Historisch-Kritische Anthropologie

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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Skriptum für ANT 550
Studenten Ressource für die Lehrveranstaltung
„Historisch-Kritische Anthropologie“
LV – Gerhard Berchtold, PhD
Diese LV dient zur Einführung und Vertiefung in die Anthropologie und in das
interdisziplinäre ethische Denken. In der LV wird eine vernetzte Denkweise
suggeriert und ein neues Paradigma der Wissenschaften und die Sichtweise auf
den Menschen propagiert.
Diese LV versteht sich ergänzend zur LV SOC-501 bzw. SOC-750.
Die Literaturzitate der LV sollen eine Zusammenschau bieten und diese
Synopsis die Studierenden zu weitergehender Literatur anregen.
ECTS: 6
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
„Einführung in die Historisch-kritische Anthropologie“
von Bernhard Rathmayr (2002) in Bezug auf „Skeptische Philosophen“
Rathmayr ist ein radikaler Vertreter der Historisch-kritischen Anthropologie, der den Körper
und die Seele, das Verhältnis beider, als von Ort, Zeit, Kultur und Umwelt materiell, figurativ
und somatopsychisch Gefangene sozialer Anpassungs- und Verhaltenszwänge im historischsozialen Kontext versteht, deren einzige Konstante die Wandelbarkeit selbst sei; und somit
kritisch die traditionelle Anthropologie zu hinterfragen sei. Rathmayr´s Arbeiten befassen sich
fortgesetzt mit der Thematik der Frage nach dem Menschen aus der Sicht der Historischkritischen Anthropologie, sind weitläufig deckungsgleich und nur nuanciell unterschiedlich.
Aus diesem Grunde wird in erster Linie auf die letztvorliegende Publikation (2002)
zurückgegriffen, welche zugleich das aktuelle Vorlesungsskriptum zur „Einführung in die
Anthropologie“ darstellt, in dessen dritten Kapitel, der Frage nach dem Menschen, primär ein
Essay über die Arbeit Kamper´s (1999) auf mehr oder weniger diese eine Literaturquelle
gestützt wird. Da die Einbeziehung weiterer kritischer, „skeptischer“ Philosophen
ausdrücklich empfohlen wird, stützen sich die Autorinnen auch auf andere Beiträge zur
Anthropologie im weitesten Sinne, als die empfohlenen Literaturquellen.
Für Rathmayr (1998) bestand der Grund, „weshalb die europäischen Wissenschaften sich mit
der Gestalt des Menschen zu befassen begannen
und diesen Menschen auf diese Weise
`erfanden´ - ... nicht nur in einer Wißbegier nach genauerer Selbsterkenntnis, sondern auch in
einer Hoffnung oder auch einem Wahn: daß dieser Mensch es sei, der dazu berufen ist, die
Welt zu vervollkommnen, indem er sich selbst vervollkommnet“.
Rathmayr (2002) stellt die Frage nach dem Menschen, vom Wesen des Menschen zur Frage
nach dem Menschlichen. Er definiert Anthropologie allgemein „als die Wissenschaft vom
Menschen, die Aussagen darüber macht, worin das Wesen des Menschen besteht“; deren
traditionelle Ausrichtung der transzendentalen Wesensanthropologie, „ein einheitliches, für
Menschen aller Zeiten und Kulturen zutreffendes letztes Wesen des Menschen“ definieren zu
können, von einer neuen relativistischen, historisch und empirisch konkreten, theoretisch
fundierten und gegenständlich erprobten Anthropologie seit den letzten drei Jahrzehnten des
zwanzigsten Jahrhunderts radikal in Frage gestellt würde. Rathmayr (1997) beschreibt den
grundsätzlichen Wandel von einer „auf überzeitliche, überregionale und übersituative
Wahrheiten gerichteten transzendentalen Anthropologie und deren erkenntnistheoretischer
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Bestreitung“ zu einer „radikal-historischen Anthropologie“. Rathmayr (2002) verweist auf
skeptische Philosophien der philosophischen Anthropologen Scheler, Plessner, und Gehlen,
die den Menschen als zwischen „Drang und Geist gespaltene Existenz“ (Scheler, zit. in
Rathmayr, 2002), als „exzentrisches“ (Plessner, zit. in Rathmayr, 2002) oder „riskiertes“
Wesen (Gehlen, zit. in Rathmayr, 2002) konzipieren; wobei Scheler (1954, zit. in Rathmayr,
2002) nach Rathmayr (2002) die radikale Unsicherheit des modernen Menschen über sein
eigenes Wesen konstatiert habe, indem der Mensch nicht mehr wisse, „was er ist, zugleich
aber auch weiß, daß er es nicht weiß“. Morin (1999) berücksichtigt die Ungewißheit und
Unsicherheit in der Erkenntnis. Nach Rathmayr (2002) würden ausgehend von dieser Skepsis
geschlossene, ahistorische „Entwürfe einer Wesensanthropologie als selbst historisch
bedingte Ideologien lesbar“, wobei nach Rathmayr (2002) etwa das Menschenideal der
Aufklärung, das das „Exemplar eines immer gleichen Menschenwesens verdinglichte“
(Adorno/Horkheimer, 1947, zit. in Rathmayr, 2002), die Rückführung des menschlichen
Wesens auf die menschliche Natur, die bürgerliche Konzeption des kultivierten Menschen als
dessen natürliche Bestimmung, ein Trugschluß sei.
Morin (1999) warnt vor dem Unerwarteten: „Wenn das Unerwartete eingetreten ist, müssen
wir fähig sein, unsere Ideen und Theorien zu überdenken...“. Morin (1999) erachtet es im
Zusammenhang mit der Ungewißheit der Erkenntnis für jede Erziehung als notwendig, „die
Frage nach der Möglichkeit des Erkennens freizulegen“, dabei bliebe die Erkenntnis „ein
Abenteuer, für das die Erziehung die unerläßliche Wegzehrung liefern muß“, die das
Erkennen der Erkenntnis, die Integration des Erkennenden in seine Erkenntnis als permanent
notwendiges Erziehungsprinzip einschließe. Bioantropologische Bedingungen (Fähigkeiten
Gehirn↔Geist),
soziokulturelle
Bedingungen
(Offene
Ideenaustausch-Kultur)
und
noologische Bedingungen (offene Theorien) erlaubten dem Menschen fundamentale
Fragestellungen über die Welt, den Menschen und über die Erkenntnis selbst. In der Suche
nach Wahrheit müssten daher die selbstbeobachtenden, reflexiven und selbstkritischen
Prozesse untrennbar verbunden sein mit den betrachtenden, objektivierenden, kritischen
Tätigkeiten. So erfordere die Suche nach Wahrheit die Entwicklung von Reflexion
erlaubenden Metastandpunkten sowie eine Ausgewogenheit zwischen dem doppelten Besitz
von Ideen und Mythen durch unseren Geist und unseren Geist durch Ideen und Mythen, „wo
die gegenseitige Unterwerfung der beiden zu einem gastlichen Miteinander wird“. Morin
(1999) empfiehlt, sich des Es und des Man, die durch das Ich hindurch sprechen, bewußt zu
werden und unablässig bereit zu sein, die Selbstlüge aufzuspüren: „Wir müssen unsere
Theorien zivilisieren, d.h. wir brauchen eine neue Generation offener, rationaler, kritischer,
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
reflexiver und selbstkritischer Ideen, die in der Lage sind, sich selbst zu reformieren“, und es
müsse sich ein „Paradigma herauskristallisieren und Wurzeln fassen, das eine komplexe
Erkenntnis erlaubt“. Da nach Morin Irrtümer die Autonomie des Geistes hemmen und die
Suche nach Wahrheit verhindern, sieht er eine Hauptaufgabe der Erziehung darin, uns für den
vitalen Kampf um Klarsicht zu bewaffnen.
Rathmayr (2002) beschreibt die materialistische Wende in der Philosophie, anstelle des
„philosophischen Menschen“ den Menschen aus „Fleisch und Blut ... nur ... das Menschliche“
als das „Wahre und Wirkliche“ anzusehen (Feuerbach, 1843, zit. in Rathmayr, 2002), und
verweist auf Marx, für den ein transzendentales Wesen des Menschen Einbildung und
idealisierende Philosophie, selbst Träger und Ergebnis gesellschaftlichen Wandels sei.
Rathmayr erläutert den Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften von der „Stellung des
Menschen im Kosmos“, die nach Scheler ein Grundproblem anthropologischen Denkens sei,
von Linné´s (1776, zit. in Rathmayr, 2002) Species des „homo sapiens“ unter den Primaten
bzw. Menschenaffen über Darwin´s Evolutionstheorie „The Origin of Species by Natural
Selection“, wobei nach Morin (1973, zit. in Rathmayr, 2002) die Problematik des Menschen
sei, „daß wir von Primaten abstammen“, aber nicht zugeben wollten, „daß wir selbst
Primaten sind“, indem „wir uns außerhalb der Natur das selbständige Reich der Kultur
errichtet haben“. Morin (1973, zit. in Rathmayr, 2002) und Leroi-Gourhan (1980, zit. in
Rathmayr, 2002) überwänden nach Rathmayr (2002) die „anthropozentrische Trennung
zwischen (tierischer) Natur und (menschlicher) Kultur in die Richtung einer konstitutiv
offenen kulturellen Natur des biosozialen Systems Homo Sapiens“, verstünden den Menschen
als „denkendes Tier in einem prinzipiell unabgeschlossenen und in die Zukunft offenen
Evolutionsgeschehen“.
Capra (1996) umschreibt ebenfalls den Paradigmenwandel: „Das neue Paradigma könnte als
eine ganzheitliche Weltsicht bezeichnet werden, die Welt eher als ein integriertes Ganzes
betrachtend als eine unzusammenhängende Sammlung von Teilen. Es könnte auch als eine
ökologische Sicht bezeichnet werden, wenn der Begriff `ökologisch´ in einem viel breiteren
und tieferen Sinn als üblich verwendet wird. Tiefe ökologische Einsicht erkennt die
fundamentale Interdependenz aller Phänomene und die Tatsache, daß wir als Individuen und
Gesellschaften eingebettet sind in (und ultimativ abhängig sind von) den zyklischen Prozessen
der Natur.“
Morin (1999) beschreibt die paradigmischen Blindheiten: Wahrheit und Irrtum seien auch in
selektiven, deterministischen Paradigmen enthalten, die Morin (1999) in zwei Klassen
differenziert:
4
Historisch-Kritische Anthropologie LV
•
Auswahl der intellektuellen Leitkonzepte, die widersprüchliche Konzepte ausschließen
oder unterordnen,
•
Festlegung der logischen Leitoperationen, die bestimmten logischen Operationen auf
Kosten anderer den Vorzug einräumen.
Nach Morin (1999) äußerten sich Imprinting und Normalisierung in Form Kognitiver
Stereotypen, „prüfungslos übernommene Ideen“ resultierend aus der gebietenden und
verbietenden
Macht
der
Paradigmen
als
vorherrschende
Lehren,
offizielle
Glaubensanschauungen, regierende Doktrinen und etablierte Wahrheiten. Nach Morin (1999)
würden alle spezifisch sozial-ökonomisch-politischen Bestimmungen mit spezifisch
kulturellen
Bestimmungen
zusammenwirken,
„um
die
Erkenntnis
in
einem
Multideterminismus von Imperativen, Normen, Verboten, Starrheiten und Blockaden
einzusperren“. Unter dem kognitiven Konformismus liege nach Morin (1999) ein kulturelles
Imprinting, als den Konformismus eingravierende Stammprägung, „und eine Normalisierung,
die ausschaltet, was ihn in Frage stellen könnte“. Das kulturelle Imprinting präge durch
Umwelt und Anpassung den Menschen von der Krippe bis ins Grab, somit könne die
soziologische und kulturelle Selektion sich der Wahrheitssuche widersetzen.
Diese
Arbeit
sucht
interdisziplinär
das
Verbindende
statt
das
Trennende
und
erziehungswissenschaftlich, daß aus ganzheitlicher Sicht sowohl Liedtke (1997) als auch
Rathmayr (2002) Recht haben, doch keiner der beiden Ansätze alleine imstande wäre, die
Frage nach der Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit des Menschen zu bejahen
oder
zu
verneinen,
vielmehr
entspräche
es
dem
europäischen
Paradigma
der
Disziplinwissenschaften, komplexe Fragen mit mentalen Irrtümern, bedingt aus einseitiger
Sichtweise, zu beantworten. So lehnt Rathmayr (2002) etwa Stammesverhalten als
anthropologisches Phänomen ab, scheint aber mit seinen sozialen Anpassungszwängen auch
nichts anderes als dasselbe im historischen Kontext lokalisiert, konkretisiert, materialisiert,
figuriert und somatopsychisch zu beschreiben.
Während Liedtke (1997) die pädagogische Bedeutung einer biologisch-evolutionstheoretisch
orientierten Anthropologie in den sechs Bereichen
•
Einsichten in übergreifende geschichtliche Zusammenhänge,
•
Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit des Menschen,
•
Stammesgeschichtliches Verhaltensrepertoire des Menschen,
•
Ökologische Notwendigkeiten (vgl. Lebensbedingungen nach Morin, 1999),
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
•
Genetische Komponente des Normbewußtseins,
•
Gewinnung
hochplausibler
Handlungsanweisungen
für
konkrete
pädagogische
Entscheidungen durch evolutionstheoretische Analyse
ansiedelt und daraus konkrete Hinweise auf eine evolutionstheoretisch begründete
Erziehungslehre ableitet, negiert Rathmayr (2002) „pädagogische Folgerungen“ und
„normative
Umdeutungen
evolutionsgeschichtlicher
Merkmale
zu
unveränderlichen
Wesensmerkmalen“. Auch verhaltenserforschende Ansätze wie der Aggressionstrieb (Lorenz,
1963, zit. in Rathmayr, 2002), Herdentrieb, Revierverhalten, Rangordnungskämpfe (EiblEiblsfeld, 1984, zit. in Rathmayr, 2002), „von denen verbindliche Folgerungen für
menschliches Verhalten oder Kindererziehung abgeleitet werden“ (Cube/Alshuth, 1989, zit.
in Rathmayr, 2002), würden den Grundcharakter der Evolutionstheorie verfehlen.
Hingegen habe Freud durch die „Entdeckung des Unterbewußten als nachhaltigem
Steuerungselement menschlichen Handelns deutlich“ gemacht, daß der Mensch weder Herr
über die Natur noch über sich selbst sei, „menschliche Natur ... sich als eine durch familiäre
Beziehungen und gesellschaftliche Normen nachhaltig verformbare Triebkonstellation,
menschliche Kultur als im Antagonismus zu dieser errungene Anstrengung“ erweise.
Sheldrake (2001) ist der Meinung, daß lebende Wesen „über eine Art kollektives Gedächtnis
von früheren Angehörigen ihrer Spezies verfügen ... daß es eine Art inhärenter Erinnerung
gibt, die an der Entwicklung der regionalen Form und am Verhalten von Organismen
beteiligt ist“. Sheldrake (2001) bezeichnet den Stand der Evolutionstheorie mit dem Glauben,
„daß sich die Natur entwickelt. Die Evolution des Lebens auf der Erde und der Menschen als
Teil dieses Prozesses sind Bestandteil eines riesigen kosmischen Evolutionsprozesses, der
alles erfasst
Materie, Materieteilchen, Atome, Moleküle, Kristalle und nun auch die Felder
der Natur selbst“. Unter dem Gesichtspunkt der Hypothese der formbildenden Verursachung
sozialer
Gewohnheiten vertritt
Sheldrake (2001)
bezüglich des Musters sozialer
Organisationen durch morphische Resonanz (durch welche traditionell die Vergangenheit in
die Gegenwart geholt würde) den Standpunkt, daß dieselben Kriterien für Tierherden oder
Gruppen von Menschen gelten würden.
Nach Foucault (1969, zit. in Rathmayr, 2002) erhalte mit der Psychoanalyse das
Unvernünftige, das Irrationale seine anthropologische Dimension zurück. Der Mensch sei
nach Morin (1973, zit. in Rathmayr, 2002) zugleich „homo sapiens“ und „homo demens“, ein
„Geschöpf von starker unbeständiger Affektivität, ... ein subjektives Geschöpf, dessen
Beziehungen zur objektiven Welt immer ungewiß sind, ein dem Irrtum und der Verwirrung
unterworfenes Geschöpf“.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Morin (1999) fordert eine primäre und universelle Erziehung der Zukunft, die sich auf die
Grundbedingungen des Menschen angesichts der gemeinsamen Menschlichkeit und
kulturellen Verschiedenheit im planetarischen Zeitalter erstreckt. Da jede umfassende
Erkenntnis ihren Gegenstand kontextualisieren müsse, sei, um die Natur des Menschen zu
erkennen, ihn zuerst in das Universum zu stellen und nach unseren Grundbedingungen,
unserer Stellung in der Welt zu fragen: „Es ist unmöglich, die komplexe Einheit des
Menschlichen durch ein disjunktives, trennendes Denken zu erfassen, das unsere
Menschlichkeit insulär begreift, außerhalb des Kosmos ... es ist unmöglich, sie durch ein
reduktionistisches Denken zu erfassen ... so wird die menschliche Komplexität unsichtbar ...
das neue Wissen, weil nicht miteinander verbunden, weder assimiliert noch integriert ... Für
die Erziehung der Zukunft besteht daher die Notwendigkeit einer großen Umorganisation und
Zusammenführung der Erkenntnisse, ... um die menschlichen Multidimensionalitäten und
Komplexitäten zu beleuchten ... und integrieren.“
Menschliche Verwurzelung↔Entwurzelung als Dualität:
„Wir sind zugleich in und außerhalb der Natur.“
Die kosmische Bedingung: Im Kosmos spielen Ordnung, Unordnung und Organisation
zusammen, Morin (1999) erinnert an unsere menschliche Existenz als Teil der kosmischen
lebenden Selbstorganisation, die der Mensch auf seine Weise fortsetzt.
Die physische Bedingung sieht Morin (1999)
im Vorliegen der solar↔terrestrischen
Lebensbedingungen.
Die irdische Bedingung: „Wir sind zugleich kosmische und irdische Wesen ... als lebende
Wesen dieses Planeten hängen wir vital von der irdischen Biosphäre ab; wir müssen unsere
sehr physische und sehr biologische irdische Identität anerkennen.“
Die menschliche Bedingung: Nach Morin (1999)
zeige die Hominisation, die
Menschwerdung, „wie Animalität und Humanität zusammen unsere menschliche Bedingung
bilden ... der Hominide humanisiert (zivilisiert) sich ... wir sind aus dem Kosmos
hervorgegangen, aber wegen ... unserer Menschlichkeit selbst, unserer Kultur, unseres
Geistes, unseres Bewußtseins, sind wir diesem Kosmos fremd geworden ... wir haben uns über
die physische und lebende Welt hinaus entwickelt. In diesem `darüber hinaus` vollzieht sich
die volle Entfaltung der Menschlichkeit, ... wir sind keine Wesen, die man allein von der
Kosmologie, der Biologie, der Psychologie ... ausgehend erkennen und verstehen könnte.“
Das Menschliche des Menschen bestehe nach Morin (1999) aus
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Unidualität: „Der Mensch ist zugleich ein völlig biologisches und völlig kulturelles Wesen,
das in sich diese originäre Unidualität trägt ... und in dieser Hypervitalität ist der homo
sapiens auch homo demens.“
Die Verknüpfung Gehirn↔Geist↔Kultur: „Der Mensch hat sich als völlig menschliches
Wesen erst durch und in der Kultur vollendet ... Der menschliche Geist ist eine Emergenz, die
in der Beziehung Gehirn↔Kultur entsteht und sich behauptet“ ... auf das zerebrale
Funktionieren eingreife und zurückwirke in Form einer ringförmigen „Triade zwischen
Gehirn↔Geist↔Kultur, wo jeder Begriff notwendig für jeden anderen ist.“
Die Verknüpfung Vernunft↔Gefühl↔Trieb: Entsprechend der Konzeption vom dreieinigen
menschlichen Gehirn (MacLean, 1970, zit. in Morin, 1999), bestehend aus Paleocephalon der
Reptilien, Mesocephalon der alten Säugetiere, dem Cortex (Hirnrinde) der jüngeren Säuger,
dem beim Menschen vergrößerten Neocortex, „dem Sitz der analytischen, logischen und
strategischen Fähigkeiten ... erscheint uns ein anderes Gesicht der menschlichen Komplexität,
das die Animalität (der Säugetiere und Reptilien) integriert und die Menschlichkeit in die
Animalität“.
Morin (1999) sieht die Beziehungen dieser drei Instanzen Vernunft↔Gefühl↔Trieb nicht
nur komplementär, sondern auch von antogonistischen Konflikten getragen; wobei Triebe die
Rationalität beherrschen könnten.
Die Verknüpfung Individuum↔Gesellschaft↔Art: Die Interaktionen zwischen den in die
Gesellschaft hineingeborenen Individuen „erzeugen die Gesellschaft und diese, aus der die
Kultur emporsteigt, wirkt auf die Individuen durch die Kultur zurück“.
Für Morin (1999) ist jeder dieser Begriffe zugleich Mittel und Zweck: „Es sind die Kultur
und die Gesellschaft, die die Vollendung der Individuen ermöglichen, und es sind die
Interaktionen zwischen den Individuen, die das Fortbestehen der Kultur und die Interaktion
zwischen den Individuen erlauben.“ Die menschliche Komplexität könne nicht getrennt von
den sie konstituierenden Elementen verstanden werden: „Jede wirklich menschliche
Entwicklung bedeutet die gemeinsame Entwicklung der individuellen Autonomie, der
gemeinschaftlichen Teilnahme und des Gefühls, der menschlichen Art anzugehören.“
Unitas multiplex: die menschliche Einheit und Verschiedenheit: „Es ist die menschliche
Einheit, die die Prinzipien ihrer vielfältigen Verschiedenheit in sich trägt.“ Nach Morin
(1999) würde die Erziehung der Zukunft dieses Prinzip der Einheit/Verschiedenheit in allen
Bereichen darstellen und darüber wachen müssen, „daß der Gedanke der Einheit der
menschlichen Art nicht den ihrer Verschiedenheit auslöscht“.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Der individuelle Bereich: Morin (1999)
gliedert den individuellen Bereich in eine
„genetische Einheit/Verschiedenheit“ sowie in eine „zerebrale, mentale, psychologische,
affektive, intellektuelle, subjektive Einheit/Verschiedenheit“, bestehend aus gemeinsamen
menschlichen Merkmalen und individuellen Eigenheiten.
Der soziale Bereich: Der soziale Bereich der Gesellschaft enthalte nach Morin (1999) die
Einheit/Verschiedenheit der Sprachen, sozialen Organisationen und Kulturen.
Kulturelle Verschiedenheit und Pluralität der Individuen: Nach Morin (1999) existiere die in
jeder menschlichen Gesellschaft vorhandene Kultur nur durch die verschiedenen Kulturen
hindurch, dabei definiert er „Kultur“ als „Gesamtheit der von Generationen übertragenen und
im Individuum reproduzierten Kenntnisse, Normen, Werte und Mythen“, die die Gesellschaft
kontrolliere und die psychologische und soziale Komplexität unterhalte und somit die
menschliche Identität aufrechterhalte. Erneut propagiert Morin (1999), angemessen eine
menschlich-kulturelle Einheit zu begreifen, „die Verschiedenheit gewährleistet und
begünstigt, und eine Verschiedenheit, die sich in eine Einheit einfügt“; so wie das
menschliche Wesen zugleich eins und vielfältig sei, jeder Mensch trage in sich wie ein
Hologramm den gesamten Kosmos und bilde selbst einen Kosmos aus inneren
Vielfältigkeiten und virtuellen Persönlichkeiten.
Sapiens↔demens: Nach Morin (1999)
sei das menschliche Wesen komplex und trage
bipolare, antagonistische Merkmale in sich: Der rationale, vernünftige Mensch (sapiens) ist
auch der der Affektivität, des Mythos und des Wahnsinns (demens), der der technischen
Arbeit (faber) auch der des Spiels (ludens), der empirische (empiricus) auch der der
Imagination (imaginarius), der sparsame homo economicus auch der der verschwenderischen
Konsumation. Der Mensch lebe nicht nur von Rationalität und Technik: „Es besteht Einheit
und zugleich Dualität zwischen homo faber, homo ludens, homo sapiens und homo demens.
Und die Entwicklung der rational-empirisch-technischen Erkenntnis hat beim Menschen nie
die symbolische, mythische, magische oder poetische Erkenntnis aufgehoben.“
Homo complexus: „Wir sind alle infantile, neurotische, wahnsinnige Wesen und gleichzeitig
sind wir auch rational. All das bildet den spezifisch menschlichen Stoff.“ Nach Morin (1999)
sei der Mensch „ein vernünftiges und unvernünftiges Wesen, fähig zum Maß und Unmaß“; er
nähre sich „von verifizierten Erkenntnissen, aber auch von Illusionen . Komme es bei
Unterbrechung der rationalen, kulturellen und materiellen Kontrollen zur Konfusion zwischen
dem Realen und Imaginären,
dann unterwirft der homo demens den homo sapiens und
ordnet die rationale Intelligenz dem Dienst des“ Wahnsinns, als zentrales Problem des
Menschen, unter.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
„Der Wahnsinn hat nicht zur Auslöschung der menschlichen Art geführt ... doch wieviel Zeit
scheint ... verschwendet an Riten, Kulte ... Illusionen ... trotz alledem ist die technische und
wissenschaftliche Erkenntnis ungeheuerlich gewesen ... Fortschritte der Komplexität sind
zugleich trotz des menschlichen Wahnsinns, mit ihm und wegen ihm entstanden ... die
Dialogik sapiens↔demens war zugleich kreativ und destruktiv.“
Morin (1999) betont die Verbindung von Wahnsinn und kreativem Genie, daher sollte die
Erziehung die vielfältigen Gesichter des Schicksals der menschlichen Art zeigen und die
menschliche Komplexität untersuchen und studieren, um in das Erkennen, dem
Bewußtwerden der „gemeinsamen Bedingung aller individuell und kulturell verschiedenen
Menschen als Erdenbürger zu münden“.
Im Hinblick auf die Vielfalt der Kulturen betont Rathmayr (2002), daß „die Befunde einer
historischen Soziologie und Psychologie die grundlegende Wandelbarkeit menschlicher
Verhaltensweisen und mit ihnen einhergehender sozialer und psychischer Strukturen“
hervorhebe. So habe die Kulturanthropologie durch „vergleichende Analyse kultureller
Äußerungen in unterschiedlichen menschlichen Gesellschaften“ die Unterschiede zwischen
Menschen aufgezeigt, wobei die „cultural anthropology“ (Harris, 1969, zit. in Rathmayr,
2002) durch kulturellen Relativismus (Rudolph, 1968, zit. in Rathmayr, 2002) das naive
Postulat eines einheitlichen Menschenwesens nachhaltig erschüttert“ habe.
Rathmayr (2002) propagiert die „Historisch-kritische Anthropologie als Hermeneutik des
Menschen Möglichen“, die eine offene deutende und interpretierende Denkbewegung sein und
bleiben wolle, deren offener Vielfalt der Ansätze und Methoden eine einheitliche,
systematische Beschreibung nicht gerecht würde. Dabei verzichte die „Historisch-kritische
Anthropologie auf den Anspruch, ein überzeitliches, absolutes Wesen des Menschen aussagen
zu können ... versteht die Menschen als konkret in ihrer Zeit, ihrer Kultur, ihrer sozialen und
individuellen Geschichte verweilende Personen“, verstehe Wesensaussagen über den
Menschen als „kontingente, relative Theorien, die Teil einer Geschichte der Reflexion der
Menschen auf sich selbst sind“, und wolle den „Zugang für ein weites System von
Erkenntnisbemühungen offenhalten“.
10
Historisch-Kritische Anthropologie LV
Rathmayr (2002) differenziert die Erkenntnistheoretischen Prinzipien in
•
Prinzip der anthropologischen Differenz,
dessen Grundprinzip die Absage an alle ahistorischen „Totalitätsansprüche einer als
deskriptiv ausgegebenen normativen Bestimmung des Menschen“, während die Historischkritische
Anthropologie
durch
Kamper
(1973,
zit.
in
Rathmayr,
2002)
die
„anthropologische Differenz“ zwischen natürlichem Individuum und geschichtlicher
Person theoretisch gefasst habe, wobei nach Rathmayr (1999, zit. in Rathmayr, 2002)
Anthropologie nur mehr „nach dem Tode des Menschen“ denkbar sei. Da ein
anthropologischer Positivismus, der allgemein richtige Aussagen über das Wesen des
Menschen zu machen versuche und zu einem falschen theoretischen Verständnis des
Menschen führe, betone Sonnemann (1969, zit. in Rathmayr, 2002) durch negative
Anthropologie den utopischen Charakter menschlichen Denkens und Handelns und
verstehe sich als Anthropogene Kritik „an Menschendoktrinen, die den reflexiven
Charakter aller Anthropologien außer Acht“ ließen.
•
Prinzip der radikalen Historizität
„Historisch-kritische Anthropologie nimmt die Geschichtlichkeit menschlicher Existenz
und menschlicher Erkenntnis radikal ernst und ... erhält so eine ... Rück-Sicht nehmende,
eine revisionäre Dimension.“ (Rathmayr, 2002)
•
Prinzip der Vielfalt
Rathmayr (2002) sucht nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner des Menschen, sondern
das größte gemeinsame Vielfache und versteht Historische Anthropologie als eine
„Hermeneutik des Menschen Möglichen ... aus dem vielgesichtigen Album des
Menschlichen lassen sich Annahmen ... gewinnen. Aus der Re-Vision des Menschlichen
lassen sich die Visionen möglicher Menschenzukünfte offenhalten“. Historische
Anthropologie schreibe die conditio humana nicht fest, sondern verstehe sie als offenen
Prozeß, „der sich erst in der traditio humana, in der Geschichte des Menschlichen
entfaltet und erschließt“, deren Ziel es sei, „Wissen von und über Menschen aus
verschiedenen Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen
zusammenzufügen, zu einer Erkundung des Menschlichen ... als Hermeneutik des
Menschen Möglichen versucht sie, im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf
gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der gegenwärtigen
auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“,
einschließlich des Unmenschlichen; ziele nicht auf die „endgültige Beantwortung der
Frage nach dem Eigentlichen und Unterscheidenden des Menschen, sondern deren
11
Historisch-Kritische Anthropologie LV
Offenhalten unter dem Horizont des erst im Rückblick auf die Wirklichkeit der Menschen
erfaßbaren Menschen Möglichen“.
•
Prinzip der Gegenwartsgeschichtlichkeit
Da letzter Sinn historisch-anthropologischen Fragens das „Begreifen gegenwärtiger
Entwicklungen aus den Strukturen ihrer oftmals von ihnen abgekoppelten Vorgeschichte“
sei,
gehe
Historische
Anthropologie
von
„der
unumgänglichen
Konstruktion
geschichtlicher Ereignisse aus der Mentalität jeweils gegenwärtiger Epochen aus
(Lessing, 1983; White, 1986; 1991, zit. in Rathmayr, 2002) ... die eine wohlverstandene
Gegenwartsgeschichte erst vor undurchschautem Tempozentrismus ... bewahren“ könne.
„So sehr Historische Anthropologie die Menschen aus ihrer Geschichte versteht, so sehr
dient ihr die Geschichte des Menschen zum Verständnis ihrer Gegenwart“, mit dem Ziel,
„heutige Fragen als Anspielungen auf vergessene geschichtliche Antworten zu verstehen,
... deren Gehalt es erst zu ergründen“ gelte; wobei die „Suche nach dem Verständnis des
Gegenwärtigen aus dem Vergangenen ... von den gesellschaftlichen Bedingungen der
heute Fragenden bestimmt“ würde.
•
Prinzip der Selbstreflexivität
Nach Rathmayr (2002) ist
„Anthropologische Erkenntnis ... notwendigerweise
selbstreflexive Erkenntnis“; dabei zitiert er Kamper (1973, zit. in Rathmayr, 2002),
wonach jede Definition des Menschen,
welche die Möglichkeit eines Widerspruches
durch den also Definierten nicht“ einkalkuliere, „ein gewalttätiges Unternehmen, das
letztlich jedes menschliche Selbstverständnis vernichtet“, sei.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Rathmayr (2002) bietet folgende methodologische und methodische Orientierungen an:
•
Lokalisation
Da nach Rathmayr (2002) niemals der Mensch Gegenstand historisch-kritischer
Anthropologie sei, sondern stets „verortete Menschen in den besonderen Umständen ihrer
Zeit, ihrer sozialen und politischen Bezüge, ihrer Lebensgeschichte, ihres individuellen
und kollektiven Schicksals“, sei Lokalisierung in doppeltem Sinn zu verstehen: „als
Verortung des Gegenstandes anthropologischer Reflexion in Zeit und Raum und als
Verortung des Historischen Anthropologen selbst an einem theoretischen Ort, der den
Blickwinkel bestimmt, von dem aus dieser Gegenstand betrachtet wird“.
•
Konkretisierung
betrachte nach Rathmayr (2002) als methodologisches Kriterium die Qualität der „in
Historisch-kritischer Absicht untersuchten Daten ... diese bestehen stets in konkreten
Handlungen oder Handlungskontexten angebbarer Menschen oder Menschengruppen“
und verstehe Menschenkunde „aus ihrem Entstehungszusammenhang in konkreten
gesellschaftlichen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens ... Die einzige in ihrem
Sinne in der Menschengeschichte annehmbare Konstante ist die grundsätzliche
Wandelbarkeit aller auf den Menschen bezogenen und von ihm hervorgebrachten
Abstraktionen“.
•
Materialität
sei die methodische Konsequenz der Konkretisierung durch die Suche nach „bedeutsamen
Materialien menschlicher Kulturen und Lebensweisen, ihrer Mentalitäten und
Sentimentalitäten
...
Historisch-kritische
Anthropologie
versucht,
menschliche
Hinterlassenschaften im Rahmen ihrer zeitbedingten Zusammenhänge zu verorten und im
Hinblick auf ihre möglichen Her- und Zukünfte zu verstehen“.
•
Figurativität
Da nach Rathmayr (2002) nicht der Mensch, der „homo clausus“ (Elias, 1975, zit. in
Rathmayr, 2002) oder „Einzelmensch“ (Sonntag, 1988, zit. in Rathmayr, 2002) sondern
„das Menschliche im Sinne lokalisierbarer konkreter Menschenschicksale“ Gegenstand
kritischer historisch-anthropologischer Forschung sei, bilde Gegenstand historischkritischer Analysen der in ein „Menschengeflecht verwobene Mensch, die in Figurationen
auftretende soziale Person (Elias, 1975, zit. in Rathmayr, 2002), deren Individualität in
komplexen Beziehungskonstellationen ... und Interdependenzen ... gebildet wird“.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
•
Somatopsychik
Während Moraltheorien über das Verhältnis von Körper und Seele einen „sowohl
moralischen als auch faktischen Vorrang psychischer Steuerungsmechanismen vor
körperlichen“ attestieren,
verweise
nach Rathmayr (2002)
„Historisch-kritische
Anthropologie auf die fortschreitende Außerkraftsetzung der Leibhaftigkeit des Menschen,
die den Körper zum Gefangenen der Seele (Foucault, 1976, zit. in Rathmayr, 2002) und
durch immer wirksamere Mechanismen der Disziplinierung zur abhängigen Variable
einer immer engmaschigeren gesellschaftlichen Psychosomatik macht“ (Kamper/Rittner,
1976, zit. in Rathmayr, 2002).
Nach Rathmayr (2002) gehören „zu den grundlegenden Anbahnungen eines reflexiven
geschichtlichen Denkens über den Menschen“ die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule
(Horkheimer, 1936; Adorno, 1950; Horkheimer/Adorno, 1947, zit. in Rathmayr, 2002),
Ansätze in der deutschen Wissenssoziologie (Mannheim, 1958, zit. in Rathmayr, 2002) und
die Geschichte der Mentalitäten (Bloch et.al, 1977, zit. in Rathmayr, 2002), Elias (1975, zit.
in Rathmayr, 2002) „Prozeß der Zivilisation“ sowie Kamper´s (1973 bis 1999, zit. in
Rathmayr, 2002) transdisziplinäre Studien „zur Geschichte des Verhältnisses von Körper,
Seele, Sprache und Imagination“. Die grundsätzliche Anthropologie-Kritik Kamper´s (1973,
zit. in Rathmayr, 2002) „zur Frage der Menschen nach sich selbst“ unter der Bezeichnung
Historische Anthropologie betone den Zusammenhang zwischen Anthropologie und
Anthropologiekritik.
Kamper (1973) stellt fest, „was die Natur aus den Menschen macht, ist verdeckte oder offene
Vorschrift für das, was der Mensch aus sich selbst machen soll“.
Nach Capra (2002) „entwickelten die frühen Hominiden ein komplexes Gehirn, die Fähigkeit
zur Werkzeugherstellung und die Sprache, während die Hilflosigkeit ihrer zu früh geborenen
Kinder zur Bildung einander unterstützender Familien und Gemeinschaften führte, des
Fundaments des menschlichen Gesellschaftslebens. Daher ist es sinnvoll, das Verstehen
sozialer Phänomene in einer einheitlichen Konzeption der Evolution von Leben und
Bewußtsein zu begründen ... Eine der wichtigsten philosophischen Folgen des neuen
Verständnisses von Leben ist eine neuartige Konzeption des Wesens von Geist und
Bewußtsein, die endlich die kartesianische Trennung von Geist und Materie überwindet ...
Die zentrale Erkenntnis der Santiago-Theorie der Kognition ist die Gleichsetzung von
14
Historisch-Kritische Anthropologie LV
Kognition, also dem Wissensprozeß, und Lebensprozeß. Die Kognition ist ... die mit der
Selbsterzeugung und Selbsterhaltung lebender Netzwerke verbundene Tätigkeit. Mit anderen
Worten: Die Kognition ist der Prozeß des Lebens selbst. Die organisierende Tätigkeit
lebender Systeme ist auf allen Ebenen des Lebens die geistige Tätigkeit ... Damit sind Leben
und Kognition untrennbar miteinander verbunden ... Die Kognition ist ... mit allen Ebenen
des Lebens verbunden und daher ein viel umfassenderes Phänomen als das Bewußtsein ... Die
Dialoge zwischen Menschen und Schimpansen vermittelten ein einzigartiges Verständnis der
kognitiven Fähigkeiten von Affen, was wiederum ein neues Licht auf die Ursprünge der
menschlichen Sprache wirft. Über die menschliche Natur stellt Capra (2002) fest, „daß sich
das kognitive und emotionale Leben von Menschen und Tieren nur graduell unterscheidet,
daß das Leben ein großes Kontinuum ist, in dem die Unterschiede zwischen den Arten
graduell und evolutionär sind“; dabei zitiert Capra (2002) Lakoff und Johnson (1999): „Der
Verstand ist somit nicht eine Substanz, die uns von anderen Tieren trennt
er stellt uns
vielmehr in ein Kontinuum mit ihnen.“
Davies (2001) vertritt den Standpunkt, daß die sich in komplexer Selbstorganisation
entwickelte „Menschheit ein integraler Bestandteil des andauernden Prozesses der
Komplexifikation (so die Formulierung von Teilhard de Chardin) ist, verleiht uns zumindest
eine gewisse Würde, die wir nicht besäßen, wenn wir nur ein zufälliger Zwischenfall in der
Weite des Kosmos wären“.
Bezüglich gegenwärtiger Forschungsfelder sei nach Rathmayr (2002) „im Bereich der
Pädagogik ... insbesondere ... die Auseinandersetzung um die Geschichtlichkeit scheinbar
überzeitlicher Tatbestände von Erziehungsprozessen“ herausgefordert.
Rathmayr (2002) beantwortet die Frage nach dem Menschen in Form einer historischanthropologischen Annäherung und durch klare Ablehnung einer allgemeingültigen
(transzendentalen)
Beschreibung
desssen,
was
der
Mensch
sei,
„will
man
der
Selbstüberschätzung der Menschen und den mit ihr verbundenen Gefahren der
Unmenschlichkeit nicht erliegen, wird man die Frage nach dem Menschen ... nicht mehr in
der Hoffnung stellen, die ruhmreiche Vorgeschichte des Geschlechtes der Menschen als
Fortschrittsgeschichte in die Zukunft fortzuschreiben. Die Frage nach dem Menschen entsteht
vielmehr aus der Unsicherheit darüber, was ihre Bestimmung und ihr Schicksal ist, wer sie
sind und wohin sie gehen.“
15
Historisch-Kritische Anthropologie LV
Rathmayr (2002) orientiert sich dabei am Begriff der „Transhumanen Expansion“, derzufolge
laut Kamper (1989, zit. in Rathmayr, 2002) die gegenwärtige Menschengeneration dabei sei,
das Menschliche zu überschreiten, indem „die nur halbwegs zivilisierte Menschheit“ dabei
sei, „etwas Ungeheures anzuzetteln“, irreversible Prozesse einzuleiten und den scheinbar
fortschrittsverheißenden „point of no return“ zu überschreiten.
Rathmayr (2002), angelehnt an Kamper (1989, zit. in Rathmayr, 2002), betont wie Morin
(1999) die Unsicherheit der Aktion, des menschlichen Handelns. Keinesfalls könnten die
Menschen sagen, „ob das Ergebnis ihres Handelns in einem weiteren Fortschritt oder in einer
Katastrophe bestehen wird ... es scheint, daß die Menschen zugleich immer stärker danach
streben, immer mehr Bereiche ihrem planenden Zugriff unterzuordnen, und zugleich immer
inkompetenter werden, die möglichen Folgen ihres Handelns unter Kontrolle zu bringen“.
Nach Rathmayr (2002) und Kamper (1989, zit. in Rathmayr, 2002) gerate die Menschheit in
dem Bestreben, sich die Erde untertan zu machen, in eine entscheidende Krise,
durch
blindes Funktionieren und ununterbrochenes Weitermachen“ liege die entscheidende
Wahrheit über den Menschen „darin, daß eine Ereigniskette, vor der alle Angst haben, nicht
unterbrochen werden kann“ (Kamper, 1989, zit. in Rathmayr, 2002).
Lovelock (2001), der sich selbst als eine Art Vertrauensmann für das Leben, das auf diesem
Planeten geblieben ist“, bezeichnet, propagiert im Bemühen, den Planeten gesund zu erhalten,
wie „Gaia“ (eine Sichtweise, den Planeten als Lebewesen zu betrachten) und die „top-downSicht auf die Erde uns zu einem besseren Verständnis der Probleme verhelfen könnte, die
durch die große Anzahl an Menschen und die dadurch hervorgegangenen Störungen der
globalen Umwelt entstehen“.
Nach Kamper (1989, zit. in Rathmayr, 2002) scheitere der von den Soziologen beschriebene
Zivilisationsprozeß der Natur- und Selbstbeherrschung, sozialen Kooperationen und
Techniken, moralisch-rationaler Triebkontrolle an seiner Erfolglosigkeit, wodurch eine
„Umkehrung des Zivilisationsprozesses“ eingeleitet würde, indem der Individualismus, der
homo egocentricus und homo economicus eine „neue, fatale Art des menschlichen
Handelns“ auslebt, „das die Grundlagen der Zivilisation zugleich ausnützt und zerstört“;
wodurch auch das Wachstum der transhumanen Expansion angeregt würde.
So würde nach Kamper (1989, zit. in Rathmayr, 2002) die Überwindung der Natur, die
Untertanmachung der Erde durch den Menschen als „listiges Täuschungsmanöver“ und als
„Rückzahlung der Natur“ erkennbar, würde der Verlust des „Humanum“ das „UnMenschliche“ fördern.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Morin (1999) beschreibt es als Problem des Menschen, von Techniken zu profitieren, ohne
sich dem tief in uns eingepflanzten technokratischen Denken unterzuordnen. Tatsächlich
triumphiere die falsche Rationalität, die abstrakte und eindimensionale Rationalität.
Technokratische Lösungen verarmten das Menschliche und hätten globale Verheerungen
angerichtet. Planetarischer Raubbau erfordere eine nachhaltige Entwicklung, die fähig wäre,
die notwendige komplexe Strategie auszuarbeiten, „die einschließen müßte, die Entplanung zu
planen und die Entprogrammierung zu programmieren“. Das 20. Jahrhundert habe unter der
Herrschaft der Pseudorationalität gigantische wissenschaftlich-technische Fortschritte und
gleichzeitig eine unzählige Irrtümer und Illusionen erzeugende „neue Blindheit gegenüber den
globalen, fundamentalen und komplexen Problemen hervorgebracht, ...
weil die
Hauptprinzipien einer angemessenen Erkenntnis verkannt werden“. Morin (1999)
schlußfolgert: „Es handelt sich darum, ein Denken, das trennt und reduziert, durch ein
Denken, das unterscheidet und verbindet, zu umfassen.“
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Rathmayr (2002) beschreibt Tendenzen der Transhumanität nach Kamper (1989, zit. in
Rathmayr, 2002), die sich äußern würden durch
•
Selbstreferentialität,
die abgeleitet aus der Systemtheorie auf dem Umstand beruhe, „daß die Wirkungen eines
Systems zugleich neue Ursachen desselben sein können, also über Rückkoppelungen
produktiv gemacht werden können“, sodaß in einer „Art Selbsterschaffung“ die Theorie
der Selbstreferenz aus den Human- und Sozialwissenschaften nicht mehr wegzudenken
sei. Dies äußere sich in Wissenschaft, Politik und Alltag in „Argumentationsmustern“, das
„jeweilige Handeln oder Nicht-Handeln mit der Unvermeidlichkeit der Systematik der
ablaufenden Prozesse zu begründen“. Indem Politik zunehmend zur „Vollstreckerin
gegebener Mehrheiten für populäre Ziele“ würde, entstehe „ein Automatismus der
Verstärkung vorhandener, inhumaner, gesellschaftlicher Tendenzen“. Infolge dieser
„Selbstläuferfunktion“ hinterlasse das „Geschehen transhumaner Expansion den Eindruck
einer sich gegenüber ihrem Schöpfer verselbständigenden Maschine“, welche jene
komplexe, „interpretative und kommunikative Flexibilität“ des menschlichen Denk- und
Vorstellungsvermögens riskiere.
•
Chronokratie,
die sich am „auffälligsten in der zunehmenden Unterwerfung tendentiell aller Menschen
unter das Diktat einer linearen, in knapp zugemessenen Portionen unterteilten Zeit, der
alle Handlungsformen angepaßt werden“, äußere. Politische Entscheidungen gerieten so
unter den Druck der Zeitgerechtheit zu besten Sendezeiten der Massenmedien.
•
More of the same
Indem transhumane Expansions-Anzeichen nicht wahr oder ernstgenommen würden,
würden sie ihre Tendenz selbst beschleunigen. Nach Rathmayr (2002) komme man nicht
umhin, Kamper´s „immer dunkler gemalte Anthropologie“ der Transhumanität „als eine
wirksame Dynamik menschlicher Entwicklung in der Gegenwart wahrzunehmen“; sodaß
Rathmayr die Frage gerechtfertigt erscheint, ob wir zivilisiert sind, angesichts des
Antagonismus aus dem Bemühen um das „Fortschreiten der Menschlichkeit“ und der
„Gefährdung der Humanität gerade im Namen dieses Fortschritts“.
Nicht alle Skeptiker folgen diesem Weltuntergangsbild, diesem Doomsday-Szenario.
Lomborg (2001) vertritt die Schlüsselidee, „daß wir es den Umweltorganisationen,
Wirtschaftsverbänden oder den Medien nicht alleine überlassen sollten, die Wahrheiten und
Prioritäten zu vertreten. Vielmehr sollten wir nach einer sorgfältigen demokratischen
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Kontrolle streben, durch Kenntnis des wirklichen Zustandes der Erde
im Wissen um die
wichtigsten Fakten und Zusammenhänge in den wesentlichen Gebieten unserer Welt ... Die
konstante Wiederholung der Litanei und der oft gehörten Umwelt-Übertreibungen hat seriöse
Konsequenzen. Sie macht uns ängstlich und sie macht uns geneigter, unsere Resourcen und
unsere Aufmerksamkeit aufzuwenden, um Phantom-Probleme zu lösen, während wir reale und
drückende (möglicherweise nicht umwelt-bezogene) Angelegenheiten möglicherweise
ignorieren. Wir benötigen die Fakten und die bestmögliche Information, um die best
möglichen Entscheidungen zu treffen ... Wenn wir den Zustand der Welt beurteilen, müssen
wir dies durch Vergleich tun ... Grundsätzlich ist die Auswahl des Vergleiches wesentlich. Es
ist mein Argument, daß der Vergleich mit dem angestellt werden sollte, wie es vorher war.
Solch ein Vergleich zeigt uns das Ausmaß unserer Entwicklung
sind wir besser oder
schlechter dran als vorher? Das bedeutet, wir sollten uns auf (fundamentale, globale, longterm) Trends fokussieren ... Der Punkt ist, daß globale Zahlen all die guten Geschichten als
auch all die schlechten zusammenfassen, dies erlaubt uns, zu evaluieren, wie schwerwiegend
die gesamte Situation ist ... In einer höchst vernetzten Welt treten statistische kurz-zeitliche
Reversionen innerhalb lang-fristiger Trends auf ... Wenn wir wesentliche Entwicklungen
bewerten, müssen wir lange Zeitabschnitte untersuchen ... Ohne die wesentliche Frage `wie
wichtig´ können wir nicht unsere Resourcen prioritisieren und dort einsetzen, wo sie den
größten Effekt erzielen ... Grundlagen: Menschen ... die Wünsche und Bedürfnisse der
Menschheit repräsentiert die Krux unserer Beurteilung des Zustandes der Welt. Das bedeutet
nicht, daß Pflanzen und Tiere keine Rechte haben, doch der Fokus wird stets auf die
menschliche Entwicklung gerichtet sein ... Menschen debattieren und nehmen an
Entscheidungsprozessen teil, während dies Pinguine und Pinienbäume nicht tun ... ihr Schutz
... hängt von der Bewertung durch Menschen ab ... ein grundsätzlich eigensüchtiger Ansatz
seitens der Menschen ... diese mensch-zentrierte Perspektive resultiert nicht automatisch in
der Verleugnung oder Beseitigung vieler nicht-menschlicher Lebensformen ... der Schluß ist,
daß wir keine andere Option haben, als Menschen als Bezugspunkt zu verwenden. Wie sonst
könnten wir ein ethisches Dilemma vermeiden?“
Im planetarischen Zeitalter der Globalisierung würden wir nach Morin (1999) von der
Komplexität der Informationen über die Welt in unserem Fassungsvermögen überwältigt:
„das planetarische Problem ist ein Ganzes“, daher erfordere das planetarische Zeitalter, die
Globalität, Multidimensionalität und Komplexität der Welt, polyzentrisch zu denken, im
Bewußtsein der Einheit/Verschiedenheit der menschlichen Bedingung.
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Weder die Anthropologie, noch die Sozialwissenschaften, die Physik, die Biochemie, die
Medizin, die Psychiatrie oder Psychologie, noch andere isolierte Disziplinwissenschaften
werden nach Ansicht der Autorinnen alleine das Rüstzeug bieten, die Frage nach dem
Menschen, nach dem Wesen des Menschlichen, umfassend zu beantworten.
Nach Capra (2001) müsse jede Wissenschaft selbst herausfinden, wo in ihrem Bereich die
Grenzen ihres mechanistischen und reduktionistischen Weltbildes liegen. „Die Methode,
komplexe Phänomene auf ihre Grundbausteine zu reduzieren und die Mechanismen zu
betrachten, die zwischen ihnen wirken, ist in unserer Kultur so tief verwurzelt, daß sie häufig
mit der Wissenschaft selbst gleichgesetzt wird.“ Capra (2001) propagiert eine über das
mechanistische und reduktionistische Weltbild hinausgehende zu einer organischen,
ganzheitlichen und ökologischen Sicht führende Transparenz, die starken Einfluß auf die
Wissenschaften haben sowie therapeutisch und kulturell einigend wirken würde. Capra (2001)
betrachtet das Ungleichgewicht zwischen den beiden Arten des Bewußtseins, zwischen dem
dominant-männlichen „rationalen“ „Yang“ und dem unterdrückten-weiblichen „intuitiven“
„Yin“ in unserer „Kultur und Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt dieser beiden
entgegengesetzten
Pole“
und
propagiert
einen
„evolutionären
Umschwung“
zur
„Wiederentdeckung ganzheitlicher Auffassungen ... und nicht zuletzt eines stärker werdenden
feministischen Bewußtseins“, ein Gleichgewicht der Gegensätze Yin und Yang, „weil die
Funktionen von Körper und Geist nur als unterschiedliche Aspekte ein und desselben Systems
angesehen werden. Darüberhinaus wird der menschliche Organismus in seiner Beziehung
zum gesamten Kosmos betrachtet ... Bei der genaueren Untersuchung dieses dynamischen
Gleichgewichts erscheint es sinnvoll, beim Menschen drei
zusammenhängende
allerdings wesentlich miteinander
Aspekte zu unterscheiden und daraus erste begriffliche Ansätze für eine
ganzheitliche Betrachtungsweise zu gewinnen ... der Körper, die Seele ... und die Umwelt“.
Capra
(2001)
schlußfolgert,
daß
das
Weltbild
des
kulturell-philosophischen
Ungleichgewichtes zunächst ausgesprochen erfolgreich gewesen sei, bis es „weit über die
Grenzen seiner Anwendbarkeit hinaus bis zu einem Punkt ausgeweitet wurde, daß es dazu
beitrug, eine materielle und gesellschaftliche Umwelt zu schaffen, die ... möglicherweise
sogar unser Überleben bedroht“.
Morin (1999) warnt vor intellektuellen Irrtümern: Unsere Ideen unterlägen nicht nur dem
Irrtum, sie förderten und unterstützten ihn sogar, indem sich Theorien gegen entgegengesetzte
Argumentationen wehren würden. „Obwohl wissenschaftliche Theorien die einzigen sind, die
die Möglichkeit ihrer Widerlegung akzeptieren, neigen sie auch dazu, diesen Widerstand an
den Tag zu legen.“
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Historisch-Kritische Anthropologie LV
Morin (1999) erkennt als Antinomie, die riesigen Wissensfortschritte der disziplinären
Spezialisierungen der „in sich verkapselten Disziplinen“ seien verstreut und nicht verbunden
und häufig die Kontexte, die Globalitäten, die Komplexitäten zerbrochen; wodurch
Hindernisse in unserem Erziehungssystem „die Ausübung einer umfassenden Erkenntnis
verhindern“, indem die fundamentalen und global-komplexen Probleme „aus den
Disziplinwissenschaften evakuiert worden“ seien. „Unter diesen Bedingungen verliert der
durch die Disziplinen geformte Geist seine natürlichen Fähigkeiten, die Wissenselemente zu
kontextualisieren, und sie in ihre natürlichen Gesamtheiten zu integrieren. Die Schwächung
der Wahrnehmung des Globalen führt zur Schwächung der Verantwortung (jeder neigt dazu,
nur für seine spezialisierte Aufgabe verantwortlich zu sein) sowie zur Schwächung der
Solidarität (der einzelne empfindet nicht mehr seine Verbindung mit seinen Mitbürgern).
Die essentiellen Probleme sind nach Morin (1999)
•
Disziplinen und geschlossene Spezialisierung:
Nach Morin hindere die Überspezialisierung daran, das Globale und Wesentliche zu
sehen: „Während die Allgemeinbildung den Ansporn enthielt, jede Information oder jede
Idee in den Kontext zu stellen, parzelliert, trennt und unterteilt die disziplinäre
wissenschaftliche und technische Kultur die Kenntnisse und macht es immer schwieriger,
sie in den Zusammenhang zu stellen. Gleichzeitig macht das Zerschneiden der Disziplinen
unfähig, das zu erfassen, was ... komplex ist.“
Infolge der mathematisch kalkulierbaren Abstrahierung der Spezialisierung zeigt Morin
am Beispiel der Ökonomie auf, daß sie sozial und menschlich am rückschrittlichsten sei,
was die Unfähigkeit ihrer Fachleute erkläre, u.a. den wirtschaftlichen Verlauf
vorherzusagen.
•
Reduktion und Disjunktion
Das wissenschaftliche Prinzip der Reduktion, das die Erkenntnis eines Ganzen auf die
Erkenntnis seiner Teile zurückführt, führe nach Morin „natürlich dazu, das Komplexe auf
das Einfache zu reduzieren“; entferne das Menschliche aus dem Menschen, blende das
Zufällige, das Neue, die Erfindung aus. „Die großen menschlichen Probleme
verschwinden zugunsten einzelner technischer (eindimensionaler) Probleme ... Je
multidimensionaler daher die Probleme werden, desto größer wird die Unfähigkeit, ihre
Multidimensionalität zu denken ... macht die blinde Intelligenz unwissend und
unverantwortlich.“
Capra (1996) postuliert: „Sich wieder ins Lebensnetz einzubringen, das heißt vor allem:
Gemeinwesen zu bilden und zu pflegen, die sich am Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit
21
Historisch-Kritische Anthropologie LV
ausrichten. In ihnen können wir unsere Bedürfnisse befriedigen und unsere Ziele
verwirklichen, ohne die Chancen künftiger Generationen zu schmälern.“
Literaturquellen:
Capra, F. (1996) „The Web of Life. A New Synthesis of Mind and Matter", HarperCollins, London. – Deutsche Ausgabe:
„Lebensnetz Ein neues Verständnis der lebendigen Welt , Scherz Verlag Bern und München, ISBN 3-426-77359-7
Capra, F. (2001) „Die neue Physik und die wissenschaftliche Realität unserer Zeit“ in J.
Lovelock/R.Sheldrake/F.Capra/P.Davies „Der wisssende Kosmos Die Entdeckung eines neuen Weltbildes“, Verlag Herder
Freiburg im Breisgau, ISBN 3-451-05133-8
Capra, F. (2002) „The Hidden Connections A Science For Sustainable Living“, Doubleday, a Division of Random House,
New York; HarperCollinsPublishers, London. Deutsche Ausgabe: „Verborgene Zusammenhänge Vernetzt denken und
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Davies, P. (2001) „Die kosmische Blaupause: Selbstorganisierte Prinzipien der Materie und des Geistes“ in J.
Lovelock/R.Sheldrake/F.Capra/P.Davies „Der wisssende Kosmos Die Entdeckung eines neuen Weltbildes“, Verlag Herder
Freiburg im Breisgau, ISBN 3-451-05133-8
Kamper, D. (1973) „Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik“, Hanser Verlag
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Liedtke, M. (1997) „Anthropologie: biologisch-evolutionstheoretische“, in Hierdeis, H./Hug, T. (Hg.) „Taschenbuch der
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Lomborg, B. (2001) „The Sceptical Environmentalist Measuring the Real State of the World“, Cambridge University Press,
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Lovelock, J. (2001) „Die heutige Umwelt und die Gaia-Perspektive“ in J. Lovelock/R.Sheldrake/F.Capra/P.Davies „Der
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Morin, E. (1999) „Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft“, UNESCO. Deutsche Ausgabe
(2001): Reinhold Krämer Verlag Hamburg, ISBN 3-89622-043-8
Rathmayr, B. (1997) „Anthropologie: historisch-kritische“, in Hierdeis, H./Hug, T. (Hg.) „Taschenbuch der Pädagogik
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Rathmayr, B. (1998) „Die Erfindung des Menschen. Marginalien zu einer Erkenntnistheorie der Historischen
Anthropologie“, in Dressel, G. (Hg.) „Mensch
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Anthropologie“; Innsbruck, Studia.
Rathmayr, B. (2002) „Die Frage nach dem Menschen
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Skriptum zur Einführung in die Historisch-kritische Anthropologie“,
Sheldrake, R. (2001) „Evolutionäre Gewohnheiten des Geistes, des Verhaltens und der Form“ in J.
Lovelock/R.Sheldrake/F.Capra/P.Davies „Der wisssende Kosmos Die Entdeckung eines neuen Weltbildes“, Verlag Herder
Freiburg im Breisgau, ISBN 3-451-05133-8
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