Berthold Wald Neubegründung der Philosophie bei Husserl, Heidegger und Pieper Ein zentrales Thema in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Neubegründung des Philosophierens nach dem „Ende der Philosophie“. 1 Dieser Wille zur Neubegründung verbindet so unterschiedliche Denker wie Edmund Husserl, Martin Heidegger und Josef Pieper, wobei die jeweils spätere Position den eigenen Neuansatz auch durch kritische Abgrenzung zu bestimmen sucht. Ein wechselseitiges Verhältnis von Begründung und Kritik besteht nur zwischen Heidegger und Husserl. Von einem Disput kann daher nur insofern die Rede sein, als die Positionen selbst gemeint sind, ihr Geltungsanspruch, der explizit oder implizit der jeweils anderen Position widerstreitet. Strittig ist vor allem der Sinn der philosophischen Wahrheitsfrage – ihr Gegenstand und die methodische Weise des Zugangs. Wenn es so etwas gibt wie eine spezifisch „philosophische“ Wahrheit, dann wird ihre Bestimmung und Abgrenzung von anderen Wahrheiten nicht unabhängig von dem jeweils zugrunde liegenden Philosophiebegriff sein können. Deshalb kommt es zuerst darauf an, den Begriff des Philosophierens zu bestimmen. Das soll jeweils der Reihe nach für Husserl, Heidegger und Pieper geschehen, um von dorther auch den Sinn der philosophischen Wahrheitsfrage zu klären. I. Edmund Husserl: Wahrheit und absolute Begründung der Erkenntnisgewißheit 1. Notwendigkeit, einen neuen Anfang zu machen in der Philosophie Husserls Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ (1911) 2 ist der Versuch einer absoluten Begründung der Erkenntnisgewißheit in einer absolut ursprünglichen Einsicht. Schon Descartes wollte dem Skeptizismus und Agnostizismus ein für allemal den Boden entziehen. Seine ontologische Unterscheidung zwischen Selbstbewusstsein und gegenständlicher Außenwelt 1 Vgl. Klaus Held, Heideggers These vom Ende der Philosophie; in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 33 (1980), 535 – 560. 2 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1971. 1 war jedoch nicht radikal genug, insofern sie das erkenntnistheoretische Problem objektiver Erkenntnis von Wirklichkeit nicht bloß nicht lösen konnte. Vielmehr hat der cartesianische Dualismus das Problem der „Brücke“ zwischen Innenwelt und Außenwelt zuallerst geschaffen und der nachfolgenden Philosophie auf der Basis seiner Fundametalunterscheidung als unlösbar hinterlassen. Am Ende der neuzeitlichen Suche nach einem unbezweifelbaren Fundament der Erkenntnis steht nicht die Überwindung des Zweifels, sondern die Aufhebung, Einschränkung und Relativierung des Wahrheitsbegriffs angesichts einer unerreichbaren Realität. Husserl sucht diesen Herausforderungen mit seiner Schrift zu begegnen, wobei die Kritik der traditionellen Gestalten der Philosophie zugleich der Anstoß sein will für einen neuen Anfang in der Philosophie. Den modernen Skeptizismus sieht Husserl in dreifacher Gestalt gegeben. Am weitesten geht die Aufhebung des Wahrheitsbegriffs im Psychologismus und im Historismus. Sie kommen darin überein, daß nicht die Geltung der Wahrheit, sondern allein die Genese der Wahrheitsansprüche im subjektiven Prozess des Denkens bzw. im kollektiven Geschichtsprozess wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen genügen kann. Eine „Erklärung“ des Wahrheitsgehalts aus seiner Genese bedeutet aber, dass es keine objektiv gültige Wahrheit gibt. 3 Weniger radikal, aber nicht weniger antiphilosophisch, ist die Einschränkung des Wahrheitsbegriffs im Naturalismus bzw. Positivismus. Kennzeichnend ist hier die Behauptung, daß unsere Erkenntnis über die gegenständliche Welt nicht hinausgelangen kann. Wovon es keine sinnliche Wahrnehmung gibt, davon kann es auch keine wahren, sondern bloß sinnlose Aussagen geben. Die geisteswissenschaftliche Auflösung wie die naturwissenschaftliche Einschränkung des Wahrheitsbegriffs sind die – einander ausschließenden – Konsequenzen der seit dem neunzehnten Jahrhundert dominierenden 3 Ebd., S. 50 f.: „Vor dem Blick, der die Erde und alle Vergangenheiten umspannt, schwindet die absolute Gültigkeit irgend einer einzelnen Form von Lebensverfassung, Religion und Philosophie. So zerstört die Ausbildung des historischen Bewusstseins gründlicher noch als Überblick über den Streit der Systeme den Glauben an die Allgemeingültigkeit irgend einer der Philosophien. [...] Man sieht leicht, dass der Historismus konsequent durchgeführt in den extremen skeptischen Relativismus übergeht.“ 2 Wissenschaftstheorien. Demgegenüber ordnet Husserl die Relativierung des Wahrheitsbegriffs einer populären Weltanschauungsphilosophie zu. Wahrheit ist danach relativ zu einem weltanschaulichen Gesamtkontext, der seinerseits der Beurteilung als wahr oder falsch entzogen ist. Der Wahrheitsbegriff ist darum auch hier – wie schon im Fall des Psychologismus und Historismus - ohne objektives Fundament. Wirkung und Verbreitung dieser Auffassungen beruhen für Husserl vor allem auf der Schwäche der Philosophie. „Alles und jedes ist hier strittig“, während an den „wundervollen Theorien der Mathematik und der Naturwissenschaften [...] kein Vernünftiger zweifeln“ wird.4 Und wie bereits Kant, so zieht Husserl daraus den Schluß, die Philosophie „sei noch keine Wissenschaft, sie habe als Wissenschaft noch keinen Anfang genommen.“ 5 Deshalb hat eine Befreiung aus dieser Situation mit der Selbstkritik der bisherigen Philosophie zu beginnen. Nicht dass Husserl jede Form der Weltanschauungsphilosophie oder Weisheitslehre verwirft. Weil jeder Mensch „der Idee nach [...] notwendig ‚Philosoph’ im ursprünglichen Wortsinne“6 ist, darum haben Weisheit und Weltanschauung als zugehörig zur „Kulturgemeinschaft und Zeit“ ihr begrenztes Recht, insofern „eine Weltanschauungsphilosophie [...] die relativ vollkommenste Antwort auf die Rätsel des Lebens und der Welt gibt“. 7 Doch sie muß scharf von der wissenschaftlichen Philosophie unterschieden und ihr untergeordnet werden. Im Bereich von Weltanschauungsphilosophie und Weisheit gilt: „Persönlichkeit wendet sich an Persönlichkeit“, und wer sich „lehrend [...] an den weiteren Kreis der Öffentlichkeit“ wendet, muß dazu aus seiner „Eigenweisheit“ oder auch als „Diener hoher praktischer – religiöser, ethischer, juristischer Interessen“ legitimiert sein. Echte Wissenschaft dagegen ist „unpersönlich“; sie besitzt und hütet „einen Schatz ewiger Gültigkeiten“, und ihr Mitarbeiter „bedarf nicht der Weisheit, sondern theoretischer 4 Ebd., S. 9. Ebd., S. 8. 6 Ebd., S. 59. 7 Ebd., S. 58. 5 3 Begabung.“8 Husserls strikte Unterscheidung von Philosophie als Weltanschauungslehre und Philosophie als Wissenschaft hat zur Folge, dass wissenschaftliche Philosophie nur eine Sache von wenigen sein kann und Philosophie nur als Fachwissenschaft – wie alle Wissenschaft – „der Menschheit zum Segen gereichen“ kann. Doch bis zur Etablierung der Philosophie als Wissenschaft ist noch ein weiter Weg, dem Husserl mit seinem programmatischen Weckruf die Richtung weisen will. „Erst wenn die entschiedene Trennung der einen und anderen Philosophie sich im Zeitbewußtsein durchgesetzt hat, ist auch daran zu denken, daß Philosophie Form und Sprache echter Wissenschaft annehme und als Unvollkommenheit erkenne, was an ihr vielfach gerühmt oder gar imitiert wird – den Tiefsinn.“9 2. Wahrheit in den Wissenschaften – Wahrheit in der Philosophie Ob die Philosophie jemals eine Wissenschaft sein wird, mit gesicherten Erkenntnissen und einem stetigen Erkenntnisfortschritt, hängt von der Bestimmung ihres Gegenstands ab und von der Methode seiner Erforschung. Husserls Absicht, dem Paradigma von Logik und Mathematik folgend auch in der Philosophie „die unerschütterliche, die absolut unbezweifelbare Grundlage der Erkenntnis ausfindig zu machen“,10 führt ihn zu der folgenreichen Unterscheidung von Tatsachen- und Wesenswissenschaften. Im Bereich der bloßen Tatsachen und der Feststellung ihres Zusammenhangs wird es nie eine absolute und endgültige Gewissheit der Erkenntnis geben können. Alle Empirie liefert nur die „Gewißheit eines Faktums“ ohne Einsicht in dessen notwendige Existenz11 Der „Aberglaube der Tatsache“ ist für Husserl sogar der eigentliche Grund, weshalb die „Naturalisten und Historizisten, [...] alle Wirklichkeit [...] in 8 Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 69. Natürlich kann der Vorwurf des „Tiefsinns“ zum damaligen Zeitpunkt nicht für Heidegger gelten. Aber daß er später erhoben werden konnte, von Adorno zum Beispiel, zeigt die von Anfang an bestehende Differenz zwischen Husserl und Heidegger mit Bezug auf ihr Verständnis des Philosophierens. 10 Leszek Kolakowski, Die Suche nach der verlorenen Gewissheit. Denkwege mit Edmund Husserl, München 1986, S. 10. 11 Elisabeth Ströker, Husserls Werk. Zur Ausgabe der gesammelten Schriften.Register, Hamburg 1992, S. 82f. 9 4 ein unverständliches ideenloses Gemenge von ‚Tatsachen’ zu verwandeln“12 suchen. Weil den faktisch gegebenen Gegenständen der Erfahrung keinerlei Notwendigkeit zukommt, darum kommt es hier niemals zur Vollständigkeit des Überblicks und schon gar nicht zu absoluter Erkenntnisgewissheit. Mit den „Ideen“ als objektiven Gegenständen des reinen Bewusstseins verhält es sich dagegen anders. Die Paradigmen der Objektivität des Idealen sind für Husserl wie schon für Platon die Gegenstände der Mathematik. Ihnen kommt eine andere Art von Gegenständlichkeit zu als den Tatsachen der empirischen Welt. Sie werden innerhalb des Bewusstseinsraumes erfasst an dem, was dem Bewusstsein unmittelbar gegeben ist. Das, woran oder worin die Ideen vorkommen, nennt Husserl die „Phänomene“. „Die Phänomene [...] haben [...] ein in unmittelbarem Schauen fassbares, und adäquat fassbares Wesen.“13 Das Bewusstsein ist das „Reich der Phänoneme“, das schon David Hume vom „Reich der Tatsachen“ unterschieden hatte. Doch im Unterschied zu Hume interessiert Husserl nicht die Frage der Entsprechung zwischen Phänomen und Tatsache. Das ist primär eine Frage der empirischen Psychologie. Ihn interessiert allein die Frage nach den in den Phänomenen selbst geistig fassbaren Wesengehalten. Wesen, Wesenheiten oder Ideen - die Terminologie ist hier schwankend – sind Gegenständlichkeiten eigener Art. Sie unterscheiden sich ihrem Gehalt nach objektiv und werden in den Akten der inneren Anschauung unmittelbar erfasst. Und allein diese Gegenstände der inneren Anschauung in ihrem objektiven Gehalt sind die spezifischen Gegenstände einer neu zu begründenden wissenschaftlichen Philosophie. Husserl bezeichnet die erneuerte Philosophie als „reine Phänomenologie“ oder „Wesenswissenschaft“. Reinheit der Phänomene soll heißen: ihr Sachgehalt wird als solcher erfasst, d. h. ohne Bezug auf das Dasein der wirklichen Dinge. „Die Schauung erfasst das Wesen als Wesenssein und setzt in keiner Weise Dasein.“14 Diese geistige Schauung ist ihrerseits zu unterschieden vom subjektiven psychischen Erleben des objektiven 12 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 66. Ebd., S. 38. 14 Ebd., S. 40. 13 5 Wesensgehalts. Das in der „reinen Immanenz“ des Bewusstseins Gegebene ist „ein absolut Gegebenes“.15 Als wissenschaftliche Philosophie kann die Philosophie darum „nur Wesenforschung und gar nicht Daseinsforschung sein, jede ‚Selbstbeobachtung’ und jedes Urteil auf Grund solcher ‚Erfahrung’ fällt außerhalb ihres Rahmens.“16 Eine solche auf der Grundlage der Wesensschau erneuerte Philosophie trägt „zugleich allen berechtigten Motiven des Apriorismus volle Rechnung“,17 sofern nicht nur die Wesen selbst, sondern auch deren Beziehungen aufeinander als objektiv gültig erfasst werden.18 Was sich durch „Wesensbegriffe, also durch begriffliche Wortbedeutungen“ zu objektiv gültiger Aussage verbinden läßt, steht darum unter der Bedingung, dass sich auch die Verbindungen dieser Begriffe „in Wesensschauung einlösen lassen müssen.“19 Die in solcher Schau erfassten Wesenheiten sind nur das, was sie sind, unabhängig davon, ob ihnen in der Wirklichkeit etwas entspricht oder nicht, und ob sie in einem Erkenntnisakt realisiert sind oder nicht. Die Verwirklichung ist ihnen genauso äußerlich wie das Erkanntsein. Husserls Forderung „Zurück zu den Sachen selbst!“, d.h. zu objektiv gültigen Sachgehalten noch diesseits ihrer Verwirklichung nimmt gleichwohl ihren Ausgang beim Welterleben. Um das darin objektiv Gültige und Wesensnotwendige zu erfassen, es gleichsam herauszulösen aus den lebensweltichen Zusammenhängen, ist eine zweifache Reduktion vonnöten. Die zur Unterscheidung von subjektiver Erlebnisweise und Sachgehalt notwendige Reduktion nennt Husserl „eidetisch“. Gemeint ist das Erfassen und Unterscheiden von Sachgehalten, die nicht aufeinander rückführbar sind und die entweder für sich stehen können und/ oder notwendig miteinander verbunden sind. Nehmen wir als Beispiel den Erlebnisgehalt „saftiger runder Apfel, reif und gelb“. Im sinnlichen Gegebensein dieses Apfels erfasst die intellektuelle Anschauung Sachgehalte wie „Gelbheit“, „Süße“, „Reife“, „Saftigsein“, 15 Ebd., S. 38. Ebd., S. 43. 17 Ebd., S. 48. 18 Ebd., S. 43: „Objektiv gültig kann sie nur Wesen und Wesensbeziehungen erfassen.“ 19 Ebd., S. 38. 16 6 „Rundsein“ etc. als Sachgehalte. Diese sind, was sie sind, gänzlich unabhängig von der Existenz dieses Apfels. Dasselbe Beispiel kann auch als Illustration für das Auffinden notwendiger Wesenszusammenhänge genommen werden: „Rundheit“ und Ausdehnung hängen notwendig zusammen, (was rund ist, ist notwendig auch ausgedehnt) - ebenso „Gelbheit“ und Materialität (was gelb ist, ist notwendig an eine irgendeine Materie gebunden). Eidetische Reduktion bedeutet also ausgehend vom empirischen Erlebniszusammenhang die Ablösung der Sachgehalte, welche das reine Bewusstsein als an sich seiende Wesenheiten erfasst. Den zweiten Schritt auf dem Weg zu den Sachen selbst nennt Husserl die transzendentale Reduktion oder Einklammerung der Existenz der Dinge (Epoché). Er folgt auf die eidetische Reduktion und bedeutet die Ausklammerung der Existenz dessen, woran die Sachgehalte ursprünglich erfasst worden sind: an diesem gelben Apfel hier. Das Apfelding besitzt keinerlei Notwendigkeit zu sein, und die an ihm erfassten objektiven Sachgehalte sind nicht an das Vorkommen von Äpfeln in der physikalischen Welt gebunden. Es sind absolute oder reine Wesenstatsachen, die vom absoluten oder reinen Bewusstsein als solche erfasst werden. 3. Absolute Gewissheit der Wahrheit und „immanente Transzendens“ Husserls strikte Unterscheidung der Philosophie als Wesenswissenschaft von den Tatsachenwissenschaften führt auf dem Weg der zweifachen Reduktion zu absolut gewisser Erkenntnis. Absolute Gewissheit ist nur dann zu erreichen, wenn es keine „Brücke“ zu den Gegenständen der Erkenntnis überschreiten gilt und sich die beunruhigende Frage nicht stellen kann, ob unsere Erkenntnis ihre Gegenstände auch wirklich erreicht und objektiv erfasst. Eben dies Problem der „Brücke“ ist bei Descartes unlösbar, weil er sich fragt, ob wir unserer Wahrnehmung der Außenwelt trauen können. Diese Frage stellt sich für Husserl nur solange, wie Tatsachenwissenschaft und Wesenswissenschat nicht streng unterschieden werden. Die Eliminierung der erkenntnistheoretischen 7 „Brückenfrage“ leistet die eidetische und transzendentale Reduktion. Sie stellt eine absolute Unmittelbarkeit her, worin der Akt der Erkenntnis und sein Inhalt nicht in irgendeiner Weise durch die Sinne vermittelt sind. Daß die Inhalte des reinen Bewusstseins diesem selbst absolut transparent und immanent gegeben sind, Hat zur Folge, daß „wir ganz einfach nicht fragen können, wie wir wissen, dass unsere Akte [der Erkenntnis] den Inhalt, wie er wirklich ist, erreichen.“20 Allerdings hat Husserls Bestimmung der Philosophie als Wesenswissenschaft einen hohen Preis, der für die strenge Wissenschaftlichkeit ihrer Erkenntnis zu entrichten ist. Die „Sachen“ oder „Wesenheiten“, welche im Akt der Erkenntnis erreicht werden, sind ja einzig in der Seinsregion des reinen Bewusstseins gegeben und können darum auch nicht „falsch“ gesehen werden.21 Die Transzendenz der Wahrheit, das Erreichen der „Sachen selbst“, bleibt bewußtseinsimmanent. Die wirkliche Welt ist dann nur von der Immanenz des Bewusstseins her als bloß vermeinte und ungewisse Transzendenz gegeben. Der Preis für die „absolute Begründung“ von Wahrheit ist die Entwirklichung der Welt.22 In seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie fordert Husserl dazu auf, „in das neu anzulegende Grundbuch der Phänomenologie“ nichts einzutragen, was auf das empirische Dasein Bezug nimmt, um wenigstens im Medium des Gedankens jene andere Welt zu betreten, die „alle möglichen realen Welten und alle Welten jedes erweiterten Sinnes ‘in sich trägt’“.23 Dieser Ausstieg aus der wirklichen Welt ist innerhalb der phänomenologischen Philosophie nicht rückgängig zu machen. „Sobald wir die Suche nach 20 21 L. Kolakowski, Die Suche nach der verlorenen Gewißheit, S. 78 (Herv. Im Original) E. Ströker, Husserls Werk, S. 59. 22 Es entsteht unabhängig von Husserl um die Jahrhundertwende so etwas wie eine „Denkform der ‘entwirklichenden Realisierung’“ (Ferdinand Fellmann, Phänomenologie und Expressionismus, Freiburg/München 1982, S. 71). Diese kommt zuerst im Expressionismus zum Vorschein, der „das naive Vertrauen verloren [hat] in die Wirklichkeit des Gegebenen, das dem Realismus des 19. Jahrhunderts zu eigen war. [...] Er protestiert gegen das Unabänderliche und glaubt an die Möglichkeit des absolut Neuen, das die gegebene Welt begrenzt“ (ebd., S. 13) Robert Musil überschreibt das vierte Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften mit dem Satz: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“ und definiert den Möglichkeitssinn „als die Fähigkeit [...], alles, was ebensogut sein könnte zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.“ (Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Hamburg 1992, S. 16). 23 Husserliana III, S. 152; S. 73. 8 Gewissheit beginnen, können wir nicht zu den Gegenständen der realen Welt zurückgehen, ohne alle Resultate der Suche [Gewissheit, Klarheit und Notwendigkeit] zu annullieren.“24 Wir können also nicht beides haben: absolute Gewissheit der Erkenntnis und Erkenntnis der realen Weltwirklichkeit. Das ist keine neue Einsicht in das Dilemma der Phänomenologie. Leszek Kolakowski verweist auf Etienne Gilson, der bereits in seinen Studien zum Cartesianismus die ebenso einfache wie einleuchtende Konsequenz formuliert: „Wenn wir mit der immanenten Welt des reinen Bewusstseins beginnen, werden wir in der immanenten Welt enden.“25 – Es gibt von hier keinen Weg zurück in die reale Welt. Aber das ist nicht alles. Husserls Versuch einer Neubegründung der Philosophie wirft auch innerhalb seiner Konzeption eine Reihe von Fragen auf, die wegen des strikten Rückzugs auf die Immanenz des reinen Bewusstseins ungeklärt bleiben. Ich halte mich hier der Kürze wegen an Leszek Kolakowski. Ungeklärt ist zunächst schon die ontologische Frage. Selbst wenn die Philosophie in den Wesen und Wesenszusammenhängen eine eigene Seinsregion zu erfassen meint, - es geht schließlich darum, wie denn diese Welt der reinen „Sachen“ oder „Wesenheiten“ sich zu der realen Welt der Dinge verhält. „Die Frage bleibt offen, ob und wie das, was wir innerhalb der phänomenalen Welt erreichen, auch als gültig für die ‚wirkliche Welt’ erweisen werden kann.“26 Sobald wir alle Wirklichkeit einklammern, „haben wir es mit Bedeutungen zu tun, deren Weltbezug unbekannt und nicht gefragt ist. Die Welt erscheint als Phänomen der Welt“27 Schließlich besteht eine weitere ungelöste und wohl ebenso unlösbare Schwierigkeit darin, den Solipsismus zu vermeiden und die Möglichkeit der Intersubjektivität zu begründen. „Es ist uneinsehbar, wie innerhalb des transzendentalen Feldes, das nur als Korrelat meiner transzendentalen Akte gegenwärtig ist, andere egos konstituiert werden können, die in demselben Sinn 24 L. Kolakowski, Die Suche nach der verlorenen Gewissheit, S. 81. 25 Zitiert nach Kolakowski, ebd., S. 90. Ebd., S. 50. 27 Ebd., S. 51. 26 9 absolut sind, wie ich es bin.“28 Denn: „das alter ego kann nichts anderes als eine Konkretion meines Bewusstseins sein.“29 Und letztendlich stellt sich auch die Frage nach dem Wissenschaftsanspruch der Phänomenologie selbst. Wissenschaft impliziert Kommunizierbarkeit – Phänomenlogische „Gewissheit besteht dagegen nur im Akt der Einsicht, nicht im Diskurs“ Kolakowski schließt daraus: „Es gibt keinen Grund für die Überzeugung, dass jeder zu derselben Überzeugung gelangen wird, und wenn einer sagt ‚ich habe Einsicht gehabt, du (aber) nicht’, muß die Diskussion aufhören. Für Husserl ist das letzte Substrat des Wissens nicht kommunikabel.“30 In den späteren Werken Husserls, vermutlich unter dem Eindruck von Heideggers Sein und Zeit (1927), finden sich allerdings bedeutsame Veränderungen seiner Position. So kommt der Aspekt der Geschichtlichkeit der Erkenntnis erstmals zur Geltung, wenn Husserl in seinem Werk Formale und Transcendentale Logik (1929) anerkennt, „daß jedes Urteil ‚eine Art Historizität’ in sich berge und füglich ‚nach seiner ihm wesensmäßigen Sinnesgeschichte’ zu fragen sei“.31 Damit verliert das bisher unhintergehbar Letzte, das reine Bewusstsein und die transzendentale Subjektivität wie auch die absolute Evidenz seiner Wesensschau, seine Absolutheit und wird selbst durch etwas Vorgängiges mitkonstituiert. Es ist darum nur konsequent, wenn Husserl sich in seinem letzten Werk Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) den lebensweltlichen Bedingungen der Erkenntnis zuwendet, um „die Fundamente seiner Phänomenologie noch einmal tiefer zu legen […] durch die Einbeziehung von Tradition und Geschichte“. 32 Husserl erkennt jetzt an, daß „wir nicht nur geistiges Erbe haben, sondern auch durch und durch nichts anderes als historisch Gewordene sind.“33 Die in Philosophie als strenge Wissenschaft eingeführte Fundamentalunterscheidung zwischen Tatsachenwissenschaften und 28 Ebd., S. 89. Ebd. 30 Ebd., S. 63. 31 E. Ströker, Husserls Werk, S. 96 (mit Bezug auf Husserls Logik-Schrift in Husserl, Werke, Bd. 7, Hamburg 1992, S. 212). 32 Ebd., S. 105 (Herv. Im Original). 33 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften; Husserl, Werke Bd. 8, S. 72f. 29 10 Wesenswissenschaften wird damit faktisch aufgegeben. Die „Wesenheiten“ und ihre Erkenntnis werden nun selbst als „Tatsachen“ der individuellen und kollektiven Denkgeschichte verstanden. II. Martin Heidegger: Zeitlichkeit und philosophisches Seinsverstehen Heideggers Versuch einer Neubegründung der Philosophie geschieht in der Absicht, Philosophie als Metaphysik zu destruieren, um so – erstmals – wieder in die Nähe zum Sein zu gelangen.34 Er spricht zur Unterscheidung der neuen Fragerichtung nicht mehr vom “Philosophieren”, sondern vom “Denken”. Schon in Sein und Zeit (1927), das in der ersten Auflage seinem Lehrer Edmund Husserl gewidmet ist, geht Heidegger hinter die Fragegestellung der Metaphysik bzw. Ontologie zurück. Wie Husserl geht es ihm darum, den Boden oder das Fundament des menschlichen Weltverhältnisses freizulegen. Der nicht zu Ende geführte Versuch einer “Fundamental-Ontologie” bleibt trotz der späteren Wandlungen seines Denkens bestimmend für sein Urteil über die Metaphysik. Philosophie als Metaphysik ist zu Ende in dem Sinn, daß ihre Denkmöglichkeiten mit der Herrschaft der Einzelwissenschaften erschöpft sind.35 Doch anders als für Husserl sind die neuzeitlichen Wissenschaften für Heidegger nicht das Paradigma, hinter dem die bisherige Philosophie zurückgeblieben ist, sondern deren Erfüllung und Vollendung. In der “Objektivität” und dem Siegeszug der Wissenschaften sieht er das letzte Stadium einer Vergegenständlichung des Seins, das mit der metaphysischen Frage nach dem Sein des Seienden und deren spezifischer Beantwortung “im 34 Dieser Anspruch der Erstmaligkeit wird im zweiten Hauptwerk Heideggers, den erst posthum veröffentlichten “Beiträgen zur Philosophie” (1946) besonders deutlich reklamiert: “Die Zeit der ‘Systeme’ ist vorbei. Die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen. Inzwischen muß die Philosophie im Übergang zum anderen Anfang ein Wesentliches geleistet haben: den Entwurf, d. h. die gründende Eröffnung des Zeit-Spiel-Raumes der Wahrheit des Seins. Wie ist dieses Einzige zu vollbringen? Hier bleiben wir ohne Vorläuferschaft und ohne Anhalt. Bloße Abwandlungen des Bisherigen [...] bringen nicht von der Stelle [...] Der andere Anfang des Denkens ist so genannt, nicht weil er nur andersförmig ist als beliebige andere bisherige Philosophien,sondern weil er der einzig andere aus dem Bezug zu dem einzig einen und ersten Anfang sein muß.” (M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA, Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 7). 35 Vgl. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 63 f. 11 Sinne der Washeit (quidditas) oder der Sachheit (realitas)”36 begonnen hat. Die “Vergegenständlichung” des Seienden in der neuzeitlichen Wissenschaft hat darin ihre Wurzel: “Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.”37 Das Vorgestelltsein des Seienden aber bedeutet: “Der [vorstellende] Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen”.38 Zwischen dem Vorstellen des Menschen und dem Vorgestelltsein des Seienden besteht ein innerer Zusammenhang, den Heidegger als “Wechselspiel zwischen Subjektivismus und Objektivismus” 39 versteht. Seine Herleitung der neuzeitlichen Wissenschaft aus dem begrifflichen Denken der Metaphysik gipfelt in der gegen Husserls Idee einer Wesenswissenschaft gerichteten Behauptung einer “für das Wesen der Neuzeit entscheidende[n] Verschränkung”, daß, “je objektiver das Objekt erscheint, um so subjektiver, d. h. vordringlicher erhebt sich das Subjekt”.40 Am Boden der Ontologie, gewissermaßen als ihr Fundament, steht das Subjekt, das das Sein des Seienden oder die Welt im ganzen als “Wille und Vorstellung” erfaßt und zu beherrschen sucht. Heideggers eigene Aufassung von dem noch ausstehenden Anfang des neuen Denkens und vom Sinn des Philosophierens soll hier in drei Punkten notgedrungen summarisch zusammengefaßt und in einem vierten Punkt wiederum nur andeutungsweise kritisch befragt werden.41 1. Seinsvergessenheit und Wahrheitsbegriff In seiner Antrittsvorlesung über die Frage “Was ist Metaphysik?” (24.07.1929) 42 bezeichnet Heidegger die Absicht von Sein und Zeit als den Versuch, “die so verstandene Metaphysik zu überwinden.”43 Alle bisherige Metaphysik habe das 36 M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 29. M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes; in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1994, S. 90. 38 Ebd., S. 91. 39 Ebd., S. 88. 40 Ebd., S. 93. 41 Meine Darstellung folgt dabei sehr eng Heideggers Selbstauslegung in seinen Vorträgen nach dem Erscheinen von Sein und Zeit (1927), Tübingen 1972. 42 Frankfurt a. M. 2007. 43 Ebd., S. 10. 37 12 Sein nicht in seiner eigenen Wahrheit gedacht. “Weil die Metaphysik das Seiende als das Seiende befragt, bleibt sie beim Seienden und kehrt sich nicht an das Sein.”44 Und weil die Metaphysik “das Sein nur denkt, insofern sie das Seiende als das Seiende vorstellt, [...] kommt es zu einer durchgängigen Verwechslung von Seiendem und Sein.”45 “Sie meint das Seiende im Ganzen und spricht vom Sein. Sie nennt das Sein und meint das Seiende als das Seiende.”46 Deshalb kann “das vorstellende Wesen der Metaphysik [das] Wesen der Wahrheit nicht erreichen.”47 Das zeigt sich für Heidegger am Wahrheitsbegriff, der nicht von der Wahrheit des Seins, sondern von der Wahrheit der Aussage her als Übereinstimmung zwischen Ding und Vorstellung gedacht sei. Für das “vorstellende Wesen der Metaphysik” erscheint das Wesen der Wahrheit “immer nur in der abkünftigen Gestalt der Wahrheit der Erkenntnis und der Aussage.” 48 So gilt ihm der Begriff der Wahrheit als Richtigkeit der Aussage nicht bloß ein Beweis für die “Seinsvergessenheit” der Metaphysik. Das Ausbleiben dieses Bezugs zum Sein und der zugehörige Begriff der Wahrheit sind auch die Mächte, die “von weither das moderne Zeitalter bestimmen”.49 Auf die “Seinsvegessenheit achten zu lernen” ist daher eine erste Vorraussetzung zur “Überwindung der Metaphysik”.50 An die Stelle des vorstellenden Denkens soll ein “vom Sein selbst ereignetes und darum zum Sein gehöriges Denken”51 treten. In einem Vortrag “Vom Wesen der Wahrheit” (1930) hat Heidegger wenig später diesen Neuanfang des Denkens durch Kritik und Neubestimmung des Wahrheitsbegriffs auszuweisen versucht. Unter der Überschrift “Der geläufige 44 Ebd., S. 8. Ebd., S. 12. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 11. 48 Ebd., S. 11. 49 Ebd., S. 13. 50 Ebd.. S. 13 f. Überwindung versteht Heidegger im Sinne der “Destruktion” der Metaphysik in ihren historischen Gestalten. Der Anspruch der Metphysik, “alles Verhältnis zum Seienden als solchen maßgebend zu bestimmen, wird hinfällig. Doch diese ‘Überwindung’ der Metaphysik beseitigt die Metaphysik nicht.” (Ebd., S. 9). 51 Ebd., S. 18. Vgl. dazu weiter unten Punkt 3. Seinsgeschick als Ereignis. 45 13 Begriff der Wahrheit”52 setzt er sich mit dem mittelalterlichen Ursprung der Formel “veritas est adaequatio rei et intellectus” auseinander und erläutert zunächst den ontisch-ontologischen “Doppelcharakter des Stimmens” als “Wahrheit der Dinge” und “Wahrheit der Ausage” durch den Bezug auf den göttlichen Intellekt. “Die Möglichkeit der Wahrheit menschlicher Erkenntnis gründet, wenn alles Seiende ein ‘geschöpfliches’ ist, darin, daß Sache und Satz in gleicher Weise ideegerecht und deshalb aus der Einheit des göttlichen Schöpfungsplanes auf einander zugerichtet sind.”53 Wahrheit verstanden als Satzwahrheit (Richtigkeit und Stimmigkeit der Aussage über Wirklichkeit, die selbst Aussagecharakter hat) ist ohne den vorausgesetzten christlichen Schöpfungsgedanken oder einer seinsbegründenden Weltvernunft nicht zu denken. Schon aus diesem Grund, “um die philosophische Wesensumgrenzung gegen die Einmischung der Theologie rein [zu] erhalten”54, vor allem jedoch um der Unmittelbarkeit des Sich-zeigens von Wirklichkeit willen soll Wahrheit philosophisch anders gedacht werden. An die Stelle der Zusammengehörigkeit von göttlicher Vernunft und Wirklichkeit setzt Heidegger die unmittelbare Zusammengehörigkeit zwischen dem Dasein des Menschen und der Offenbarkeit des Seienden. Wahrheit wird jetzt von Heidegger bestimmt als “Entbergung von Seiendem”, dessen “Unverborgenheit” im freien Sein-lassen des Seienden das Wesen der Wahrheit ausmacht.55 Von seiten des Daseins gründet die Möglichkeit der Wahrheit in der Freiheit, im “Sein-lassen” als einem “Sicheinlassen auf das Seiende”. Von seiten des Seienden ist der Grund der Wahrheit die “Offenheit, in die jegliches Seiende hineinsteht.” Sicheinlassen auf das Seiende bedeutet, “dem Anwesenden sein Anwesen lassen und nichts 52 M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 6 – 10. Ebd., S. 8 f. 54 Ebd., S. 10. 55 Vgl. ebd., S. 18. Heideggers Berufung auf das griechische Wort a-letheia zur Rechtfertigung seiner These von der Wahrheit als Un-verborgenheit ist philologisch oft genug als willkürlich kritisiert worden. Philosophisch dient sie Heidegger dazu, auch die Verborgenheit des Seienden aus seinem Bezug auf die Freiheit des Daseins zu verstehen. “Weil jedoch die Wahrheit im Wesen Freiheit ist, deshalb kann der geschichtliche Mensch im Seinlassen des Seienden das Seiende auch nicht das Seiende sein lassen, das es ist. Das Seiende wird dann verdeckt und verstellt.” (Ebd., S. 19). 53 14 dazwischen bringen”.56 Die existentiale Bedingung der Wahrheit ist ihrerseits abhängig vom Charakter des Daseins, sofern “erst aus dem Da-sein, in das der Mensch eingehen kann, eine Nähe zur Wahrheit des Seins für den geschichtlichen Menschen sich vorbereitet.”57 Die ontische Bedingung der Wahrheit wiederum kommt nur dann in den Blick, wenn das Wesen des Seienden nicht länger “im Sinne von Washeit (quidditas) oder Sachheit (realitas), sondern “verbal” als das, was in der und der Weise “west” oder “waltet”, aufgefaßt wird.58 Die Formel für diesen Sachverhalt lautet daher: “Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens,” 59 wobei das “Wesen” beide Male als ein Geschehen – als das Tun des Wesens – verstanden werden soll, also nicht im Sinn von Wesenheit (essentia), sondern im partizipialen Sinn von ens seiend - in der Tätigkeit des Seins. Denn “Sein [...] ist keine seiende Beschaffenheit an Seiendem. Das Sein läßt sich nicht gleich dem Seienden gegenständlich vor- und herstellen.”60 Diese so genannte “ontologische Differenz” gilt gleichermaßen im Bereich des Seienden wie im Bereich des Daseins. Es gilt, die Aufmerksamkeit auf das Sein wie für das Existieren als Daseinsvollzug zu wecken. Beides ist im selben Maße der Vergegenständlichung entzogen. 2. Zugehörigkeit von Sein und Dasein Auf dem Boden der ontologischen Differenz eröffnet sich ein Verstehen der Zugehörigkeit von Sein und Dasein. Zunächst einmal meint Heidegger auch da, 56 Ebd., S. 16. In Heideggers Einführung in die Metaphysik (1935) ist die Abhängigkeit der Wahrheit des Seienden vom Dasein des Menschen kurz und bündig so zusammenfaßt: “Der Bezug zum Sein ist das Lassen”. (Einführung in die Metaphysik, Frankfurt a. M. 1987, S. 16). 57 Ebd., S. 30. In Sein und Zeit bestimmt Heidegger die gegensätzlichen Möglichkeiten des Da-seins im Verhältnis zum Seienden durch die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Existenz. 58 Vgl. Vom Wesen der Wahrheit, S. 30. Man kann darin einen Bezug auf die aristotelische Formel “to ti en einai” sehen, welche den Sachgehalt “ti en” in der Weise des “einai” als das, was währt, bestimmt. In einer Vortragsserie unter dem Titel “Einblick in das was ist” vom Dezember 1949 verdeutlicht Heidegger den verbalen Sinn von “Wesen” folgendermaßen. “Schon wenn wir ‘Hauswesen’, ‘Staatswesen’ sagen, meine wir nicht das Allgemeine einer Gattung, sondern die Weise, wie Haus und Staat walten, sich verwalten, entfalten und verfallen. [...] ‘Wesen’, verbal verstanden, ist dasselbe wie ‘währen’. [...] Alles Wesende währt. Aber ist das Währende nur das Fortwährende?” (M. Heidegger, Die Technik und die Kehre, Stuttgart 2007, S. 30). Das Wesen verstanden als das Fortwährende, als Wesenheit (essentia oder quidditas), ist aber genau das, was Heidegger in seiner Überwindung der Metaphysik destruieren will. 59 Ebd., S. 29. 60 Heidegger, Was ist Metaphysik? (Nachwort 1943), S. 49. 15 wo er vom Wesen des Menschen spricht, nicht den Menschen als Objekt der Anthropologie. Gemeint ist immer der existentiale Charakter des Daseins. “Das Seiende, das in der Weise der Existenz ist, ist der Mensch. Der Mensch allein existiert. Der Fels ist, aber er existiert nicht. Der Baum ist, aber er existiert nicht. Das Pferd ist, aber es existiert nicht. Der ist Engel ist, aber er exitiert nicht. Gott ist, aber er existiert nicht.”61 Als nähere Bestimmung dessen, was hier unter “existieren” verstanden werden soll, sind wir durch Heidegger auf den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sorge verwiesen, aus dem das Philosophieren als Propium des Menschen erwächst. Heidegger hat die „Grundtäuschung“ im landläufigen Verständnis von Philosophie darin gesehen, „daß wir, die in die Philosophie hineingeleitet werden sollen, zunächst unseren Standort außerhalb der Philosophie haben und daß die Philosophie selbst ein Gebiet sei, in das hinein der Weg genommen werden soll. [...] Aber wir sind gar nicht ‘außerhalb’ der Philosophie, [...] weil die Philosophie in uns ist und zu uns selbst gehört, und zwar in dem Sinne, daß wir immer schon philosophieren.“ 62 Heideggers These „Menschsein heißt schon Philosophieren“ soll den zeitgenössischen Menschen in seine wirkliche Existenzsituation zurückrufen. Der Mensch ist weder Gott noch Tier. Gott braucht nicht zu philosophieren, das Tier kann nicht philosophieren. Allein der Mensch philosophiert, denn er allein existiert. Darum lautet auch der “Leitsatz” von Sein und Zeit: “Das ‘Wesen’ des Daseins liegt in seiner Existenz.”63 Die Weise der Existenz nennt Heidegger “ekstatisch”. “Das ekstatische Wesen des Daseins ist von der Sorge her gedacht”. 64 Die Besorgheit um das eigene Sein bezeugt für Heidegger, daß das Dasein in seinem Sein radikal geschichtlich zu denken ist. Was für alles Seiende gilt, wird im Selbstverhältnis des Daseins erschlossen: die Zeitlichkeit des Seins. “’Sein’ ist in ‘Sein und Zeit’ nicht etwas anderes als ‘Zeit’, insofern die ‘Zeit’ als der Vorname für die Wahrheit des 61 Ebd., S. 17. M. Heidegger, Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA, Bd. 27, Frankfurt a. M. 1996, S. 3. “Sofern der Mensch existiert, geschieht in gewisser Weise das Philosophieren.” (Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 45). 63 Heidegger, Sein und Zeit, S. 42 64 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 16. 62 16 Seins genannt wird.”65 Zeitlichkeit des Daseins eröffnet sich uns in der Möglichkeit des Nichtseins. Alle noch ausstehenden Möglichkeiten stehen im Horizont des Wissens um den Tod als der äußersten Möglichkeit der geschichtlichen Existenz. Wie es um diese letzte Möglichkeit steht, das eigene Nichtsein, das bestimmt für Heidegger auch das ursprüngliche Fragen der Metaphysik. Die metaphysische Grundfrage, “warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts”, empfängt von hier ihren Sinn. “Unser Fragen der metaphysischen Grundfrage ist geschichtlich, weil es das Geschehen des menschlichen Daseins in seinen wesentlichen Bezügen, d. h. zum Seienden im Ganzen, nach ungefragten Möglicheiten, Zu-künften eröffnet und damit zugleich in seinen wesenhaften Möglichkeiten zurückbindet und es so in seiner Gegenwart verschärft und erschwert.”66 Deshalb zielt Heideggers Versuch einer „Überwindung der Metaphysik“ auf die Weckung der Grundfrage der Metaphysik durch „einen Wandel des Fragens. “ Es soll auf den „Weg eines Denkens [führen], das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern, sich als Wandlung des Bezugs zum Sein erfährt und erprobt.“67 In dieser notwendigen Wandlung sieht Heidegger die ursprüngliche Intention von Sein und Zeit, deren zugehörige Selbstauslegung in seiner Antrittsvorlesung den Abstand zur Wesenswissenschaft Husserls, aber auch zur Ontologie des Neukantianismus deutlich werden lässt. Nikolai Hartmann, wie Heidegger ein abtrünniger Schüler Husserls, versuchte im Anschluß an Kant eine ungeschichtlich denkende Neubegründung des Philosophierens als Ontologie vom Standpunkt der Vernunft. Demgegenüber verweist Heidegger auf den existentialen Ursprung des Fragens. „Jede metaphysische Frage [kann] 65 Ebd., S. 18. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 34. „Das Hinausgehen über das Seiende geschieht im Wesen des Daseins. Dieses Hinausgehen aber ist die Metaphysik selbst. Darin liegt: Die Metaphysik gehört zur ‘Natur des Menschen’. Sie ist weder ein Fach der Schulphilosophie noch ein Feld willkürlicher Einfälle. Die Metaphysik ist das Grundgeschehen im Dasein. Sie ist das Dasein selbst.” (Heidegger, Was ist Metaphysik?, 44f.). 67 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 30. “Metaphysik ist im Denken an die Wahrheit des Seins überwunden. Der Anspruch der Metaphysik [...] alles Verhältnis zum Seienden als solchen maßgebend zu bestimmen, wird hinfällig. Doch diese ‘Überwindung’ der Metaphysik beseitigt die Metaphysik nicht. Solange der Mensch das animal rationale bleibt, ist er das animal metaphysicum.” (Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 9). 66 17 nur so gefragt werden, dass der Fragende als ein solcher – in der Frage mit da, d. h. in die Frage gestellt ist. [...] Das metaphysische Fragen muß im Ganzen und aus der wesentlichen Lage des fragenden Daseins gestellt werden. Wir fragen, hier und jetzt, für uns.“68 Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem philosophischen „Erfassen des Ganzen“, das „grundsätzlich unmöglich“ ist, und dem auf das Ganze des Seins gerichteten Fragen.69 „Dieses geschieht ständig in unserem Dasein.“ 70 Allerdings ist dieses Geschehen weder unser eigener Akt noch ist es uns ständig bewusst. „Viele stoßen überhaupt nie auf diese Frage […] Und dennoch! Jeder wird einmal, vielleicht sogar dann und wann, von der verborgenen Macht dieser Frage gestreift, ohne recht zu fassen, was ihm geschieht.“71 Dieses Fragen nach dem Sinn des Ganzen erreicht die Stufe der Bewusstheit erst in den Momenten, in denen eine Grundstimmung uns ergreift. „Solches Gestimmtsein, darin einem so und so ‚ist’, lässt uns – von ihm durch stimmt – inmitten des Seienden im Ganzen befinden.“72 Solch plötzliches Gewahrwerden kann „in einer großen Verzweiflung“, „in einem Jubel des Herzens“, „in einer Langeweile“ geschehen.73 Wie in der Grundstimmung der Langeweile „alles“ gleichgültig wird, so kann umgekehrt den Liebenden das „Ganze des Seins“ gegenwärtig sein als „Freude an der Gegenwart des Daseins“. 74 Am meisten jedoch offenbart sich für Heidegger das Seiende im Ganzen in der Grundstimmung der Angst. In der Angst ist das Da-sein selbst in Frage gestellt und die gewöhnliche Seinsgewißheit verloren. Das Seiende im Ganzen erscheint in dieser Stimmung 68 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 26. Heidegger sieht das eigene Philosophieren als Übergang zwischen der idealistischen „Systemphilosophie“, die das Ganze bzw. das „Absolute“ zu erfassen behauptet, und dem einem neuen Anfang des Denkens. „Die Zeit der ‚Systeme’ ist vorbei. Die Zeit der Erbauung der Wesengestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns ist noch nicht gekommen.“ (Beiträge zur Philosophie (1936/ 1946), GA, Bd. 65, Frankfurt a. M. 2003, S. 5). 70 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 33. 71 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 1. 72 Heidegger, Was ist Metaphysik, S. 33. In diesem Sinn heißt auch in Heideggers Vom Wesen der Wahrheit: “Jedes Verahlten des geschichtlichen Menschen ist, ob betont oder nicht, ob begriffen oder nicht, gestimmt und durch diese Stimmung hineingehoben in das Seiende im Ganzen.” (S. 20). 73 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 1. Vgl. auch, Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 33 ff. Es ist leicht zu sehen, daß hier die von Augustinus und Pascal herkommende Erkenntnis des Herzens im Blick ist, der Max Scheler unter dem Titel Ordo Amoris (1923) einen großen Essay gewidmet hatte. 74 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 33 69 18 unter dem Vorzeichen des Nichts. „Die Angst offenbart das Nichts […], weil Sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.“75 Wo dies der Fall ist, entdeckt sich das Dasein in seiner „Hineingehaltenheit in das Nichts“, 76 das sich jetzt in der ratlosen Frage auszusprechen vermag: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? „Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.“77 In seiner Möglichkeit zum Nichtsein wird das Sein des Seienden zum Paradox. „Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts.“78 Metaphysik als das „Hinausfragen über das Seiende“ beginnt so auf dem Boden dieser Erfahrung einer grundlegenden Ungewissheit über das Sein des Seienden, sofern es jederzeit auch nicht sein könnte. Das Endecken dieser Ungewissheit in der Grundstimmung der „Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts.“79 Beides, das Sein und das Nichts, sind im Dasein des Menschen erschlossen. Deshalb kann es später bei Heidegger auch heißen, der Mensch sei „der Hirt des Seins“.80 Die in beiden Formulierungen ausgesagte Zugehörigkeit von Dasein und Sein meint ihre wechselseitige Verwiesenheit. Der Mensch ist an das Sein verwiesen und ebenso das Sein an den Menschen. Zunächst fragt Heidegger danach, „ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann“ und „den Menschen zum Gehören in das Seins bringt“,81 um schließlich – umgekehrt – zu behaupten, daß der Mensch, indem er Wissenschaft treibt, in das Ganze des Seienden „einbricht“ und dadurch „dem Seienden allererst zu ihm [verhilft].“ 82 Dieser 75 Ebd., S. 35. Ebd., S. 38. 77 Ebd. 78 Ebd. In dieser paradoxen Formulierung erscheint bei Heidegger der theologische Gedanke von der „creatio continua“ als dem gottgewirkten andauernden Hervorgehen des Seins aus dem Nichts, während der Satz „Das Nichts selbst nichtet“ nicht bloß außerhalb dieses Gedankens liegt, sondern nicht einmal ein sinnvoller Satz zu sein scheint. Rudolf Carnap hat sich unmittelbar nach Erscheinen von Heideggers Was ist Metaphysik? Auf diesen Satz bezogen, um daran den generellen Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Sätze der Metaphysik zu erweisen. (Vgl. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Hamburg 2004, S. 93.) 79 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 41. 80 M. Heidegger, Die Technik und die Kehre (1949), Stuttgart 2007, S. 41. 81 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 11 82 Ebd., S. 28. 76 19 Zusammenhang zwischen Dasein und Sein ist radikal geschichtlich zu denken und von Heidegger später als „Seinsgeschick“ und als „Ereignis“ verstanden worden. 3. Seinsgeschick und Verwandlung des Menschen In Heideggers Spätphilosophie rückt der Ereignischarakter des Seins immer stärker in das Zentrum seines Denkens. Nicht mehr zuerst die Daseinsananlyse liefert ihm den Ansatzpunkt für die ontologische Differenz von Sein und Seiendem. Jetzt sind die Technik als “Seinsgeschick” der Moderne und die Sprache als “Stimme des Seins” die beiden Kristallisationspunkte, an denen er Sinn und Aufgabe des Philosophierens auszuweisen sucht. Weiterhin gilt, daß es das Gestimmtsein ist, das uns vor das Ganze des Seins bringt und uns befähigt, die Stimme des Seins zu hören und – heute - das Wesen der Technik als Seinsgeschick zu erfassen. In einem Vortrag von 1955 mit dem Titel “Was ist das – die Philosophie?”83 fragt Heidegger nach der Grundstimmung im Hören auf das Sein, die heute “waltet”, aber kaum eindeutig anzugeben ist. “Wir versuchen auf die Stimme des Seins zu hören. [...] Was wir antreffen ist nur dies: verschiedenartige Stimmungen des Denkens. Zweifel und Verzweiflung auf der einen, blinde Besessenheit von ungeprüften Prinzipien auf der anderen Seite stehen einansder gegenüber. Furcht und Angst mischen sich mit Hoffnung und Zuversicht.”84 Heideggers Rede von der “Stimme des Seins” enthält eine Reihe von Bezügen, die den Sinn dieser Metapher bestimmen. Zunächst ist da wiederum der Zusammenhang von Sein und Dasein in den Blick zu bekommen. Eine Stimme ist immer Stimme für einen Hörenden. Die Erhebung der Stimme ist das erste und das Hören das Zweite. In diesem Sinn liegt dem Seinsverstehen als Versuch des eigenen Hörens das Angesprochensein durch das Sein voraus.85 Aus der 83 M. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Stuttgart 1956. Ebd., S. 28. 85 Mancher Grundgedanke Heideggers hat eine auffällige Beziehung zur Theologie. In der Metapher von der „Sprache des Seins“ und der zugehörigen Ordnung von Hören und Verwandlung des Hörenden scheint die theologische Gnadenlehre Pate gestanden zu haben, wonach die Gnade der Natur voraufgeht und sie durch 84 20 Übernahme und Entfaltung der Sprachmetaphorik bestimmt sich jetzt auch der Sinn des Philosophierens. In einer Art Definition sind alle wechselseitigen Momente des Sprechens und des Hörens im Ent-sprechen als Wesen der Philosophie miteinander vorwoben. “Das Ent-sprechen hört auf die Stimme des Zuspruchs. Was sich als Stimme des Seins uns zuspricht, be-stimmt unser Entsprechen.”86 Von hier bestimmen sich für Heidegger dann Wesen und Aufgabe der Philosophie. “Das eigens übernommene und sich entfaltende Entsprechen, das dem Zuspruch des Seins des Seienden entspricht, ist die Philosophie.”87 Dieses Entsprechungsverhältnis soll nicht bloß für das eigene Philosophieren gelten, sondern auch da, wo es um das Verstehen fremden Philosophierens geht. Auch das Philosophieren der anderen kann nur in dem Maße verstanden werden, wie es bezogen wird auf das eigene Angesprochensein durch das Sein. “Gesetzt also, die Philosophen sind vom Sein des Seienden angesprochen, daß sie sagen was das Seiende sei, sofern es ist, dann muß auch unser Gespräch mit den Philosophen vom Sein des Seienden angesprochen sein.”88 Anders gesagt: Weil das Gespräch dem Seinsverstehen dienen soll, darum setzt die philosophierende Interpretation die vorgängige Verbundenheit mit der zu verstehenden Sache voraus. Die metaphorische Rede von der “Stimme” oder vom “Zuspruch” des Seins ist bei Heidegger zugleich mit einer bewußten Abkehr von der gewöhnlichen Auffassung der Sprache verbunden. Für “unsere geläufige Vorstellung von der Sprache” ist die Sprache nur ein “Instrument des Ausdrucks”.89 Der Seinsbezug der Sprache muß aber bereits vor der Mitteilungsabsicht gegeben sein, damit im Sprechen Wirklichkeit zur Sprache gelangen kann. “Sprache ist dabei niemals erst Ausdruck des Denkens, Fühlens und Wollens. Sprache sit die anfängliche Dimension, innerhalb deren das menschenwesen überhaupt erst vermag, dem Verwandlung vollendet. 86 Ebd., S. 23. 87 Ebd., S. 29. Philosophi Noch kürzer formuliert: „Das Entsprechen zum Sein des Seienden ist die Philosophie.“ (Ebd., S. 23). 88 Ebd., S. 20. 89 Ebd., S. 29. Heideggers Kritik der gewöhnlichen Sprachauffassung findet sich ausführlich entwickelt in dem Vortrag „Die Sprache“ von 1950 (M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 9 – 33). 21 Sein und dessen Anspruch zu entsprechen und im Entsprechen dem Sein zu gehören.”90 Deshalb ist die Sprache nicht zuerst ein Sprechen des Menschen, sondern Sprache ist zuvor bereits Sprache der Dinge. Wenn es heißt “der Mensch spricht”, bleibt das Wesen der Sprache noch unerkannt. Es wird erst erfaßt, wenn wir sagen “die Sprache spricht”.91 Von dorther kann Heidegger jetzt seine Bestimmung der Philosophie als einem “Ensprechen, das den Zuspruch des Seins des Seienden zur Sprache bringt”,92 dahin gehend präzisieren, daß auf die Sprache als Sprache Bezug genommen wird. “Dieses Ent-sprechen ist ein Sprechen. Es steht im Dienst der Sprache.” 93 Darin sieht Heidegger den gemeinsamen Boden von Philosophie und Dichtung. „Zwischen beiden, Denken und Dichten, waltet eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache verwenden und verschwenden.“94 Darum ist beiden die größte Sorgfalt auferlegt im Umgang mit der Sprache. Sprache ist Ausdruck des Seins. „Im Wort, in der Sprache werden und sind erst die Dinge.“ 95 Darum braucht die Sprache als Stimme des Seins das Hörenkönnen des Menschen, “insofern das Wesen des Seins das Menschenwesen braucht, um als Sein nach dem eigenen Wesen inmitten des Seienden gewahrt zu bleiben und so als Sein zu wesen”.96 Das Sein gehört zum Menschen, “weil sein Wesen ist, der Wartende zu sein, der des Wesens des Seins wartet, indem er es denkend hütet.”97 Die naheliegende Frage, was uns die “Stimme des Seins” zu denken aufgibt, ist aus Heideggers Sicht falsch gestellt und muß auf dem Boden der ontologischen 90 Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 40. Vgl. dazu B. Wald, Czy potrzebujemy dzisiaj filozofii metafizycznie uzasadnionej? Dlaczego metafizyki nie da sie zastapic hermeneutyka filozoficzna?; in: A. Maryniarczyk (Ed.), Analogia w filozofii, Lublin 2005, S. 415 – 422). 92 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, S. 30. 93 Ebd., S. 27. 94 Ebd., S. 30. „Im Dichten des Dichters und im Denken des Denkers wird immer soviel Weltraum ausgespart, daß darin ein jegliches Ding, ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf die Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit ganz verliert.“ (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 20). 95 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 11. Angesichts des “Mißbrauch[s] der Sprache im bloßen Gerede, in den Schlagworten und Phrasen” kommt der Philosophie die Aufgabe zu, “die unzerstörte Nennkraft der Sprache und der Worte wieder zu erorbern.” (Ebd.). 96 Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 38. 97 Ebd., S. 41. Insofern ist der Mensch “der Hirt des Seins”. (Ebd.). 91 22 Differenz ohne Antwort bleiben. Sein ist ja kein Gegenstand wie das Seiende und kann darum auch nicht zum Gegenstand einer Aussage gemacht werden. Es sagt sich selber aus, indem es “waltet” und “west”. Und insofern dieses “Wesen” den Charakter eines Geschehens hat, darum ist Sein wesentlich auch “Seinsgeschick” und zwar so, “daß das Sein selber sich schickt und je als ein Geschick west und demgemäß sich schicklich wandelt.” 98 Sein ist durch und durch geschichtlich wandelbar und darum nicht begrifflich aussagbar. Es gibt nichts, keinen feststehenden Grund, woran sich der Begriff halten könnte, nicht einmal eine benennbare Ursache für das Seinsgeschick. “Der Weise, wie es, das Sein selber, sich schickt, geht nichts Bewirkendes als Sein voraus”. 99 Weil es nichts gegenständlich Bestimmbares gibt, weder als Seiendes noch als Grund des Seins, darum kann auch nicht mehr zwischen Sprache und Sein unterschieden werden. Beides fällt zusammen. Im “denkerische[n] Sagen der Philosophie [...] ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses selbst als die Wesung des Seyns.” 100 Was geschieht aber dann im Hören auf die Stimme des Seins, wenn es sich beim philosophischen Denken nicht mehr darum handelt, “’über’ etwas zu handeln und und ein Gegenständliches darzustellen”?101 Es geschieht etwas mit dem Menschen selbst, “was einem Wesenswandel des Menschen aus dem ‘vernünftigen Tier’ (animal rationale) in das Da-sein gleichkommt”, nämlich: “dem Er-eignis übereignet zu werden”.102 Wandel bedeutet im sich Einlassen auf den Ereignischarakter und die Geschichtlichkeit des Seins den Verzicht auf alles bestimmte Antworten. In die Nähe zum Sein gelangt nur der Fragende. Ist “das Suchen selbst [..] das Ziel”,103 dann sind “die Fragenden [...] die eigentlich Glaubenden”, 104 in der 98 Ebd. Heidegger spielt hier bewusst mit dem sprachlichen Zusammenhang von Geschick und Geschichte, geschicklich und geschichtlich, wenn er sagt: „Von hier aus bestimmt sich das Wesen aller Geschichte.“ (Ebd., S. 24). 99 Ebd., S. 46. Heidegger wehrt auch die Berufung auf Gott ab. „Ob Gott Gott ist, ereignet sich aus der Konstellation des Seins und innerhalb ihrer.“ (Ebd.). 100 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 4 101 Ebd., S. 1. 102 Ebd. Diese „Verwandlung“ ist „nicht im moralisch-‚existentiellen’ Sinne, sondern daseinsmäßig“ gemeint. (Ebd., S. 14). 103 Ebd., S. 18. 104 Ebd., S. 12. 23 Offenheit für den Zuspruch des Seins oder, wie Heidegger ebenfalls sagen kann: in der gelassenen “Offenheit für das Geheimnis”.105 4. Heidegger - ein neuer Anfang der Philosophie? Wandlung zur Gelassenheit gegenüber dem Seinsgeschick statt des Versuchs, sich der Dinge zu bemächtigen, - das scheint aufs Ganze gesehen die Botschaft Heideggers zu sein. Gemessen am begrifflichen Aufwand zur Abwehr des Begreifbaren ist das Resultat recht dürftig. Mag sein, daß mit der Abkehr von der Metaphysik auch der Verwissenschaftlichung und der Vergegenständlichung des Menschen der Boden entzogen werden sollte. Doch Heideggers Versuch, die Verwandlung des Menschen von dem zu erwarten, was weder Subjekt noch als “Ereignis” Grund zur Hoffnung ist, kommt über die große Geste nicht hinaus. 106 Man soll Nietzsche wohl hören, wenn man bei Heidegger liest: “Niemand versteht, was ‘ich’ hier denke: aus der Wahrheit des Seyns [...] das Da-sein entspringen zu lassen. [...] Niemand begreift dieses, weil alle nur historisch ‘meinen’ Versuch zu erklären trachten. [...] Und der, der es einstmals begreifen wird, braucht ‘meinen’ Versuch nicht.”107 Und dann weiter: “Wir jetzigen [wir Sucher des Seyns] haben nur die eine Pflicht, jenen Denker vorzubereiten durch die weitgreifende Gründung einer sicheren Bereitschaft für das Fragwürdigste.”108 Zweifelos sah Heidegger im Unterschied zu Ernst Cassirer angesichts der Schrecken des ersten totalen Krieges völlig realistisch, daß es kein Zuück in die Vergangenheit durch eine Erneuerung der Kulturphilosophie geben kann. Cassirers “Philosophie der symbolischen Formen” war für ihn “ein paradoxes Unterfangen”, dem er in der Davoser Disputation mit Erfolg seine 105 M. Heidegger, Gelassenheit (1955), Stuttgart 2008, S. 24. Für Rüdiger Safranski ist Heidegger daher nicht zu Unrecht “der Priester ohne Botschaft.” „Heidegger zielt auf etwas Paradoxes. […] Er will den Ausbruch aus der Höhle [im Sinn des platonischen Höhlengleichnisses], aber ohne den Glauben an einen Ort jenseits der Höhle. Das Dasein soll von unendlicher Leidenschaft sein, aber ohne Leidenschaft für das Unendliche.“ (Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 289 f.). Eine kürzlich erschienene Biographie des schweizer Psychiaters Anton M. Fischer wird im Titel noch deutlicher: Martin Heidegger – Der gottlose Priester. Psychogramm eines Denkers (Zürich 2008). 107 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 8. 108 Ebd., S. 11. 106 24 Daseinsontologie entgegensetzte.109 Vergleicht man Heideggers Seinsphilosophie jedoch mit Nikolai Hartmanns Ontologie – “vielleicht der konsequenteste Atheismus” der damaligen Zeit110 - so erweckt Heideggers mystisch-prophetische Aufladung des Seinsbegriffs bestenfalls den Schein von Ernsthaftigkeit des Denkens. Es fehlt vor allem an der Möglichkeit, das bloß rhetorisch im Spiel der Worte Aufgebaute auch begrifflich einzulösen. Der Schein von “Bedeutsamkeit” entsteht und vergeht zugleich mit der Zweideutigkeit und Dunkelheit des Gemeinten, so beispielsweise wenn “das wesentliche Denken ein Ereignis des Seins”111 genannt wird. Hier wird der Sinn des Satzes in den genitivus subjectivus gelegt, als sei das wesentliche Denken eine Eigenschaft des Seins. Ausdrücke wie “Stimme des Seins” und “Zuspruch des Seins” oder auch “Seinsgeschick” sind außerhalb religöser Konnotationen ohne Wirklichkeitsbezug, wie auch die Identität von Sagen und zu Sagendem außerhalb des Kontextes der göttliches Selbstmitteilung bedeutungsleer bleibt. Schlechterdings anstoßerregend sind Heideggers immer wieder unternommene Versuche, das zu Sagende in der nur ihm angemessenen Weise als “Stimme des Seins” gewissermaßen sich selber aussagen zu lassen. So enden beispielsweise Heideggers sich prophetisch gebende Vorträge über die Technik und die Kehre mit folgenden Sätzen: “Sehen wir den Blitz des Seins im Wesen der Technik? Den Blitz, der aus der Stille kommt als sie selbst? Die Stille stillt. Was stillt sie? Sie stillt Sein in das Wesen von Welt. Daß Welt, weltend, das Nächste sei alles Nahen, das naht, indem es die Wahrheit des Seins dem Menschenwesen nähert und so den Menschen dem Ereignis vereignet.” 112 Das sichere Scheitern einer Übersetzung dieser Sätze ist auch hier eine bewußt inszenierte Demonstration der eigenen Theorie und zugleich ein Paradox. Es gibt und darf kein “etwas” geben, über das man reden könnte und das zu übersetzen wäre. Das wäre ein dem neuen Anfang des Denkens widersprechender Rückfall in die Metaphysik 109 H. Givsan, Ein Nachtrag zu „eidegger – das Denken der Inhumanität“, Würzburg 2011, S. 12 f. R. Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Stuttgart 2010, S. 91. 111 Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 51. 112 Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 47. 110 25 des Seienden. Solche “Rückfälle in die festgefahrenen Denkweisen der Metaphysik werden noch langehin stören und die Klarheit des Weges und die Betimmtheit des Sagens verhindern.”113 Sollte aber dennoch eine Übersetzung gelingen, dann wäre damit der Beweis erbracht, daß auch Heidegger selbst den festgefahrenen Denkweisen der Metaphysik noch nicht entkommen ist. Man kann ihm durchaus zustimmen, wenn er sagt, “Metaphysik und Philosophie sind überhaupt keine Wissenschaft.”114 Doch ohne ein Mindestmaß an Bestimmheit wird die Sprache des Seins alles zugleich bedeuten und damit aufgehören, überhaupt etwas zu sagen. III. Josef Pieper über Kreatürlichkeit und die philosophierende Interpretation Für Pieper ist Heideggers Umgang mit der Sprache ein Grund gewesen, ihm zu mißtrauen. Das „eigentliche Schlimme“ daran sei nicht „die erweisbare Resultatlosigkeit […] der Heideggerschen Etymologisierungen“,115 auch nicht schon „die Undeutlichkeit des Gemeinten“; […] schlimmer noch ist der kaum mißzuverstehende Abwehrgestus, der sich die klärende Frage verbittet.“116 Sprache höre damit auf, Verständigungsmittel zu sein. Statt zu verbinden, schafft sie Jüngerschaften, die Uneingeweihten den Zugang verwehren, - zum Beispiel durch die „für philosophisch gehaltene Dunkelheit wohltönender Klangbilder.“ Pieper nennt als Beispiel Heideggers Bestimmung der Sprache „als das Geläut der Stille.“117 Solch privatsprachlicher Gebrauch von Sprache zerstört die Zusammengehörigkeit von Sprache, Wahrheit und Kommunikation. „Für die wahrhaft philosophische Äußerung aber kommt es darauf an, in einem sehr genauen Umgehen mit der Sprache die im Grunde jedermann vertraute 113 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 12. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 33. 115 Josef Pieper, Der Philosophierende und die Sprache. Bemerkungen eines Thomas-Lesers; Pieper, Werke, Bd. 3, S. 202. 116 Pieper, Verteidigungsrede; Ebd., S. 139. 117 Pieper, Der Philosophierende und die Sprache; ebd., S. 211. 114 26 Aussagekraft des natürlich gewachsenen Wortes auf solche Weise vernehmlich zu machen, daß der gleichfalls jedermann betreffende Gegenstand der Weisheitssuche vor die Augen kommt und im Blickfeld bleibt.“118 Auch Gadamers Verweis auf die „Sprache der Dinge“ („Ist nicht die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der Dinge“? 119) vermag Pieper nicht zu überzeugen. Denn hier wird nur zustimmen können, wer zuvor das metaphysische (oder onto-theologische) Fundament des abendländischen „Logozentrismus“, die „Vorstellung vom ‚Wortcharakter’“ der Dinge 120 akzeptiert hat. Gadamer spricht denn auch mit Blick auf die vorausgesetzte ontotheologische Bedingung der alten Erkenntnislehre von „ihrer beider Kreatürlichkeit, worin Seele und Sache geeint sind“. 121 Und das bedeute ja: „das Wesen und die Wirklichkeit der Schöpfung selbst besteht darin, solche Zusammenstimmung von Seele und Sache zu sein.“ 122 Ähnlich formulierte ja bereits Dilthey mit Blick auf den für die Wahrheitserkenntnis konstitutiven Grundgedanken der aristotelischen Metaphysik. Aber ebenso wie Dilthey versteht Gadamer die Rückführung des „Gedankens von der ‚Sprache der Dinge’ [...] auf seine metaphysische Wurzel [...] nur im Sinn einer historischen Beschreibung“.123 Das heißt aber: er akzeptiert sie ausdrücklich nicht. Schöpfungsglaube als hermeneutisches Prinzip Natürlich kann man die schon von Aristoteles angenommene transzendentale Begründung der Erkenntnismöglichkeit im göttlichen Nus argumentativ bestreiten. Diltheys Hinweis auf den „Widerstreit“ zwischen dem 118 Ebd. Hans Georg Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge; in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1986, S. 72 (Herv. von mir). 120 Josef Pieper, Kreatürlichkeit. Bemerkungen über die Elemente eines Begriffs; Pieper, Werke, Bd. 2, S. 440464; S. 447 (mit Verweis auf R. Guardini). 121 Gadamer, Natur der Sache, S. 63. 122 Ebd., S. 64. 123 Pieper, Kreatürlichkeit, S. 447. 119 27 „geschichtlichen Bewußtsein“ der Moderne und der antiken Metaphysik war nur eine soziologische Feststellung, aber kein philosophisches Argument, sowenig wie Gadamers Rekurs auf die gesellschaftliche Lage der Philosophie. Allerdings bietet die philosophische Hermeneutik keinerlei Plausibilitätsersatz für die nun einmal kulturell ignorierte Metaphysik. Hermeneutik im Sinne Gadamers bietet „schlechterdings keine letztlich einleuchtende Erklärung“ für die Möglichkeit der Erkenntnis von Wirklichkeit und keinerlei Kriterium für die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Sie ist mit ihrer Grund-losen Berufung auf die Sprache eine „Sackgasse“124 und in ihrem nur noch rhetorischen, aber nicht mehr einsichtig zu machenden Festhalten am Wahrheitsbegriff voller Zweideutigkeiten. „Wer [dagegen] dem Anspruch gedanklicher Radikalität genügen will, dürfte sich kaum davon dispensieren können“, „ausdrücklich die Kategorie ‚Kreatürlichkeit’ ins Spiel zu bringen“. „Sonst müsste er sich den Vorwurf gefallen lassen, er begreife nur halb, was er selber denkt.“125 Diese Kategorie hat Pieper durch sein gesamtes Werk hindurch in ihren sonst kaum beachteten Implikationen am Werk des Thomas von Aquin herausgearbeitet: Angefangen bei seiner Interpretation der transzendentalen Seinsbestimmungen „gut“ und „wahr“, die ohne den gedanklich realisierten Bezug auf die Kreatürlichkeit des Seins nicht wirklich verstanden sind und – außerhalb diese Zusammenhangs einer weiterhin naturrechtlich argumentierenden Ethik zurecht den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses (Hume/ Moore) und der Metaphysik des Seins den Vorwurf steriler Tautologie (Kant) eingebracht haben; Kreatürlichkeit ist wiederum als hermeneutisches Prinzip vorausgesetzt für ein Verstehen des menschlichen Geistes, der „über seinen Kopf hinweg“ bezogen bleibt auf eine Erfüllung, welche die eigenen Möglichkeiten und Anstrengungen übersteigt; schließlich ist auch die von Pieper gegen den Schulthomismus verteidigte Auffassung vom Geheimnischarakter der Wirklichkeit, Ihrer Unerschöpflichkeit 124 125 Ebd., S. 448. Ebd., S. 463. 28 und Unbegreiflichkeit für das menschliche Erkennen, für Thomas von Aquin in ihrer Kreatürlichkeit begründet. Thomas von Aquin als „Verteidiger der Schöpfungswirklichkeit [...], aller Bereiche der Schöpfungswirklichkeit, und das heißt der Wirklichkeit überhaupt, gerade der sichtbaren und sinnfälligen Wirklichkeit.“ 126 (II, 22) – darin liegt nicht bloß seine Aktualität sondern auch die nachvollziehbare Konsequenz seines Denkens begründet. Daß die Welt Schöpfung ist, ist das „in seinem Sagen Ungesagte“, das wie ein Wasserzeichen alle großen philosophischen Ideen des doctor communis durchwirkt und von der philosophierenden Interpretation Josef Piepers aufgedeckt und im konsequenten Widerspruch Jean Paul Sartres wie im Ausweichen der Philosophischen Hermeneutik Gadamers sichtbar wird als die verlorene Mitte und Ursache aller Zweideutigkeiten der nachchristlichen Philosophie. Philosophierende Interpretation Ich möchte nun abschließend Piepers Modell des hermeneutischen Verstehens skizzieren, das die abendländische Überlieferung wahrheitskritisch in das eigene Philosophieren miteinbezieht. In seinen Platon- und Thomas-Interpretationen vor allem hat er es mit großer Meisterschaft praktiziert. Allerdings spricht er nirgends von hermeneutischem Verstehen. Er selbst nennt seinen Umgang mit der Überlieferung „Philosophierende Interpretation“, die zwei Bedingungen erfüllen muß, um eine wahrheitsbezogene Erkenntnis von Wirklichkeit zu sein: „Verlangt ist erstens, daß sich der Hörende für den Sachverhalt möglichst schon zuvor interessiert. Das zweite und wichtigere ist, daß er das Gehörte bedenkt, das heißt vergleicht mit dem, was er selber weiß und für wahr hält.“127 Wo Überlieferung angeeignet werden und lebendig bleiben soll, muß 126 127 Josef Pieper, Über das Gute und das Böse; Pieper, Werke, Bd. 2, S. 22. Josef Pieper, Gottgeschenkte Mania. Eine Platon-Interpretation; in: Communio 23 (1994), S. 261. 29 sich ihre Geltung an dem von selbst für wahr Gehaltenen erweisen. Erst dann zeigt sich, ob das überlieferte Wort bewahrenswert und vielleicht sogar unverzichtbar ist. Mit Sorge sah Pieper den Abbruch der großen philosophischtheologischen Überlieferung in der Gegenwartsphilosophie, weil „menschliches Dasein nicht allein auf die Weise zu Schaden kommen [kann], daß man das Hinzu-lernen versäumt, sondern auch dadurch, daß man etwas Unentbehrliches vergißt und verliert.“128 Dieses Unentbehrliche, also „das in Wahrheit Bewahrenswerte“,129 sieht er, wie übrigens auch Karl Jaspers, vor allem gegeben „auf dem Boden einer religiösen Substanz“. Zustimmend zitiert er Jaspers These, wonach die Philosophie absterben wird „ins leere Denken, wenn der überlieferte Gehalt, aus dem sie ist, verbraucht ist; dieser Gehalt selbst aber ist der gemeinsame geschichtliche Boden für Theologie und Philosophie.“130 Diesen Zusammenhang hat Pieper mehrfach in ausdrücklicher Bezugnahme auf Jaspers zu klären versucht. Ein Artikel von 1957 über „Die mögliche Zukunft der Philosophie“ erinnert zum Schluß an Jaspers Wort vom „leer werdenden Ernst“, wenn die Substanz der großen Überlieferung fallengelassen worden ist, um dann mit dem Satz zu enden: „Es könnte sehr wohl so kommen, daß am Ende der Geschichte die Wurzel aller Dinge und die äußerste Bedeutung der Existenz – und das heißt doch: der spezifische Gegenstand des Philosophierens – nur noch von denen in den Blick genommen wird, welche glauben.“131 Ein auf Wirklichkeitserkenntnis abendländischen Überleiferung zielendes muß weder Verstehen unhistorisch der sein großen noch hermeneutisch naiv. Einerseits wird das nur noch historisch Interessante beispielsweise an der mittelalterlichen Philosophie und am Werk des Thomas von Aquin ja gerade erst unterscheidbar durch die wahrheitskritische Intention 128 Pieper, Überlieferung; Pieper, Werke, Bd. 3, S. 257. Pieper, Werke, Bd. 8,1, a.a.O., S. 156-176. 130 Jaspers, Philosophie, a.a.O., S. 269; bei Pieper zitiert mit weiteren Stellen in Überlieferung; Pieper, Werke, Bd. 3, a.a.O., S. 298. Im hinteren Deckel von Piepers Exemplar der Philosophie findet sich ein Hinweis auf die Seiten, wo Jaspers das Verhältnis von Philosophie und Religion behandelt. In seiner Ausgabe von Jaspers Schrift Vernunft und Existenz hat er sich wiederum zu den Stichworten Überlieferung, Offenbarung Seitenzahlen notiert. 131 Pieper, Werke, Bd. 3, a.a.O., S. 323 (Herv. von Pieper). 129 30 der philosophierenden Interpretation, wie anderseits die von der philosophischen Hermeneutik herausgestellte Geschichtlichkeit des Verstehens für jede Epoche gilt, also auch für die Philosophie der Gegenwart. Sie hat damit zu tun, daß „Wahrheit [...] in der Tiefe nicht von dem neutral gleichgültigen Geiste erfaßt wird [...], sondern von dem, der Antwort sucht auf ein existentiell ernstes und dringliches Fragen. Dies aber entzündet sich an der hier und jetzt wirklichen Situation des Einzelnen wie der Gemeinschaft.“132 Es ist stets seine Wahrheit, die er um der Wahrheit willen verwirklichen muß, „weil einzig auf diese Weise ‚die’ Wahrheit wirklich in seinen Besitz kommt und in wichtigen Bezirken oft erst als Wahrheit empfunden werden kann“133, wie Pieper zustimmend Johann Baptist Lotz zitiert. Solches Entdecken der mir zugänglichen Wahrheit wird immer begleitet sein von einem Verdecken anderer Aspekte, wie auch „in einer bestimmten Epoche bestimmte Elemente der Wahrheit besonders deutlich hervortreten, [...] ganz bestimmte Fragen und Aufgaben sich als besonders wichtig aufdrängen, [während] anderseits, aus dem gleichen Grunde, andere Elemente der Wahrheit zurücktreten und geradezu in die Gefahr kommen, vergessen zu werden.“ An diesem Phänomen der verdeckenden Erkenntnis zeigt sich für Pieper am deutlichsten die radikale „Geschichtlichkeit des Menschengeistes“, für den es „keine tota et simul possessio“ gibt, keinen systematischen und umfassenden Besitz der ganzen Wahrheit. Das Voranschreiten in der Erkenntnis der Wirklichkeit geschieht stattdessen „wie Rede und Gegenrede“. Sich solch wirklichkeitserschließender Gegenrede auszusetzen, nicht zuletzt auch um der „besonderen Blindheiten“ der eigenen Epoche ansichtig zu werden, ist die Aufgabe der philosophischen Interpretation.134 Demgegenüber steht gerade der Typus der rein historischen Interpretation in der Gefahr, die geschichtliche Bedingtheit des eigenen Blickes zu vergessen 132 Josef Pieper, Werke in acht Bänden, Bd. 2, Darstellungen und Interpretationen. Thomas von Aquin und die Scholastik, Hamburg 2001, S. 150 (Herv. im Original). 133 Ebd., S. 151. 134 Alle Zitate ebd., S. 131 f. 31 und „sozusagen platzanweisende Geschichtsschreibung“ zu betreiben – „als ob es einen Standort gäbe, ja als ob man sich sich auf diesem erhöhten Standort befände, von wo aus man die Position Platons und die des Aristoteles beurteilen und aus ihren historischen Wurzeln und Bedingtheiten erklären könnte“. 135 Der Erkenntnisfortschritt in der Philosophie unterscheidet sich offensichtlich vom Fortschritt in den exakten Wissenschaften. Hier braucht man sich um die Ansichten der „Alten“, das heißt der frühesten Vertreter eines Faches, in der Regel nicht mehr zu kümmern. „Philosophische Interpretation der Alten“ hingegen bleibt sinnvoll und notwendig, „in der Hoffnung, in das Unbegreifliche der Wirklichkeit tiefer einzudringen“136 und im Werk der großen Meister der abendländischen Philosophie „eben diese unsere Welt [...] deutlicher [gespiegelt zu sehen] als in uns selber.“137 Die Notwendigkeit der auf Wirklichkeitserkenntnis und (nicht bloß Sinnverstehen) abzielenden philosophierenden Interpretation ergibt sich also aus der Geschichtlichkeit der menschlichen Weltrfahrung. „Menschliches Erkennen ist immer wahr und unvollständig (inadäquat)“138, und diese gleichzeitige Inadäquatheit des Erkennens steht immer in der Gefahr, nur den vergangenen Gestalten des Philosophierens zugeschrieben, für die eigenen Gegenwart jedoch vergessen zu werden. Den eigentlichen Grund für dieses Zugleich von Offenheit und Begrenzung des menschlichen Erkennens sieht Pieper in der Natur der geistigen Person, einerseits als Geistwesen „capax universi, auf das Ganze der Wahrheit angelegt“ 139, anderseits jedoch im Erkennen diese Totalität stets auf je eigene und einmalige Weise sie selber zu sein. Dennoch ist die im Werk der alten Philosophen, im Werk Platons oder auch des Thomas von Aquin, „uns zu Gesicht kommende 135 Ebd., S. 60. Ebd., S. 1. 137 Ebd., S. 60. 138 Ebd., S. 151. 139 Ebd., S. 94. 136 32 Weltwirklichkeit [...] im Grunde für ihn und für uns die gleiche [...], geheimnisvoll und unausschöpfbar für ihn und für uns.“ 140 Pieper hat die eigentliche „Leistung“ der Philosophie im Erwecken und im Wachhalten der auf das Ganze zielenden philosophischen Frage gesehen, die gegen jede Art von Rationalismus nicht bloß der Aufklärungsphilosophie 141, sondern auch des (neuscholastischen) Schulphilosophie142 lebendig zu halten ist. Vielleicht gibt es in der modernen Philosophie niemanden – außer vielleicht Karl Jaspers –, der mit gleicher Konsequenz wie Pieper die Erkennbarkeit der Wirklichkeit mit ihrer Unbegreiflichkeit zusammen gedacht hat. 143 Was Jaspers und Pieper philosophisch in einzigartiger Weise miteinander verbindet und worauf ihre besondere Stellung in der modernen Philosophie beruht, mag vielleicht in einem Satz von Pieper deutlich werden, in dem die Einsicht in das zugleich unvollkommene und doch den Menschen über sich hinausweisende Wesen der Philosophie, ihr unverzichtbarer Beitrag zu einer wahrhaft menschlichen Existenz also, auf eine gelungene Weise formuliert ist: „Und dies also wäre die >Leistung< der Philosophie: den Menschen, gerade in der Ausübung seiner höchsten Fähigkeit, immer neu erfahren zu lassen: die Welt ist Geheimnis; ich weiß, daß ich das Eigentliche nicht weiß, noch nicht. Es ist die Leistung wahrhaften Philosophierens, dem Menschen die Unabgeschlossenheit seines Wesens gegenwärtig zu halten, den Noch-nicht-Charakter, die Hoffnungsstruktur seines Daseins – und dies inmitten all der >Gekonntheit< und all der Perfektion des Ausbildungswissens, das den Herrn und Eigentümer der Natur kennzeichnet – und das ihn notwendigerweise in die Gefahr bringt, sich selber und die Welt im tiefsten zu verkennen.“144 140 Ebd., S. 61. Vgl. Josef Pieper, Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters; Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 99-179, vor allem Kap. I, S. 101-116. 142 Vgl. Josef Pieper, Unaustrinkbares Licht. Über das negative Element in der Weltansicht des Thomas von Aquin (in der Erstauflage 1953 unter dem Titel Philosophia Negativa erschienen); Pieper, Werke, Bd. 2, a.a.O., S. 112-152. 143 Vgl. Josef Pieper, Was heißt Aktualität?; Pieper, Werke, Bd. 8,1, S. 230-234. 144 Josef Pieper, Die Philosophie in der modernen Welt; Pieper, Werke, Bd. 8,1, a.a.O., S. 136. 141 33 34