I Ausgangslage - Schweizerische Kriminalistische Gesellschaft

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Prof. Dr. Felix Bommer, Luzern
Schweizerische Kriminalistische Gesellschaft /Jahrestagung Pfäffikon, 6./7. Juni
2013
Die Rechte der geschädigten Person im Strafverfahren
I
Ausgangslage
Man hat den Geschädigten lange als Randfigur des Strafverfahrens bezeichnet, als fünftes Rad am Wagen gewissermassen, oder besser: als drittes Rad am Velo, weil nur
zwei andere Protagonisten beteiligt sind, der Beschuldigte und die staatliche Gewalt.
Wäre dem Geschädigten nicht das Generalthema dieser Tagung, sondern nur eine gute
halbe Stunde gewidmet, so könnte man darin die Fortsetzung seiner Marginalisierung
sehen. Und in gewissem Sinne hält sie tatsächlich noch immer an: Im Zentrum des
Strafverfahrens steht der Normbruch des Beschuldigten, nicht der Kieferbruch des Opfers. Die Straftat verkörpert die Verletzung einer Norm, nicht einer Person, und der
Strafprozess bearbeitet den Rechtsbruch, nicht den Kieferbruch. Aber abgesehen davon
ist es längst nicht mehr richtig, den Geschädigten als Randfigur zu bezeichnen, so wenig, wie sich von einer „Renaissance“ des Geschädigten sprechen lässt: ein historisches
Vorbild, wie sie es in der Antike fand, hat die Bedeutungszunahme des Geschädigten
nicht. Die Hinwendung zu ihm fällt zeitlich in die Phase, in der sich die Rechtswissenschaft in ihrem Selbstverständnis von einer Geisteswissenschaft zu einer Sozialwissenschaft gewandelt hat und sich für die empirischen Befunde der Rechtswirklichkeit zu
interessieren begann1. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb, trotz
Festhalten am Konzept der Straftat als Normbruch, der Geschädigte die Aufmerksamkeit erhielt, die ihm heute zu teil wird.
Diese frühere Randständigkeit des Geschädigten hat allerdings für die schweizerische
Prozessrechtslandschaft nie im selben Ausmass gegolten wie für die deutsche; in der
Schweiz hat stets ein pragmatischer und kein dogmatischer Umgang mit dem Verletzen
1
Näher HASSEMER, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990, 226 f.
vorgeherrscht. Dazu kommt der Einfluss der traditionell starken Stellung des Geschädigten aus dem französischen Strafprozess, er war nicht nur in den welschen Strafprozessordnungen zu spüren, sondern reichte auch in Ordnungen der deutschschweizer
Kantone hinein. Mittlerweile jedenfalls, um im Bild zu bleiben, sitzt der Geschädigte fest
im Sattel, mindestens auf dem Gepäckträger. Und damit ihm der Hintern nicht bei jedem
Schlagloch weh tut, hat der Gesetzgeber den Gepäckträger mit ziemlich weichen Polstern ausgestattet, Schutzrechten in der Terminologie der StPO. Aber nicht nur gut gepolstert ist das Fahrrad des Geschädigten mittlerweile, es ist auch zusätzlich angetrieben: Der Geschädigte fährt nicht mehr einen alten Drahtesel, sondern ein e-Bike. Er ist
zur Partei des Strafverfahrens geworden, wo er das nicht schon früher war. Das Gesetz
stellt ihn insofern auf die gleiche Stufe wie den Beschuldigten, wenn er sich zur Privatklage entschliesst (Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO). In den Worten des BGer: „Der Geschädigte ist eine zentrale Person im Strafprozessrecht“2.
Damit bin ich bei meinem Thema, den Rechten des Geschädigten. Weil der, sofern er
sich als Privatkläger konstituiert, Parteistellung hat, lassen sich dessen Rechte anhand
der Leitlinie (derjenigen) des Beschuldigten erläutern. Ein markanter Unterschied allerdings bleibt: Die Stellung des Beschuldigten wird einem i.d.R. zugewiesen, in einer
Strafanzeige, einem Strafantrag oder durch Verfahrenshandlungen der Strafbehörden,
hauptsächlich der Staatsanwaltschaft und der Polizei (Art. 111 Abs. 1 StPO); die Selbstanzeige ist ja, selbst im Steuerstrafrecht, doch ein Ausnahmefall. Kurz: Der Beschuldigte erhält seine Rolle regelmässig ohne eigenes Zutun und ohne seinen Willen. Anders
sieht dies auf Seiten der Privatklägerschaft aus: Privatkläger wird man nicht wider Willen3, man muss es werden, sein und bleiben wollen. Deshalb vorweg einige Bemerkungen zu der Stellung des Privatklägers.
II
Konstituierung als Privatkläger
1.
Geschädigteneigenschaft
2
BGE 136 IV 29, 39 E. 1.7.1.
Art. 118 Abs. 2 StPO, wonach der Strafantrag der ausdrücklichen Konstituierung als Privatkläger gleichgestellt ist, ändert daran nichts: Der Strafantragsteller kann sich jederzeit, d.h. auch gleichzeitig mit der
Einreichung des Strafantrages, von der Privatklage zurückziehen (Art. 120 StPO), so dass das Verfahren
ohne ihn fortgeführt wird (MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, BSK, N 6 zu Art. 120).
3
2
„Als Privatklägerschaft gilt die geschädigte Person, die ausdrücklich erklärt, sich am
Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin oder -kläger zu beteiligen“, sagt Art. 118 Abs.
1 StPO. Schädigung und entsprechende Erklärung sind also vonnöten. Was den Begriff
des Geschädigten angeht, so ist dies nach Art. 115 Abs. 1 StPO „die Person, die durch
die Straftat in ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist“. Dazu existiert eine reichhaltige bger. Praxis. Unter den Begriff fällt „nach vorherrschender Auffassung nur der
unmittelbar Geschädigte (…), d.h. der Träger des durch die Strafdrohung geschützten
Rechtsgutes, gegen das sich die Straftat ihrem Begriff nach richtet“4. Oder wie das BGer
gerade vor kurzem formuliert hat: „Als Geschädigter ist […] anzusehen, wer Träger des
Rechtsgutes ist, das durch die fragliche Strafbestimmung vor Verletzung oder Gefährdung geschützt werden soll. Im Zusammenhang mit Strafnormen, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen, gelten praxisgemäss nur diejenigen Personen als Geschädigte, die durch die darin umschriebenen Tatbestände in ihren Rechten beeinträchtigt
werden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge der tatbestandsmässigen
Handlung ist“5.
Der erste Satz formuliert eine Selbstverständlichkeit. Interessant scheint mir der zweite:
Wenn Strafnormen nicht primär Individualrechtsgüter schützen, „gelten (nur) diejenigen
Personen als Geschädigte, die durch die darin umschriebenen Tatbestände in ihren
Rechten beeinträchtigt werden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare Folge der
tatbestandsmässigen Handlung ist“. 3 Fragen und 3 mögliche Antworten:
1. Worauf bezieht sich das „darin“? Grammatikalisch auf „Strafnormen“. Die „in den
Strafnormen umschriebenen Tatbestände“. Hier hat das BGer wohl Strafnormen
im Auge, die aus verschiedenen Tatbeständen bestehen, etwa Art. 90 SVG, um
dessen Ziff. (heute: Abs.) 1 es in dem zit. Entscheid ging, oder auch Art. 261bis
StGB, auf den sich der zit. Entscheid stützt.
2. Um als geschädigt zu gelten, müssen diese Personen durch die darin umschriebenen Tatbestände „in ihren Rechten beeinträchtigt“ werden. Diese Formulierung
hat mir erhebliches Kopfzerbrechen bereitet: Wie kann man durch einen Tatbestand in seinen Rechten beeinträchtigt werden? Ich war immer der Ansicht, ein
4
BGE 117 Ia 135, 137.
3
Tatbestand würden uns vor Beeinträchtigungen in unseren Rechten schützen,
und beeinträchtigt würden wir durch Handlungen, welche den entsprechenden
Tatbestand erfüllen. Wahrscheinlich ist das nach wie vor auch die Haltung des
BGer. In dem Entscheid, auf den sich diese Passage stützt, heisst es nämlich:
„Bei Delikten, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen, gelten nur diejenigen Personen als Geschädigte, welche durch diese Delikte tatsächlich in ihren
Rechten beeinträchtigt werden, …“6. Damit ist kürzer und zugleich etwas klarer
ausgedrückt, worum es geht: um die (strafbaren) Handlungen, die den Tatbestand erfüllen.
3. Die entscheidende Frage für den Schutzumfang ist die dritte: Bei Strafbestimmungen, die nicht primär, sondern allenfalls sekundär den Schutz von Individualrechtsgütern im Auge haben, ist die Geschädigtenstellung davon abhängig, dass
die erlittene Beeinträchtigung unmittelbare Folge der tatbestandsmässigen Handlung ist. Am simplen Beispiel des zit. BGE: X biegt am Steuer seines Personenwagens nach rechts ab und kollidiert dabei mit dem rechts vorbeifahrenden Motorradfahrer Y. Dieser wird verletzt, an beiden Fahrzeugen entsteht Sachschaden. Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Verfahren, u.a. eines auf Anzeige
des X gegen den Motorradfahrer wegen Widerhandlung gegen das SVG; dabei
will X als Privatkläger seinen Sachschaden am Auto geltend machen. Das BGer
lässt ihn nicht als Beschwerderführer i.S.v. Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zu, weil
ihm die Eigenschaft des Privatklägers fehlt: Er ist i.S.v. Art. 90 Abs. 1 SVG nicht
geschädigt. In den Worten des BGer: „Ist […] davon auszugehen, dass die Verkehrsregeln nebst dem allgemeinen Interesse der Verkehrssicherheit höchstens
die körperliche Integrität der Verkehrsteilnehmer schützen, nicht aber deren Eigentum bzw. Vermögen, so stellt ein reiner Sachschaden als Folge einer Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Ziff. 1 SVG keine unmittelbare Verletzung in
eigenen Rechten im Sinne von Art. 115 StPO dar, sondern nur eine mittelbare
Folge des Verstosses gegen die Verkehrsregeln.“7
5
BGE 138 IV 258, 263 E. 2.3.
BGE 129 IV 95, 99 E. 3.1.
7 BGE 138 IV 258, 266 E. 3.2. Die Frage, ob Art. 90 Abs. 1 SVG (auch) die körperliche Integrität oder das
Leben schützt, lässt das BGer offen, ebenso mit Blick auf Abs. 2 SVG (a.a.O. E. 3.1).
6
4
Dem wird man vom Ergebnis her gut folgen können, zumal die fahrlässige Sachbeschädigung keinen Straftatbestand erfüllt (vgl. Art. 144, 12 Abs. 1 StGB), allein
die dem Gesetz geschuldete Wortwahl ist verwirrend: Es geht nicht darum, ob
der Sachschaden durch das Verhalten, welches die angebliche Verkehrsregelverletzung ausmacht, „unmittelbar“ eingetreten wäre, das ist er durchaus: Der Motorradfahrer fährt, vielleicht vorschriftswidrig, rechts vor und dabei in den rechts abbiegenden Wagen hinein. Ich vermag nicht zu sehen, inwiefern man hier von einer „mittelbaren“ Schadensverursachung sprechen könnte, im Gegenteil: „Unmittelbarer“ geht es nicht! Aber der Schutzzweck von Art. 90 Abs. 1 SVG ist es nicht,
vor Sachbeschädigungen zu bewahren, schon gar nicht vor fahrlässigen, d.h.:
Unmittelbar ist nicht die Verletzung, unmittelbar ist vielmehr der Schutz, den das
Gesetz dem verletzten Rechtsgut angedeihen lassen will. Es geht also um den
Schutzzweck der verletzten Bestimmung: Nur wenn sie gerade Beeinträchtigungen wie der eingetretenen zuvorkommen will, ist der Geschädigte durch die Straftat, um die es geht, unmittelbar in seinen Rechten verletzt.
Kurz: Es gelten Personen als Geschädigte, wenn sie durch die den Tatbestand erfüllende Handlungen in ihren Rechten unmittelbar beeinträchtigt werden, wobei sich die Unmittelbarkeit nach dem Schutzzweck der Norm bestimmt.
2.
Erklärung
Die Erklärung, als PK am Verfahren teilhaben zu wollen, kann bis zum Abschluss des
Vorverfahrens abgegeben werden (Art. 118 Abs. 3 StPO). Abschluss des Vorverfahrens
bildet der Erlass eines Strafbefehls oder die Ankündigung, das Verfahren einzustellen
oder aber Anklage zu erheben (Art. 318 Abs. 1 StPO). Hier stellt sich für die Strafverfolgung die Frage, wie sie mit der geschädigten Person umgehen will. Zunächst einmal hat
die Staatsanwaltschaft sie anzufragen, ob sie sich als Privatklägerin konstituieren will
(Art. 118 Abs. 4 StPO). Wenn darauf innert vernünftiger Frist keine Antwort kommt, wird
man eine kurze Nachfrist ansetzen, und wenn dann immer noch „nichts kommt“, eben
ohne die geschädigte Person weiterfahren. Ein Verzicht i.S.v. Art. 120 Abs. 1 StPO liegt
darin nicht. Wenn das Verfahren in der Folge eingestellt wird, so besteht dagegen kein
Beschwerderecht der geschädigten Person, weil dieses nur den Parteien und somit der
5
Privatklägerschaft zusteht (Art. 322 Abs. 2 StPO). Aber: Diese Einschränkung gilt nach
der Praxis des BGer dann nicht, „wenn die geschädigte Person noch keine Gelegenheit
hatte, sich zur Frage der Konstituierung zu äussern, so etwa wenn eine Einstellung
ergeht, ohne dass die Strafverfolgungsbehörde die geschädigte Person zuvor auf ihr
Konstituierungsrecht aufmerksam gemacht hat“8.
Fraglich erscheint, ob die Staatsanwaltschaft im Interesse einer geordneten Verfahrensführung vom Geschädigten bereits in einem frühen Verfahrensstadium, z.B. mit der
eben genannten Anfrage, eine definitive Entscheidung für oder gegen die Privatklägerstellung verlangen darf. Eine solche verbindliche Äusserungspflicht der Privatklägerschaft kennen wir aus dem abgekürzten Verfahren: Hier muss sie innert 10 Tagen ihre
Zivilansprüche anmelden (Art. 359 Abs. 2 StPO). Art. 127 Abs. 5 VE-StPO hatte ebenfalls vorgesehen, dem Geschädigten, der sich noch nicht definitiv über die Privatklägerschaft geäussert hatte, eine Frist anzusetzen, um sich zu entscheiden. Bereits der Entwurf9 und nunmehr auch das Gesetz sehen diese Möglichkeit nicht mehr vor. Man wird
daraus ableiten müssen, dass die Frist im Untersuchungsverfahren nicht abgekürzt
werden darf. Das entspricht auch der Überlegung in der Sache: Es kann für die geschädigte Person aus Gründen, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt sind, noch
ungewiss sein, ob sie sich am Verfahren beteiligen will, und deshalb darf ihr diese Frist
nicht verkürzt werden. Das ändert natürlich nichts daran, dass es vernünftig ist, „darauf
hinzuwirken, dass die Erklärung möglichst früh im Verfahren erfolgt“10. In einzelnen Kantonen, zB in Zug, haben sich Formulare etabliert, dass der Privatkläger innert bestimmter Frist seine Beteiligung am Verfahren zu erklären habe, ansonsten man davon ausgehe, dass er auf die Beteiligung verzichte11. Damit kommen die Strafverfolgungsbehörden ihrer Aufklärungspflicht nach Art. 118 Abs. 4 StPO nach. Ein Verzicht i.S.v. Art. 120
StPO liegt darin jedoch nicht, weil dieser nur schriftlich oder mündlich zu Protokoll ergehen kann. Auch bei Schweigen der geschädigten Person bleibt ihr das Recht erhalten,
bis zum Abschluss des Vorverfahrens als Privatkläger in das Verfahren einzutreten. Die
bis dahin getroffenen Verfahrenshandlungen behalten aber natürlich ihre Gültigkeit, und
8
Nicht publ. E. 2 von BGE 137 IV 246 vom 15.07.2011, 1B_236/2011.
Vgl. Art. 116 f. E-StPO:
10 So die Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich für das Vorverfahren (VOSTA,
Stand 1. März 2013), S. 98 Ziff. 9.5.
9
6
für ihre Rollenfestsetzung bei Einvernahmen ist eine frühe Entscheidung von Vorteil.
Das alles wissen, wie ich gehört habe, auch die Behörden im Kanton Zug.
Wenn die Privatklage einmal zurückgezogen ist, kann sie nicht erneuert werden. Das
ergibt sich aus Art. 120 Abs. 1 StPO, obwohl die Bestimmung, entgegen ihrem Marginale, nur den Verzicht explizit regelt: Nicht nur der Verzicht ist endgültig, auch der Rückzug
ist es12. Nach einem Rückzug (wie auch einem zum voraus erklärten Verzicht) der Privatklage kann der (ehemalige) Privatkläger keine Beschwerde gegen einen Nichtanhandnahme- oder Einstellungsentscheid erheben13. Das dürfte allerdings dann nicht
gelten, wenn der Rückzug auf einem Willensmangel beruht, insofern liegt die analoge
Anwendung von Art. 386 Abs. 3 StPO nahe, der entsprechenden Regel im Rechtsmittelrecht14. Dazu kommt eine zweite Einschränkung: Ein Rückzug der Zivilklage vor Abschluss der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ist nach der Spezialregelung von Art.
122 Abs. 4 StPO möglich ohne Präklusion.
Verzicht und Rückzug sind zudem nicht nur für den Privatkläger selber endgültig, sondern, im Falle seines Todes, auch für seine Angehörigen (Art. 121 Abs. 1 StPO). Aber
auch für sie gilt dies infolge der Spezialregelung von Art. 122 Abs. 4 StPO nur für den
Strafpunkt: Eine vor Abschluss der erstinstanzlichen Hauptverhandlung zurückgezogene
Zivilklage kann auf dem Zivilweg erneuert werden; diese Möglichkeit muss auch den
Angehörigen offen stehen, wenn die geschädigte Person nach dem Rückzug stirbt, ohne dass sie die Zivilklage bereit einreichen konnte. Als Gegenausnahme gilt aber auch
hier: Falls in dem Rückzug der Zivilklage ein definitiver Verzicht zu sehen ist, bleibt es
bei der Regelung von Art. 120 Abs. 1 StPO: Dann können auch die Angehörigen sie
nicht auf dem Zivilweg erneuern.
3.
Angehörige als Privatkläger
Z.B. im Kanton Zug das Formular „Beteiligung der Geschädigten am Strafverfahren“.
RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, N 894.
13 BGer, Urteil vom 15.2.2012, 1B_357/2011.
14 MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, BSK, N 7 zu Art. 120. Fraglich bleibt, ob eine Einschränkung dort am Platz ist,
wo der Willensmangel in den Verantwortungsbereich des Privatklägers fällt, d.h. für den Fall des Irrtums
(aber nicht der Täuschung oder des Zwangs). Für Berücksichtigung auch des Irrtums OGer Bern,
28.06.2011, SK-Nr. 2011 34.
11
12
7
Ein dornenvolles Kapitel stellt es dar, wenn Angehörige (als Privatkläger) in das Verfahren involviert sind. Zwei Fallgruppen sind zu unterscheiden: Ihre Intervention in der Rolle
als indirekte Opfer und in derjenigen als Rechtsnachfolger, die freilich auch zusammen
fallen können.
a)
Indirekte Opfer
Die Situation, dass Angehörige des Privatklägers in den Prozess involviert sind, kann
sich ergeben, wenn der Privatkläger zugleich Opfer i.S.v. Art. 116 Abs. 1 StPO ist und
die Angehörigen (Ehegatte, Kinder, Eltern oder dem Opfer in ähnlicher Weise nahestehende Personen, Art. 116 Abs. 2 StPO15) Zivilansprüche geltend machen; dann stehen
ihnen, den sog. indirekten Opfern, die gleichen Rechte zu wie dem Opfer-Privatkläger
(Art. 117 Abs. 3 StPO). Im Fall des Todes des Opfers sind die Angehörigen alleinige
Vertreter auf der Geschädigtenseite, bei anderen Straftaten, etwa vorsätzliche Körperverletzung oder Vergewaltigung, agieren sie neben dem (eigentlichen) Privatkläger. Die
Tragweite dieser nicht ganz einfach verständlichen Regelung hängt von der näheren
Begrenzung der Zivilansprüche sowie davon ab, wie man den Umfang der opfergleichen
Rechte fasst.
Was die Zivilansprüche der Angehörigen betrifft, so geht es unter diesem Titel nur um
solche aus eigenem Recht, solche, die ihnen (direkt) aus der Tötung oder Verletzung
des Opfer-Privatklägers erwachsen. Das bestätigt Art. 122 Abs. 2 StPO, der im Abschnitt über die Zivilklage festhält, dass Angehörige des Opfers zivilrechtliche Ansprüche geltend machen können, soweit es sich um „eigene Zivilansprüche“ handelt. In Betracht kommen in erster Linie Ansprüche aus Versorgerschaden (Art. 45 Abs. 3 OR) und
Genugtuung (Art. 49 OR), aber auch eigentliche Schadenersatzansprüche (Art. 41 OR)
sind nicht zum vornherein ausgeschlossen16. Falls Angehörige solche Ansprüche geltend machen17, stehen ihnen „die gleichen Rechte“ zu wie dem Opfer. Zweifelhaft ist,
was das bedeutet: Überwiegend wird damit die Vorstellung verbunden, dass die Ange-
15 Anders
der Angehörigenbegriff nach Art. 110 Abs. 1 StGB: Ehegatte, eingetragene Partnerin/eingetragener Partner, Verwandte in gerader Linie, vollbürtige und halbbürtige Geschwister, Adoptiveltern, Adoptivgeschwister und Adoptivkinder.
16 Vgl. den BGer, 21.12.2012, 6B_591/2012, zur Publ. bestimmt, zugrundeliegenden Sachverhalt.
17 Die französischsprachige Gesetzesversion („se portent parties civiles“) ist im Sinne der deutsch- und
italienischsprachigen zu verstehen, als Geltendmachung von Zivilansprüchen (BGer, 21.12.2012,
6B_591/2012, E. 2.2., zur Publ. bestimmt; anders BERSET HEMMER, N 14 zu Art. 117 [Fn. 19]).
8
hörigen sich als Privatkläger konstituieren könnten18, zumindest im Zivilpunkt19. Lässt
sich daran aufgrund der Gleichstellung (nur) mit dem Opfer noch zweifeln20, so bringt
Art. 122 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StPO die Bestätigung: Wer im Strafverfahren Zivilansprüche geltend machen will, kann dies nur im Gewand der Privatklägerschaft tun. Also
müssen den Angehörigen die Rechte in diesem Umfang ebenfalls zustehen21.
Strittig sind die Voraussetzungen des Nachweises dieser Eigenschaft. Nach der neuesten Praxis des BGer genügt es für die Teilnahme am Verfahren, wenn die geltend gemachten Ansprüche des (Angehörigen-)Privatklägers im Lichte seiner Vorbringen als
glaubhaft erscheinen. Das BGer setzt hier zu Recht keine hohen Anforderungen an den
Nachweis entsprechender Beeinträchtigungen: „Il n'y a pas lieu d'exiger une preuve
stricte“22, zumal man sich am Anfang der Hauptverhandlung befindet, in deren Verlauf
der strikte Beweis der Grundlagen des Zivilanspruches erst geführt werden kann und
soll. Oder umgekehrt formuliert: Nicht zuzulassen ist ein Privatkläger, wenn die geltend
gemachten Zivilansprüche auf den ersten Blick jeglicher Grundlage entbehren. Es ist
also zweimal über denselben Gegenstand zu entscheiden, aber mit unterschiedlichem
Beweismass: Für die Zulässigkeit der Klage und damit für die Stellung als Privatkläger
muss genügen, dass die behaupteten Ansprüche mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
bestehen, über die Begründetheit der Klage dann ist nach den allgemeinen Beweisregeln zu entscheiden.
b)
Als Rechtsnachfolger des Privatklägers (Art. 121 StPO)
18
BERSET HEMMER, N 14 zu Art. 117 (Fn. 19); SCHMID, Praxiskommentar, N 4 zu Art. 117.
Sofern sie dies tun, soll daraus auch das Recht zur Strafklage erwachsen (MAZZUCCHELLI/POSTIZZI,
BSK, N 11 zu Art. 115; N 7 zu Art. 117). Jedenfalls kann der Angehörige sich, im Unterschied zum Geschädigten und Opfer, als Privatkläger im Strafpunkt nur konstituieren, wenn er zugleich Zivilklage erhebt
(BGer, 21.12.2012, 6B_591/2012, E. 2.2., 2.5 zur Publ. bestimmt; OGer Zürich, 10.05.2012, UH110244O/U/gk). Das BGer lässt die Konstituierung im Strafpunkt indessen nur in dem Umfang zu, wie sie Auswirkungen auf die Beurteilung der Zivilansprüche haben kann, z.B. im Zusammenhang mit einem Freispruch
(BGer, a.a.O., E. 2.5).
JEANNERET/KUHN (N 7024) wollen sogar die Strafklage allein zulassen. Dies auf das Gesetz zu stützen,
dürfte schwer fallen, wenn es die Zusprechung der Opferrechte an die Voraussetzung der Geltendmachung der Zivilansprüche knüpft. In der Sache jedoch hat die letztgenannte Ansicht einiges für sich: Die
Stellung als Privatkläger im Strafpunkt ist letztlich persönlichkeitsrechtlich vermittelt: Weil der Geschädigte
durch die mutmassliche Straftat eine Verletzung seiner Persönlichkeit in bestimmter Schwere erlitten hat,
ist ihm die entsprechende Position zuzubilligen.
20 Die Rechte, die mit dem Sprung vom einfach Geschädigten zum Opfer einher gehen, d.h. die spezifischen Opferrechte, sind nicht identisch mit denjenigen der Privatklägerschaft.
21 I.E. ebenso BGer, 21.12.2012, 6B_591/2012, E. 2.2., zur Publ. bestimmt.
22 BGer, 21.12.2012, 6B_591/2012, E. 2.2, ebenso E. 2.4.1, zur Publikation bestimmt.
19
9
Der andere Fall einer Beteiligung von Angehörigen am Strafverfahren kann entstehen,
wenn die geschädigte Person stirbt23. Dabei ist nicht verlangt, dass sie sich bereits als
Privatklägerin konstituiert hätte, ja nicht einmal, dass bereits ein Strafverfahren eröffnet
wäre; es genügt, dass sie darauf nicht i.S.v. Art. 120 StPO verzichtet hat. In dieser Situation gehen ihre Verfahrensrechte auf die Angehörigen über, und zwar, wie sich e
contrario aus Abs. 2 von Art. 121 StPO ergibt, im Zivil- und im Strafpunkt24. Damit wird
deutlich, dass es sich hier um eine gesetzliche Rechtsnachfolge handelt. Dh, dass sich
der Umfang der übergehenden Rechte an demjenigen zu orientieren hat, der dem Verstorbenen zugestanden hätte. Aus dieser Überlegung ergibt sich auch die zeitliche Begrenzung gegen hinten: Nur wenn der Geschädigte selber sich noch hätte als Privatkläger konstituieren können, steht diese Möglichkeit den Angehörigen offen, also längstens
bis zum Abschluss des Vorverfahrens (Art. 118 Abs. 3 StPO). Stirbt er später, ohne Privatkläger geworden zu sein, ist dies auch den Angehörigen verwehrt25.
Soweit es sich um einen Opfer-Privatkläger handelt und dieser an den Folgen der Straftat gestorben ist, kann dieser Fall mit dem oben genannten zusammentreffen, denn
dann können Angehörige u.U. Forderungen aus eigenem Recht geltend machen. Der
Begriff der Angehörigen ist in diesem Fall aber ein anderer als im vorigen: Nunmehr
geht es um die Angehörigen i.S.v. Art. 110 Abs. 1 StGB, also Ehegatte, eingetragene
Partnerin/eingetragener Partner, Verwandte in gerader Linie, vollbürtige und halbbürtige
Geschwister, Adoptiveltern, Adoptivgeschwister und Adoptivkinder. Bei den Angehörigen nach Art. 116 Abs. 2 StPO ist es nicht nötig, zu sagen, welche von ihnen Zivilansprüche geltend machen können, eben nur diejenigen, die eigene haben. Bei den Angehörigen im Fall der Rechtsnachfolge liegt dies anders. Hier muss entschieden werden, wer aus diesem Familienclan strafprozessrechtlich in die Stellung des Verstorbenen eintritt. Das Gesetz lässt die Verfahrensrechte „in der Reihenfolge der Erbberechti-
23
Und zwar nicht zwingend an den Folgen der Straftat; Abs. 1 erfasst auch den Fall des Versterbens ohne inneren Zusammenhang mit der Straftat (MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, BSK StPO, N 7 zu Art. 121).
24 OGer Uri, 30.04.2012, OG Bl 12 1; OGer Zürich, 10.05.2012, UH110244-O/U/gk; RIEDO/FIOLKA/NIGGLI,
N 896; SCHMID, Handbuch, N 700; DERS., Praxiskommentar, N 2 zu Art. 121; für Übergang nur bez. des
Zivilpunktes (vorbehältlich der indirekten Opfer) MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, BSK StPO, N 21 zu Art. 121, weil
die Universalsukzession kraft Erbschaft einen Fall des Abs. 2 darstellen soll; Zweifel bez. des Strafpunktes auch bei LIEBER, ZH-Komm., N 3 zu Art. 121.
25 BGer, 27.08.2012, 1B_298/2012, E. 2.4.1.
10
gung“ übergehen (Art. 121 Abs. 1 StPO). Diese Regelung ist wenig durchdacht und
schafft verschiedene Friktionen:
 Die Strafantragsberechtigung beim Tod des Verletzten richtet sich nach Art. 30
Abs. 4 StGB. Sofern er keinen Strafantrag gestellt und darauf nicht ausdrücklich
verzichtet hat, steht das Antragsrecht jedem Angehörigen (i.S.v. Art. 110 Abs. 1
StGB) zu, und zwar jedem einzelnen26. Wer einen Strafantrag stellt, wird indessen gemäss Art. 118 Abs. 2 StPO Privatkläger, zumindest im Strafpunkt27. Das
hat zur Folge, dass bei Antragsdelikten die enge Regelung von Art. 121 Abs. 1
StPO durch Art. 30 Abs. 4 StGB unterlaufen wird und sich jeder Angehörige einzeln zum Privatkläger machen kann.
 Die „Reihenfolge der Erbberechtigung“, entlang deren Art. 121 Abs. 1 StPO den
Übergang der Verfahrensrechte regeln will, gibt es so nicht. Näher: Die Einschränkung auf die Angehörigen sorgt zunächst für den Ausschluss von eingesetzten Erben, soweit sie nicht zugleich Angehörige sind. Gemeint ist mit der
Reihenfolge der Erbberechtigung somit wohl die gesetzliche Erbfolge (Art. 457 ff.
ZGB). Das Gesetz bezeichnet die Nachkommen als die nächsten Erben eines
Erblassers (Art. 457 Abs. 1 ZGB). Ein überlebender Ehegatte (Art. 462 ZGB) ist
von Gesetzes wegen neben diesen Erbe, so dass auch er zum Kreis der Rechtsnachfolger zu zählen ist. Man wird sich also zu fragen haben, welches im konkreten Fall die gesetzlichen Erben des Verstorbenen wären (oder sind), die zum Zuge kämen (oder kommen). Ihnen steht zu, die Verfahrensrechte des Verstorbenen im Strafverfahren auszuüben. Die Mittel und Wege, wie das zu geschehen
hat, sind wenig klar. Vermögen sie, als (potentielle) Erbengemeinschaft, die
Strafklage nach Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO (unter Vorbehalt der Antragsdelikte, s.
oben) nur gemeinsam zu erheben? Was geschieht bei Uneinigkeit? Noch schwieriger wird die Sachlage mit Blick auf den Zivilpunkt: Bis zur Teilung der Erbschaft
bilden die Erben eine Gemeinschaft zu gesamter Hand (Art. 602 ZGB). Setzt sich
die Erbengemeinschaft aber aus Angehörigen und anderen (gesetzlichen oder
26
Vgl. nur RIEDO, BSK StGB, N 57 zu Art. 30.
JEANDIN/MATZ, CR, N 14 zu Art. 118; KIENER, in Goldschmid/Maurer/Sollberger, 97; LIEBER, ZH-Komm.,
N 5 zu Art. 118; RIKLIN, N 4 zu Art. 121.
27
11
eingesetzten) Erben zusammen, so hindert die Regelung von Art. 121 Abs. 1
StPO die Geltendmachung der Ansprüche, weil sie diese nicht zulässt und deshalb die notwendige Streitgenossenschaft nicht als solche auftreten darf. Umgekehrt vermag eine Erbengemeinschaft aus nicht-angehörigen Erben ihre Ansprüche nicht adhäsionsweise im Strafprozess zu verfolgen28. Abhilfe scheint schwierig und ist jedenfalls nur gegen den Wortlaut zu haben: Die Streitgenossenschaft
als solche zuzulassen, unabhängig vom Angehörigenkriterium, und zwar in beiden Fallgruppen29.
III
Strafprozessuale Parteirechte der Privatklägerschaft: Rechtliches Gehör
1
Gleichstellung
Das Gesetz behandelt den Privatkläger, genauso wie die beschuldigte Person, als Partei des Strafverfahrens (Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO). Daran ist der Versuch zu begrüssen, den Privatkläger in die strafrechtliche Aufarbeitung dessen einzubeziehen, was ihm
widerfahren ist, sofern er dies will. Den Hauptbetroffenen bei der rechtlichen Bearbeitung eines Konflikts gegen seinen Willen aussen vorzulassen, lässt sich jedenfalls kaum
als erfolgversprechende Strategie der Konfliktbewältigung begreifen. Wer an einem
Streit beteiligt war, soll auch an dessen Bewältigung beteiligt werden. Aus der Parteistellung des Privatklägers wird aber mehr abgeleitet. Sie soll dazu führen, dass er „auf Augenhöhe“ mit der beschuldigten Person (und der Staatsanwaltschaft) stehe30. Formal ist
das richtig: Der Privatkläger verfügt über sämtliche Rechte, die mit der Parteistellung
verbunden sind. In der Sache aber geht es nicht um die Parteistellung, sondern um seine Parteistellung, diejenige des Privatklägers. Seine Parteirechte sind auf einen ganz
anders gelagerten Gegenstand gerichtet als diejenigen des Beschuldigten, und dieser
andere Gegenstand ergibt sich aus den unterschiedlichen Folgen dessen, was je für die
Parteien auf dem Spiel steht: Ein Eingriff in die Freiheit oder in Eigentum/Vermögen mit
allen seinen Folgen hier, die Leugnung der Verletztenposition, ebenfalls mit all ihren
Folgen dort. Der Parteibegriff ist also ein formaler, eine Art „Hülle“, ein Sammelbegriff für
28
Mit Recht kritisch MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, BSK StPO, N 12 zu Art. 121.
MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, a.a.O.
30 CHRISTEN, 474, 476.
29
12
diejenigen Parteirechte, die dem Privatkläger zustehen. Aber die sind nicht deckungsgleich mit denjenigen des Beschuldigten. Denn dem Privatkläger droht nicht ein Entzug
von Freiheit oder Vermögen. Es droht ihm, keine Gewissheit zu haben, dass der Beschuldigte bestraft oder zumindest verurteilt worden ist. Es droht ihm weiter, bei einem
allfälligen Freispruch, nicht als Verletzter anerkannt, homologiert zu werden. Es droht
ihm, auf seinem durch die Tat erlittenen Schaden sitzen zu bleiben. Das sind durchaus
unterschiedliche Folgen im Vergleich zu denjenigen, die dem Beschuldigten in Aussicht
stehen.
Die unterschiedliche Betroffenheit vom Ausgang des Strafverfahrens lässt sich auch an
der Begrifflichkeit in unserer StPO zeigen: Der Beschuldigte wird nach Verfahrensbeendigung zum Verurteilten oder zum Freigesprochenen. Das zeigt eine Statusänderung
an; der Inhalt des Urteils entscheidet über sein Schicksal. Bezeichnenderweise hält das
Prozessrecht für den Privatkläger nach beendetem Verfahren keine Bezeichnung bereit,
egal, ob er mit seinen Anträgen durchgedrungen ist oder nicht. Er wird auch nicht zum
„Privatgeklagthabenden“. Er war in dem Verfahren einfach Privatkläger, mehr nicht.
Trotzdem behandelt das Gesetz beide gleichermassen als Partei. Ob das sachgerecht
ist oder nicht, darum geht es hier nicht. Aber diese Unterschiedlichkeit der Ausgangslagen tritt nicht allein im Ausgangspunkt hervor; sie wirkt bis in Einzelfragen der Informations- und Teilnahmerechte des Geschädigten hinein; wir werden das noch sehen. Vorderhand sollen uns die Konsequenzen nicht so sehr der Gleichstellung als solchen interessieren, sondern der Parteistellung des Privatklägers. Ich will hier nur die strafprozessualen behandeln, um die zivilprozessualen wird sich Yvan Jeanneret kümmern.
Ausfluss der Parteistellung des Privatklägers ist zunächst einmal der Anspruch auf
rechtl. Gehör (Art. 107 StPO), das die Strafbehörden allen Verfahrensbeteiligten zu gewähren haben, Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO:
Sie beachten namentlich:
c. das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen
rechtliches Gehör zu gewähren;
13
Der Anspruch auf rechtliches Gehör, als Teil des Anspruchs auf ein faires Verfahren31,
wird in verschiedenen weiteren Bestimmungen konkretisiert. Er hat nach der bger. Praxis zwei Gesichter und soll einerseits der Sachaufklärung dienen und andererseits ein
persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht darstellen, soweit ein Entscheid in die
Rechtsstellung des Einzelnen eingreift32. Während jene Voraussetzung sich zwanglos
auch auf den Geschädigten münzen lässt, ist diese für ihn schwieriger zu begründen:
Inwiefern greift ein Strafurteil, jenseits der Zivilansprüche, in die Rechtsstellung des Geschädigten ein? Hier begegnet uns ein erstesmal die Unterschiedlichkeit der Ausgangslagen. Rechtliches Gehör ist aber jedenfalls auch der Privatklägerschaft einzuräumen,
weil das Einbringen der Sicht aller Betroffenen die Chance erhöht, dass sich der Entscheid auf eine vollständige Sachverhaltsgrundlage stützen kann und er dadurch (wahrscheinlich) an Richtigkeit gewinnt. Zum andern ist es, auch insofern auf die Privatklägerschaft passend, Ausdruck der Achtung der vom Verfahren33 betroffenen Person,
dass diese angehört wird; denn auch sie soll Subjekt des Verfahrens bleiben und nicht
zum objekthaften Gegenstand des Verfahrens degradiert werden.
Die einzelnen Aspekte des rechtlichen Gehörs regelt Art. 107 StPO:
1
Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör; sie haben namentlich das
Recht:
a. Akten einzusehen;
b. an Verfahrenshandlungen teilzunehmen;
c. einen Rechtsbeistand beizuziehen;
d. sich zur Sache und zum Verfahren zu äussern;
e. Beweisanträge zu stellen.
2
Die Strafbehörden machen rechtsunkundige Parteien auf ihre Rechte aufmerksam.
Diese Teilgehalte aus Art. 107 StPO sind an anderer Stelle in der Strafprozessordnung
je für sich näher geregelt. Sie werden hier in die beiden Bereiche der Informationsrechte
und der Rechte auf Verfahrensteilhabe (Mitwirkungsrechte) gegliedert.
31
32
BGE 136 V 117, 125 E. 4.2.2; 129 I 85, 88 E. 4.1.
Vgl. nur BGE 127 I 54, 56 E. 2b; 124 I 241, 242 E. 2; 118 Ia 17, 19 E. 1c.
14
2.
Information …
Die Informationsrechte der Privatklägerschaft lassen sich in zwei Gruppen aufteilen, die
unterschiedlichen Regeln folgen: Einerseits die Information über einzelne Verfahrensrechte, andererseits die Informationen über den konkreten Verfahrensinhalt.
a)
…über die Verfahrensrechte (Art. 143 StPO)
Das Gesetz regelt die Information der Privatkläger nicht spezifisch: Anwendbar ist die
allgemeine Bestimmung über die Einvernahme (Art. 143 StPO): Erhebung der Personalien, Information über den Gegenstand des Strafverfahrens und die Eigenschaft, in welcher sie einvernommen wird, sowie Belehrung über ihre Rechte und Pflichten. Es fehlt
aber ein Abschnitt zur Einvernahme spezifisch der Privatklägerschaft, wie er für den Beschuldigten gilt (Art. 157-161 StPO). Stattdessen folgt die Einvernahme der Rolle, in der
die Privatklägerschaft einvernommen wird, und das ist diejenige der Auskunftsperson
(Art. 178 lit. a StPO). Von dort gelangt man über den Verweis in Art. 180 Abs. 2 StPO zu
den Bestimmungen über die Zeugen, die, mit einer Ausnahme (Art. 176 StPO), sinngemäss anwendbar sind (Art. 168-177 StPO).
Der Gegenstand der Information ergibt sich ebenfalls aus Art. 143 StPO: Zu informieren
ist über den Gegenstand des Strafverfahrens und die Rolle der einvernommenen Person (Abs. 1 lit. b). Was den Gegenstand betrifft, so wird sich der Privatkläger häufig selber ein Bild dessen machen können, worum es geht. Dennoch ist die Information für ihn
nicht ohne Belang, weil sie ihm Hinweise auf den Wissensstand der Strafverfolgungsbehörden geben kann und zudem – hier trifft sie sich mit der Information über die Verfahrensrolle – in die Lage versetzt, von einem allfälligen Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Die Unsicherheiten, wie weit die beschuldigte Person zu informieren
ist34, sind beim Privatkläger nicht geringer, aber weniger folgenreich: Zwar gilt auch hier
das Täuschungsverbot (Art. 3 Abs. 2 lit. a, Art. 140 Abs. 1 StPO), aber es geht für ihn
nicht um die Verteidigung gegen einen Straftatvorwurf, abermals Ausdruck unterschiedlicher Ausgangslagen. Die Verfahrensrolle hingegen, in welcher der Privatkläger einver-
33
Wie sehr der Privatkläger vom Entscheid betroffen ist, hängt wiederum davon ab, wie man sein Teilnahmerecht begründet, vgl. oben.
34 Näher BOMMER, Parteirechte, 199 f.
15
nommen wird, muss offen gelegt, über sie darf er nicht im Ungewissen belassen werden. Das dürfte hier deshalb geringere Bedeutung haben, weil er seine Stellung ja selber gewählt hat.
Bedeutsamer erscheint die Information über die Rechte und Pflichten (Abs. 1 lit. c), die
sich aus der Stellung im Verfahren ergeben. Deren Umfang leitet sich in der Untersuchung zunächst aus den Bestimmungen über die Auskunftsperson ab (Art. 178 lit. a
StPO). Daraus ergibt sich auch der Umfang der Belehrungspflichten. Wenn man das –
etwas salopp – auf eine Kurzformel bringen will: Es ist der Privatklägerschaft klar zu
machen, dass just sie die einzige aller denkbaren Auskunftspersonen sei, die zur Aussage verpflichtet ist (Art. 181 Abs. 2 StPO). Aber man kann sie gleich wieder beruhigen:
Eine Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage trifft sie nach allgemeiner Auffassung
nicht35. Doch ist auch das wieder nicht die ganze Wahrheit: Falsch anschuldigen, die
Rechtspflege irreführen oder jemanden begünstigen darf sie dann doch nicht (Art. 181
Abs. 2 StPO). Immerhin aber bleibt ihr eine Bestrafung wegen falschen Zeugnisses erspart, wenn sie falsch aussagen sollte, und dies, obwohl nach Art. 181 Abs. 2 StPO die
Bestimmungen über die Zeugenpflichten auf sie „sinngemäss“ anwendbar sind, allerdings ohne die bösen Folgen von Art. 176 StPO bei unberechtigter Zeugnisverweigerung.
Sinngemässe Anwendung der Bestimmungen über die Zeugenpflichten heisst aber
auch: Die privatklägerische Auskunftsperson ist auf mögliche Aussageverweigerungsrechte36 hinzuweisen; praktisch dürften diejenigen aufgrund persönlicher Beziehungen
(Art. 168 StPO) oder zum Eigen- oder Fremdschutz (Art. 169 StPO) im Vordergrund
stehen. Sie sehen, die Figur der Privatklägerschaft hat im Gesetz eine etwas eigenwillige Regelung erfahren: Im Verfahren Partei, Befragung als Auskunftsperson und im Übrigen die Bestimmungen über die Zeugen anwendbar. Wenn ich das mit einem Begriff
aus der Tierwelt vergleichen müsste, kommt mir einer in den Sinn: Chamäleon.
35
Botschaft, 1211; DONATSCH, ZK, 25 zu Art. 180; HÄRING, BSK, N 21 zu Art. 143; ILL, in Goldschmid/Maurer/Sollberger, 172 f.; KERNER, BSK, N 6 zu Art. 180; SCHMID, Praxiskommentar, N 7 zu Art.
181.
36 Der Begriff „Zeugnisverweigerungsrecht“ passt auf die Auskunftsperson nicht, weil sie vom Gesetz nicht
als Zeuge behandelt wird (obwohl sie in der Sache Zeugenqualität haben kann).
16
Rechtsfolgen fehlender oder fehlerhafter Information über die Verfahrensrechte und –
pflichten sieht Art. 143 StPO nicht vor. Abhilfe schafft zunächst wiederum die Bestimmung über die privatklägerische Auskunftsperson (Art. 180 Abs. 2 StPO): Unterbleibt
der Hinweis auf ein Aussageverweigerungsrecht, auf das sich der Privatkläger hätte berufen wollen, so ist seine Aussage nicht verwertbar (Art. 177 Abs. 3 StPO). Weitere explizite Rechtsfolgen statuiert die StPO nicht, so dass die allgemeine Bestimmung von
Art. 141 StPO über die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise zum Zug kommt.
Ihre Interpretationsbedürftigkeit zeigt sich gerade an dem Fall, dass es am Hinweis auf
die strafrechtlichen Folgen der Rechtspflegedelikte (Art. 303-305 StGB) nach Art. 181
Abs. 2 StPO fehlt. Sieht man darin die Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift37, so scheitert die Verwertbarkeit der Aussage, ausser sie sei „zur Aufklärung schwerer Straftaten
unerlässlich“ (Art. 141 Abs. 2 StPO). Wer hingegen den Hinweis nur als Ordnungsvorschrift wertet, weil er (auch) beim Beschuldigten und beim Zeugen entbehrlich ist38, sieht
sich an der Verwertung nicht gehindert.
b)
… über den Verfahrensgegenstand
Die Akteneinsicht des Privatklägers richtet sich nach denselben Bestimmungen wie diejenige des Beschuldigten: Umfang und zeitliche Einschränkung nach Art. 101 StPO,
sachliche und persönliche Einschränkung nach Art. 108 StPO. Die jüngste bger. Praxis
gibt Anlass, darauf hinzuweisen, dass Akten des Haftprüfungsverfahrens ebenso wie
diejenigen des Strafverfahrens, innerhalb dessen es stattfindet, vom Recht auf Akteneinsicht umfasst sind39. Was seinen Zeitpunkt betrifft, so setzt Art. 101 Abs. 1 StPO ihn
zu der ersten Einvernahme der beschuldigten Person in Beziehung: Spätestens nach ihr
und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise sind die Akten zur Einsicht zu öffnen. Abstrakt lässt sich dieser Zeitpunkt kaum genauer bestimmen, und obwohl die
Norm es nicht so sagt, dürfte sie im Ergebnis nicht weit weg sein von der als schwammig diskreditierten40 alten Formel der Gefährdung des Untersuchungszwecks41.
37
So HÄRING, BSK, N 25 zu Art. 143; SCHMID, Praxiskommentar, N 8 zu Art. 181.
So DONATSCH, ZK, N 22 zu Art. 181; KERNER, BSK, N 4 zu Art. 181.
39 BGE 138 IV 78.
40 Begleitbericht, 79; ähnlich Botschaft, 1161.
41 DROESE, 96; SCHMUTZ, BSK, N 16 zu Art. 101.
38
17
2.
Verfahrensteilhabe: Teilnahmerecht und Folgen zu Unrecht unterbliebener Teilnahme
Art. 147 Abs. 1 StPO verleiht dem Privatkläger gleichermassen wie dem Beschuldigten
das Recht, bei Beweiserhebungen (durch Staatsanwaltschaft und Gericht) anwesend zu
sein. Der Umfang an Parteirechten, der ihnen zusteht, ist bei beiden der gleiche. So
kann der Privatkläger an der Einvernahme der beschuldigten Person oder eines Zeugen
ohne weiteres teilnehmen42. Die Grundsätze für die Einschränkung der Verfahrensteilhabe und für die Verschiebung und die Wiederholung der Einvernahme sind ebenfalls
die gleichen wie beim Beschuldigten.
Wenn der Privatklägerschaft die Teilnahme „in Verletzung“ von Art. 147 verweigert wird,
darf der Beweis nicht zu ihren Lasten verwertet werden. Was das nun für die Privatklägerschaft heissen soll, ist zunächst einmal schleierhaft: Der Grundgedanke des Konfrontationsrechts ist ja der, dass eine belastende Aussage deshalb auf Herz und Nieren geprüft werden soll, weil sie mutmasslich zu der Verurteilung beiträgt. Aber das betrifft immer nur die beschuldigte Person, nie die Privatklägerschaft. Ihr „droht“ höchstens, dass
eine nicht-konfrontierte Aussage sich insofern „zu ihren Lasten“ auswirkt, als sie den
Beschuldigten entlasten mag. Selber kann sie rechtlich nicht belastet werden. Hier zeigt
sich erneut, dass die gleichmässige Verteilung des Teilnahmerechts nur vordergründig
gleiche Rechte verbürgt, ja dass sie in der Sache gar nicht gleiche Parteirechte verbürgen soll und kann, weil sie auf unterschiedliche Ziele gerichtet sind und sein müssen.
Die Frage führt uns auf den Grund zurück, weshalb sich ein Privatkläger am Verfahren
beteiligen kann, konkret: Woran, mit Blick auf den strafrechtlichen43 Verfahrensausgang,
er ein rechtlich schützenswertes und vom Gesetz geschütztes Interesse hat (was nicht
42
Selbst wenn dies, wie auch beim Beschuldigten, nicht explizit aus den Bestimmungen über den Privatkläger hervorgeht. Aber: Nach Art. 127 Abs. 1 kann u.a. „die Privatklägerschaft“ zur Wahrung ihrer Interessen einen Rechtsbeistand bestellen. Interessenwahrung ist für die Privatklägerschaft u.a. gerade in der
Situation der Einvernahme der beschuldigten Person aktuell. Deshalb wäre es sinnwidrig, den Rechtsbeistand von der Teilnahme auszuschliessen. Zudem: Das gleiche Ergebnis folgt aus der Bestimmung, die
schon bei der beschuldigten Person als Zusatzbegründung herangezogen wurde: Wenn der Rechtsbeistand (oder die Partei ohne solchen), auch derjenige der Privatklägerschaft, aus zwingenden Gründen an
der Teilnahme verhindert war, besteht ein Anspruch auf Wiederholung.
43 Bezüglich der zivilprozessualen Seite ist offensichtlich, dass der Privatkläger ein rechtlich geschütztes
Interesse am Ersatz des Schadens aus der Straftat hat.
18
dasselbe ist). Letztlich gründet die Mitwirkung des Privatklägers in einem Anliegen des
(verfassungsrechtlichen) Persönlichkeitsschutzes44: Dass er, weil in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt (Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 28 ZGB), ein daraus rührendes Interesse hat, diese strafrechtlich bedeutsame Verletzung in dem Verfahren festgestellt zu
bekommen, in dem sie beurteilt wird. Dieser Feststellung entspricht auf Beschuldigtenseite die Verwirklichung strafrechtlichen Unrechts, und auf eben dessen Feststellung ist
dem Privatkläger ein schützenswertes Interesse zuzubilligen. Eine solche strafprozessuale Feststellung verschafft ihm die Gewissheit, dass ihm von Seiten des Beschuldigten Unrecht geschehen ist. Ob jemand Wert auf eine solche Feststellung legt, darüber brauchen wir nicht zu richten, aber wenn er es tut, dann ebnet ihm die Rolle der
Privatklägerschaft den Weg dazu. Ein solches Interesse billigen wir dem Verletzten ja
auch im Zivilprozess zu, wenn es darum geht, die Widerrechtlichkeit einer Verletzung
festzustellen, wenn sich diese weiterhin störend auswirkt (Art. 28a Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).
Eine andere Legitimation, den Verletzten als Privatkläger im Strafpunkt in der Stellung
einer Partei am Strafverfahren mitwirken zu lassen, sehe ich nicht.
Was bedeutet das nun für die Frage, ob es sich bei der Verwertung eines in Abwesenheit der Privatklägerschaft erhobenen Beweises um eine Verwertung zu ihren Lasten
geht? Kurz gesagt: Wenn die Verwertung eine Verringerung des Unrechts, sei es in
dessen Umfang oder in dessen Schwere, zur Folge hat, dann erfolgt sie zu Lasten des
Privatklägers. Es ist ein hypothetischer Vergleich anzustellen zwischen dem Verfahrensausgang mit und ohne Verwertung der fraglichen Einvernahme. Wenn sich daraus eine
Unrechtsdifferenz ergibt oder ergäbe, dann ist die Verwertung gesperrt. Für die Praxis
empfiehlt sich die Orientierung am Recht, die Berufung zu ergreifen (Art. 382 StPO):
Wenn der Privatkläger bei dem Ergebnis, das aufgrund der Verwertung des fraglichen
Beweises resultiert, dazu befugt wäre, dann darf die Verwertung nicht stattfinden. Am
Beispiel: Wenn eine Einvernahme der beschuldigten Person, an welcher der Privatkläger zu Unrecht nicht teilnehmen konnte (simples Bsp: Einladung ging vergessen), dazu
führt, dass der Vorwurf einer qualifizierten Körperverletzung zu einer einfachen heruntergestuft wird, dann wäre er dagegen berufungsberechtigt, und dann dürfte diese Ein-
W EIGEND, „Die Strafe für das Opfer“? – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und
Strafverfahrensrecht, Rechtswissenschaft 2010, 39 ff., 50 ff.
44
19
vernahme nicht verwertet werden. So weit so gut, wird man sagen können, aber: Wie
weiter? Was bedeutet nun diese Nicht-Verwertbarkeit, va für die beschuldigte Person?
Wenn sich die Einvernahme wiederholen lässt, in Anwesenheit des Privatklägers, ist
das Problem erledigt, abgesehen vom Aufwand. Aber angenommen, sie lässt sich aus
irgendeinem Grund nicht wiederholen? Hier nun, ich will das nicht verhehlen, bin ich am
Ende meines Begründungslateins, nur das Ergebnis scheint mir unzweifelhaft: Es kann
nicht sein, dass der Gehalt einer Einvernahme, die den Beschuldigten entlasten würde,
deswegen nicht in die sachverhaltliche Grundlage eines Urteils einfliessen darf, weil der
Privatkläger zu Unrecht nicht an dieser Einvernahme teilnehmen konnte. Wie man das
hinkriegt, scheint mir zweitrangig, indem man versucht, dem Anspruch auf rechtliches
Gehör anderweitig Rechnung zu tragen oder aber den Gehalt der Einvernahme sonstwie in den Gegenstand des Urteils einbezieht. Aber es scheint mir jedenfalls ausgeschlossen, den Beschuldigten dafür „büssen“ zu lassen, dass der Privatkläger zu Unrecht nicht anwesend sein konnte.
3.
Rechtsmittel
a)
Bestreitung der Privatklägereigenschaft in der Hauptverhandlung
In der Hauptverhandlung kann als Vorfrage (Art. 339 Abs. 2 StPO) zur Sprache kommen, ob der Privatkläger zu Recht als Privatkläger behandelt worden ist, oder ob es ihm
an einer notwendigen Eigenschaft fehlt, z.B. an der Geschädigtenstellung. Falls ihm das
Gericht die Stellung als Privatkläger abspricht, weist es ihn aus dem Verfahren. Das
BGer hatte sich in BGE 138 IV 193 mit dieser Frage zu befassen45. Die Regeste hält
dazu fest: „Der anlässlich der Hauptverhandlung vorfrageweise ergangene Entscheid,
die Stellung als Privatkläger zu verneinen, kann sofort mit Beschwerde angefochten
werden“. Das scheint mir in der Tat die einzig sinnvolle Lösung46, um diese Lücke, gestützt auf Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO, zu füllen. Sie kann sich überdies an der Behand-
45
Dabei soll es sich bei dem Entscheid, den Privatkläger aus dem Verfahren zu weisen (bzw. dem darauf
folgenden obergerichtlichen Nichteintretensentscheid auf die dagegen erhobene Beschwerde) um einen
Teilentscheid i.S.v. Art. 91 lit. b BGG handeln (nicht publ. E. 1 von BGE 138 IV 193, abgedruckt in Pra
102 [2013] Nr. 9); Fortsetzung des Falles in BGer, 21.12.2012, 6B_591/2012, zur Publikation bestimmt.
46 So auch MAURER, in: GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER, Komm. Textausgabe, 393 (ihm folgend KELLER, ZH-Komm., N 19 zu Art. 393). Diese Lösung bei Ausschluss der Privatklägerschaft durch Vor- oder
20
lung des Streites über ein Zeugnisverweigerungsrecht orientieren: Wenn das Gericht ein
Zeugnisverweigerungsrecht verneint, kann der Zeuge „sofort nach der Eröffnung des
Entscheides die Beurteilung durch die Beschwerdeinstanz verlangen“ (Art. 174 Abs. 2
StPO). Unklar ist nur noch, was es bedeutet, dass die Beschwerde „sofort“ zu ergreifen
sei. Stellt man wiederum die Parallele zu Art. 174 Abs. 2 StPO her, wird das bedeuten,
dass unmittelbar im Anschluss an den Ausschlussentscheid bekannt zu geben ist, dass
er mit Beschwerde bei der oberen Instanz angefochten werden soll. In der Folge ist das
Verfahren nicht zu sistieren, weil kein Sistierungsgrund nach Art. 329 Abs. 2 StPO vorliegt. Es ist höchstens zu vertagen bis zum Entscheid der Beschwerdeinstanz, oder
aber, wiederum in Analogie zu Art. 174 Abs. 3 StPO, die Privatklägerschaft behält bis zu
diesem Zeitpunkt ihre Eigenschaft.
b)
Einspracherecht bei Strafbefehlen
Der Entwurf zur StPO sah in Art. 358 Abs. 1 lit. b noch vor, dass die Privatklägerschaft
gegen einen Strafbefehl Einsprache erheben kann. Die Räte haben diesen Vorschlag
bekanntlich nicht übernommen, u.a. mit der Begründung, im Strafbefehlsverfahren ergehe nie ein Freispruch, und es werde auch nicht über Zivilforderungen entschieden
(sondern deren allfällige Anerkennung nur vorgemerkt)47. Nun hat das BGer eine Differenzierung vorgenommen48: Wenn die Privatklägerschaft mit ihrer Strafklage obsiegt,
d.h. wenn die beschuldigte Person verurteilt wird, hat sie Anspruch auf eine angemessene Entschädigung für die Auslagen ihrer Verbeiständung (Art. 353 Abs. 1 lit. g, Art.
416, 433 Abs. 1 lit. a StPO). Darüber muss im Strafbefehl entschieden werden, und dagegen ist die Privatklägerschaft einspracheberechtigt als „weitere Betroffene“ i.S.v. Art.
354 Abs. 1 lit. b StPO. Das Berner Obergericht ist zu Recht noch einen Schritt weiter
gegangen und hat ein Einspracherecht unter der Voraussetzung bejaht, dass die Privatklägerschaft daran ein „rechtlich geschütztes Interesse“ hat49. Genau darum geht es:
Zwischenentscheid war auch in Art. 291 Abs. 1 BE-StrV vorgesehen, wobei die Appellation (nicht der
Rekurs) zu ergreifen war.
47 Der zuständige Bundesrat selber (!) hatte sich in diesem Punkt gegen den bundesrätlichen Entwurf
ausgesprochen, Votum BR Blocher, AB SR 2006, 1050; AB NR 2007, 1024. Beide Argumente treffen den
Kern der Sache nicht, näher THOMMEN, 103.
48 BGE 6B_310/2012 vom 11.12.2012, zur Publ. bestimmt.
49 OGer Bern, Beschluss vom 15.08.2012, BK 2012 150.
21
Um die Frage, ob das Gesetz selber der Privatklägerschaft, indem es sie als Partei anerkennt, ein rechtlich geschütztes Interesse zubilligt, einen Entscheid überprüfen zu lassen. Das entspricht im Ausmass der Rechtsmittellegitimation der Privatklägerschaft (Art.
382 Abs. 1 StPO)50. Wenn also im Strafbefehl auf eine einfache anstatt, nach Auffassung des Privatklägers, auf eine qualifizierte einfache Körperverletzung (Art. 123 StGB)
erkannt wird, dann muss er diesen Strafbefehl anfechten können. Das hat zur Konsequenz, dass er ihm stets zu eröffnen ist; über die Legitimation zur Einsprache ist zu entscheiden, wenn sie erfolgt ist51.
IV
Bilanz
Unser Schnelldurchlauf durch die Rechte des Privatklägers geht dem Ende entgegen.
Wichtiger als die Einzelheiten war es mir, die Grundwertungen des Gesetzes aufzuzeigen, innerhalb deren sich der Privatkläger bewegt. Zwei Punkte verdienen deshalb abschliessende Erwähnung: Es ist zu begrüssen, den Privatkläger an dem Verfahren zu
beteiligen, das sich um die Aufarbeitung desjenigen Sachverhaltes kümmert, an dem er
auch im realen Leben beteiligt war. Die ausschliessliche Konzentration des Strafprozesses auf die beschuldigte Person, wo sie noch vorhanden war, ist mit Recht aufgegeben
worden. Das ändert aber nichts daran – zweiter Punkt – dass bei der Konkretisierung
der Parteirechte der Privatklägerschaft stets der Verschiedenheit der Positionen Rechnung zu tragen ist. Es macht einen Unterschied, ob eine Strafe droht oder eine Nichtanerkennung der Verletztenposition. Wenn man das im Auge behält, sollte es möglich
sein, die Rechte der Privatklägerschaft vernünftig und mit Augenmass umzusetzen. Diffizile Rechtsfragen werden auch so nicht auf sich warten lassen.
50
51
So mit Recht SCHMID, Praxiskommentar, N 6 zu Art. 354; THOMMEN, 102 ff.
OGer Bern, Beschluss vom 15.08.2012, BK 2012 150, E. 3.
22
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