HS Interkulturelle Philosophie - UK-Online

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Universität zu Köln
Philosophisches Seminar
Wintersemester 2009/10
Dozent: Dr. Markus Wirtz
Hauptseminar
„Interkulturelle Philosophie – Ziele und Methoden“
Seminartag am 28. 11. 2009:
Wege und Ziele interkultureller Philosophie
Themen:
7. 11. 2009: Voraussetzungen und Definitionen
interkulturellen Philosophierens
 28. 11. 2009: Wege und Ziele interkultureller
Philosophie
 12. 12. 2009: Methoden der interkulturellen
Philosophie
 9. 1. 2010: Außereuropäische Perspektiven

Grundlagentexte:

1) Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie II. Frankfurt a.M. 1975,
„Rasse und Geschichte“, S. 363-407

2) Franz Martin Wimmer: „Thesen, Bedingungen und Aufgaben
interkulturell orientierter Philosophie“. In: Ders.: Globalität und
Philosophie. Studien zur Interkulturalität. Wien 2003, S. 115-127

3) François Jullien: „Eine Dekonstruktion von außen. Von
Griechenland nach China, oder: Wie man die festgefügten
Vorstellungen der europäischen Vernunft ergründet“. In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, 53 (2005), S. 523-539

4) Ram Adhar Mall: „Tradition und Rationalität: Eine interkulturelle
philosophische Perspektive“. In: Tradition und Traditionsbruch zwischen
Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Hrsg. v.
Claudia Bickmann, Hermann-Josef Scheidgen, Tobias Voßhenrich u.
Markus Wirtz. Amsterdam/New York 2006, S. 19-48
Voraussetzungen interkulturellen Philosophierens
„Subjektive“ Voraussetzungen:
 Akzeptanz kulturell unterschiedlicher Weltsichten
 Bereitschaft, sich auf kulturell divergierende Philosophien
einzulassen
„Objektive“ Voraussetzungen:
 relevante inhaltliche Divergenzen der Philosophien der
Weltkulturen
 historische Einflüsse und interkulturelle Begegnungen
Mögliche Standards komparativer Philosophie:
(nach: Archie J. Bahm 1995)
a) die jeweils eigene Philosophie (Dogmatismus)
b) gar keine Maßstäbe (Relativismus)
c) universelle Eigenschaften (Universalismus)
d) einzigartige Eigenschaften (Individualismus)
e) ,erfolgreiche‘ Eigenschaften (Empirismus)
f) ideale Standards (Idealismus)
g) alle Eigenschaften als mögliche Maßstäbe (wie b oder c)
h) eine entwickelte Weltphilosophie (Futurismus)
i) bereits verglichene Eigenschaften (Pragmatismus)
Philosophiebegriffe im interkulturellen Horizont
• H. Kimmerle (2006):
• Veränderung des eurozentrischen Philosophiebegriffs in der
Konfrontation mit außereuropäischen (z.B. der afrikanischen)
Kulturen
• R. Elberfeld (2004):
• unterschiedliche Begriffsbestimmungen von Philosophie bereits in der
europäischen Philosophiegeschichte (z.B. Antike: Philosophie als eine
das Leben transformierende Denktätigkeit)
• Problem: Universalisierung des modernen „westlichen“ Philosophiekonzepts
ODER Erweiterung des Philosophiebegriffs um neue Elemente (Inhalte und
Methoden) aus nicht-westlichen Kulturen
Reflexionen auf den Kulturbegriff
• Problem: Wie ist mit der Verschiedenheit der Kulturen
philosophisch umzugehen?
• Stellt die kulturelle Divergenz eine unüberschreitbare, letzte
Tatsache dar (Relativismus), oder gibt es transkulturelle
Gemeinsamkeiten (Universalismus)?
• Und falls ja, sind diese anthropologisch empirisch oder
transzendental begründet?
• C. Bickmann (1999):
• Feststellung transkultureller Gemeinsamkeiten in den Strukturen von
Traditionsbildung und Traditionsbruch, im Gegenstandsbezug unserer
Aussagen sowie in der Subjektivität (transzendentalphilosophischer
Standpunkt).
Claude Lévi-Strauss (1908-2009)
 französischer Ethnologe und Philosoph
 1935-39: Lehre an der Universität São Paulo; Leitung zahlreicher
Forschungsexpeditionen in Brasilien
 1941: Emigration in die USA
 1950-74: Professor an der Pariser École Pratique des Hautes
Études
 1959-82: Professeur am Collège de France
 seit 1973: Mitglied der Académie française
 Entwurf einer strukturalen Anthropologie
 Übertragung linguistischer Methoden auf ethnologische Sachverhalte
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 1. Rasse und Kultur
• Ausgangspunkt: die Menschheit entwickelt sich „in Form ganz
unterschiedlicher Gesellschaften und Zivilisationen“ (S. 364) →
Faktum des kulturellen Pluralismus, der niemals zur Gänze
erfasst werden kann
• 2. Die Verschiedenheit der Kulturen
• Differenzierung kultureller Verschiedenheit nach räumlicher und
zeitlicher Divergenz
• Antagonistische Kräfte in menschlichen Gesellschaften:
Partikularismus versus Konvergenz und Affinität
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• Menschliche Gesellschaften tendieren zu einem Optimum an
Verschiedenheit, sowohl in interkultureller als auch in
intrakultureller Hinsicht.
• Die Verschiedenheit der Kulturen ist ein dynamischer Begriff.
• Kulturelle Verschiedenheit entsteht nicht durch Isolierung,
sondern gerade durch interkulturelle Kontakte.
• 3. Ethnozentrismus
• Ablehnung derjenigen kulturellen Formen, die am weitsten vom
eigenen Standpunkt entfernt sind
• Leugnung kultureller Diversität; das Andere wird aus dem
Bereich der Kultur verwiesen (Gegensatz Zivilisation – Wildnis)
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• Proklamation eines allgemeinen Menschheitsbegriffs in den
großen philosophischen und religiösen Systemen (Buddhismus,
Christentum, Islam, Kantianismus, Marxismus, Stoizismus etc.)
→ Abstraktion von kultureller Verschiedenheit
• Der Mensch realisiert seine Natur nicht „in einer abstrakten
Menschheit (…), sondern in traditionellen Kulturen“. (S. 371)
• Pseudo-Evolutionismus: unterschiedliche Kulturen als Stadien
innerhalb eines einzigen Fortschrittsprozesses
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 4. Archaische und primitive Kulturen
• Drei Formen kultureller Alterität:
• 1) zeitgenössische Kulturen an anderen Orten der Erde;
• 2) historische Kulturen desselben geographischen Raums;
• 3) historische Kulturen an anderen Orten der Erde.
• Kulturen des 3. Typs ohne zivilisatorische Hinterlassenschaften
(ca. 99%) sind für die empirische Forschung weitgehend
unzugänglich.
• Gerade bei ihrer Interpretation ruft der falsche Evolutionismus
die wildesten Spekulationen hervor.
• Es gibt keine ,geschichtlosen Völker‘, allenfalls Völker, deren
Geschichte uns unbekannt ist.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 5. Die Idee des Fortschritts
• Fortschritt von früheren Zivilisationsformen zu späteren?
• kein sukzessives, lineares Fortschreiten von einer Stufe zur
nächsten, sondern Spielzüge mit unterschiedlichen
Kombinationen
• 6. Stationäre und kumulative Geschichte
• Frage nach dem Beurteilungskriterium: der jeweiligen Kultur
selbst inhärent oder abhängig vom ethnozentrischen
Beobachterstandpunkt?
• „Allgemeine Relativitätstheorie“ in den Sozialwissenschaften: Je
mehr die Entwicklungsrichtung einer Kultur von unserer eigenen
abweicht, als um so stationärer nehmen wir sie wahr.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• Entwicklungskriterium der westlichen Zivilisation: Steigerung
der verfügbaren Energiemenge pro Kopf
• davon abweichende Entwicklungskriterien in Indien, China,
Afrika etc.
• Die Probleme, die Menschen lösen müssen, sind überall
annähernd die gleichen; deswegen besitzen alle Menschen
Sprache, Techniken, Kunst, Kenntnisse, religiöse Vorstellungen,
eine sozio-ökonomische und politische Organisation.
• Kulturell unterschiedlich ist die je besondere Weise der
Problemlösung und das Mischungsverhältnis der einzelnen
Elemente.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 7. Der Stellenwert der westlichen Zivilisation
• Überlegenheit der westlichen Zivilisaton?
• Indikator: Globalisierung westlicher Lebensstile
• Alternative: Entstehung synkretistischer Formen
• Argumente gegen die vermeintliche Überlegenheit der
,westlichen Kultur‘:
• Ihre Durchsetzung geschah vielfach gewaltsam bzw. aufgrund
eines ungleichen Kräfteverhältnisses.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 8. Zufall und Zivilisation
• Zurückweisung der Auffassung, dass der Zufall für die
Erfindungen in früheren Phasen der menschlichen
Kulturentwicklung ursächlich gewesen sei.
• Die menschliche Erfindungsgabe war während der gesamten
Menschheitsgeschichte (d.h. in allen Kulturen) etwa konstant.
• Bestimmte Konstellationen können jedoch zu kulturellen
Mutationen führen.
• Beispiele: neolithische und industrielle Revolution
• Keine historische Epoche und keine Kultur ist vollkommen
stationär; es gibt allenfalls unterschiedliche Grade der
Kumulation.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 9. Das Zusammenwirken der Kulturen
• Die ,kumulativsten‘ Geschichtsformen entstanden nicht in
isolierten Kulturen, sondern durch Koalitionen mehrerer
Kulturen.
• Die ,Weltzivilisation‘ existiert nicht neben den einzelnen
Kulturen, sondern es handelt sich um einen abstrakten Begriff,
der entweder einen moralischen oder einen logischen Wert
besitzt (als Entwicklungsziel oder transkulturelles Substrat).
• Zivilisation besteht gerade in der Koexistenz verschiedener
Kulturen.
C. Lévi-Strauss: „Rasse und Geschichte“ (1973)
• 10. Der doppelte Sinn des Fortschritts
• Das Zusammenspiel von Kulturen, aus dem kultureller
Fortschritt ensteht, führt letztlich immer zu einer
Homogenisierung.
• Gegenmittel: Provokation intrakultureller ,differentieller
Abstände‘; Kooperation mit neuen Partnern.
• Notwendigkeit einer Ausbalancierung der antagonistischen
Tendenzen der Vereinheitlichung und Differenzierung
• Forderung einer dynamischen Toleranz
Definitionen interkulturellen Philosophierens
„Klassischer“ Definitionsversuch:
- Angabe des genus proximum (hier: „Philosophie“) und
der differentiae specificae (hier: „interkulturell“)
- Notwendig ist hier sowohl eine Klärung des
allgemeinen Gattungsbegriffs „Philosophie“ als auch
eine genaue Bestimmung der spezifischen Differenz
„interkulturell“ !
Zu unterschiedlichen Definitionen der Philosophie in der
europäischen Denkgeschichte → R. Elberfeld 2004.
→ Was unterscheidet interkulturelle Philosophie von
anderen Arten des Philosophierens?
„Arten des Philosophierens“:

philosophische Disziplinen
(definiert durch ihren Gegenstandsbereich, z.B. Erkenntnistheorie, Logik,
Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie, Philosophie der Mathematik etc.)

philosophische Methoden
(defniert durch ihren Zugang zu den Inhalten des Denkens, z.B. logische
Formalisierung, Begriffsanalyse, hermeneutische Interpretation,
dekonstruktive Lektüre, phänomenologische Reduktion etc.)
Arten des Philosophierens

philosophische Strömungen und Schulen
(definiert durch eine spezifische Kombination bestimmer Inhalte mit
bestimmten Methoden sowie durch denkgeschichtliche Konjunkturen; z.B.
analytische Philosophie, Existenzphilosophie, Frankfurter Schule,
Konfuzianismus, Marxismus, Phänomenologie, Poststrukturalismus, Stoa etc.)

philosophische Perspektiven
(1.: definiert durch Grundhaltungen und allgemeine Sichtweisen, von denen
aus philosophiert wird, z.B. skeptisch, dogmatisch, logisch, mystisch, rational,
spekulativ etc.
2.: definiert durch die Zukunftausrichtung, die der Philosophie zugeschrieben
wird, z.B. als formale Hilfswissenschaft der Naturwissenschaften, als Mittel
zur gelungenen Lebensführung, als Religionsersatz, als Kulturgut, als Vehikel
zur Gesellschaftsveränderung etc.)
Philosophien der Weltkulturen








Afrikanische Philosophie
Chinesische Philosophie
Indische Philosophie
Islamische (arabische) Philosophie
Japanische Philosophie
Jüdische Philosophie
Südamerikanische Philosophie
Tibetische Philosophie
komparative Philosophie
↓
interkulturelle Philosophie
↓
transkulturelle Philosophie
↓
Weltphilosophie
Literaturhinweis:

Nicole Note, Raúl Fornet-Betancourt,
Josef Estermann,Diederik Aerts (Hrsg.):
Worldviews and Cultures. Philosophical Reflections from
an Intercultural Perspective. Dordrecht 2009
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