnt - beschränkt seien, hielt das Obergericht des Kantons Zürich in einem Beschluss
20
Entscheid des Bundesgerichts 1B_238/2011 vom 13. September 2011
Stefan Christen, Zum Anwesenheitsrecht der Privatklägerschaft im schweizerischen
Strafprozessrecht (in ZStrR Band 129 – 2011)
21
Seite 18
vom 25. Februar 2013 fest, dass der Privatkläger grundsätzlich Anspruch auf Einsicht in die
Eingaben der Verteidigung und die Personalakten des Beschuldigten habe.22
Dieser Entscheid unterstreicht, wie weit die Parteirechte der Privatklägerschaft reichen
respektive dass die Privatklägerschaft fast auf Augenhöhe mit der beschuldigten Person
steht. Gleichermassen hält auch Jean-Pierre Greter in seiner Dissertation zum Thema
„Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren“ unter Hinweis auf Niklaus Oberholzer23
fest, dass der Gesetzeswortlaut von Art. 101 Abs. 1 StPO die Akteneinsicht der
Privatklägerschaft hinsichtlich des Umfanges nicht a priori einschränke. Der
Privatklägerschaft stehe analog der beschuldigten Person ein vollumfängliches
Akteneinsichtsrecht zu. Dies im Gegensatz zu früheren Strafprozessordnungen, welche die
Akteneinsicht von Vornherein auf diejenigen Aktenstücke beschränkt hätten, an deren
Kenntnisnahme der Kläger ein schützenswertes Interesse gehabt habe oder - mit anderen
Worten ausgedrückt - in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der von ihm erhobenen
Klage gestanden hätten.24 Eine Einschränkung der Akteneinsicht der Privatklägerschaft ist
gemäss Greter höchstens im Einzelfall denkbar, etwa bei Einsicht in sensible
Personendaten.25
V. Abgekürztes Verfahren
1. Nicht-Zustimmung eines oder mehrerer Privatkläger(s)
Sofern ein Massendelikt durch eine Anklageschrift im abgekürzten Verfahren im Sinne von
Art. 358 ff. StPO abgeschlossen werden kann, stellt sich die Frage, ob ein Privatkläger, der
die Anklageschrift fristgerecht ablehnt, dieses ressourcensparende Verfahren zwingend zum
Fall bringen kann. Wie geht die Praxis mit der Nichtzustimmung einer Partei um? Besteht die
Möglichkeit, das abgekürzte Verfahren trotz der Regelung von Art. 360 Abs. 5 StPO
weiterzuführen?
Bei Nichtzustimmung eines Privatklägers kann unseres Erachtens das Verfahren gestützt auf
Art. 30 StPO in zwei Verfahren aufgeteilt werden, d.h. ein abgekürztes Verfahren für die
zustimmenden Privatkläger und ein ordentliches Verfahren für den oder die nicht
zustimmenden Privatkläger. Art. 360 StPO wird diesfalls somit dahingehend verstanden,
dass die Staatsanwaltschaft für die nicht zustimmende Partei - aber eben nur für diese
Partei - ein ordentliches Verfahren durchführt.
22
Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, Beschluss vom 25.02.2013 (Geschäfts-Nr.
UH120347)
23 Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, N 592
24 Jean-Pierre Greter, Die Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren, Seite 98
25 Jean-Pierre Greter, Die Akteneinsicht im Schweizerischen Strafverfahren, Seite 98
Seite 19
Für dieses Vorgehen wird vorausgesetzt, dass die beschuldigte Person hiermit
einverstanden ist, und dass die gemäss Art. 360 Abs. 2 StPO (ursprünglich) den Parteien
vorgeschlagene Anklage mit Urteilsvorschlag entsprechend angepasst wird. Dabei empfiehlt
es sich in einem Zwischenschritt, die notwendigen Anpassungen der (ursprünglich)
vorgeschlagenen Anklage mit Urteilsvorschlag im Änderungsmodus des Word-Programms
vorzunehmen, damit die inhaltlichen Änderungen durch das Gericht nachvollzogen werden
können. Eine erneute Zustellung der Anklageschrift an die anderen (zustimmenden)
Privatkläger ist nicht notwendig, da die vorzunehmenden Änderungen sie nicht betreffen.
In einem Fall unserer Amtsstelle mit über 20 Privatklägern hat ein Privatkläger der im
abgekürzten Verfahren ergangenen Anklageschrift nicht zugestimmt. Mit Bezug auf diesen
Privatkläger wurde mit Einverständnis des Beschuldigten das ordentliche Verfahren
durchgeführt und, nach Beendigung des abgekürzten Verfahrens, mit einem Strafbefehl
abgeschlossen. Das abgekürzte Verfahren wurde durch das Bezirksgericht Zürich beurteilt26,
welches dieses Vorgehen, d.h. Überweisung des nicht zustimmenden Privatklägers ins
ordentliche Verfahren, ohne Weiteres akzeptierte.
In einem weiteren Fall unserer Amtsstelle wurde einem Beschuldigten Bestechung und
unrechtmässige Annahme von Retrozessionen zur Last gelegt. Die Untersuchung wegen der
Bestechungsvorwürfe war bereits abgeschlossen, diejenige wegen der Retrozessionen noch
nicht. Folglich wurde das Verfahren wegen unrechtmässiger Annahme von Retrozessionen
abgetrennt, um wegen der Bestechungsvorwürfe bereits Anklage erheben zu können. Nach
Anklageerhebung im September 2011 wegen Bestechung beantragte der Beschuldigte im
November 2011 hinsichtlich der Retrozessionen ein abgekürztes Verfahren. Die
Hauptverhandlung zum abgekürzten Verfahren wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung im
Zusammenhang mit den Retrozessionen fand schliesslich im Frühsommer 2012 statt27,
mehrere Monate vor der Hauptverhandlung wegen Bestechung28. Damit war der
Beschuldigte zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu den Bestechungsvorwürfen schon im
Teilkomplex betreffend die Retrozessionen rechtskräftig verurteilt.
2. Teilnahmerechte der Privatkläger bei Vergleichsverhandlungen im abgekürzten
Verfahren
Die Absprache resp. der strafprozessualen Vergleich zwischen Staatsanwaltschaft und den
Parteien im abgekürzten Verfahren findet in der Strafprozessordnung keine Erwähnung.
Grundsätzlich finden bei der Durchführung eines abgekürzten Verfahrens
26
Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 28. März 2012, Geschäfts-Nr. DG110396-L/U
Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 4. Juli 2012, Geschäfts-Nr. DG 120133-L/U
28 Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 26. November 2012, Geschäfts-Nr. DG110297-L/UD
27
Seite 20
Abspracheverhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person
statt. Die Einigung hat zwingend über den Schuldpunkt, die Strafe und die Zivilansprüche zu
erfolgen. In der Praxis stellt sich daher die Frage, ob den Privatklägern in diesen
Abspracheverhandlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person im
abgekürzten Verfahren Teilnahmerechte einzuräumen sind. Ein derartiges Teilnahmerecht
steht der Privatklägerschaft unseres Erachtens im Rahmen der Abspracheverhandlungen
nicht zu, weil der Beschuldigte als Voraussetzung für die Durchführung des abgekürzten
Verfahrens die von der Privatklägerschaft geltend gemachten Zivilansprüche dem Grundsatz
nach anerkannt haben muss. Und mit Bezug auf das vorgeschlagene Strafmass verfügt der
Privatkläger über kein Widerspruchsrecht. Das Bundesstrafgericht führte diesbezüglich in
einem Entscheid vom 14. Oktober 201129 aus, dass die Annahme, es liege mit der Erklärung
des Privatklägers, der lediglich mit der Sanktion nicht einverstanden ist, ein gültiges
Hindernis für das abgekürzte Verfahren vor, dazu führen würde, dass das ordentliche
Verfahren durchzuführen wäre, ohne dass der Privatkläger sich dort zum Strafmass
überhaupt äussern könnte. Mithin, so das Bundesstrafgericht weiter im erwähnten Entscheid,
wäre es systemwidrig, dem Privatkläger, der sich ausschliesslich gegen das vorgeschlagene
Strafmass wendet, für die Durchführung des abgekürzten Verfahrens ein Vetorecht
einzuräumen, das ihm im ordentlichen Verfahren nicht zusteht.
Jedoch sind der Privatklägerschaft in der Schlusseinvernahme die Teilnahmerechte zu
gewähren. Das Teilnahme- und Fragerecht der Privatklägerschaft in der
Schlusseinvernahme im abgekürzten Verfahren kann in der Praxis jedoch gewisse Probleme
mit sich bringen. Dies deshalb, weil die Schlusseinvernahme selbstredend auf der zuvor
stattgefundenen Abspracheverhandlung basiert, in welcher sich die Staatsanwaltschaft und
die beschuldigte Person bereits über den Umfang und die Anzahl der anzuklagenden
Sachverhalte geeinigt haben. Macht der Privatkläger von seinem Recht zur Stellung von
Ergänzungsfragen Gebrauch und stellt Fragen zu Sachverhalten, welche nach Absprache
zwischen dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft nicht Gegenstand der Anklage sein
sollen, birgt dies eine gewisse Gefahr, dass der getroffene „Deal“ noch kippt. Hier stellt sich
in der Praxis die Frage, ob es im Sinne einer kreativen Lösung allenfalls rechtlich vertretbar
wäre, dem Beschuldigten die Schlussvorhalte ohne Durchführung einer Schlusseinvernahme
auf dem Korrespondenzweg zuzustellen. Dem Privatkläger würde zwar auf diese Weise das
Teilnahme- und Fragerecht an der Schlusseinvernahme genommen, allerdings erwüchse
ihm dadurch keinen Rechtsnachteil, da er die Möglichkeit besitzt, dem Anklageentwurf nicht
zuzustimmen, woraufhin das ordentliche Verfahren durchzuführen wäre.
29
Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 14. Oktober 2011 (Geschäftsnummer: SK.2011.20)
Seite 21
Bei besonders komplexen und umfangreichen Verfahren könnte ein weiterer Lösungsansatz
darin bestehen, einen ausformulierten Anklageentwurf auszuarbeiten, um diesen dann im
Rahmen von (informellen) Abspracheverhandlungen mit dem Beschuldigten und der
Verteidigung „besprechen zu können“. Allfällige notwendige Anpassungen des
Anklageentwurfes im Hinblick auf das „möglichst erfolgreich“ durchzuführende abgekürzte
Verfahren könnten so noch vor der Zustellung der Anklage im abgekürzten Verfahren, die
den Parteien als Vorschlag zugestellt werden muss, vorgenommen werden.
In der Hoffnung, dass die Rechtsprechung mit Blick auf Verfahren mit vielen Geschädigten
praxistaugliche und lebensnahe Kriterien für die Gewährung von deren Teilnahmerechten
entwickeln möge, beende ich meine Ausführungen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Seite 22
Fiktive Strafanzeige
Am 5. Januar 2013 erstattete RA Dr. X. namens und im Auftrag des Geschädigten 1 direkt bei der
Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige gegen die Trading AG, gegründet im Jahr 2000 mit Sitz in Zürich,
und deren Geschäftsführer A sowie weitere verantwortliche Personen wegen Anlagebetrugs. Im April
2012 habe der Geschädigte 1 in mehreren Tranchen insgesamt CHF 1 Mio. auf ein Bankkonto
einbezahlt. Mit der Trading AG sei vereinbart worden, dass sie die Vermögensverwaltung für den
Geschädigten 1 ausübe und damit für ihn Devisenhandel betreibe. Bis anfangs Dezember 2012 habe
der Geschädigte 1 von der Trading AG immer wieder Abrechnungen erhalten, aus welchen der Erfolg
auf seiner Anlage ersichtlich gewesen sei. Am 15. Dezember 2012 habe er dann erfahren, dass über
die Trading AG der Konkurs eröffnet worden sei. Gleichentags habe er festgestellt, dass sein
Guthaben nur noch CHF 200‘000 betrage.
Wenige Tage später geht eine ähnliche Strafanzeige des Geschädigten 2 ein.
Beide Anzeigen sind mit Beilagen substantiiert.
Vorverfahren
Eine Vorprüfung durch die Staatsanwaltschaft ergibt, dass ein Vorverfahren zu eröffnen ist und dass
Editionen, Hausdurchsuchungen, Aktenbeizug etc. vorzunehmen und möglicherweise
Vermögenswerte zu sichern sind.
Im Verlaufe des Verfahrens werden unter anderem die Geschäftsakten erhoben. Daraus ergibt sich,
dass die Trading AG bei Konkurseröffnung das Vermögen von über 500 Kunden verwaltete.
Im weiteren Verfahren konstituieren sich über 300 Geschädigte als Privatkläger. Davon sind zehn
anwaltlich vertreten. Die Hälfte der Privatkläger hat Wohnsitz im Ausland.
Einzelne Privatkläger verlangen im Laufe des Verfahrens die Akten einzusehen und an
Beweiserhebungen teilzunehmen.
Das Vorverfahren wird gegen zwei Beschuldigte geführt. Im Laufe des Verfahrens beantragt der
Beschuldigte A das abgekürzte Verfahren. Gegen den zweiten Beschuldigten zeichnet sich eine
Verfahrenseinstellung ab. Bis auf drei Privatkläger stimmen alle dem abgekürzten Verfahren zu.
Seite 23
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