Vortrag über Demenz von Rupert Aschauer

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„Ich habe mich verloren“
Seelsorge mit Menschen mit „Demenz“
Vortrag bei der Diakonentagung im BH Schloss Puchberg 18.10.2014
Ich habe hier vorne symbolisch den brennenden Dornbusch aufgestellt und ich zünde rote
Kerzen für die Verstorbenen und weiße für die Lebenden an, denn „Demente“ leben die
Gemeinschaft der Lebenden und der Toten; wie eine 102 Jährige im AH Mauthausen eines
Morgens zur Schwester sagt: „Sie brauchen mir kein Frühstück mehr bringen, ich bin nämlich
schon tot“! Am brennenden Dornbusch offenbart sich JAHWE als Gott der Väter, der auch
die Not dieser Generation kennt; er offenbart sich somit als Gott der Lebenden und der
Toten und er beauftragt Mose in seinem Namen befreiend zu wirken.
Mein Name ist Rupert Aschauer, „Mädchenname“ Katzlinger. Geboren und aufgewachsen
bin ich in einem kleinen Dorf an der Aist, Gemeinde Mauthausen. Hier erlebte ich die
ungezwungenen Begegnungen aller Generationen; besonders die alten Menschen
faszinierten mich: der „Dangl Feda“, die „Fragner Moam“ und unser „Hoser Opa“. Er war
dement! So wollte er, mitten im Winter, Getreide mähen gehen. Die Nachbarn haben ihn
aufmerksam gemacht, dass heute nicht der richtige Zeitpunkt zum Mähen ist und haben ihn
nach Hause gebracht. Ein ganzes Dorf hat meine Eltern in der „Demenzbegleitung“
unterstützt.
Vorbemerkungen: Ich darf Sie und Euch zu einem heißen Thema einladen, denn für einige
von uns wird die „Demenz“, statistisch gesehen, Zukunft sein! Die Wortbedeutung von
Demenz = ohne Geist verstellt ganz wesentlich den Zugang zu Menschen, die verwirrt und
vergesslich sind und somit am Abstellgleis unserer Gesellschaft landen und hier ihr Leben
fristen. Sie machen mit ihrer Lebenssituation deutlich, dass der Zugang zum Leben durchaus
ein anderer sein kann, als es uns unser genormter Intellekt erlaubt. Sie leben nicht mehr die
Fassade, sie leben sich selbst; allerdings im Rücklauf. Sie sind Menschen mit eigener Logik
und eigenem Verhalten, aber keinesfalls dumm und schon gar nicht ohne Geist!
Verschiedene Zugänge zum Thema „Demenz“
Den weitest verbreiteten Zugang zum Thema „Demenz“, den medizinischen, hat uns mein
Vorredner, Herr Dr. Dietmar Böhler, sehr deutlich nahe gebracht. Der Großteil aller
Fördergelder fließt in die Forschung und in die Bekämpfung dieser physiologischen
Veränderungen des menschlichen Gehirns. Bei dieser Fixierung auf eine Ursache werden
aber wesentliche andere Zugänge außer Acht gelassen; so der Zugang über die Biologie, über
die Kultur, die Biographie und den sozialen Kontext des Betroffenen. „Demenz“ ist in ihrer
Ursache, ihrer Entstehung und in ihrem Verlauf individuell sehr verschieden! In den letzten
15 Jahren ist sie zu einem Massenphänomen geworden, an dem wir uns nicht mehr so leicht
vorbeischwindeln können. „Demenz“ ist in unserem Verständnis immer noch eine
Wesensveränderung, die nur den Einzelnen betrifft. Die Auswirkungen dieser Überlegung
sind durchaus fatal! Denn „Demenz“ wird immer mehr zu einer sozialen Angelegenheit, die
die Gesellschaft im Allgemeinen und die Kirche im Besonderen in die Pflicht nimmt und zum
Handeln auffordert. Wie kann dieses Handeln aussehen?
Spontanreaktionen von Männern sind eher die: „Was können wir da tun?“ Frauen reagieren
in der Regel etwas intuitiver, wenn sie fragen: „Wie kann man Menschen mit „Demenz“
verstehen und was brauchen sie?“ Beide Fragen sind für die Praxis relevant, aber in der
richtigen Reihenfolge.
Sichtweisen der „Demenz“: Bei der „Demenz“ haben wir es – so Reimer Gronemeyer – nicht
primär mit einem medizinischen Problem zu tun. Denn das Vergessen ist keine Krankheit, sondern
hat seiner Ansicht nach mehrere Ursachen. (in: “Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die
gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen“, Rüdiger Damann, Reimer
Gronemeyer S. 60 – 86)
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Der biologische Faktor: Das Gehirn ist ein unendlich komplexer, lebendiger und sich
im Austausch mit der Umwelt stets neu strukturierender Organismus. Dieser
Organismus befähigt uns mit anderen eine gemeinsame Wirklichkeit zu
„konstruieren“. D. h. die Außenwelt durch innere Symbolisierung abzubilden und uns
mit anderen kommunikativ über sie zu verständigen. In der Einschränkung oder gar
dem Verlust dieser Symbolisierungsfähigkeit liegt der klinische Kern der Alzheimer
„Demenz“. Vergangene und gegenwärtige Vorgänge in der Welt können nicht mehr
angemessen bearbeitet werden.
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Der kulturelle Faktor: Jedes Zeitalter – so der Kulturhistoriker Egon Fridell – bildet
seine typischen Krankheiten aus. Sie sind ebenso Erzeugnisse wie seine Kunst, seine
Politik, seine Wirtschaft usw. So wären also Krebs, Aids und Alzheimer die
pathologischen „Erfindungen“ unserer Kultur in dieser Zeit; durchaus beunruhigend!
In der modernen Welt mit ihrer Beschleunigung, ständigen Veränderung und Verlust
von Heimat werden die Kompetenzen und Kenntnisse der Alten zwangsläufig
unbrauchbar; dadurch beginnt sich eine allgemeine Erinnerungs- und
Geschichtslosigkeit auszubreiten. Mit jeder Datenmenge potenziert sich eine neue
Leere. Die Informationsgesellschaft entzieht dem Erinnern den Boden. Das sich
unaufhörlich anhäufende Neue, verschüttet alles Alte. Das Alte wird musealisiert.
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„Die größte Kraft im Leben des postmodernen Menschen ist die Ablenkung“ (Alex
Rühle). Die ständigen Ablenkungen (Mails, Internet - Spiele, Telefon, Google,
scannen, kopieren überfliegen von vielerlei Information) führen zu einem
chronischen Aufmerksamkeitsdefizit. Die Aufmerksamkeitsspanne des modernen,
surfenden Menschen wird immer kürzer. Dies ist inzwischen durch viele medizinischpsychologische Studien bestätigt worden. Es gilt als Syndrom mit dem Terminus
„Digitale Demenz“. Immer Jüngere sind davon betroffen“
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Der soziale Faktor: Ende der 1980 iger Jahre wurde in einem Nonnenkloster (Kath.
Schwestern von Notre Dame) im Bundesstaat Kentucky/USA eine jahrelange Studie
bezüglich „Demenz“ durchgeführt. Schwestern erklärten sich bereit, sich immer
wieder kognitiven Tests zu unterziehen. Nach ihrem Tod waren auch einige
Schwestern bereit, ihr Gehirn obduzieren zu lassen. Die im 105. Lebensjahr
verstorbene Sr. Mathea und die im 85. Lebensjahr verstorbene Sr. Bernadette haben
durchwegs ausgezeichnete kognitive Tests hingelegt. Ihre Gehirne waren allerdings
hochgradig (Stufe 5 und 6) zerstört. Und sie waren nicht die Ausnahmen! Warum, so
die Forscher, war von der „Demenz“ bei den betroffenen Schwestern nichts zu
merken?
Die Individualisierung in unserer Gesellschaft führt nicht nur im Alter zur
Vereinzelung, zum unverbindlichen Nebeneinander von Menschen. Dies sind
eindeutig autistische Züge in unserer Gesellschaft. Bei alten Menschen führt diese
Entwicklung zur Vereinsamung. Ein Vereinsamter, ein Vereinzelter oder Depressiver
wird sich nur mehr eingeschränkt mit der Umwelt austauschen. Dadurch wird eine
sich beschleunigende Abwärtsbewegung immer stärker und wirkt sich schließlich
auch auf die Gehirnaktivität aus (Synapsenverlust). Der soziale Blick auf die „Demenz“
würde unsere Gesellschaft nötigen, andere Antworten auf die „Demenz“ zu finden.
Aber nicht nur die Demenz ist ein großes Problem, sondern auch die Zahl der Suizide
ist in keiner Gruppe so groß wie bei den Alten. Einsamkeit, Krankheit und das
Empfinden, überflüssig zu sein, sind einige dieser Ursachen.
Die alten Menschen sind zwar in den letzten Jahrzehnten zu einer gesellschaftlich
relevanten Gruppe geworden, allerdings ohne positiven Auftrag von und ohne klare
Rolle in der Gesellschaft.
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Der biographische Faktor: Der Einstieg in die Demenz geschieht sehr oft nach einem
schweren Belastungsereignis wie: Partnerverlust durch Tod oder Trennung,
Funktions- oder Bedeutungsverlust durch Wegfall der Berufstätigkeit oder andere
Stresserlebnisse wie z.B. das Bekanntwerden eines lange geheim gehaltenen Makels
(Walter Jens verheimlichte seine NSDAP Mitgliedschaft). 6 – 48 Monate später
können erste klinische Anzeichen auftreten.
Zusammenhang zwischen psychosozialer Aktivität und Hirnleistung: Nach einem
traumatischen Erlebnis folgt meist ein sozialer Rückzug, dadurch deutliche Abnahme
der neuronalen Aktivität. Dies ist in vielen Fällen der Beginn eines irreversiblen
Abbauprozesses (Synapsenverlust und neuronale Schädigung).
Die Kriegsgeneration stellt im Hinblick auf Demenz einen biografischen und
gesellschaftlichen Sonderfall dar: nämlich die stille Übereinkunft des Vergessens.
Auch die Kriegskinder und die in den Jahren nach dem Krieg Geborenen sind von
dieser Übereinkunft betroffen.
Unsere erinnerungsfeindliche Kultur findet nicht nur in der digitalen, sondern auch in der
Altersdemenz ihren zeitgemäßen Ausdruck. Auf die Entwertung ihrer Kenntnisse antworten
die Alten mit Vergesslichkeit. Auf die Erfahrung, dass sie von niemandem mehr gebraucht
werden, reagieren sie, indem sie den Kontakt mit allen abbrechen und asozial werden. Die
Erinnerungslosen, die wir in geschlossenen Anstalten, Pflegeheimen und opferbereiten
Familien einigermaßen unsichtbar versorgt glauben und die wir für ein randständiges
Phänomen, für etwas Abweichendes halten, könnten so etwas wie die heimliche Avantgarde
der Gesellschaft sein – oder bereits ihr Zentrum.
Der Mensch mit „Demenz“, so Reimer Gronemeyer, ist das andere Ich des modernen,
selbstbestimmten Menschen.
Wie begegne ich als Seelsorger „dementen“ Menschen?
Notwendig ist eine entsprechende innere Haltung, dass mein Gegenüber mir etwas zu sagen
hat. Es muss eine Begegnung auf Augenhöhe sein.
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„Demente“ Menschen sind Erwachsene und so ist ihnen auch zu begegnen. Durch
„Warum“ Fragen und durch Fragen nach genauen Lebensdaten soll man sie nicht in
Stress bringen. Auch wenn die intellektuellen Fähigkeiten abnehmen, das Herz wird
nicht „dement“!
Spiegeln: Das Gesagte mit anderen, einfachen Worten dem Gegenüber mitteilen,
damit er gut anknüpfen kann.
Erscheinungen: Nicht lügen, sondern beschreiben lassen und ernst nehmen.
In der Anfangsphase der Demenz sind z.B. folgende Aussagen verletzend: Mit der/mit dem
kann man ja ohnehin nichts mehr anfangen oder diese Geschichte hast du schon fünfmal
erzählt. Gerade der demente und verwirrte Bewohner braucht Zuwendung und
Wertschätzung, Körperkontakt und gemeinsames Lachen tun gut.
Den „Dementen“ in seiner eigenen Welt lassen und diese akzeptieren: z.B.: „Das Essen ist
ungenießbar“ – Was haben sie sich immer selber gekocht? Oder: Essen war und ist ihnen
sehr wichtig. „Heute warte ich schon so lange auf meine Mutter!“ – Ihre Mutter war sicher
eine fleißige und vielbeschäftigte Frau, erzählen sie mir von ihrer Mutter. „Stellen sie sich
vor, mein schönes Frühlingskleid wurde mir gestohlen.“ - Wie hat es ausgesehen? Wer hat es
ihnen geschenkt? Frau T. (weint laut): Ich habe 3 Sparbücher zur Aufbewahrung abgegeben;
jetzt sind sie nicht mehr da. Was soll ich tun?
Nicht ständig mit meiner Realität konfrontieren. Das Widersprechen lässt kein vernünftiges
Gespräch zu
Es gilt zu bedenken, dass Trauer“Arbeit“ eine zunehmende Lebenswirklichkeit alter
Menschen darstellt: Alte Menschen haben so manches zu betrauern: Sie haben vielleicht
einen lieben Menschen oder einen Mitbewohner verloren oder erleben gerade an sich selbst,
dass sie langsam das Gedächtnis verlieren, so manche körperliche Einbuße zu erleiden haben
oder die Familien- bzw. Lebenssituation unbefriedigend ist. Sie sind dadurch oft unruhig,
fordernd, möchten immer und zu jeder Zeit einen Menschen in der Nähe haben. Viele aus
dem Bekanntenkreis der Alten sind ja bereits gestorben.
Wenn der Glaube ins Spiel kommt:
„Werde ich im Himmel meine Katze wieder sehen?“
„Warum hat mich der liebe Gott vergessen, ich wäre bereit zu sterben?“
„Haben Sie auch Angst vor dem Sterben?“
Jetzt, wo ich so viel Zeit habe, kann ich das, was ich früher immer gerne tun wollte, nicht mehr
machen.
Ich bin dankbar, dass ich so alt werden durfte, aber das Leben ist mir auch zur Last geworden.
Heraushören, wo das eigentliche Problem liegt. Wo es geht, den Menschen die Angst nehmen!
„Demente“ Menschen sind eine Anfrage an unsere Theologie und eine große
Herausforderung an unsere seelsorgliche Praxis
Wer ist nun dieser Gott für Menschen mit „Demenz“? Auch für sie ist er der „Ich-bin-da“ (Ex.
3,14); in Verbindung mit den Erfahrungen des NT hieße das: Gott ist für den Menschen und
besonders für „Demente“ der in Liebe Da-Seiende. Er ist in der Weise da, wie sich Menschen
mit „Demenz“ in ihrer Welt einfühlen und sich in dieser Welt vorfinden.
Deshalb verkörpern „demente“ Menschen in besonderer Weise das, was wir unserem Gott
auch wesenhaft zuschreiben:
vergessen und erinnern – suchen und finden – das Leben neu spüren
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„Demente“ Menschen vergessen sich in ihrer momentanen Situation, sie leben (sich) aber
weit zurück; bis an die Wurzeln ihres Werdens, sodass auch längst Vergessenes wieder
erinnert (emotional) wird, Bedeutung erlangt und sich mit der je eigenen Lebens- Geschichte
verknüpft
→ Von seinem Wesen her ist unser Gott ein Gott, der sich des Menschen zutiefst erinnert,
das Trennende vergisst, uns liebend sucht und sich in unserem Menschsein finden lässt, bis
zur Vollendung.
Dazu ein Beispiel: Frau P. stammt aus Ostpommern. Sie ist evangelisch. In den Kriegswirren
1945 wird sie mit ihren drei kleinen Buben aus ihrer Heimat vertrieben. Drei Tage lang fährt
sie mit dem Zug Richtung Westen. Von Deutschland kommend findet sie schließlich in der
Nähe von Linz/Donau eine zweite Heimat. Nach einem Krankenhausaufenthalt ist sie – ohne
sich von ihrem Haus und ihrem Garten verabschieden zu können – ins Altenheim Mauthausen
gekommen. Dies erlebt sie als 2. Vertreibung. Eines Tages kommt eine Raumpflegerin zum
Seelsorger (S.), er möge Fr. P. aufsuchen, sie würde ihm gern einige Kirchenlieder vorsingen.
Der S. besucht sie und tatsächlich singt sie ihm einige alte evangelische Kirchenlieder aus
Ostpommern vor, mit der Bitte, sie im katholischen Gottesdienst singen zu dürfen. Zum Glück
kennt der S. eine sehr musikalische Frau (78 Jahre), ebenfalls AH- Bewohnerin, die die
gesungenen Töne zu Papier bringt und daraus die entsprechende Melodie zusammenstellt.
Die evangelischen Kirchenlieder werden im kath. Gottesdienst gesungen. Sehr zur Freude von
Frau P.! Denn hier kann sie wieder anknüpfen an ihr Leben.
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„Demente“ Menschen sind auch Suchende nach dem, was verloren ist in ihrem Leben oder
noch offen oder wund,
→ so wie Gott ein Suchender ist für das Heil des Menschen und der ganzen Schöpfung.
Ein Beispiel: Frau G. ist 90 Jahre. Sie sucht nach ihrem Kind, das unmittelbar nach einer
Frühgeburt, vor 70 Jahren, gestorben ist. Es gibt keinen Ort, wo sie dieses Kind hätte
betrauern können. Es wurde, so sagt sie, „entsorgt“. Eine Pflegefachkraft gibt dieser Frau eine
Puppe und später einen Kinderwagen. Dieses „Kind“ bekommt auch einen Namen. Sie ist
zufrieden und freut sich über ihr „Kind“.
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„Demente“ Menschen können in der Berührung ihr Leben neu spüren, so wie der Gott Jesu
für uns nur Gott sein kann, wenn er berührbar bleibt für das, was uns „unter die Haut geht“
und „unter den Nägeln brennt“.
Ein Beispiel: Frau N. ist seit mehreren Wochen im Pflegeheim. Sie findet meist die Tür zu
ihrem Zimmer nicht. Der Seelsorger bringt Frau N. zurück in ihr Zimmer. Sie legt sich ins Bett
und sagt nach einer kurzen Weile: „Wissen sie, so viele Menschen greifen mich jeden Tag an;
aber keiner ist da, der mich berührt.“ Der Seelsorger legt ihre Hand auf die von Frau P. und
streichelt sie etwas. Frau N.: „Tut das gut. Jetzt spür ich mich wieder; jetzt spür ich, dass ich
lebe!“
Ein 2. Beispiel: Frau W. möchte zu Weihnachten beichten gehen und fragt mich, ob das
möglich ist. Ich sage ihr, dass ich als Laie ihr die Beichte nicht abnehmen kann, aber ich kann
den Pfarrer verständigen. Sie sagt: „Nein, du“! Gut, sage ich zu ihr, gehen wir aufs Zimmer.
Ich schiebe sie mit dem Rollstuhl in ihr Zimmer und setze mich zu ihr. Da sie nur zwei Worte
sagen kann – und ich sie gut kenne – erzähle ich ihr ihr Leben mit allen Höhen und noch mehr
Tiefen, die ich eben kenne. Nach dem Erzählen wird es still. Frau W. richtet sich auf und
bewegt ihre Stirn in meine Richtung. Ich weiß zwar nicht, was sie damit beabsichtigt, aber ich
komme ihr entgegen. Wir berühren einander ca. 10 Sekunden mit der Stirn, dann lässt sie sich
wieder zurückfallen in ihre ursprüngliche Haltung.
Was tut einem Menschen mit „Demenz“ gut? Was gibt ihm Bedeutung?
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Das, was er/sie noch kann, auch zu zeigen: Frau F. ist schwer dement, aber sie schafft es
immer noch, Gedichte von 10 Minuten Länge, die sie als Kind gelernt hat, aufzusagen.
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Herr W. hat fortgeschrittene Demenz und liegt teilweise in Agonie. Als ihm meine 3
Schwestern sein Lieblingslied „Hoamatland“ vorsingen, richtet er sich auf und singt alle
Strophen mit.
Im Träumen sind wir der Wirklichkeit unseres Lebens sehr nahe.
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Frau D. erzählt mir auf meine Frage, ob sie etwas geträumt hat, folgenden Traum: Ich soll 5
Kühe vom Stall auf die Weide treiben. Sie kommen aus dem Stall heraus und laufen sofort in
verschiedene Richtungen davon. Und, haben sie es geschafft?, frage ich. Ja, sagt sie, aber es
war harte Arbeit. Am Morgen bin ich mit meiner Matratze alleine im Bett gelegen; alles
andere war auf dem Boden verstreut. Dieser Traum spiegelt ihre schwierige Lebenssituation.
„Demenz“, das ist Leben im Rückwärtsgang:
Ein Beispiel: Das Ehepaar M. feiert die „Eiserne Hochzeit“. Bald darauf gelangt die Frau in
ihrer Demenz an den Punkt (Demente erleben wichtige Stationen ihres Lebens rückläufig), wo
ihr Mann angeblich Ehebruch begangen hat. Sie gerät emotional völlig außer Kontrolle und
wünscht ihrem Mann alles, nur nichts Gutes. Sie will nicht mehr bei ihm bleiben und droht mit
Selbstmord. Wahrscheinlich war die Devise damals in der Akutsituation: „Schwamm drüber“
und durch.
Die Situation der Angehörigen
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Angehörige leiden sehr unter der Demenz ihrer Mutter, ihres Vaters, Oma, Opa usw. Die eine
Frage stellt sich in dieser Situation sehr dringend: Wer ist der Mensch, den wir so, wie er war,
geliebt haben und der jetzt, angesichts seines völligen Vergessens und seiner zunehmenden
Sprachlosigkeit, ein Schatten seiner selbst ist?
Schwierig ist es,
wenn man als Angehöriger versprochen hat, Vater, Mutter oder Opa nicht ins Heim zu
geben, man aber erkennen muss, dass man es so nicht mehr schafft. (Frau Erika L.)
wenn sie noch sehr unternehmungslustig sind
wenn sie niemanden mehr kennen.
wenn eine Wesensänderung eintritt (engste Vertrauenspersonen werden beschimpft)
wenn sich der Tag-Nacht Rhythmus umdreht (Beispiel: Herr Ludwig R.)
Für pflegende Angehörige gibt es von Seiten der Caritas einige Angebote.
Was können wir tun?
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Beratung vermitteln (Ansprechpartner gibt es in allen Sozialabteilungen der Bezirkshaupt –
mannschaften, auch die Caritas hat sehr gute Angebote)
Im Neuen Dom Gottesdienst für und mit Menschen mit „Demenz“ feiern
„Demenz“ Schulung für einen Ort anbieten
Handwerkerschulung
Validationsschulung des Referates Altenpastoral 2015/2016
Befreiungs-Theologischer Zugang
Eine Option für Menschen mit „Demenz“
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Wie lautet nun die theologische Sicht auf die Frage „Wer ist der Mensch im Hinblick auf seine
schwindenden Geisteskräfte?“ Wie ist diesem Menschen zu begegnen? Der Mensch ist nach
dem Alten Testament Ebenbild Gottes (Gen. 1,27). Und er bleibt es auch in seiner
Desorientiertheit und „Demenz“. Das Menschsein in all seinen Facetten - in seiner
Gebrochenheit, seiner Endlichkeit und seiner Unvollkommenheit - ist mit dieser Würde
bekleidet. Dies bestätigt das Neue Testament und es kommt zum Ausdruck und zur Wirkung
in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Denn er wendet sich nicht dem Starken, dem
Schönen und dem Gesunden zu, sondern er kommt ganz wesentlich den Kranken, den Armen
und den von der Gesellschaft Ausgegrenzten – eben auch den „Dementen“ – nahe.
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Die Option für die „Demenz“ Kranken setzt eine Bekehrung der Seelsorge im Sinne einer
Wahrnehmungsveränderung voraus, hin zu den „Demenz“ Kranken als Subjekte, d.h. als
leidende und mit eigener Logik handelnde Menschen. Diese Bekehrung wird daran
erkennbar,
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→ dass wir uns durch Erzählungen, Erinnerungen, Ausbildungen, Lektüre usw. bemühen, die
Erfahrungen, Sichtweisen und Weisheiten zu verstehen und möglichst weitgehend zu teilen.
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→ dass wir überzeugt sind und bezeugen, dass uns und der Theologie Entscheidendes fehlt,
wenn nicht die Erfahrungen, Fragen, Gedanken, Weisheiten von Menschen mit „Demenz“
vermisst, gesucht, erinnert werden.
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→ dass wir, um uns zum Einfühlen und zur Annäherung zu befähigen, nach eigenen
Erfahrungen fragen, die den Erfahrungen von Demenzkranken nahe kommen. Z.B.: Momente
der Verwirrung nach dem Aufstehen(Orientierung von Raum und Zeit ist weg)
Peter Pulheim/Christine Schaumberger in: „Wachsen ein Leben lang – Fachzeitschrift Für
Ehrenamtliche und Hauptamtliche in der Seniorenpastoral“, Okt. 2009, S. 3-6
Gibt es prophylaktische Maßnahmen für die „Alzheimer Demenz“?
Die schlechte Nachricht zu Beginn: Es gibt kein Mittel und keine Maßnahme mit der man der
Demenz vom Alzheimer Typ mit Sicherheit vorbeugen könnte!
Ein gesunder, sozialer und authentischer Lebensstil können trotzdem einiges bewirken:
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Gesunde Ernährung
Alltag gut strukturieren und sich beizeiten sozial gut vernetzen, besonders wichtig in
schwierigen Lebenssituation
mit dem „Schlucken“ aufhören, alte Geheimnisse auflösen, nach Möglichkeit,
Versöhnung suchen; K. Wecker beschreibt in der 3.Str. von „liebes leben“ worauf es
diesbezüglich in der 2. Lebenshälfte besonders ankommt: liebes leben abgemacht,
darfst mir nicht verfliegen, hab noch so viel Mitternacht sprachlos vor mir liegen.
Vorbereitung auf die Demenz: Verlässlichen Personen mitteilen, welche Geschichten man
einmal hören will, wenn man dement geworden ist. Diese Geschichten auch aufschreiben.
Was bleibt…
Gelernt habe ich zu akzeptieren, dass vieles langsamer geht,
auch Orientierungen schwieriger werden,
Reaktionen umständlicher und Pannen häufiger.
Vieles muss ich aus der Hand geben
oder mir aus der Hand nehmen lassen.
Andere treten an meine Stelle.
Meine Selbständigkeit verliert sich nach und nach.
Das Über-sich-verfügen-Lassen Müssen löst das Verfügen-Können ab.
Das Wort „abdanken“ hat immer noch einen schlechten Klang.
Sollte es mir nicht gelingen, dankbar abzutreten?
Es bleibt doch etwas … aber Ruhm, Anerkennung und Erfolg sind es nicht.
Guter Gott: öffne meine Augen für das Bleibende,
über das Vergessen, den Abschied und den Tod hinaus.
Öffne meine Gedanken für das Bleibende, das mir niemand nehmen kann.
Öffne mein Herz für die dankbare Hoffnung und die befreiende Zuversicht.
Bleib DU bei mir, auch wenn nichts mehr so bleibt wie es war!
Mag. Rupert Aschauer, Fachreferent für Altenpastoral in der Diözese Linz
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